SPREEWALD AnTHOLOGIE VI
Spreewald-Literatur-Stipendium 2013 - 2014
SPRE EWA L D A N T HOLO G IE V I
Spreewald-Literatur-Stipendium 2013 - 2014 Thomas Hettche Sebastian Stern Bernd Cailloux Bettina BalĂ ka Steffen Popp
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INHALT
Thomas Hettche......................................................................................................................................... 05 Tischgespräch ........................................................................................................................................................ 06 Sebastian Stern........................................................................................................................................... 15 Spaziergang mit Frau Morgenstern....................................................................................................................... 16 BERND CAILLOUX............................................................................................................................................ 23 Ferien vom Ich – Hotelgeschichten...................................................................................................................... 24 BETTINA BALÀKA............................................................................................................................................ 47 Trauertücher, Truhentrachten.............................................................................................................................. 48
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Steffen Popp................................................................................................................................................... 57 Fließe .................................................................................................................................................................... 58 Bäume................................................................................................................................................................... 61 Pools...................................................................................................................................................................... 62 Gurken.................................................................................................................................................................. 65 Kristalle................................................................................................................................................................. 66
Die jury.............................................................................................................................................................. 69
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Herbst 2013
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Foto: © Stiftung Schloss Leuk/Thomas Andenmatten
Thomas Hettche Thomas Hettche, geboren 1964 am Rande des Vogelsbergs, lebt in Berlin und in der Schweiz. Er debütierte 1989 mit dem Roman „Ludwig muß sterben“ und veröffentlicht seitdem Prosa und Essays. Zuletzt ist 2014 von ihm der Roman „Pfaueninsel“ erschienen, für den er u.a. den WilhelmRaabe-Preis, den Bayerischen Buchpreis und den Ernst-Koeppen-Preis erhalten hat. Hettche ist Mitglied des PEN und der Deutschen Akadamie für Sprache und Dichtung.
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Tischgespräch „Sie erlauben?“
Gerade war die Suppe serviert worden, und ich hatte zu essen begonnen, als ein Mann vor
mir stand und, ohne eine Antwort abzuwarten, an meinem kleinen Tisch im Grünen Gewölbe Platz nahm, wie man hier den hohen Raum zum Garten nennt. Ich war nicht überrascht, denn der Kellner, der mich wie jeden Abend herbegleitet hatte, hatte sich dabei entschuldigt, heute einen zweiten Gast bei mir plazieren zu müssen, da das Hotel völlig ausgebucht sei. Wie man in einem Schlafwagenabteil einen unbekannten Mitreisenden mit jenem mulmigen Gefühl erwartet, gleich eine ungewollte Intimität ertragen zu müssen, hatte ich seitdem auf meinen Tischnachbarn gewartet. Im Schlafwagen ist ja die Unsicherheit, wie man mit der Situation umgehen soll, um dem anderen und sich selbst Peinlichkeiten zu ersparen, unangenehmer als die ungewollte Nähe selbst, und mit derselben Unsicherheit nickte ich jetzt meinem Gegenüber verlegen zu, den Blickkontakt vermeidend, und aß weiter.
Davon aber ließ er sich nicht abhalten und stellte sich mir vor, was auch mich nötigte,
meinen Namen zu nennen, und begann umstandslos ein Tischgespräch, das er, da ich schwieg, alleine bestritt. Zunächst plauderte er über den Spreewald, dann über das nahegelegene Vetschau, das auf sorbisch Witoschowa heiße und dessen Geschichte er in aller Ausführlichkeit extemporierte. Er erwähnte die alte Salzstraße von der Elbe über Luckau nach Cottbus ebenso wie die wendischdeutsche Doppelkirche mit ihrem aus Felssteinen gemauerten Kirchturm, und zählte schließlich gar die Namen der einstmals zum Kirchspiel Vetschau gehörenden Dörfer auf: Lakoma, Schönebegk, Suschow, Weißagk, Dlugy, Naundorf, Stradow und Raddusch. Obwohl ich zu all dem schwieg, hatte ich nicht den Eindruck, an einen jener Zeitgenossen geraten zu sein, denen ihr Gegenüber gleichgültig ist, ja, es schien mir ganz im Gegenteil so, als plaudere er nur deshalb vor sich hin, weil mein Schweigen ihm nun einmal die ganze Mühe der Tischkonversation überließ. Sein Ton war dabei von so freundlicher Aufmerksamkeit, daß ich mich unwillkürlich, während ich meine Suppe löffelte, darin einrichtete und mich ganz wohl dabei befand, mir etwas erzählen zu lassen und ihn dabei zu mustern. Ein älterer Herr mit buschigen Augenbrauen und ungebändigtem, etwas zu langem weißem Haar, der einen der Jahreszeit durchaus angemessenen, aber im Kreis der anderen Hotelgäste doch auffälligen dreiteiligen Tweed-
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anzug trug. Ich bemerkte die dezenten Manschettenknöpfe, eine schmale goldene Uhrkette an der Weste und seine wirklich auffallend schlechten Zähne. Und während ich ihn betrachtete, schweiften meine Gedanken so weit ab, daß nur mehr einzelne Worte und Sätze mich erreichten. Einmal fiel der seltsame Name Eustachius von Schlieben, und ich folgte für eine kleine Weile wieder der Erzählung meines Gegenübers, wie jener Eustachius das Schloß auf den Resten einer alten Wasserburg gebaut und den Park habe anlegen lassen, dann versank ich erneut in eigenen Gedanken, in die erst der Name Gero wieder vordrang, Sohn des sächsischen Grafen Thietmar, wie ich nun erfuhr, erster und einziger Markgraf der Sächsischen Ostmark, 937 von Kaiser Otto mit der Grenzwacht gegen die Slawen betraut. Wovon sprach er nur? Der Strudel von Namen und Zahlen machte es mir unmöglich, einen Zusammenhang zu begreifen, Milzener und Lusitzi, Wettiner und Askanier, die schlechten Zähne blitzten im Erzähleifer, und schließlich hörte ich: „lud dreißig slawische Fürsten zu einem Gastmahl und ließ sie ermorden.“
„Verzeihen Sie bitte, aber was sagten Sie?“
Mein Gegenüber sah mich mit einem entschuldigenden Blick an, als sei es ganz allein seine Schuld, daß ich seinen Ausführungen nicht folgen konnte, und erklärte sanft: „Ich sagte, Bolesław I. Chrobry, der Tapfere, heiratete schließlich Emnilda, die Tochter des Sorben Dobromir. Damit rückten die elbslawischen Grenzmarken des Reiches ins Zentrum des polnischen Expansionsinteresses.“ „Ach!“ Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Tut mir sehr leid, wenn ich sie langweile.“
„Nein, gar nicht. Ich hab‘s nur nicht so mit Geschichte. Bin auch zum ersten Mal hier und
weiß so gar nichts über den Spreewald.“
„Und das Hotel?“, fragte er, damit gleichsam höflich noch einmal einen Schritt in unserer
Bekanntschaft zurücktretend, wobei ich jedoch die Empfindung hatte, er gebe damit den Faden seiner Erzählung keineswegs aus der Hand. „Wie gefällt es ihnen?“
„Das Hotel? Gut, sehr gut sogar.“
„Der Begriff des Hotels ist ja durchaus ambig. Einerseits kommt er vom Lateinischen und
heißt einfach so viel wie Beherbergungsstätte.“
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„Wie das Krankenhaus“, unterbrach ich ihn, nun doch neugierig, auf was er hinauswollte.
„Gewiß: das Hospital. Andererseits aber war das Hôtel in Frankreich das Stadthaus des
Adels und das hieß: das Verwaltungsgebäude der jeweiligen Besitzungen. Daß man später das Rathaus Hôtel de ville nannte, bedeutet gerade nicht, daß im Wort der Prunk des Adelspalastes überlebt hätte, sondern seine Funktion als Ort der Zugehörigkeit in der Fremde.“
„Interessant. Aber ich verstehe nicht ganz...“
„Was schätzen Sie an diesem Hotel?“
„Den Komfort. Die geschmackvolle Ausstattung. Den freundlichen Service.“
„Wirklich? Ich denke, es kommt auf etwas anderes an.“
„Auf was denn?“
Er setzte gerade zu einer Erklärung an, als der Kellner an unseren Tisch trat, meinen Teller abräumte und meinen Tischnachbar nach seinen Wünschen fragte. Er esse später, erwiderte er freundlich, bestellte nur ein Glas Rotwein, und ich schloß mich seiner Bestellung an, ohne über dieses Verhalten nachzudenken. Meine ganze Aufmerksamkeit galt der seltsamen Empfindung, daß nichts von meiner Reserviertheit gegenüber meinem unerwarteten Tischgenossen geblieben war, und unser Gespräch, das so ziellos und gleichgültig begonnen hatte, mich mehr und mehr interessierte. Und so war ich froh, daß er, kaum war der Kellner verschwunden, den Gesprächsfaden umstandslos wieder aufnahm.
„Haben Sie beobachtet, wie heute den ganzen Tag die Wagen die lange Auffahrt heran-
kamen, die nicht umsonst in einem weiten Schwung an der großen Wiese vorüber und dann schnurgerade auf das Hotel zuführt? Den Gästen wird das Gepäck abgenommen und der Wagen geparkt, während sie durch die Drehtür in die große Halle treten.“
„Es ist Wochenende. Die Berliner wollen aufs Land. Das Hotel ist ausgebucht.“
„Gewiß. Aber was, glauben Sie, meinen die Menschen denn hier zu finden, daß sich eine
solche Prozession aus der Stadt ergibt?“
„Wellness, gutes Essen, Erholung eben.“
„Fällt ihnen nichts auf? Es ist exakt derselbe Luxus wie schon im Mittelalter, den wir su-
chen: heiße Bäder, gutes Essen, ein weiches Bett. Dazu ein Garten und ein großer Raum, um sich zu versammeln. Damit verwöhnte und beeindruckte einst auch ein Fürst seine Lehensträger. Selbst die Anreise zum Hotel, das im besten Fall wie ein Schloß in einer Landschaft thront, die
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große Halle, die einen empfängt, die Bedienungen in ihren Livreen, die sich natürlich von der Hofkleidung ableiten, alles ist noch da. Nur eines fehlt.“
„Und das wäre?“
„Der Sinn. Ein gutes Hotel gibt uns auch heute noch das Gefühl, in einer Herrschaft auf-
gehoben, sozusagen Teil eines genealogischen Systems zu sein, in dem persönliche Leistung irrelevant ist. Das sieht man daran, das tunlichst alles unternommen wird, jeglichen Hinweis auf Geldverhältnisse zu tilgen. Wir erholen uns hier von den Tauschverhältnissen, in die wir ansonsten eingesperrt sind. Aber nur auf Zeit. Wir können das Hotel ja jederzeit wieder verlassen - eine typisch bürgerliche Vorstellung. Freiheit ist das Wichtigste. Doch diese Verbindung von Gebundenheit und Freiheit war nur so lange in der Balance, solange im Bürgertum die Erinnerung an die überwundenen Formen des Feudalismus lebendig waren.“
„Übertreiben sie den Bezug zum Mittelalter nicht etwas?“
„Glaube ich nicht. Der Hof war ja ursprünglich tatsächlich der von Gebäuden umschlossene
freie Platz eines Gutes, dort versammelte sich die Gefolgschaft des Gutsherrn. Später bezeichnete man diese Gefolgschaft dann selbst als den Hof, der Hofstaat entstand und mit ihm, nun ja, die Höflichkeit.“
„Ach, daher kommt die Höflichkeit?“
„Ja. Bestimmte Umgangformen, die beherrschen mußte, wer am Hof akzeptiert werden
wollte. Und deshalb gibt es heute, da sich die Gäste ohne Stil und Manieren in den Fauteuils lümmeln, eigentlich keine guten Hotels mehr.“
„Ach, es geht hier doch recht gesittet zu, finden Sie nicht?“
Statt mir zu antworten, wünschte er mir einen guten Appetit, denn gerade war der Haupt-
gang aufgetragen worden, und auch ich war froh, das Gespräch, dessen ganze Richtung mir nun doch immer weniger gefiel, für einen Moment unterbrechen zu können. Die Tische um uns her hatten sich mittlerweile gefüllt und die leisen Geräusche des Restaurants klangen durch den hohen Raum, vor dessen breiter Fensterfront das Wasser eines der Spreewälder Kanäle vorbeischwappte, mit Birkenblättern bedeckt, die im Licht, das nach draußen fiel, honiggelb aufleuchteten.
„Es gibt heute nur noch zwei Sorten von Gästen,“ nahm mein Gegenüber nach einer Weile
das Gespräch wieder auf, „die, die sich durch das Hotel bewegen, als schlurften sie auf Filzpantoffeln durch Schlösser, von deren Bedeutung sie nichts wissen und deren Bildprogramm sie
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nicht verstehen.“ „Oder?“
„Oder die, die in Sneakers wie durch einen Freizeitpark laufen, immer auf der Suche nach
dem nächsten Fahrgeschäft.“ Ich mußte lachen über diese Beschreibung. „Das ist aber dieselbe Kategorie, oder?“ „Richtig.“
„Und die andere?“
„Das sind die, die von sich selbst glauben, sie hätten es sich verdient, hier abzusteigen. Sie
hätten sich die finanziellen Möglichkeiten und gleich auch die Manieren erarbeitet, sich in diesem Rahmen adäquat zu bewegen.“
„Womit doch alles gut wäre.“
„Leider nein! Denn diese Menschen werden die Ökonomie, aus der sie kommen, auch hier
nicht los. Sie hat sie verkrüppelt. Sie beherrschen die Formen, aber sie verstehen den Geist nicht. Es fehlt ihnen leider die Ethik des Gebens, des Spiels, der Verantwortung, die die Kultur einst voraussetzte.“ Ich sah mich um und musterte die Gäste, meist Paare mittleren Alters, einige Alte, fast keine Familien, nur ein Tisch mit Kindern. „Wer gehört denn Ihrer Ansicht nach zu welcher Kategorie?“
„Da, diese drei Frauen dort drüben mit den blondierten Strähnchen und den Proseccoglä-
sern gehören zur Kategorie Sneakers. Wellnesswochenende mit den Freundinnen. Die kennen sicher alle Massagemöglichkeiten, die es hier im Spa gibt, ob mit Honig oder Schokolade, von einem Hotel aber wissen sie nichts. Weshalb ich auch bezweifle, daß sie der inneren Ruhe, die sie angeblich suchen, ein Stück näherkommen werden.“
„Sie sind böse. Und die Paare?“
„Fallen fast alle unter die zweite Kategorie. Das Wochenende hier ist eine Trophäe für sie.
Je teurer, desto besser. Womit schon alles verloren ist. Wenn Sie genauer hinsehen, werden Sie erkennen, daß es eigentlich auch keine Paare sind, sondern Teams. Gemeinsam gegen die Welt und für die Karriere.“
„Ach herrje.“
Ich legte das Besteck auf den mittlerweile leeren Teller und die Serviette daneben. Gern
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hätte ich mich über das empört, was er da sagte, doch wenn ich an die letzten Tage zurückdachte, erklärte es tatsächlich viel von dem Unbehagen, das ich immer wieder bei Begegnungen empfunden hatte. Aber war ich selbst denn anders? Auch ich hatte mich ja, als er sich zu mir setzte, in Indifferenz geflüchtet. „Findet denn niemand Gnade vor Ihrem Blick?“
„Doch. Da drüben das junge Paar. Die sind sehr verliebt. Und alle Verliebten sind höflich.
Das ist heute noch ebenso wie in der mittelalterlichen Minne.“ Er hatte Recht. Ich hatte die beiden gar nicht bemerkt, sie waren noch ganz jung, fast noch Kinder, und ich konnte, als ich sie jetzt entdeckt hatte, gar nicht mehr aufhören, ihrem Lächeln und Händchenhalten zuzusehen, ihrer Schüchternheit und ihrem Glück, das sie umwölbte wie ein Glassturz, unter dem sie sicher waren in ihrer eigenen, ganz anderen Welt.
„Noch jemand?“ fragte ich leise.
Er nickte. „Die alte Dame dort. Sehen Sie, wie mühsam sie den Suppenlöffel zum Mund führt. Sie würde sich dennoch niemals über den Teller beugen.“ Ein beiges Twinset, eine Perlenkette, die Haare so weiß wie die meines Gegenübers. Die beiden, schoß es mir durch den Kopf, wären ein schönes Paar. Dann bemerkte ich etwas. „Aber schauen Sie mal, wie seltsam: Offenbar ist sie gar nicht allein, sie scheint jemanden zu erwarten! Ein zweiter Platz ist eingedeckt.“
„Sie sind ein guter Beobachter“, sagte mein Tischnachbar mit einem breiten Lächeln,
„und es hat mich wirklich gefreut, Sie kennenzulernen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“
Und ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf, rückte seinen Stuhl an den Tisch, nickte
mir noch einmal zu und ging zu eben jener alten Dame hinüber, die ihn mit einem Lächeln empfing, als habe sie schon auf ihn gewartet, setzte sich zu ihr und winkte mit einer kleinen freundlichen Geste den Kellner herbei.
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Foto: © Johannes Haslinger
Sebastian Stern Sebastian Stern - 1979 im niederbayerischen Deggendorf geboren. Nach ersten Theater- und Filmerfahrungen in der Schulzeit und verschiedenen Praktika bei Kino- und Fernsehproduktionen studierte er ab 2001 im Fach „Kino- und Fernsehfilm“ an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Mit seinen Kurzfilmen „Nach Haus“, „Fang des Lebens“ und „nichts weiter als“ (jeweils Buch und Regie) nahm er an internationalen Festivals teil, u.a. an der Berlinale 2006 (Perspektive Deutsches Kino), dem Max Ophüls Preis, dem New York International Student Film Festival und dem Internationalen Festival der Filmhochschulen München. Sein Abschluß- und Debutfilm „Die Hummel“ kam im August 2010 in die Kinos, lief in der Reihe „Debut im Ersten“ in der ARD und wurde u.A. im Januar 2011 mit dem Bayerischen Filmpreis für die beste Nachwuchsregie ausgezeichnet. Das Drehbuch zum Kinofilm „Der Hund begraben“, an dem Sebastian Stern im Rahmen des Spreewald-Literatur Stipendiums in der Bleiche gearbeitet hat, wurde im Frühjahr 2016 unter seiner Regie mit Justus von Dohnányi in der Hauptrolle verfilmt.
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Spaziergang mit Frau Morgenstern Zum ersten Mal traf ich Frau Morgenstern nach der Filmvorführung eines Kurzfilms im Kino der Bleiche. Es war die erste Woche meines Schreibstipendiums und ich zeigte an diesem Abend Kurzfilme, unter anderem einen meiner allerersten Übungsfilme, den ich noch während meines Studiums in meiner Heimat im Bayerischen Wald gedreht hatte, die Geschichte eines Kindes, das mit dem Tod seines Großvaters während eines gemeinsamen Angelurlaubs konfrontiert wird. Jahrelang hatte ich ihn selbst nicht mehr gesehen und der Film war für mich wie eine Zeitkapsel, die sich während der Vorführung nach und nach öffnete und mich mehr als zehn Jahre zurückversetzte, in die Zeit meines Filmstudiums, in die Kleinstadt meiner Jugend und auch zu meinem Großvater, der selbst bald nach den Dreharbeiten gestorben war. Es amüsierte mich ein wenig, wie sich das Publikum auf den Liegesesseln des Kinos in zwei scheinbar unvereinbare Fraktionen teilte, Hotelgäste in ihren flauschigen, wohlduftenden Bademänteln einerseits und andererseits eine Gruppe ortsansässiger Filminteressierter, die sich für die wöchentliche Kulturveranstaltung fein, wenn auch angesichts der Temperaturen im Wellness-Kino viel zu warm angezogen hatten und schon während des Vorspanns des ersten Films mächtig ins Schwitzen kamen. Frau Morgenstern war mir schon während der Vorstellung aufgefallen, sie saß in einer dunklen, schlichten Tracht abseits am Rande des Publikums und schien keiner der beiden Fraktionen anzugehören. Die alte Dame war weder Gast im einen noch im anderen Sinne, es wirkte eher, als gehöre sie wie selbstverständlich zu dieser besonderen Vorstellung dazu, als sei sie Teil des Ortes und nicht seiner Besucher. Sie beobachtete die Filme mit einer Wachheit, die mir noch im Dunkel des Kinos auffiel und nach der Vorführung wartete sie auf mich, mit dem sichtlichen Bedürfnis, mir mitzuteilen, wie sehr sie der Film, dieser eine Film mit dem Großvater und dem Jungen, berührt habe. Der andere, naja, sie winkte ein wenig schnoddrig ab, und übte mit wenigen scharfsinnigen Worten durchaus treffende Kritik. Die Frau beeindruckte mich.
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Im Gespräch erfuhr ich, dass sie im nahegelegenen Lübben wohnt und, als Freundin des Hauses, regelmäßig den Kulturveranstaltungen im Hotel beiwohnt. Vor der nächsten Abendveranstaltung verabredeten wir uns in der Hotelhalle. Frau Morgenstern erschien überpünktlich und mit einer ausladenden Haube auf dem Kopf. Darauf angesprochen, begann sie, noch bevor wir den ersten Schluck Tee getrunken hatten, in großer Ausführlichkeit die Bewandtnisse ihrer Tracht zu erläutern, erläuterte den Stolz auf die Traditionen und Bräuche der Gegend und wie wichtig ihr das Anliegen sei, diese an Besucher weiterzuvermitteln. Frau Morgenstern erzählte mit einem sichtbaren Leuchten in den Augen und in einer druckreifen Sprache, die nicht allein daher rühren konnte, dass sie manche Anekdote wohl schon oft anderen Reisenden erzählt hatte, und sich die Geschichten im Laufe der Zeit rund geschliffen hatten. Nein, alles an ihrem Erzählten war formvollendet, und war es auch nur ein kleiner Scherz oder eine Bemerkung zu ihrem lieben Mann, der sie zum Treffen chauffiert hatte und nun draussen im, wegen seiner Kriegsversehrtheit eigens umgerüsteten, Wagen wartete. Mit einem kleinen Bleistift aus der Hotellobby begann ich, mir Details aus ihren Erzählungen zu notieren, in der Hoffnung sie vielleicht in einem Text über den Spreewald verwenden zu können. Doch die Unvermitteltheit, mit der Frau Morgenstern ihre Ezählung mit Anekdoten, Zitaten und ganzen Gedichtpassagen (vom Schmiedemeister aus Neu-Zauche über Virchow bis Fontane) mischte, machte es mir schwer, das Gehörte in seiner Ganzheit festzuhalten. Und ich hatte auch Zweifel, ob es mir gelänge, diese besondere Art des Erzählens, Schwärmens und Rezitierens in Worten wiedergeben zu können. So kam es, dass ich Frau Morgenstern um die Erlaubnis bat, sie filmen zu dürfen. Sie willigte ein und wir trafen uns eine Woche später im Schlosspark von Lübben auf einen „Spaziergang mit Kamera“. Es war ein unglaublich kalter Tag, aber die Witterung schien ihr weit weniger auszumachen wie mir. Sie führte mich durch den Park des Schlosses und in den prächtigen Wappensaal. Schnell zeigte sie auch vor der Kamera jene Offenheit und Freude am Erzählen, die mich schon bei den ersten Gesprächen beeindruckt hatte.
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Als wir am Ende der Aufnahmen noch durch das Ortszentrum liefen, überraschte uns ein plötzlicher Eisregen, das Strassenpflaster war von einer Minute auf die andere spiegelglatt und wir hingen auf einmal buchstäblich in der Mitte des weitläufigen Marktplatzes fest. Das Blitzeis machte mich ein wenig nervös, ich fühlte mich verantwortlich, die alte Dame in diese nicht ganz ungefährliche Situation gebracht zu haben. Ich legte die Kamera beiseite und versuchte, sie aus der Mitte des Platzes zu führen. Frau Morgenstern hingegen war nicht aus der Ruhe zu bringen. Ich glaube, sie wies mich noch während der Rutschpartie auf das Paul-Gerhardt-Denkmal hin und grüßte einen ihr bekannten alten Mann mit Hund, mit dem sie ausgiebig über den Wintereinbruch und andere Dinge plauderte. Sie wirkte in ihrer positiven Art unerschütterlich. Als der kurze Film dann im Hotel vorgführt wurde, war ich sehr erleichtert, dass er ihr gefiel. Mit ihrer direkten Art wies sie mich allerdings sogleich auf einen Fehler hin: Der Uhrturmreiter der Kirche, von dem sie im Film erzähle, sei nicht richtig zu sehen. Sie hatte recht. Der Turm war ihr wichtig gewesen, er war, im Krieg zerstört, für sie zum Sinnbild des Irrsinns des Krieges geworden. Jener Irrsinn, der auch ihren armen Mann so schwer verwundet hatte. Seit ein paar Jahren war der Turm nun mitsamt seiner Glocke wiederhergestellt und dass diese Wunde nach so langer Zeit geheilt war, bedeutete ihr viel. Nach der Vorführung lernte ich ihren Mann kennen und freute mich, in seinen Augen dieselbe, verschmitzte Wachheit aufblitzen zu sehen, die mich auch an ihr selbst so fasziniert hatte. Ein knappes Jahr später kehrte ich in die Bleiche zurück und zeigte den Film, der bei unserem Spaziergang entstanden war, erneut im Kino des Hotels. Frau Morgenstern war wieder gekommen und saß auf ihrem scheinbar angestammten Platz, aber ihre unerschütterlich positive Kraft war zwischenzeitlich gewichen. Ihr Mann war verstorben. Die Passagen im Film, in denen sie noch von ihm erzählt hatte, gingen ihr sehr nahe. Der kleine Film über unseren Spaziergang war für sie selbst zur Zeitkapsel geworden und sie verließ die Vorstellung so betroffen, dass es mich bestürzte. Im vergangenen Sommer sah ich Frau Morgenstern dann ein weiteres Mal, als ich wegen eines Filmworkshops erneut in der Bleiche war.
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Von Weitem sah ich sie schon, wie sie mit einem neuen Smart die Auffahrtsallee des Hotels entlang fuhr. Sie hatte nach langer Zeit wieder angefangen, selbst Auto zu fahren und sich den „modernen Wagen“, wie sie es nannte, zugelegt. Noch immer war sie sehr getroffen vom Tod ihres Mannes, dennoch aber spürte ich in ihr wieder neue Kraft und auch wieder die Freude am Austausch und an der Begegnung. Jedem Gast der Bleiche möchte ich empfehlen, das Gespräch mit ihr zu suchen, wenn sie wieder einmal in ihrer schönen Tracht eine Veranstaltung im Haus besucht. Ich wünsche ihr, dass die für sie so bereichernden Begegnungen nicht abreissen und dass sie weiterhin soviel Freude daran hat. Und ich danke ihr für das Vertrauen, der Veröffentlichung unseres kleinen und recht persönlichen Films im Rahmen dieser Anthologie zuzustimmen.
Den Film finden Sie auf unserer Website www.bleiche.de in unserem Beiche Magazin oder direkt über den Link: www.bleiche.de/de/spaziergang-mit-frau-morgenstern
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Foto: © Susanne Schleyer / Suhrkamp Verlag
BERND CAILLOUX Bernd Cailloux - geboren in Erfurt, aufgewachsen in Niedersachsen, lebt seit 1976 in Berlin. Seine Bücher erscheinen seit 1986 im Suhrkamp Verlag; darunter drei Erzählbände und Geschichten wie „Der gelernte Berliner“. Zuletzt schrieb er zwei Romane. „Das Geschäftsjahr 1968/69“ erzählt die Geschichte dreier Hippies, die während der Studentenrebellion eine Garagenfirma gründeten, aus der ein Unternehmen mit Millionenumsätzen entstand. In „Gutgeschriebene Verluste“ bilanziert der Erzähler das Leben eines Aktivisten der 68iger und folgender Jahre. Beide Romane waren in ihren Erscheinungsjahren 2005 und 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert (Longlist). Zuletzt erschien der Erzählband „Surabaya Gold“, Haschischgeschichten, Suhrkamp Verlag, 2016. „Bernd Cailloux ist ein Berliner Kultautor“, schrieb die Märkische Allgemeine über ihn, „ein Tragikomiker und Desillusionist“, urteilte der WDR in einem Portrait.
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Ferien vom Ich Hotelgeschichten Das erste Hotel, an das ich mich erinnere, war ursprünglich ein Gasthof, der in Erwartung des auch in Ost-Niedersachsen erhofften Wirtschaftswunders der Fünfziger Jahre in den nächsthöheren gastronomischen Rang gehoben wurde – weithin sichtbar durch eine am Giebel neu angebrachte Leuchtreklame. Das Hotel hieß wie zuvor schon der Gasthof „Zum goldenen Löwen“ und stand an der Durchgangsstraße meines Heimatortes Rittersberg im Harz. In dieser 4000-Seelen-Gemeinde war es das erste, weil einzige, Haus am Platze, ein stattliches, von alten Bäumen gesäumtes Fachwerkgebäude, das am Rande des bisschen Zentrums lag, umgeben von den hutzeligen Häusern eines Bäckers, eines grauenvolle Textilien verkaufenden Händlers und des Dorffriseurs, der nur eine Frisur konnte und sie männlichen Rittersbergern verpasste – frei nach der Methode Pinkelpott auf den Kopf und rundum abrasiert. Obwohl der dicke Mann noch jedesmal auffällige Treppen in die Haare schnibbelte, wurde er genau so gebraucht wie der „Goldene Löwe“, in dessen Eingangstreppe zahllose Gäste über Jahrzehnte kleine Mulden in die steinernen Stufen getreten hatten – oft gestützt auf den dünnen Handlauf des alten gusseisernen Geländers. So weit ich mich erinnere, gab es im Hochparterre eine Speise- und eine Gaststube, die Wände allesamt mit tiefbraun gebeiztem Holz verkleidet, wie auch die des größeren Saals im ersten Stock, der an nur wenigen Abenden im Jahr zum Tanz einlud. Mit seinen lautstarken Männerrunden, mit der für kleine Nasen unangenehmen Duftnote aus Bierdunst und Zigarrenrauch war die Gaststätte für uns Kinder kein besonders verlockender Ort. Uns Buben interessierte der gegenüber liegende Bauernhof viel mehr – denn wir kamen aus den schlichten Dreizimmerwohnungen einer neu gebauten Siedlung für Flüchtlingsfamilien, die am Rande der aus alteingesessenen Dörflern bestehenden Gemeinde lag. Für uns bot ein Bauernhof Abenteuer pur und dieser hier war der einzige, auf dem ein leicht beängstigender, kräftiger Pfau lebte, unser Superstar. Während die Väter beim Bier saßen, schlichen wir rüber und machten solange Rabbatz, bis der genervte Pfau das ganz große Rad zu schlagen bereit war – eine Abwehrgeste von leuchtender Schönheit, die ich meiner Kinderfreundin Birgit mehr als einmal wie ein Zirkusdirektor präsentierte. Wenn es mit uns beiden Sieben- oder Achtjährigen so weiter gegangen wäre, hätten wir wie andere im Dorf eines Tages geheiratet und das im großen
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Hotelsaal gefeiert... Schließlich war das Haus für diese Anlässe da, für die Hochzeiten und die Beerdigungen, auch für die Versammlungen der verschiedenen Vereine. Mein Vater, ein ausgesprochener Ehrenamtsmulti, hatte sitzungsmäßig dort sehr viel Zeit verbracht, bei der Partei, dem Sportverein oder im Gemeinderat. Als er starb, war ich gerade sechzehn geworden. Beim obligaten Leichenschmaus füllte sich die düstere Speisestube mit trinkenden und rauchenden Männern seiner Vergangenheit, dazu Verwandte und Kollegen aus der Firma. All diese Leute sagten mir nichts. Die Beerdigungsfeier war zu viel für mich, so allein gelassen. Nach diesem, in meiner Erinnerung schrecklichen Nachmittag habe ich das Hotel „Zum Goldenen Löwen“ nicht mehr betreten. * Mit siebzehn las ich Martin Walser, der zu meinem ersten Lieblingsschriftsteller wurde. Durch seinen von der jungen Bundesrepublik erzählenden Roman „Halbzeit“ schürte er die Vorfreude auf ein hoffentlich auch mir bald mögliches, großartiges Leben. So eines, wie es sein großstädtischer Held über 900 Seiten lang führte - mit einer tollen Frau verheiratet, mit Witz, Geist und interessantem Job und nebenher der einen oder anderen Geliebten. Auf diese Qualitäten mußte ein Rittersberger Jüngling allerdings noch warten – das erste Mal schwer verliebt, rang ich seinerzeit täglich mit den Unwägbarkeiten der weiblichen Psyche und komplizierten männlichen Gefühlen. Marianne war das schönste Mädchen des Dorfes und beeindruckte mich so, dass sie nach einem halben Jahrhundert wie eine Erscheinung noch einmal vor meinem geistigen Auge steht. Schöne Zeiten waren das, als wir uns im Café so lange küssten, bis die Kellnerin mit einem Zettel auf dem Tablett ankam:„Bitte verlassen Sie unser Lokal sofort“. Marianne arbeitete als Rechtsanwaltsgehilfin in der Kreisstadt und wohnte in einem möblierten Zimmer bei einer hellhörigen Beamtenwitwe, Herrenbesuch bis 20 Uhr, der Herr war ich, fast achtzehn und unentfesselt. Dort lagen wir heftig umschlungen auf dem Bett oder Boden, mucksmäuschenstill und geknebelt von der noch nicht völlig überwundenen katholischen Moral. Das hieß unter Teenagern seinerzeit petting und war eine Art gedrosselter Liebeskunst, in der noch die zärtlichste, leidenschaftlichste Umarmung lediglich dahin führte, auf den letzten Schritt, den Akt, zu verzichten. Aber wie lange sollte das gut gehen? Um ungestört zusammen sein zu können, beschlossen wir in den Ferien zu verreisen. Das war im Sommer 1963, in England kam die erste
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Platte der Rolling Stones heraus, aber in Deutschland kamen zwei unverheiratete 18-Jährige in kein Hotel hinein. Da bot sich Dänemark an, das libertinäre Traumland dieser Tage. In der Hafenstadt Köge fanden wir ein kleines, malerisch in den Dünen liegendes Hotel, ein ziegelrotes Holzhaus mit einem langgestreckten Trakt aus zehn hintereinander gereihten Zimmern. Die bestandene Mutprobe an der Rezeption, die Strandszenerie, der Abend am Meer... das alles hatte mich mächtig aufgewühlt, bis wir – endlich! – in unser Zimmer zurückkehrten. Halb irre vor Aufregung erwartete ich das große Ereignis, das ja kommen musste... Schließlich lagen wir umschlungen in einem breiten dänischen Bett und lauschten vor dem Sturm in die Nacht hinein, in unsere Nacht... Was wir dann zu hören bekamen, waren ganz besondere menschliche Geräusche, Frauenstimmen, die spitze, rhythmische Schreie ausstießen, ein lauter werdendes Männerstöhnen, Beischlafduette, zu einem anschwellenden Kanon verdichtet, der sich wellenförmig von Zimmer zu Zimmer ausbreitete. Damit begonnen wurde in der Nummer eins, bevor die Gäste in der drei, vier und fünf in einer durch die dünnen Holzwände unverminderten Lautstärke einsetzten, ein Crescendo der Lust, das uns in der Nummer acht übersprang, um um so kraftvoller aus den Kehlen des Paares im Nachbarzimmer neun zu erklingen... Jetzt nicht, sagte Marianne, unmöglich, es geht nicht. Das großartige Leben, das mir seit der Walser-Lektüre vorschwebte, ließ noch eine ganze Weile auf sich warten. Im Roman „Halbzeit“ wurde unter anderem auch eine kurze Theorie über den Aufenthalt in Hotels entwickelt. Walser glaubte, dass sich im Alltag leicht erodierte Ehen dadurch neu beleben könnten – natürlich aus der männlichen Sicht, in der der Ehemann die Gattin aus der gewohnten Umgebung heraus gelöst sieht und in der neutralen Situation das ungewöhnliche, reizvoll Wunderbare dieser Frau entdeckt. Leider kann ich seine Theorie hier nicht wörtlich zitieren. Das Buch habe ich vor langer Zeit einem ostdeutschen Freund geliehen, der mehr über die alte Bundesrepublik erfahren wollte. Wie so viele gute Bücher kam es nicht zurück. * Schon früh im Leben wurde mir klar, dass Hotels nicht bloß zum Schlafen da sind, sondern auf vielfältigste Weise genutzt werden können. In Düsseldorf lernte ich den Kölner Schauspieler Udo ln kennen, ein schöner, italienisch aussehender Jüngling. In einem kleinen Kellertheater im
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Kö-Center spielte er in dem Zweipersonenstück „Billy the Kid und Jean Harlow“ die männliche Hauptrolle, den Revolverheld Billy, der sich nach seinem Tod im imaginierten Himmel mit der ebenso längst verstorbenen amerikanischen Sex-Ikone Jean Harlow zu einem Rendezvous traf. Nun ja. Meine Firma hatte die Bühnentechnik besorgt. Nach der Premiere spazierten wir noch eine Weile durch die Nacht. Udo war ein bisschen bedrückt – auch nach meinem Eindruck hatte er sein möglicherweise vorhandenes Talent nicht genügend ins Spiel gebracht, auffällig viele Texthänger, dazu die eine oder andere verrutschte Bewegung. Hamlet, sagte ich ihm, lies Hamlets Rede an die Schauspieler – ‚passt das Wort der Gebärde an, und die Gebärde dem Wort’. Dennoch hatte er meine Bewunderung, und wir zwei Twentysomethings verstanden uns gut. Der leicht verunsicherte Udo war vermutlich froh, seine Ängste vor den morgigen Zeitungskritiken etwas zerstreuen zu können. Ich begleitete ihn in sein Hotel – zu meiner Verwunderung wohnte er im feudalen Park Hotel an der Königsallee Nummer eins. Wow, sagte ich, fünf Sterne, du Star. Nur für zwei Tage, erklärte er, ein vom Impresario hochstaplerisch bloß vorgegaukelter Aufenthalt im Spitzenhotel, wegen der nach der Premiere erwarteten Anrufe der Presseleute. Danach zog er in eine kleine Pension in einem Vorort – das Stück wurde bald abgesetzt. Für Udo war das die erste Rolle in einem langen Schauspielerleben. Einige Jahre später ging er nach Amerika und startete eine Karriere in Hollywood. * Fünf Jahre lang hatte ich hart gearbeitet und auf nervenzerfetzende Weise Geld verdient, die nächsten fünf Jahre wollte ich nichts tun – außer denken und reisen. Der Einfachheit halber führte die erste lange Reise nach Amerika, schließlich waren die USA spätestens seit Anfang der siebziger Jahre durch Film, Funk und Fernsehen bereits einigermaßen bekannt. New York City erwies sich dann doch größer als gedacht, allein der Broadway zog sich mit seinen 27 Kilometern ziemlich in die Länge. Aus praktischen Gründen mietete ich drei Hotelzimmer gleichzeitig – eines im Chelsea-Hotel in der 23. Straße, eines in einer namenlosen Unterkunft in der 98. Straße und eines in Brooklyn, im direkt am East River liegenden King George IV., das über tausend Zimmer und eine eigene, gleichnamige U-Bahnstation verfügte. Dort fuhr ich hin, um die ganze Nacht lang nachdenklich auf das gegenüberliegende Panorama der voll erleuchteten Hochhäuser von Manhattan zu kucken – ein Anblick für die Ewigkeit, der mich – hin und her
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gerissen – zu keinem klaren Urteil über den American way of life kommen ließ. Nachdem ich mich anderntags in der Nähe Harlems verlaufen hatte, kam mir in der Verwirrung das nächstbeste, wenn auch wenig einladende Hotel gerade recht. Das fensterlose Zimmer maß zwei mal drei Meter, kostete nur vier von einem mürrischen Vietnam-Veteran kassierte Dollar – sein auf dem Tresen der Rezeption abgelegter Beinstumpf war der letzte Schock vorm Schlafengehen. Die meiste Zeit verbrachte ich im Chelsea Hotel, zu der Zeit eine Anlaufstelle für UndergroundRoyals aus aller Welt. Das Haus war voll gestopft mit Avantgardekunst, Fluxus, Pop oder einfach nur bizarren Gegenständen. Überall hingen Werke später berühmter Leute, in der Lobby, in der Luft, unter den Decken, an Wänden, auch im Fahrstuhl, wo mich Allen Ginsberg anlächelte. In diesem Gegenhotel bewegten sich Menschen, die es in dieser Form damals in Deutschland kaum zu sehen gab – Transen, Drag-Queens, abwesend wirkende Drogenkonsumenten, bizarr gekleidete und frisierte Künstlerfiguren jedes denkbaren Geschlechts, normale bürgerliche Gäste eher selten. Mochten die ganz großen Zeiten des Chelsea auch schon ein paar Jahre zurück liegen...so war die irre Atmosphäre des anfangs glamourösen New Yorker Undergrounds doch noch spürbar, das Gefühl eben, an einem hot spot des Pop zu sein, an einem seiner Geburtsorte. Andy Warhol und viele weitere Kunstschaffende arbeiteten nur zwei Blocks entfernt in seiner factory... und Warhol war’s, der diesem Hotel und seinen Bewohnern mit der epochalen Dokumentation ‚Chelsea Girls’ ein filmisches Denkmal setzte. Aber mich irritierte hier noch etwas anderes. Als ich in meinem Zimmer das Bett aufschlug, lief mir zu meinem Erschrecken ein putzmunteres Dutzend vorher nie gesehener, hirschkäfergroßer Kakerlaken entgegen... Ein paar Jahre später wurde das Chelsea renoviert, die Preise verzehnfacht... und 2014 nach mattem Protest geschlossen. Millionen teure Luxusapartments werden an seiner Stelle entstehen, das ist das neue, gegenwärtige New York und sein Manhattan, Home of the Rich. In meinem Hotelzimmer in El Paso fotografierte ich mein Spiegelbild, ein frühes Selfie, auf dem mir die Einsamkeit an die Gurgel geht – in Boston kamen mir in der Lounge die Tränen, als die schön singende Bedienung das Ende des Abends mit einer lokalen Version des deutschen Abschiedslieds „Auf Wiedersehen...“ ankündigte, worauf mehrere Gäste ihrerseits mit uramerikanischen Schlagern antworteten. Den schwulen Party-Hit „YMCA“ gab es noch nicht.
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Was er besingt, erfuhr ich in New Orleans, als mir nach dem Duschen auf dem langen Gang der entgegenkommende Kerl das Handtuch von den Lenden riß. Morgens um sieben mit dem Bus in Memphis angekommen, ging ich am Mississippi spazieren, wo schwarze Arbeiterinnen in alten Lagerhallen Berge wattiger Baumwolle zurecht zupften. Ein Livrierter trug meine kleine Tasche in den ersten Stock des Hotels. Oben dann die Überraschung... aus dem zierlichen Handwaschbecken ragten drei Wasserhähne, hot, cold und icecold. Endlich mal ein Zimmer, in dem ich in aller Ruhe ein Ei kochen konnte – zwanzig Minuten heißes Wasser darüber laufen lassen und dann eiskalt abschrecken. In Oklahoma City schließlich lernte ich Miss Thornton und ihre Tochter kennen und zog zu ihnen ins „Towne House“. Das Apartementhotel war voll besetzt mit gestrandeten Leuten, die keine Ahnung hatten, wie’s mit ihnen weitergehen sollte – sie warteten auf ihre Chance, um endlich dort raus zu kommen. Auch ich blieb länger bei den Okis als zuvor vermutet. Diese Erlebnisse, die hier im Schnelldurchlauf nur anerzählt werden, dauerten ein halbes Jahr und brachten mir viele Begegnungen mit Menschen in Hotels und Herbergen. Sie lehrten mich, in Gegensätzen zu denken und im permanenten Widerspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu leben. * Die Hippies hatten bekanntlich einen sagenhaften Riecher für die schönen Orte dieser Welt. Durch ihre zeitweilige Besiedlung von Ibiza, Kreta, Goa oder Jamaika dienten sie als wahre Trüffelschweine für die dort später einsteigende Tourismusindustrie. Ein halbes Jahrhundert nach der großen Zeit ihrer Bewegung wird der Begriff unverdienterweise als Schimpfwort benutzt, von britischer Seite sogar auf die deutsche Regierung gemünzt, die im Verlauf der jüngsten Krisen eine gefühlsgesteuerte „Hippiepolitik“ betriebe... Nach meiner Selbsteinschätzung nicht unbedingt eines der Blumenkinder, fand ich mich dennoch oft genug auf den von ihnen vorgegebenen Reiserouten und den gleichen Zielen wieder. Mitte der Siebziger flog ich mit der „Royal Air Maroc“ von London nach Rabat. Warum von London? Weil Fliegen vor dem Auftauchen der Billig-Airlines extrem teuer war. Was haben die großen nationalen Gesellschaften uns ausgenommen - jahrzehntelang unverschämt zugelangt wie die Post beim Telefonieren. In der Londoner City jedoch saßen damals indische Reiseagenten in winzigen Hinterzimmern und besorgten binnen eines Tages noch jedes gewünschte Flugticket für ein Drittel des regulären Preises, nur
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eines der unlösbaren Welträtsel. In der Hafenstadt Essaouira war ich mit einer finnischen Geliebten verabredet, kam allerdings um vierzehn Tage verspätet dort an. Zu spät, wie ich nach ein paar Stunden wusste. Nach längerer Suche hatte ich sie in einem Café gefunden, in fröhlicher Runde mit mehreren Krankenhaus-Ärzten, junge Draufgänger mit extrem kurz geschorenen Haaren, die meine Ankunft nicht weiter störte. Die Runde saß nicht zum ersten Mal zusammen – Päivi aus Suomi gab die blonde, nordische Schönheit, die erstmals im brüllenden Süden und umtanzt von drahtigen Marokkanern nicht zu wissen schien, wohin mit ihrer afrikanisch gesteigerten Sinnlichkeit. Leicht irritiert schafften wir zwei es gerade noch in ihr Hotelzimmer. Die gedankenverlorene Art jedoch, mit der sie mir abgewendeten Blickes übers Haar strich, passte nicht zu meiner verwirbelt hippiesken Langhaarfrisur – die in unserem Zusammensein zuvor nie vorgekommene, verräterische Geste galt, oh shit, einem ihr lieberen und mir bereits bekannten Kopf. Ich reiste noch am selben Abend ab, ohne Päivi jemals zu vergessen. Im Süden Marokkos, im Hotel „Sahara“, klopfte nachts um eins der Sohn des Besitzers an mein Fenster und fragte, wünschen Sie noch etwas Gesellschaft... Wer in dieser Gegend allein unterwegs war, wurde als einer der hier häufig aufkreuzenden, schwulen Abenteurer eingeordnet. Glücklicherweise fand ich anderntags Gesellschaft, als ich beim Frühstück Abdel kennen lernte, einen französisch erzogenen Richtersohn aus Fés. Wir reisten eine Weile gemeinsam durchs Land. Dabei ermöglichte er mir Erlebnisse wie den Besuch einer Hochzeit, wo sich eine Schamanin beim Dolchtanz blutende Wunden zufügte, auch den Aufenthalt auf einem Bauernhof, auf dem niemals verlöschende Haschischpfeifen für durchweg gute Stimmung sorgten. Ohne Abdel wäre ich niemals ins „La Mamounia“ in Marrakesch gekommen, ein mit orientalischem Luxus meine Vorstellungen sprengendes, weltweit gerühmtes Hotel. Mit seinen Freunden und zwei indischen Rajas aßen wir dort zu Abend, als nach aufgeregtem Gewusel der Bediensteten der halbe Speisesaal mit schweren Kordeln abgesperrt wurde. Ein zehn- oder zwölfjähriger Junge im bestickten Langhemd kam zum Essen hereinspaziert, Schritte hinter ihm eine vielköpfige Entourage – es war der kleine Mohammed, als Mohammed der Sechste heutiger König von Marokko. Draußen umschlichen uns andere Jungs in seinem Alter. Sie wussten, dass wir in diesem Gassengewirr den Weg zu unserem kleinen Hotel am Djemaa el Fna nicht alleine finden würden – la place, flüsterten sie, la place, la place, einen Dirham bitte. Merkwürdigerweise hat
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sich Abdel in den von uns bewohnten Zimmern niemals entkleidet, wenn wir schlafen gingen. Er stieg stets in vollständiger Straßenkleidung, in Jeans, Pullover und Sakko, ins Bett und zog die Decke bis zum Hals hoch. * Allein drei Hotels sind im Lauf der Jahre auf meine Initiative hin gebaut worden. Nach wie vor bin ich überzeugt, dass es sich bei ihrer nicht immer einfachen Errichtung um notwendige und äußerst sinnvolle Projekte handelte. Die Hotels stehen in Mirleft, Kasbegi und Negril, Jamaika, in nur scheinbar abgelegenen Gegenden. Der Grund für meine Anregungen war in allen drei Fällen derselbe – an diesen Orten hatte es bei früheren Besuchen keine akzeptable Unterkunft gegeben. So in Mirleft, einem Dorf an der marokkanischen Atlantikküste, das Mitte der siebziger Jahre aus einer Handvoll ergrauter Häuser bestand, aufgereiht an einem staubigen Sandweg, eine Kulisse wie die eines Italo-Westerns. Erst nach viel Fragerei fand ich eine Pension in einem landesüblich ummauerten Gehöft. Der Wirt zeigte mir ein kleines Zimmer – trocken und sauber, aber leer. Et maintenant, sagte ich – un moment, sagte er. Er verschwand für einen Moment und kehrte mit einer zusammen gerollten Matratze zurück, warf sie mit einem knappen Voilà auf den Betonboden, okay, fertig. Dieses Zimmer in Mirleft war das billigste jemals von mir gemietete Hotelzimmer – für umgerechnet 1Mark52. Doch das Wüstenkaff hatte einiges zu bieten. Zwanzig Minuten Fußweg entfernt lag eine von hohen Felswänden gerahmte, fjordartige Bucht mit einem feinsandigen Strandstück – ein zweifellos naturschönes Panorama, eine Seltenheit an der meist rauen Küste. Man ging nackt, tanzte um nächtliche Feuer, der Bucht wurden magische Kräfte zugeschrieben. Wie diese Magie im Einzelnen gewirkt haben könnte, erinnere ich leider nicht mehr. Im marokkanischen Buschtelefon wurde Mirleft jedenfalls ständig empfohlen, a place to go, also Kult, auch für Reisende ohne esoterische Prägungen. Jimi Hendrix und Mick Jagger, raunten die Kenner, waren als erste vor Ort gewesen – zwei, nebenbei gesagt, sehr reiselustige Burschen, die frühen Rockstars tauchten noch vor den Hippies an den kommenden Traumplätzen auf. Anfangs erschraken wir deutschen Gäste, wenn wir über ein hinterm Busch ruhendes Kamel stolperten, das sich sofort zur vollen Größe erhob, weil wir es erschreckt hatten. Wie es sich hierzulande gehörte, wurden wir im Hotel beraubt, beschenkten den Wirt mit einer Flasche Wein, so dass am nächsten Tag die Jeans, Hemden und fast kompletten Geldbeutel
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über die Mauer wieder zu uns zurück flogen. Mirleft war auf einem guten Weg. Heimgekehrt nach Berlin, erzählte ich einem Sportkumpel von diesem ungewöhnlichen Ort – Ewald Rolink, ein sogenannter Developer, zeigte sich von den Schilderungen sofort begeistert. Sein gesteigertes Interesse, dort etwas machen zu wollen, hing womöglich mit seiner damalig unangenehmen Situation zusammen. Ihm war in Deutschland jede Tätigkeit als Bauträger untersagt, weil es organisatorische Fehlleistungen und missverständliche Abrechnungen bei einigen seiner Großprojekte gegeben haben sollte – der Boden wurde heiß. Ein Zwanzig Zimmer Hotel egal wo hochzuziehen, war für ihn ein Klacks, auf Wunsch konnte er auch esoterisch. Er baute eine Reihe maurischer Elemente ein, nannte es Hotel du Sud, fünfzehn Minuten zum Atlantik, europäische Küche. Sein Haus paßte gut in den mittlerweile aufstrebenden Ort. Und für ein paar erzwungene Jahre paßte auch Ewald Rolink nach Mirleft. * In einem Fall wurde die Gründung eines Hotels von mir eher unfreiwillig initiiert. Eine meiner Ex-Freundinnen hatte es eröffnet – in Negril, einem einstigen Fischerdorf an der Westküste Jamaikas. Der Ort war zunächst von amerikanischen Studenten, den „ flower children“, gefunden worden, bevor in den achtziger, neunziger Jahren eine ungeheuer expandierende Tourismusindustrie die karibische Schönheit mit dem kompletten Programm aufmöbelte – und wie! Beim Internet-Check des aktuellen Standes der Dinge hab’ ich auf den vielen schreiend werbenden Negril-Fotos nur das Meer wieder erkannt. Obwohl gar nicht mal so schlecht gebaut wurde... keine all-inclusive Anlage gleicht der anderen, nette Bungalows, afrikanische Hüttenimitationen auf feinem Sand, Phantasien von im Busch aufragenden, spanischen Kolonialhäusern, an Klippen klebende Edelholzbuden und Parks und Pools, dutzende Parks und Pools mit Meerblick... Die schiere Masse der mittlerweile über hundert dort verstreut liegenden Resorts, Hotels und Guesthouses stimmte einen nostalgischen Naturfreund ein wenig skeptisch. Mitte der siebziger Jahre hatte Negril noch ganz anders ausgesehen... Die Straßen Sandwege, links Dschungel, rechts die See, von fernen Hügeln scheppernde Reggaemusik, und statt eines Resorts erwartete mich damals eine der berühmten jamaikanischen Wellblechbaracken, Strandlage fünf Dollar, kanadische Nachbarn. Die Baracke, temperiert wie eine Sauna im Perma-Aufguss, gestattete immerhin kurz vor Sonnenaufgang eine gute Stunde Schlaf, etwa von fünf bis sechs Uhr – so verblieb
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genügend Zeit, um die ganze Nacht bei Kerzenlicht und plätschender Dünung endlich „Im Schatten junger Mädchenblüte“ zu lesen. Morgens begrüßte uns der Vermieter mit einer wohlverdienten Ganja-Tüte, mittags gab’s Hummersuppe und abends spendierten die Fischer ein Zahnputzglas neunzigprozentigen weissen Jamaica-Rum – weil sie so gerne zusahen, wie wir auf dem Heimweg voll gegen die Baumstämme knallten. Das vergessene Schöne an den seinerzeit reisenden „ flower children“ war ja, dass sie sich nicht in einer Luxusblase isolierten, sondern stets versuchten, die Härten und Freuden des Lebens der Einheimischen zu teilen. Zurück in der Heimat und noch karibikwarm, verliebte ich mich in eine smarte Freibeuterin aus dem erweiterten Freundeskreis. Die blonde Ini war Ende Zwanzig und arbeitete als Chefsekretärin in einer Baufirma. Aus verschiedenen Gründen – unter anderem denen des Persönlichkeitsrechts – möchte ich die Geschichte hier nicht allzu sehr ausbreiten. Nur soviel – sie erinnerte mich an eine große Liebe, war jedoch im Gegensatz zu meiner Verflossenen extrem geschäftstüchtig. Wochenlang schwärmte ich Ini von Negril vor – vom zehn Kilometer langen Traumstrand, vom Sound und Geruch des Dschungels, von den Heiligen, den Rastafarians mit ihren hochgesteckten Dreadlocks aus Dreck, vom samtweichen, karibischen Wasser. Wir hörten die mitgebrachten Reggae-Platten, Bob Marley und Jimmy Cliff, und ich erzählte die passenden Geschichten von Kämpfern und Spinnern, von der Sensibilität der Einheimischen, die – wenn ein Betrunkener mit seinem Fahrrad vor ihnen dahin wankte – anhielten und aus dem Auto ausstiegen, um sich nach dessen Befinden zu erkundigen. Durch diese Erzählungen schien sich in Inis Innerem etwas abzubilden – schwer zu sagen, wie so etwas vor sich geht, eine Evokation vielleicht. Sie wollte Negril unbedingt kennenlernen, reiste für einen Urlaub allein dorthin und kehrte mit einem überraschenden Plan zurück. Ich werde dort ein Hotel eröffnen, erklärte sie, ein einfaches Zehnbetten-Haus mit Café, in einem kleinen Palmenwald – es muss doch nicht ewig bei diesen Wellblechbaracken bleiben. Offenbar fest entschlossen, ging sie an die Verwirklichung ihres Plans – auf Versteigerungen erstand sie diverse gastronomische Automaten, machte in der Familie Geld locker und beging, als es immer noch nicht reichte, einen so ertragreichen wie verzeihlichen Versicherungsbetrug... Nach einem Jahr war es dann so weit... Ini bepackte ihren VW Bus mit allen möglichen für den Hotelbetrieb benötigten Dinge und verschiffte ihn von Bremerhaven nach Jamaika, bevor sie selbst hinterher flog. Auch wenn unsere letzten Wochen
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aus meiner Sicht ziemlich quälend verliefen, konnte ich nicht anders, als Ini zu bewundern. Was für eine Energie, dachte ich damals, was für ein enormer Mut... Einige aus unserem erweiterten Freundeskreis haben sie in den folgenden Jahren dort besucht und über Ini in Negril nur Gutes erzählt. Ich selbst bin niemals mehr in die Karibik gereist. Von mir stammt eigentlich nur der Name des kleinen Hotels – „The German Grove“, das deutsche Wäldchen. * Im Sommer Zweitausendeins half ich einem Hamburger Freund beim Umzug. Er hatte eine Professur an der Universität von Batumi, Georgien, erhalten und wollte unbedingt Teile seines Mobilars, einen Kühlschrank und die Computer an die neue Wirkungsstätte mitnehmen – auf dem Landweg im VW-Bus von der Elbe ans Schwarze Meer. Weil für ihn dort viel zu tun war, beschloss ich, das Land zu erkunden, auch den Kaukasus. Viel zu gefährlich, warnten mich die neuen Kollegen meines Freundes, gaben mir dann aber doch die Telefonnummer einer deutschen Frau, die in meinem Zielort Kasbegi ein Hotel führen würde. Im Minibus ging’s los – über ansteigende Gebirgsstraßen und Serpentinen in eine Urlandschaft aus hoch aufgetürmten Bergmassiven, beängstigend tiefen Schluchten und steilen grünen Hängen, aus denen glitzernde Wasserfälle hinunter schossen. Der Blick auf die sich scheinbar endlos aneinander reihenden Gebirgszüge ließ meinen Atem flach werden – und noch flacher, wenn der Busfahrer die Ideallinie auf den abbröckelnden Rändern der Piste suchte, oft bloß zehn Zentimeter vom Ende, vom Abgrund entfernt. Als Lohn der Angst erreichten wir nach Stunden motorisierten Gekraxels ein etwas undeutliches Dorf, dessen Häuser weit verstreut in einen Berghang gebaut waren – Kasbegi, zweieinhalb tausend Meter hoch gelegen, der letzte Ort des Landes wie auch der westlich orientierten Welt. Die Durchgangsstraße führte ins dreißig Kilometer entfernte Russland, und mir blieb nichts anderes übrig, als mich an die Babuschkas zu wenden, die am Ortseingang in ihren nach russischem Muster aufgestellten, telefonzellengroßen Kiosken saßen. Hotel, Kasbegi, Nemiecka, sagte ich mehrmals und schob den Zettel mit der Nummer rüber – die alte Frau rief sie an und bedeutete mir, die Leute holen Sie gleich hier ab. Eine Stunde, zwei, drei Stunden, nichts passierte, auch nicht nach weiteren Anrufen. Es dunkelte, ich schaute hoch zum Kasbek und zum Ebru, den zwei schneebedeckten Fünftausendern, wo ein Adler dem angeketteten Prometheus die Leber zerhackte, und wo die Wehrmacht einst die
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deutsche Flagge gehisst hatte, um schließlich auch am Kaukasus zu scheitern. Die militärische Atmosphäre war dem Ort bis zu diesem Spätnachmittag erhalten geblieben – wiederholt stoppten Privatautos, aus denen Soldaten kletterten, oder Armeefahrzeuge, aus denen bewaffnete Privatleute sprangen, während hinter der übernächsten Bergkette Rauchsäulen aufstiegen. Bitte nochmal anrufen, sagte ich nach fünf Stunden – worauf die Babuschka sagte, geh’n Sie einfach über die Straße, das Haus der Deutschen liegt dort an der Ecke. Aber es ist kein Hotel, nur ein Restaurant, erklärte Ingeborg, eine Erfurterin. Gerührt von meinem hilflosen Gejammer, öffnete sie nach einer Weile eine Tür im Gastraum und sagte, vielleicht hier. In der kleinen Kammer standen eine feuchtglänzende, ausrangierte Kühltruhe, weiteres Gerümpel und eine schmale Pritsche – Kühlwasser oder Kaukasuswasser sickerte ein, bedeckte den Boden, drei, vier Zentimeter hoch. Von der Tür aus warf ich meine Tasche auf die Pritsche – ja, gut, was sonst. Als ich nach dem Abendessen in die Kammer gehen wollte, erschien ein jungenhafter Mann und sagte in broken english, er hätte von den Kioskfrauen gehört, dass hier jemand ein Zimmer suchte. Es war Nica Bardeladse, der Dorflehrer, der mit seiner Mutter ein stattliches Haus oben auf dem Bergrücken bewohnte. Sie gaben mir einen wunderbaren Raum, der Schlaf kam wie ein Taxi. Morgens weckte mich Nicas Mutter, eine Offizierswitwe, mit selbstgespieltem Chopin und zeigte mir sämtliche Uniformen aus dem Leben ihres Mannes, die der Sowjetarmee, die der russischen Armee und zuletzt die der georgischen Armee – alle liebevoll arrangiert in einem eigens dafür eingerichteten Gedächtnis-Zimmer. Später nahm mich Nica mit zu einem Nachbarn, bei dem er ein Schaf kaufen wollte – für sechzig Mark, sagte er, meinen Monatslohn. Das war der Punkt, bei dem ich einhakte. Mensch Nica, sagte ich, mach’ ein Hotel auf, das normalisiert sich hier und die Leute aus dem Westen werden in dieses schöne Georgien kommen, auch KaukasusTouristen, ein gutes Geschäft. Ein Jahr danach kam ein dicker Brief aus Georgien. Nica Bardeladse schickte mir ein paar Fotos von seinem Haus. Es sah nur wenig verändert aus. Unter den Fenstern vom Souterrain bis zum ersten Stock hingen Blumenkästen und an der Vergitterung der Terrasse im Mittelgeschoss prangte ein auch von der Straße sichtbares, handgemaltes Schild „Hotel Kasbek“. But it’s only little business, schrieb Nica noch – so wie alles in diesem Land.
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* Die alte Bundesrepublik war relativ klein – die Fahrt von Flensburg nach Garmisch dauerte nicht mal einen Tag, im Käfer. So kann es passieren, dass man heute irgendwo jemanden kennen lernt, der überraschenderweise Leute kennt, mit denen man in längst vergangenen Zeiten anderswo zu tun hatte. Ende der Sechziger Jahre kam ich auf der Suche nach Betätigung von Bremen nach Düsseldorf und gründete mit meinem Freund und Partner Andreas Büdinger eine Firma. Sie brachte mittels elektronischer Erfindungen einen kurzen, rauschhaften Erfolg, nach fünf Jahren trennten wir uns und machten andere Dinge. Da unsere Firmengründung während der sogenannten Studentenrebellion statt gefunden hatte, schrieb ich einen Roman über diese bewegte Zeit – allerdings mehr als dreißig Jahre später. Aus Anlass der Buchvorstellung sahen wir uns nach einer halben Ewigkeit in Düsseldorf zum ersten Mal wieder. Doch die alten Geschichten interessierten Büdinger nicht mehr. Er erzählte stolz, dass er in den neunziger Jahren etwas ihm viel wichtigeres gegründet hätte, den Verband der Deutschen Wellness-Hotels. Wie bist du denn auf diese Idee gekommen, fragte ich, als er mich in die Geschäftsstelle seines Verbandes führte... Interessierte Hotels könnten hier Mitglied werden, erklärte er, nach Zahlung einer Einstandssumme erhielten sie Orientierungshilfen, unterstützende Workshops und ein ihre Verbandszugehörigkeit bestätigendes Blechschild zum Annageln am Eingang – etwas Offizielles, schließlich wüßte keiner genau, was Wellness wäre. Für eine Weile lebte unsere alte Freundschaft noch einmal auf, wir trafen uns hin und wieder, schickten e-mails hin und her, und eines Tages schrieb ich ihm vom mir glücklicherweise zugesprochenen Literatur-Stipendium eines Hotels im Spreewald. Die Bleiche, kenn’ ich, antwortete er, das Ehepaar Clausing, sehr gutes Haus, aber leider nicht Mitglied in unserem Verband. Dafür gibt’s auch gar keinen Grund, mein Lieber, mailte ich ihm nach den ersten, im Haus verbrachten Tagen zurück – das ist schließlich kein Wellness-Hotel... das ist etwas Anderes, Besonderes... unter anderem haben die Besitzer einen Narren an der Literatur gefressen und füttern jedes Jahr ein paar Schriftsteller für’n Monat durch... als Stipendium unvergleichbar... und ganz ohne deine Wellness... fühl’ ich mich hier wohl. Auch überwältigt zunächst – von einem Tag zum anderen wurde ich ja von einer mager ausgestatteten, selbstverköstigenden Schriftstellerexistenz in ein irreales Schlaraffia überführt. Anfangs kuckte ich mir die Augen aus, besah die Details des Interieurs, den mit viel altem Holz
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erzeugten shabby chic, die sich wie von selbst wieder auffüllenden Buffets... Ein für mich ungewohnter Betrieb, die Bedienung, die vielen mit mir essenden Leute, manche machten Selfies, lächelnde Frau mit Menu am Abend... manche Paare flüsterten bei Tisch leicht geduckt, als wüßten sie gleich mir nicht ganz genau, wo sie sich befanden... das hier allabendlich servierte Vier Gänge Menu würde ich zuhause auf vier Abende verteilt einnehmen. Die Messer glänzten so poliert, dass ihre Lichtreflexe den Schnaps im Glas aufhellten, der fromage kam von Maitre Waltman und Antony aus dem Elsaß, Morcheln kamen mit Artischocken, Topinamburmousse, Parmesan chip, keine Ahnung, viel zu lesen und zu lernen, wenn die Kellner die Gloschen heben und die Gesichter erstrahlen – ja, die Gloschen, das sind diese silbrigen Halbkugeln, die Abdeckhauben auf den Tellern. Nach einer Woche machte ich mir Sorgen um mein Gewicht, erzählte das im Vorbeigehen einer der Saaltöchter, von wegen Moppel-Ich und so. Am nächsten Morgen war die Waage aus meinem Badezimmer verschwunden. Ein schönes Beispiel höherer Hotelpädagogik, das die Clausings mir da gaben – auf die Weise lernte ich ihre Philosophie der Scheinproblemvermeidung verstehen. Es ist gar nicht so einfach, sich an diesen Luxus zu gewöhnen, mailte ich an Büdinger, aber es ist zu schaffen. In meinem 32 Schritte langen Stipendiatenzimmer weckt mich morgens um neun die Stimme der Buchhändlerin Frau Holler, die nebenan idealerweise gerade eins meiner Bücher verkauft – ja, mein Freund, sie haben hier eine 32 Schritte lange, gut sortierte Buchhandlung, selbstverständlich auch pools und Saunen, von denen wir Gäste direkt in die Ruhekissen eines Kinos rüber rutschen können, mit neuesten Filmen im Großbild, ein gern gesehener Komfort... und sie haben einen beflaggten und abgekreideten Original Fußballplatz vor der Tür, für mich ganz allein, ein alter, ohne Team leider Traum bleibender Traum... All das hab’ ich in den zweihundert Hotels meines Lebens noch nicht gesehen, weder auf Reisen noch auf Lesereisen, wo einen der Fernseher beim Betreten des Zimmers mit dem Schriftzug begrüßt: Guten Tag Herr Bernd Cailloux, willkommen im XYZett. Kein Vergleich mit der Bleiche, schrieb ich weiter, hier stimmen die Dinge, die Ausstattung, jede Lampe, jede Skulptur, jedes Möbel, jeder Fenstervorhang, jede Fenstervorhangsstange wurde passend ausgewählt, geschmackssicher besorgt, getrödelt, ersteigert und zusammen gefügt... jeder Blick entzückt, sogar der auf Kerzenständer... ein optisches wie fühlbares Fluidum entstand und versöhnt womöglich mit der Unwirtlichkeit
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allerorten. Die Schönheit, das Schöne, mein Lieber, entbindet uns ja von uns selbst – das könnte hier das Wirkungsgeheimnis sein, eine erholsame Sache, die in Zeiten vor der egoistischen Mode zur Selbstoptimierung einmal „Ferien vom Ich“ genannt wurde. In diesem Sinn habe ich an manchen Tagen tatsächlich kaum glauben können, dass ich zum Arbeiten hierher gekommen war. Eines Morgens war an der Rezeption ein Brief für mich abgegeben worden. „Mein Name ist Meike, ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst... ich wohnte in den Achtzigern in der Nürnberger Straße...“ Sie hatte im täglichen Infoblatt von meiner Anwesenheit in der „Bleiche“ gelesen. Natürlich erinnerte ich mich an Meike, vor allem an ihren eruptiven Humor... sie auch im Haus, was für ein schöner Zufall. Wir trafen uns zum Diner in der „Roten Bibliothek“, ein hoffnungsvoller Name und mein Lieblings-Esszimmer. Sie sah noch immer gut aus und schoss bei Tisch mehrere Serien Selfies von uns, two sixtysomethings meet again, fit wie zwei Turnschuhe und bald bestens gelaunt. Es gab viel zu erzählen an diesem schönen Abend - an einem der so lustigen langen Abende wie die früheren mit Meike und mir.
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Sommer 2014
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Foto: © Kurt-Michael Westermann
BETTINA BALÀKA Bettina Balàka - geboren 1966 in Salzburg, Studium am Zentrum für Translationswissenschaft (Englisch/Italienisch) der Universität Wien (Mag. phil.), lebt als freie Schriftstellerin in Wien, eine Tochter. Der Roman „Eisflüstern“ wurde 2006 im Literaturverlag Droschl und 2009 im Suhrkamp Verlag herausgegeben. Die erste Veröffentlichung war 1994 „Die dunkelste Frucht“ - Gedichte. Verlag G. Grasl, Baden bei Wien. Sie war an zahlreichen Hörspiel- und Theaterproduktionen beteiligt, unter anderem 2011 „Lockvögel, Baby“, Elfriede Jelinek-Symposium, Wiener Schauspielhaus, Regie: Daniela Kranz oder am Hörspiel „Das Feuer der alten Dame“ für den ORF 2010/2011, Regie: Katharina Weiß, Regieassistenz: Bettina Balàka. Preise und Auszeichnungen (Auswahl): Buchprämie 2012 des österr. Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur-Salzburger Jahresstipendium 2011, Österreichisches Staatsstipendium 2010/2011, Friedrich-Schiedel-Literaturpreis Bad Wurzach 2008 für „Eisflüstern“, Elias CanettiStipendium der Stadt Wien 2007, Salzburger Lyrikpreis 2006, „Auszeichnung für literarische Gedankenblitze“ der österr. Literaturveranstalter 2005 oder den 1. Preis im Literaturwettbewerb der Akademie Graz 2005.
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TRAUERTÜCHER, TRUHENTRACHTEN Zweisprachige Ortsschilder wirken auf mich elektrisierend. Österreich wurde zu meinen Lebzeiten zwei Mal von einem „Ortstafelstreit“ erschüttert. Im Bundesland Kärnten sollte der dort ansässigen slowenischen Minderheit ihr in der Verfassung garantiertes Recht auf zweisprachige Beschilderung gewährt werden, einmal in den Siebzigerjahren des vergangenen und wiederum zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Diese unschuldige Maßnahme wühlte einen Nationalitätenkonflikt auf, der bis ins 19. Jahrhundert hineinreichte, und wurde von rechten Politikern instrumentalisiert, um vor allem jene auf die Barrikaden zu bringen, die von Geschichte keine Ahnung hatten. Es gab Proteste und Sabotage, immer wieder wurden die Schilder abmontiert. Am Ende bekannte sich der Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider zum Verfassungsbruch und versuchte mit allen Mitteln, die slowenische Beschriftung der Ortstafeln zu verhindern. Erst 2010 setzte sich die Republik durch und die Tafeln blieben endlich dort, wo sie hingehörten. Zweisprachige Ortsschilder sind das Erste, was mir in der Lausitz auffällt, und ich erfahre, dass es sich auch hier um eine autochthone slawische Sprache handelt: das Sorbische, auch Wendisch genannt, die Sprache der Sorben bzw. Wenden. Der alte und lange Zeit einzige Begriff für die österreichischen Slowenen war „die Windischen“. „Windisch“ ist ein vom Nomen „Wenden“ abgeleitetes Adjektiv. Das Wort „Wenden“ wiederum geht auf ein anderes für die Germanen „ fremdes“ Volk, die Veneter zurück. Sollte ich hier in der Niederlausitz in einem Paradies germanisch-slawischer Koexistenz gelandet sein? Nicht nur Orts- und Straßenschilder sind zweisprachig – fast überall, wo Texte zu finden sind, nicht zuletzt im touristischen Bereich, findet sich auch eine Übersetzung in das Niedersorbische, das entfernt wie das Polnische aussieht. Tatsächlich soll es weitläufig mit dem Polnischen verwandt sein, während das weiter südlich beheimatete Obersorbische dem Tschechischen ähnelt. Das Seltsame ist nur: Nirgendwo trifft man auf jemanden, der diese Sprache spricht. Man trifft auch niemanden, der jemanden kennt, der des Sorbischen mächtig wäre. Ach, diese Schilder und das alles, das sei nur wegen der Tradition, heißt es. Was also hat es mit dieser Zweisprachigkeit, die eine folkloristisch fingierte zu sein scheint, auf sich? Endlich finde ich einen älteren Herrn, der sich immerhin erinnert: Wenn in seiner Kindheit seine beiden Großmütter miteinander oder „mit anderen alten Frauen“ sprachen, verwendeten
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sie noch das Sorbische. Sein Vater konnte Sorbisch noch verstehen, aber nicht mehr sprechen. Er selbst beherrscht Sorbisch weder aktiv noch passiv. „Dann sind Sie also Sorbe?“, frage ich, auf die Großmütter verweisend. Er überlegt lange. „So gesehen – ja“, sagt er dann. Es ist so eine Sache mit der nationalen Identität. Assimilation bedeutet, dass Völker sich in andere verwandeln. Ein Sorbe, der nicht sorbisch spricht und auch keine Tracht trägt, sieht ja nicht anders aus als ein Deutscher. „Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge sind etwa 25% der Deutschen wendischer Abstammung“, heißt es in einer Broschüre des Wendischen Museums in Cottbus/Chosébuz. Und selbst, als das Sorbische noch Alltagssprache war (heute ist nur mehr das Obersorbische in der Gegend um Bautzen, Kamenz und Hoyerswerda in Gebrauch), wurde mit der Tracht schon getrickst. In Berlin, Potsdam und Dresden galt Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die sorbische Amme als Statussymbol. Mit ihrer spektakulären Tracht, die von zu ausladenden Hauben fixierten Kopftüchern gekrönt wurde, waren die Spreewald-Ammen bei ihren Spaziergängen mit den Kinderwägen unübersehbar. Es wird berichtet, dass weniger wohlhabende Familien der Bourgoisie sogar allerlei Verzicht betrieben, nur um sich die als besonders gesund und fleißig geltenden Luxus-Dienstbotinnen leisten zu können. Andere wiederum griffen zu der List, sich eine günstigere Amme aus anderen Teilen Deutschlands zu holen und sie in eine sorbische Tracht zu stecken, um wenigstens den Schein zu wahren. Vollends bizarr wurde der Kult allerdings, als ein zurückgekehrter Kolonialbeamter seine aus Afrika mitgebrachte schwarze Amme in Spreewaldtracht auftreten ließ, welche bei ihren Spaziergängen auf dem Kurfürstendamm großes Aufsehen erregte. Mit Sprachen kann es einhergehen wie mit Tieren: Jahrhundertelang versucht man sie auszurotten, und wenn es dann fast gelungen ist, setzt man hektische Maßnahmen, um sie am Leben zu erhalten. Die aktive Förderung des Sorbischen ist eine relativ rezente Erscheinung. In der vielhundertjährigen Geschichte dieses slawischen Volkes setzte sie erst spät, nämlich nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Mit der Losung „Die Lausitz wird zweisprachig“ bekannte sich die DDR zu dem paradoxen Versuch, etwas wiederherzustellen, das eben erst im Dritten Reich der effizienten Auslöschung preisgegeben war. Was das Niedersorbische betraf, war es zu spät.
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Für die neugegründete niedersorbische Sprachschule in Byhleguhre konnte man nur mit Mühe eine ausreichende Zahl an Kursteilnehmern finden. Oft waren diese dann Deutsche, die sich mit dem Besuch der Kurse für höhere Verwaltungsposten zu qualifizieren hofften. Erhebungen in der niedersorbischen Bevölkerung ergaben eine resignierte Haltung: „Lasst uns endlich zufrieden, wir wollen keine Sorben sein“, oder: „Überall wird deutsch gesprochen, da brauche ich nicht die sorbische Sprache“, wurden als Argumente gegen den Besuch der Schule angeführt. Die umfangreichste Exhumierung des Niedersorbischen fand jedoch erst nach der Wende statt. So wurde das Rathaus in Cottbus/Chosébuz erst im Jahr 2000 zweisprachig beschriftet, das Stadthaus 2004, zweisprachige Straßenschilder wie „Wendenstraße – Serbska droga“ stammen aus dem Jahr 2001. Die Sehnsucht nach Tradition, Bodenhaftung, Regionalität und Alleinstellungsmerkmalen in der globalisierten Gesellschaft ist groß. Ob es nun Deutsche oder Sorben sind, die bei den großen Trachtenfesten die Tracht als Kostüme anlegen oder bei den traditionellen Osterritten mitreiten, ist nicht mehr relevant. Die Assimilation geht in beide Richtungen, führt durch permeable Membrane und mischt alles durch. Und doch ist die Aneignung des Pittoresken nicht neu. Schon die Nazis, große Freunde von Trachten und Lokalkolorit, veranstalteten jährliche Spreewaldfeste, um die sorbische Bevölkerung als „ein lebendiges, starkes Stück des großen deutschen Volkstums“ zu präsentieren. Nachdem in einer ersten Phase die sorbische Sprache verdrängt worden war, behauptete man ab 1936 kurzerhand, bei den Sorben handle es sich um einen „deutschen Volksstamm“. Auch hier dienten Ortsnamen der Faktenschaffung, sie wurden eingedeutscht: aus Horka wurde Wehrkirch, aus Kreba Heideanger, aus Mücka Stockteich usw. Karl-Markus Gauß, der die Sorben in seinen Band „Die sterbenden Europäer“ aufnahm, geht mit den gegenwärtigen Retrotendenzen, die sowohl der Selbstvergewisserung als auch dem nach der Wende neu erwachten Tourismus dienen, hart ins Gericht: „Längst ist in der Niederlausitz der kuriose Zustand eingetreten, dass sich ein Volk geradezu wütend in die Folklore flüchtet, weil es sich nur mehr in dieser zu entdecken vermag. Periodisch wird Heimattreue aufgeboten, doch indem die Vergangenheit als Illusionsstück von heute gespielt wird, gerät sie noch nachträglich in den Verdacht, immer schon eine Lüge gewesen zu sein.“
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Ein Mutterland ist nicht dasselbe wie ein Vaterland. Die Auslandsdeutschen Anfang der Dreißigerjahre hatten in Deutschland ihr Mutterland. Mit Rücksicht auf deren Stellung als Minderheiten in anderen Ländern gingen die Nazis anfangs bei der Behandlung der Sorben für ihre Verhältnisse nahezu gemäßigt vor. Das Sorbische wurde ohne direkte Gewaltanwendung eliminiert. Man gründete deutsche Kindergärten, stellte nur mehr „deutschblütige“ Lehrer ein, im Schulunterricht durfte auch während der Pausen nur deutsch gesprochen werden, Messen waren auf Deutsch zu halten. Härter griff man nur bei den Opinion Leaders durch. 1940 erklärte Himmler, die Sorben sollten als „ führerloses Arbeitsvolk unter der strengen und gerechten Leitung des deutschen Volkes berufen sein, an dessen ewigen Kulturtaten und Bauwerken mitzuarbeiten.“ Damit sie auch tatsächlich führerlos seien, warf man ihre Führer ins KZ oder siedelte sie zwangsweise aus. Slowenien, das Mutterland der Kärntner Slowenen, wurde erst 1991 unabhängig. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten sich die in den österreichischen Kronländern Steiermark und Krain lebenden Slowenen abgetrennt und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS-Staat) angeschlossen. Das alles ging nicht harmlos vor sich, um jeden Meter der neuen Grenzziehung wurde nicht nur diplomatisch, sondern auch militärisch gekämpft. Auch Teile Südkärntens wurden Slowenien zugeschlagen, nachdem man im „Kärntner Abwehrkampf“ die SHS-Truppen zurückgedrängt hatte. Erst die Volksabstimmung 1920 brachte das Ergebnis, dass das heutige Südkärnten bei Österreich verbleiben durfte. Und das ist nicht zuletzt den dort lebenden Slowenen zu verdanken, von denen jeder zweite für den Verbleib votierte, was von rechten Politikern heute gerne unter den Tisch gekehrt wird. Doch die historischen Wunden sitzen tief, sie wurden über die Generationen weitergegeben und werden zur Manipulation des Wahlvolks gerne reaktiviert. Noch 2006 sah sich Slowenien genötigt, den von Jörg Haider geäußerten Vorwurf, es würde territoriale Ansprüche auf Unterkärnten geltend machen, zurückzuweisen. Die sorbische Bevölkerung Deutschlands hatte nie ein Mutterland. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es kurzfristig Bestrebungen, die Lausitz der neu gegründeten Tschechoslowakei und somit einem slawischen Komplex anzuschließen, die Idee wurde aber bald wieder fallengelassen. Zwei neue Wörter lerne ich im Wendischen Museum in Cottbus/Chosébuz kennen: „Trachtenträgerin“ und „Truhentracht“. „Von einst 11 sorbischen Trachtengruppen sind heute 7 Truhen-
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trachten“, ist dort zu lesen, und: „Die letzten ständigen Trachtenträgerinnen starben zwischen 1950 und 1970.“ Ich komme aus einem Land, in dem die Tracht Alltag ist. In meiner Kindheit in Salzburg hatten wir Dirndln und Lederhosen, Walkjanker, Lodenmäntel und Jägerleinenjoppen, dazu Trachtenhüte, auf denen wir Federn und Wanderabzeichen sammelten. Als ich nach Wien kam, stellte ich fest, dass dort unsere Alltagskleidung anders codiert war, sie galt als ein Zeichen für rechte Gesinnung. In gewissen Gegenden, etwa im Ausseer Land, haben viele Besucher das Bedürfnis, umgehend etwas Trachtiges anzulegen (auch Wiener und Deutsche, sogar Japaner tun es dort). Es gehört einfach dorthin, man möchte sich den Einheimischen anpassen. Weiter im Osten dagegen sieht es – abseits der Oktoberfestzeit, eine Mode, die auch zu uns übergeschwappt ist – nach wie vor seltsam aus, Tracht zu tragen. Der Hautgout des Heimattreuen, den die Nazis der Tracht angehängt haben, weht immer noch herbei, auch wenn man in den alpinen Regionen sagt: „Wir lassen uns von den Nazis die Tracht nicht verderben.“ Es gab und gibt jedenfalls jede Menge Trachtenträger und –trägerinnen in Österreich, aber kein eigenes Wort dafür. Ein eigenes Wort braucht man wohl erst, wenn das Signifikat selten wird. Das Wort „Truhentracht“ klingt traurig. Die Trachten wandern gewissermaßen in einen Sarg, aus dem sie nur mehr geholt werden, wenn ein besonderes Fest ansteht oder ein Kulturanthropologe vorbeikommt. Das Spezielle an der Spreewälder Tracht ist natürlich, dass sie wenig alltagstauglich erscheint. Allein die phänomenalen Hauben lassen rätseln, wie man denn auf den Bauernhöfen damit durch die Tür kam und in den teilweise sehr kleinen Räumen (das Freilichtmuseum in Lehde/ Lědy gibt einen Eindruck davon) sich bei der Arbeit bewegte. In Teile der Haube wurde festes Papier eingenäht, alles mit bis zu 80 Nadeln festgesteckt. Jede Frau hatte 7 – 8 Trachten für unterschiedliche Anlässe. Im Winter trug man zusätzlich einen sogenannten „Watterock“, einen dick mit Schaffell wattierten Unterrock. So eine Tracht konnte dann schon 10 Kilo wiegen. Und doch machten sich die Sorbinnen all diese Mühe. Der deutsche Maler Adolf Burger berichtete 1865: „Geht die Spreewälderin zur Arbeit ins Freie, so macht sie eine sorgfältige Toilette, zieht blendend weiße Wäsche und Tücher an und leuchtet förmlich in ihrer Sauberkeit, wodurch sie schon aus der Ferne von einer Deutschen zu unterscheiden ist, die zur Landarbeit ihre schlechtesten Kleider anzieht.“ Besonders spektakulär war die Trauertracht, für die schneeweiße
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gestärkte und kompliziert geraffte Damasttücher übergezogen wurden – wie berichtet wird, war es ein geradezu mystischer Anblick, eine Schar solcher fantastischer Gestalten auf den lautlosen Kähnen dahingleiten zu sehen. Es kommt nicht selten vor, dass Frauen die Bewahrerinnen der Tradition sind. So konsequent die Spreewälderinnen an ihren Trachten festhielten, so geheimnisumwittert ist das Verschwinden der entsprechenden Männertracht. Der Volkskundler und Maler Willibald von Schulenburg (1847 – 1934) berichtet noch davon: Die Wenden trugen „lange, weiße Leinwandröcke mit blanken Knöpfen, roten Biesen und großen Seitentaschen, rote Westen mit großen blanken Knöpfen, kurze weiße Kniehosen mit roten Nesteln, lange weiße Strümpfe mit roter Verzierung und Schuhe mit blanken Schnallen, durch welche ein Seidenband gezogen war; auf dem Kopf eine Pelzmütze mit grünem oder blauem Sammetdeckel.“ Auch von Zipfelmützen berichten manche Quellen. Schon um 1870 wurde die Männertracht abgelegt und geriet in Vergessenheit. Somit hielten die sorbischen Frauen rund hundert Jahre länger an ihren Trachten fest. Heute tragen die ausschließlich männlichen Osterreiter einen schwarzen Gehrock und Zylinder: Das sieht immerhin nach 19. Jahrhundert aus.
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Sonderstipendium „Die fünfte Jahreszeit“
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Foto: © Renate von Mangoldt
Steffen Popp Steffen Popp, geboren in Greifswald und aufgewachsen in Dresden, lebt in Berlin. Er veröffentlichte die Gedichtbände „Dickicht mit Reden und Augen“ (2013), „Kolonie Zur Sonne“ (2008) und „Wie Alpen“ (2004), sowie den Roman „Ohrenberg oder der Weg dorthin“ (2006), der u.a. für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Darüber hinaus übersetzte er die US-amerikanischen Lyriker Christian Hawkey („Reisen in Ziegengeschwindigkeit“) und Ben Lerner („Die Lichtenbergfiguren“), ist Initiator und Mitherausgeber der kollaborativen Poetik „Helm aus Phlox“ (Merve 2011) und Herausgeber von „Joseph Beuys: Mysterien für alle“ (Suhrkamp 2015). Zu den zahlreichen Auszeichnungen, die er für seine Arbeit erhielt, zählen der Leonce-und-Lena-Preis, der Preis für Internationale Poesie der Stadt Münster, der Peter-Huchel-Preis für den besten Gedichtband des Jahres 2013 und das Jahresstipendium der Deutschen Akademie Rom, Villa Massimo, 2015.
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FlieSSe Ein Netz, eine Reuse lebender Adern bewohnen von ihnen umgeben, von ihnen durchzogen sein sich zusammen, schwankend zumal in dieser Strömung bewegen, schwach synchronisiert unter Bäumen, selbst bewegt von jenem Fließen das auch das Land mit seinen Kräften auflädt was sonst nur Sonne, uralte Bäume vermögen. Und weil das Feste dem Fließenden Grund gibt und das Fließende dem Festen inneres Leben daraus alle Pflanzen, Tiere und Menschen sind – selbst Wasser, es trinken, darin schwimmen – und weil alles Strömen über und unter der Erde auf Reservoirs zuläuft, von denen Regen abhebt alle Gefäße also eine Gemeinde bilden, eigene Liquidität, Hegemonie, Träume – du selbst bist eines von ihnen – ist dies eine Heimkehr, auf Zeit.
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Bäume Bäume und hoher Bewuchs an wasserführenden Gräben (Stichen) durch Felder, in langen Reihen sind eine eigene Schrift und natürlich ein eigenes Schweigen – wir gehen unter ihnen mit unseren Zeichen und Stillen, wo Übersetzung möglich ist heißt es über Gräben springen, die Steinkrone eines Wehrs oder schlicht eine Brücke nehmen … Landschaft: Natur, die sehr am Menschen hängt in ihrer jüngsten Schicht, über Glazialgeschieben Magma, driftenden Platten, die alles tragen, alles Gebahnte, Gebaute, Gepflanzte, alle Gedanken. Bäume, sagst du, wachsen aus dieser Tiefe, die sie in den Himmel heben, in ihren Gestalten immer neu, immer anders erzählen: Keiner gleicht sich einem andern, und jeder ist Ausdruck der Erde – wassergetragen, Synthese von Licht und Gestein.
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Pools SPRUNG – nein, geräuschloses Gleiten in samtweiche Flüssigkeit, Aquamarin oder Azurblau einer niedrigen Wellenfront direkt vor Augen – dieses Medium spiegelt und trägt dich in einem und redet in einem fort von seiner Herkunft aus Wolken, Quellen – sich abstoßen gegen selbst gleitenden Widerstand, gegen Untergehn, wach auch wie im Schlaf, Reflexe des Oben-Bleibens oder gewichtlos, Blick zu Dachbalken, Sternen mit winzigem Flossenschlag, inversen Flügeln der Flamme zu, Plasma, unstet, anderes Medium – Blut, das dich innen trägt, ist ein Kolloid – in einer Begriffsmatrix treiben, und schwimmen Bahnen ziehn, wie es heißt, aber was eigentlich heißt es, diesseits von Namen, im Hier und Jetzt Atem in Blasen vor sich, flüchtig, schwebend.
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Gurken Lexikon spricht: Die Wanderbewegung der grünen Gekrümmten aus Asien, Amerika über den Süden und später Osten Europas endet in dieser Region vor etwa 500 Jahren. Ein Kürbisgewächs, nahe verwandt auch Melonen – hartschalig, eine Beerenfrucht – kam sie, um einmal mehr Kultur zu werden Geschmack, eine Berührung der Zunge. Rezeptsammlung spricht: Unreif gepflückt in Essig mit Kräutern, Gewürzen versenkt oder sauer vergoren – gewürfelt, halbiert zu Fächern geschnitten. Das Gurkenkrokodil am Buffet war der Hit. Ihre Zeit, eben die saure, endet nie: Azteken sind sie, Echsen Zeugen von Urgeschichte in einer Wasserund Wiesenwelt, die selbst posthistorisch ist.
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Kristalle Langsam: Wachstum, in Symmetrie gefasste Zeit – anisotrop, Tracht und Habitus geben Gestalt – unter Einschluss von Kälte, das heißt Abfluss von Wärme, der kompensiert, was Struktur Entropie abgewinnt – hochgradig geordnete Orte erhöhter Unordnung also – ein scheinbarer Widerspruch der dich in formstrengen Körpern vervielfacht und bricht, Feuer, kühl, das ist wie Augen schließen inneres Bild, Nachbild, Licht, das mondähnlich Kraft besitzt, amphibische Tiefe, Definition von Glanz – Metalle und Glas grenzen hier an – so in der Dauer sein, die Dauer selbst, höre ich dich in der Ordnung oder Ordnung allein, geordnete Abwesenheit, was eben Schönheit ist, ihre Idee – Zauber von Nichtorten, die dich erinnern – lange nachdem du ihr begegnet bist, berührt sie dich.
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Die Jury des Spreewald-Literatur-Stipendiums
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Heinz Rudolf Kunze wurde 1956 im Flüchtlingslager Espelkamp geboren. Vor dem Lehramtsstudium der Germanistik und Philosophie besucht er das Graf-Stauffenberg-Gymnasium in Osnabrück. Schon früh entdeckt er seine Liebe zum sprachlichen Foto: © Nikolaj Georgiew
Balanceakt. 1978 wird er mit dem Literatur-Förderpreis der Stadt Osnabrück ausgezeichnet, bald darauf musikalisch bei einem Nachwuchs-Festival entdeckt. Das junge Talent bekommt seinen ersten Plattenvertrag und veröffentlicht sein allererstes Album. Songs wie „Dein ist mein ganzes Herz“, „Mit Leib und Seele“ oder „Finden Sie Mabel“ machen Heinz Rudolf Kunze zu einer der Koryphäen deutschsprachiger Rockmusik. Übersetzungen diverser preisgekrönter Musicals, Buchveröffentlichungen, große Tourneen und musikalische Lesungen schließen sich an. Zwischenzeitlich moderierte Kunze Radiosendungen, unterrichtete als Gastdozent und trat in Fernsehserien auf. Nur wenige andere Künstler schafften es bisher so wie Kunze, ihremStil treu zu bleiben und sich dennoch künstlerisch kontinuierlich vorwärts zu bewegen. Ende August 2011 veröffentlichte er seinen ersten Prosatext unter dem Titel „Vor Gebrauch schütteln – Kein Roman“.
Der Literaturkritiker Martin Lüdke war nach dem Studium der Philosophie, Soziologie, Germanistik und Politik von 1976 bis 1978 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem sozialwissenschaftlichen Institut des Bundes in München (SOWI), bis 1984 Foto: Wolfgang Becker
Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und hatte später verschiedene Gastprofessuren in den USA (San Diego, Los Angeles, St. Louis, Gainesville, FL) inne. 1985 bis 1990 arbeitete er als Redakteur des Hessischen Rundfunks (Fernsehen/Kultur), seit 1990 beim Südwestfunk, dem heutigen SWR. Seit Sommer 2003 ist er Courtesy Professor der University of Florida, Gainesville, FL, USA. Martin Lüdke schreibt u.a. für die Frankfurter Rundschau, DIE ZEIT, DER SPIEGEL, LITERATUREN und veröffentlicht zahlreiche literaturwissenschaftliche Bücher u.a. bei Suhrkamp und im Rowohlt Verlag. Von 2010 bis 2014 war er als Vorsitzender des Kuratoriums des Deutschen Literaturfonds Darmstadt tätig und als Kritiker gehört(e) er zahlreichen Jurys an, u.a. war er Vorsitzender der Jury zur Vergabe des Preises der Leipziger Buchmesse und Mitglied der Jury zur Vergabe des Deutschen Buchpreises, Frankfurt am Main.
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FRIEDRICH SCHIRMER Theaterintendant und Dramaturg. 1951 in Köln geboren, begann er seine Theaterlaufbahn unmittelbar nach dem Abitur 1970 als Assistent und Dramaturg am Westfälischen Landestheater Castrop-Rauxel. Sein Weg führte ihn anFoto: © Ilona Habben
schließend über die Freie Volksbühne Berlin, die Städtischen Bühnen Nürnberg, das Nationaltheater Mannheim und die Städtischen Bühnen Dortmund zu seiner ersten Intendanz an der Württembergischen Landesbühne Esslingen (ab 1985). 1989 wurde Friedrich Schirmer Intendant der Städtischen Bühnen Freiburg. Von 1993 bis 2005 leitete er als Intendant das Schauspiel Staatstheater Stuttgart. Seit der Spielzeit 2005/2006 war Friedrich Schirmer Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Im September 2010 trat er infolge nicht eingehaltener finanzieller Zusagen und erheblicher Zuschusskürzungen seitens der Stadt Hamburg zurück. Im Herbst 2012 wurde er wieder zum Intendanten der Württembergischen Landesbühne Esslingen berufen. Sein neues und altes Amt hat er mit Beginn der Spielzeit 2014/15 angetreten.
Der Schriftsteller und Jurist Bernhard Schlink wurde 1944 bei Bielefeld geboren und wuchs in Heidelberg auf. Er wurde Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an den Universitäten in Bonn, Frankfurt und Berlin (HumboldtFoto: © Herlinde Koelbl
Universität) und Professor of European Law and Comparative Constitutionalism an der Benjamin N. Cardozo School of Law, New York. Von 1988 - 2007 war er Richter des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen. Seit 1985 veröffentlicht er Romane, Erzählungen und Essays. Sein Roman „Der Vorleser“ machte ihn international bekannt.
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FRANZISKA STÜNKEL Regisseurin, Drehbuchautorin und Fotokünstlerin. Die Filme von Franziska Stünkel liefen in 19 Ländern auf über 150 internationalen Filmfestivals und wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem „Best New Director Foto: © Carsten Witte
Award“ in New York. Für ihren Kinospielfilm „Vineta“ arbeitete sie mit Peter Lohmeyer, Ulrich Matthes, Justus von Dohnanyi, Matthias Brandt und Susanne Wolff zusammen. Franziska Stünkel erhielt für ihre Leistungen als Regisseurin den „Otto-Sprenger-Preis“ und wurde unter anderem für den „Prix Genève Europe – Bestes Europäisches Drehbuch“ nominiert. Als Regisseurin realisierte sie ferner den 15stündigen TV-Dokumentarfilm „Der Tag der Norddeutschen“. Für ihre fotografischen Arbeiten wurde sie mit dem Audi-ArtAward und dem Berlin Hyp Kunstpreis ausgezeichnet. Im Jahr 2012 erschien ihr Fotokunstbuch „Dialog der Geschichten“. Seit 2008 betreut sie als Kuratorin das Spreewald-Literatur-Stipendium.
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Die Spreewälder Kulturstiftung wurde im Jahr 2002 ins Leben gerufen. Ihr Anliegen ist die Förderung und Bewahrung der traditionellen Spreewälder Kultur und des Brauchtums. Die Wahrung der ursprünglichen Zeugnisse des Spreewaldes sowie das bewusste Wahrnehmen der einzigartigen Leistungen in der prähistorischen Zeit (1300 v. Chr.) und der sogenannten „Lausitzer Kultur“ (bronze- und eisenzeitliche Kultur 1300-500 v. Chr.) ist ein wesentlicher Schwerpunkt der Stiftungsarbeit. Mit der Unterstützung des Spreewald-Literatur-Stipendiums möchte die Stiftung darüber hinaus zeitgenössischen Literaten die Möglichkeit eröffnen, sich vom Spreewald inspirieren und ihn so in ihre Werke einfließen zu lassen.
www.spreewaelder-kulturstiftung.com
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Impressum Herausgeber: © 2016 Spreewälder Kulturstiftung Fotos: Nikolaj Georgiew, Dorett Auerswald, Marcella Wagner Gestaltung: Ronald Reinsberg Druck: Salzland Druck, Staßfurt ISBN 978-3-9817343-3-1
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