kahnpost 27 I Oktober 2016

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SPREEWALD IM Herbst 2016 8. Jahrgang - NR. 3 / 2016

FARBEN essen



EDITORIAL

„Es wird Zeit für einen neuen Aufbruch. Es wird Zeit für Farbe!“, haben wir in der ersten Ausgabe unserer diesjährigen Kahnpost geschrieben, ja gerufen! Seitdem begleitet uns dieses Motiv, die Befreiung der Farbe, bei unserer Suche nach dem Neuen, der Echtheit, der Einfachheit, der Wahrheit und der Reinheit, der Klarheit, der Helligkeit, der Schönheit und der Natürlichkeit – im Leben und auf dem Teller. Ehrlich und bunt soll unsere Nahrung sein, voller Licht und Lebensfreude, befreit von Schnörkeln und einengenden Konzepten, so wie es uns die Lebensreformer und Avantgardekünstler des beginnenden 20. Jahrhunderts vorgelebt haben. Ehrlich und bunt wie der Herbst, wie die Farbpalette eines Malers – das könnte auch ein Konzept für unser Leben sein.

Herzliche Grüße

Ihre Christine und Heinrich Michael Clausing Burg im Spreewald im Herbst 2016



Die offene kĂźche


Farben essen von susanne kippenberger (text) und Nikolaj Georgiew (Fotos)

Was für ein Glück: Kein Handyempfang, kein Internet. Gesegnet sei das Funkloch in der Bleiche. Je löchriger, desto erholsamer. Desto sinn-voller. Zeit, den Kopf zu heben, nicht mehr am Smartphone zu kleben. Zu gucken. Zu riechen. Zu hören. Zu schmecken. Zu tasten. Zu schlafen - und mit frischen Sinnen aufzuwachen. Wie grün es hier grünt! 50 Shades of Green. In der Natur des Spreewalds wie auf dem Teller im Hotel. So viele Schattierungen von Rot, Gelb – Blau? Nein, nicht auf dem Teller. Kulinarisch betrachtet, signalisiert Blau meist: Achtung, giftig. Mindestens eklig. Wer außer Kindern würde freiwillig Schlumpfeis essen. Auch Blaukraut ist ja in Wirklichkeit Rotkohl. Blue Curacao? Gewöhnungsbedürftig. Essen nach Farben. Wer das tut, ist gut beraten. Jeden Tag eine Ampelschaltung, rot, gelb, grün, das lernen die Kleinen inzwischen schon im Kindergarten.

Morgens Möhren, mittags Tomaten, abends Brokkoli. Das Gemüse hat die Sonne aufgesaugt und fruchtbar gemacht, in neue Stoffe verwandelt, die den Körper schützen. Da hat man seine Vitamine intus. Vitamine? Ein junges Wort. 1912 – zwei Jahre nach Erscheinen der ersten Ausgabe des STURM, damals passierte alles gleichzeitig - wurde es kreiert, als man nach und nach die Bedeutung erkannte: B1, A, D … C wurde erst 1941 entdeckt.




Die neue Speisekammer


Die Farben auf dem Teller sind mehr als Dekoration. Eher schon Animation. Man schmeckt ja nicht mit der Zunge allein. Mit der zuallerletzt. Als erstes schmeckt man mit den Augen, ganz intensiv. Das ergab auch der Gummibärchentest. Wer, im Rahmen einer Studie, rote Bärchen aß, war sich sicher: Das kann nur Kirsche sein. Auch wenn’s ­Zitrone war. Wer, im Rahmen einer anderen Studie, rot gefärbten Weißwein trank, schmeckte Rotwein. Gelb, so heißt es, schmeckt fröhlich. Unser Buchtipp Mehr Informationen auf der letzten Seite!

Farben essen, es gibt ein ganzes Kochbuch, das so heißt. Farben essen, im 17fuffzig bekommt das eine ganz neue Bedeutung. Eingerahmt von den ­Bildern des STURM, von Hugó Scheiber und Béla Kádár. So viel warme, satte Farbe an der Wand. Was sie gegessen haben? Das Leben.

Zur Begrüßung kommen kleine Möhrchen mit feinem Grün auf den Tisch, Radieschen, außen knallrot, innen weiß, leicht errötend. Wildkräuter dazu. ­ Mindestens ein Dutzend Shades of Green. Das dunkle Brot mit den ganzen Nüssen: selbstgebacken.


Walden, Herwarth Walden, den Namen hat Else Lasker-Schüler ihrem Mann geschenkt, der moderne Kunst förderte wie kein anderer und der eigentlich Georg Lewin hieß. Walden wie „Walden“, das berühmte Buch von Henry David­ Thoreau,­der sich im 19. Jahrhundert aus der Zivilisation in eine Holzhütte im Wald zurückzog, ein Experiment, um wahrhaftiger, intensiver zu leben, nur mit dem wirklich Notwendigen. Ein Buch, das für viele zur Bibel des naturnahen, einfachen ­Lebens wurde, heute noch ist, die Abkehr von Materialismus und Überfluss. Lustig eigentlich. Walden, so Lasker-Schüler, hatte für die Natur nichts übrig. „Unsere Reisen führten uns nur in die Städte.“ Sie lebten im Kaffeehaus, stritten und tranken, rauchten und schrieben, debattierten und lasen dort. Der schmächtige Walden raste durch die Welt, von Paris bis Budapest, ernährte sich, so scheint es, vor allem von Zigaretten. Allerdings notierte Walter Mehring nach der Gedächtnisfeier für die gefallenen­ Künstler Franz Marc und August Macke bei Herwarth Walden und seiner zweiten­Frau Nell: „…im Hause Walden tafelte man noch, trotz Brot- und Lebensmittelkarten – ja, mitten im Weltkrieg unter Léger-, Severini-, Kandinsky-, Chagall­-Gemälden und anderen undeutschen, feindlichen Kunstprodukten.“ Allein Kandinsky konnte Herwarth Walden an den Staffelsee locken, jener Künstler, der sich vorgenommen hatte, die Farbe von der Form zu befreien. Die intensiven Farben der Landschaft in und um Murnau herum hatten es ihm und ­Gabriele Münter angetan. Dabei waren auch diese keine Großstadtverächter, hatten in Paris und München gelebt.

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das restaurant 17fuffzig


Der Sturm ... der Name für Zeitschrift, Galerie und Bewegung, war ebenfalls Lasker-Schülers Erfindung. Ein passenderes Wort hätte die Dichterin nicht finden können. Denn ein Sturm pfiff durch die Welt, Revolution lag in der Luft.

Die Zeichen standen auf Befreiung. Die Befreiung der Farben, wie Kandinsky und seine Freunde sie praktizierten, eine wahre Explosion - wie man sie auch im 17fuffzig an der Wand erlebt. Man glaubt, den Knall zu hören. So wie die Musik: Die Saxophon spielenden Jazzmusiker auf den Gemälden, den trötenden Clown, die wiehernden Zirkuspferde, das jubelnde Publikum. Selbst das Schweigen des Paars im Restaurant auf einem der Bilder meint man zu hören. Auch die Befreiung der Frau gehörte dazu. Auf den Bildern von Hugó Scheiber und Béla Kádár sieht man, wie sie sich amüsiert, wie sie raucht und trinkt und redet, in der Bar, die Haare kurz geschnitten. Walden war ein großer Förderer der Avantgarde im Allgemeinen, der Künstlerinnen im Besonderen. Diese hatten keine Zeit, sich groß ums Essen zu kümmern. Statt am Herd standen sie wie Gabriele Münter an der Staffelei – zu einer Zeit, als die Akademien noch gar keine Studentinnen aufnahmen, die Institutionen hinkten immer hinterher - , saßen wie Lasker-Schüler am Schreibtisch. Oder alle miteinander am Kaffeehaustisch. Dazu gehörte außerdem: die Befreiung vom Korsett. Im übertragenen wie im wörtlichen Sinne. Erst wurde einschnürende Kleidung abgelegt, dann das ganze Gewand. Die Lebensreformer liebten es nackt. Ein Leben nah an und mit der Natur, ein Leben an der Sonne. Die Einheit von Körper, Seele, Geist. Komisch, dass sie sich einen so zaghaften Namen gaben. Was sie verfolgten, war doch weniger Reform als Revolution. Vielleicht sollte es nicht so bedrohlich klingen.


Für viele bedeutete Lebensreform vegetarische, oft rohe Kost, kein Alkohol, kein Tabak, kein Kaffee. Auch einige Künstler schlossen sich an, zogen mit auf den Monte Verità im Tessin. Die einzigen dem STURM nahe stehenden Künstler aber, die auch die Küche revolutionieren wollten, auf jeden Fall die italienische, waren die Futuristen. Sie wollten. Die Taverne zum Heiligen Gaumen nannten sie ihr Restaurant in Turin. Im Mittelpunkt ihres Kulinarischen Manifests stand die Abschaffung des italienischen Heiligtums, der Pastasciutta. Zu dick und schwer für die schnelle, dynamische Zeit, fanden die Futuristen, und: zu pazifistisch. Sie feierten gerade das Tempo, den Krach, die Massen der modernen Großstadt, waren mit Freuden aggressiv, verherrlichten – nach eigener Aussage - den Krieg und machten die Verachtung der Frauen zum Programm. Gern ließen sie sich mit Obst und Gemüse bewerfen. Als sie ihr Kochbuch 1932 veröffentlichten, war längst Mussolini an der Macht; der Verzicht auf Spaghetti wurde zur patriotischen Pflicht erklärt. So mache man sich unabhängig vom internationalen Weizen, unterstützte die einheimische Reisindustrie. Langfristig wollte der Erfinder der futuristischen Küche, ­Filippo Tommaso Marinetti – mit dem auch Hugo Scheiber mal eng befreundet war – seine Landsleute mit Radiowellen und Chemie ernähren. Frei von Farben­und ähnlichen Sinnesfreuden. Unter der Überschrift „Ultramännlich“ wurde­Hummer­schwanz mit Hahnenkämmen und frittiertem Hoden serviert. Das R ­ estaurant übrigens wurde ein Flop.




Die Zeit des Sturm war auch die Zeit, als die ökologische Landwirtschaft begann. Was erst einmal ein schlechtes Zeichen war: weil es bedeutete, dass man sie brauchte. 150 Jahre zuvor war eh alles bio. Mit der Industrialisierung kam auch die Lebensmittelindustrie. Die Konserve, Convenience, Massenfabrikation. Chemie. Rudolf Steiner erklärte seine Anthroposophie zur geisteswissenschaftlichen Grundlage der Landwirtschaft, 1927 wurde die gemeinsame Verwertungsgesellschaft Demeter gegründet. Übrigens explizit unvegetarisch: Tierhaltung ist Pflicht für die Höfe. Am Rande des Spreewalds liegt die Marienhöhe in Bad Saarow, die als ältester biologisch-dynamischer Hof Deutschlands gilt.

Man wollte hoch hinaus: ins Paradies. In den Großstädten machten Reformhäuser auf, 1900 das erste, das diesen Namen trug. Dort konnte man dann Margarine von Eden kaufen, der Obstbaukolonie. Pioniere der Ökobewegung, gemeinschaftliches Leben mit der Natur statt gegen sie. Auch damals war es eine Sehnsucht der Großstädter: Es waren Berliner Vegetarier, die die Gemeinschaft bei Oranienburg gründeten. In Berlin war zudem der Markt für die paradiesischen Produkte entsprechend groß. Ist heute auch nicht anders. Allerdings schien vegetarisch oft gleichbedeutend mit genussfeindlich und farblos zu sein. Noch in den 70er Jahren hatte man beim Besuch eines der wenigen vegetarischen Traditionslokale, in Hamburg am Neuen Wall, den Eindruck, dass alles gleich bleich war, das Essen wie die Gäste. Das hat sich dramatisch verändert, auch auf dem Teller fand eine Farb- und Geschmacksexplosion statt. Einer der Pioniere: Yotam Ottolenghi, der Londoner Israeli, der seine üppige Gemüsepracht auf kunstvollen Schalen ausbreitete.





Kochen nach Farben: Tiefrote Kirsche und Rote Bete. Dazu sattes Grün: Spinat, Rucola, Petersilie, fein püriert. Früher waren Farben in der Ausbildung der Köche kein Thema, da wurde einfach am Schluss zur Deko was Grünes auf den Teller gelegt. Im 17fuffzig fällt der Blick auf eine Dame in Türkis. Ihr Kleid hat die gleiche Farbe wie das Wasserglas auf dem Tisch des Restaurants. Ein Schleier hängt von ihrem Hut, sie hält eine Schale Obst in der Hand. Ein Gemälde von Béla Kádár. Ein Gruß aus der Küche, auf dunklem Schiefer serviert,

orange die Melone am Spieß, weißer Schaum, in dem Nüsschen wie kleine Bäume stecken. Lila und orange die Blüten.


Seit Jahren schon werden im 17fuffzig vegetarische Menüs gereicht.

Buttriges Rührei mit schwarzem Trüffel. Spreewälder Sommergarten: tiefrote Tomaten, grüne Erbsenschoten, orangene Blüten. Alles frisch gekocht. Keine Zusatzstoffe, kein Zauberpülverchen. Die Flüssigkeit, in der die Kichererbsen gegart wurden, wird wie Eiweiß aufgeschlagen.


Dann ein Vorgeschmack auf den Herbst. Erdtöne.

Kartoffel-Risotto mit gebratenen Pfifferlingen, Steinpilze in geräucherter Schalottensauce. Das Räuchern lässt das Fleisch nicht vermissen. Auch Giersch dabei. Wer hätte es vor 10, 20 Jahren gewagt, Unkraut in der feinen Küche aufzutragen? Kochen mit der Natur, nicht gegen sie, lokal und saisonal, was heute angesagt ist, fing als Konzept vor gut 100 Jahren an. Jetzt bricht bald die braune Jahreszeit an: Pilze und Wild, Wurzelgemüse und Maronen, Truthahn und Gans... Vielleicht hat der Boom von Kürbis und Süßkartoffel in deutschen Landen, die Allgegenwart der Karotten-Orange-Suppe auch etwas damit zu tun: dass das Orange im Braun so wohltuend leuchtet. Der Abschluss des vegetarischen Menüs: Rote Pfirsiche und rosa Grapefruits

mit Matcha-Tee-Eis. Grüner geht‘s nicht. Die Farben sind intensiver geworden in der Küche. Was sich auch geändert hat: Die Befindlichkeiten sind größer geworden. Unverträglichkeiten, Allergien. Die Lebensmittelindustrie, die Fertigprodukte, die industrialisierte Landwirtschaft hinterlassen ihre Spuren. Die Lebensreformer haben sich damals nicht durchgesetzt. Was kann, was darf, was soll man überhaupt noch essen? Manche werden ganz hysterisch vor Angst.




der kahnhafen im herbst


Nur Ruhe. Unser Buchtipp

„Essen Sie nichts, was Ihre Großmutter nicht als Essen erkannt hätte“ , rät der

Mehr Informationen auf der letzten Seite!

amerikanische Journalist Michael Pollan, so lautet auch der Titel seines wunderbaren Buchs. Wer nicht mehr weiter weiß, vor lauter Studien - heute macht Kaffee krank, morgen macht er gesund – und Skandalen, ist mit diesem klugen und witzigen, bodenständigen Ratgeber gut bedient. „Essen Sie nur Lebensmittel, die verderben können“, empfiehlt Michael Pollan. „Meiden Sie Nahrungsmittel mit Zutaten, die ein Drittklässler nicht aussprechen kann,“ lautet eine andere Faustregel. Mit anderen Worten: Meiden Sie Industriefutter. Ein Ratgeber in satten Farben, herrlich illustriert von der New Yorker Künstlerin Maira Kalman. Ein Buch, das Lust auf Essen macht. Am nächsten Morgen, am Frühstückstisch. Erstaunlich, dass man schon wieder essen und trinken kann. Rote Kirschtomaten.

Gelbes Ei. Draußen gackern die Hühner. Quark von Ogrosen, ökologischer Landwirtschaftsbetrieb und Höfegemeinschaft zugleich. Cornflakes und Birchermüsli. Auch Max Bircher-Benner, ein Arzt mit ganzheitlichem Ansatz, zählt zu den Pionieren. In seinem Schweizer Sanatorium „Lebendige Kraft“ verschrieb er seinen Patienten Vollkorn- und Rohkost als Medizin. Haferflocken, geriebene Äpfel, Nüsse, und gezuckerte Kondensmilch: Das Müesli, kurz „d Spys“ genannt und um 1900 kreiert, habe er den Alpenhirten abgeschaut. Zurück zur Natur. In der Klinik tankten auch etliche Künstler auf – Wilhelm Furtwängler und Bruno Walter, Hermann Hesse und Thomas Mann. Letzterer äußerte sich despektierlich, kam sich wie im Gefängnis vor. Birchermüsli kriegt man heute in jedem großstädtischen Coffesshop to go, Rohkost ist als Raw Food schwer modern. Vieles, was heute angesagt ist, fing damals an. Clean Eating, Lebensmittel ohne Zusatz- und Konservierungsstoffe. Weckgläser statt Konserven. In den hippen Zentren dieser Welt, von Portland bis Neukölln, wo selbst Frisches wie Obst und Salat darin serviert wird. Verkehrte Welt: Herr Weck hatte seine Firma 1900 ja gegründet, um Frisches für den Winter auf natürliche Art haltbar zu machen – ohne Blech und ohne Konservierungsstoffe. Sieben Jahre später stand es schon im Duden: Einwecken. Jetzt, im Zeitalter gigantischer Supermärkte und globaler Wirtschaftswelt, erlebt das Selbermachen


einen Boom. Im digitalen Zeitalter wird die Sehnsucht nach analogem Marmeladeeinkochen und Gurkeneinlegen groß. Wie befriedigend das ist. Wie kostbar. Wohltuend die Langsamkeit in der beschleunigten Welt. Auch in der Spitzenküche wird es praktiziert. Die bildschönen, mit Gemüse gefüllten Weckgläser werden zur Freude des Auges ins Restaurant gestellt - und bei Bedarf geöffnet. Es hat 100 Jahre gedauert, bis die Botschaften angekommen sind. Zu Beginn der 1990er, als die Bleiche eröffnete, musste man lange in der Umgebung suchen, bis man - in Cottbus - ein Reformhaus fand. Heute hat jeder Supermarkt mehr als eine Bio-Ecke, kriegt man beim Discounter vegane Kost. Den leicht muffigen Duft der Reformhäuser, das Altbackene ihrer Gestaltung haben die Biosupermärkte von heute abgestreift. Es ist einfacher geworden, gute Zutaten zu kriegen. Auch das Netzwerk der Anbieter ist besser geworden. Das Lammkotelett ist mal über Spreewälder Wiesen gehoppelt. Die Kräuterkruste ist in der Gegend gewachsen. Die Steinpilze hat der Chef-Saucier gesucht und gefunden. Die Kirschen sind an Brandenburger Bäumen gewachsen, der Honig kommt aus der Lausitz, Geflügel und Eier aus Sachsen. Das Angebot wurde reduziert. Keine fünf Sorten Schinken mehr, sondern zwei. Kein Schnittkäse, der schnell vergammelt, stattdessen Käse am Stück. Keine Shrimps mehr. Im Spa wird der Hunger der Haut gestillt. Mit

Quarkpackungen und Leinölbädern, Honig und Kräutern. Künstlergruppen, Bewegungen, Ehen – die meisten brachen irgendwann wieder auseinander. Ideen bleiben.


Zur selben Zeit wie das Müsli wurden übrigens die Cornflakes erfunden. Ebenfalls von einem Arzt, dem Amerikaner John Harvey Kellogg, Sieben-Tage-Adventist und Chef des Battle-Creek-Sanatoriums, der das einfache Leben und Essen propagierte. Nur hatte der Amerikaner ein bisschen Pech. Sein kleiner Bruder mischte Zucker – den der große so kategorisch ablehnte wie Weißmehl – unter die Flocken, damit sie besser schmeckten. Der Kleine machte Karriere, Kellogg’s ist heute ein Riesenkonzern. Mit Gesundheitsküche haben die süßen Cerealien nichts mehr zu tun. Dr. Kellogg der Ältere, Anti-Alkoholiker wie Bircher-Benner, war von seiner Mission berauscht. Mit seiner vegetarischen Rohkost glaubte er die Menschen vor allen Sünden retten zu können – Cornflakes gegen Masturbation, die ihm ein besonderes Anliegen war. Er selbst lebte zölibatär, obwohl er verheiratet war. Verstieg sich in bizarre Gedankenkonstruktionen. Der Schriftsteller T.C.Boyle hat ihn vor einigen Jahren in einem satirischen Roman verewigt: „Willkommen in Unser Buchtipp Mehr Informationen auf der letzten Seite!

Wellville“. Das war, ist es heute immer noch oft, das Problem aller Heilslehren, nicht nur der ernährungswissenschaftlichen. Prinzipien: ja. Aber sobald die Befreiung zum Dogma, die Idee zur Ideologie wird, beginnt es schwierig zu werden. Viele, auch die Kolonie Eden, drifteten nach rechts, ins Völkische. Dr. Bircher-Benner freute sich, dass die Nazis seine Kost schätzten. Man kann die Welt nicht mit Rohkost retten. Vegetarier sind nicht automatisch bessere Menschen. Hitler war auch einer. Und vegane Kost ist nicht gleichbedeutend mit natürlichem Essen. Wer die Beipackzettel von veganen Gerichten liest, dem wird ganz schwindlig. Was hält denn den veganen Truthahn zusammen? Nicht die Natur. Und wie kriegt man den Kuchen ohne Butter, Milch und Ei locker? Möchte man vielleicht lieber nicht wissen. Der Fanatismus kennt nur eine Wahrheit. Aber ob im Leben oder auf dem Teller, Ambivalenz gehört immer dazu. Rot zum Beispiel kann süß, aber auch scharf signalisieren, grün bitter und giftig - oder frisch und gesund. Gelobt sei der Regenbogen.





Unsere Empfehlungen für Sie zum Weiterlesen:

Eva Derndorfer Marlies Gruber

Henry David­Thoreau

Farben essen

oder Leben in den Wäldern

Heute koch ich Rot-Gelb-Grün

Walden

Diogenes Verlag, 2015 978-3-257-06932-7

Verlag Maudrich, 2015 978-3-99002-016-6

Michael Pollan Maira Kalman Essen Sie nichts, was Ihre GroSSmutter nicht als Essen erkannt hätte Goldene Regeln für gute Ernährung

T. C. Boyle Willkommen in Wellville Deutscher Taschenbuchverlag, 2009 978-3-423-11998-6

Verlag Antje Kunstmann, 2013 978-3-88897-828-9

Yotam Ottolenghi Vegetarische Köstlichkeiten Dorling Kindersley Verlag, 2014 978-3-8310-2691-3

Kochen nach Farben 12 Farben. 12 Menüs Prestel Verlag, 2014 978-3-7913-4900-8

Die Bücher können Sie gern in unserer Bleiche Buchhandlung bei Birgit Holler bestellen: Tel.: 035603 - 620 Email: buchhandlung@bleiche.de


Die Autorin SUSANNE KIPPENBERGER Wurde 1957 in Dortmund geboren, in Essen aufgewachsen, 1976/77 Studium Generale am Leibniz ­Kolleg Tübingen, anschließend Studium der Germanistik, A ­ nglistik, Amerikanistik in Tübingen und an der Wittenberg University in Springfield, Ohio, Abschluss­arbeit über Woody Allens „Stadtneurotiker“ 1985/86 Fulbright-Stipendium zum Studium der Filmwissenschaften an der New York University, Praktikum am Museum of Modern Art Foto: Elena Steil

1986 Praktikum bei DIE ZEIT, anschließend freie J ­ ournalistin in Hamburg, seit 1989 beim Berliner T ­ agesspiegel Als Stipendiatin des Spreewald-Literatur-Stipendiums verbrachte Susanne Kippenberger im Herbst 2012 einen Monat im Hotel Bleiche.

Bücher von Susanne Kippenberger: „Kippenberger. Der Künstler und seine Familien“­ (Berlin Verlag, 2007) “Am Tisch: Die kulinarische Bohème oder Die Entdeckung der Lebenslust” (Berlin Verlag, 2009) „Das rote Schaf der Familie. Jessica Mitford und ihre Schwestern“ (Verlag Hanser Berlin, 2014)

IMPRESSUM Herausgeber und Redaktion: Christine und Heinrich Michael Clausing BLEICHE RESORT & SPA Bleichestraße 16 · 03096 Burg / Spreewald, Telefon+49(0)35603-620 · Fax +49(0)35603-60292 www.bleiche.de · reservierung@bleiche.de Hotel „Zur Bleiche“ Heinrich Michael Clausing e.K. Fotos: Nikolaj Georgiew, www.georgiew.de Text: Susanne Kippenberger Konzept & Gestaltung: Ronald Reinsberg, www.reinsberg.de Druck: Druckteam, Berlin


bleiche resort & spa · BleichestraSSe 16 · D-03096 Burg / Spreewald · Telefon +49(0)35603-620 · Fax +49(0)35603-60292 www.bleiche.de · reservierung@bleiche.de


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