LASSEN
BUMMELN DÄMMERN WUNDERN
LASSEN BUMMELN DÄMMER WUNDER
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EDITORIAL In Teil 2 unserer diesjährigen Fortsetzungsgeschichte, die der Spreewald-Literatur-Stipendiat Sebastian Orlac für uns geschrieben hat und in der er dem ästhetischen Prinzip des Wabi-Sabi immer näher auf die Spur kommen will, beschäftigen wir uns mit dem Begriff Bummeln. Keine andere Jahreszeit als der Sommer lädt mehr zum Bummeln ein, verbinden wir mit ihm Urlaubsgefühle und damit Entspanntheit, Genuss und Zeit, die uns üppig zur Verfügung steht und nicht drängt. Beim Bummeln erleben wir eine Art von Müßiggang, der seine Wirkung ohne vordergründigen Zweck entfalten darf und der die Spuren des jüngst Erlebten nachwirken lässt, bis in uns wieder Ruhe einkehrt und Verwandlung möglich wird. Erst wenn wir Spuren von etwas finden, so schreibt Sebastian Orlac, beginnen wir zu spüren. Spüren bedeutet dann, dass wir uns als Mensch all unserer Erfahrungen bewusst werden, dass wir die Spuren des Lebens dem metaphysischen Ansatz des Wabi-Sabi folgend mit allen Sinnen wahrnehmen, schätzen und uns daraus der Vielfalt des Möglichen öffnen.
Herzliche Grüße
Ihre Christine und Heinrich Michael Clausing Burg im Spreewald im Sommer 2015
Der Text ist fertig, die Arbeit geschafft, ein Projekt abgeschlossen. Man könnte sich zurücklehnen, entspannen. Doch kaum ist eine Aufgabe zu Ende gebracht, kommen weitere hinzu. Die Liste mit Unerledigtem wird immer länger, eine Schlange, die nach uns greift. Wir kämpfen mit ihr wie Herakles mit der Hydra. Aus jedem abgehakten Punkt wachsen zwei neue. Und so wie der Riesenkrebs Karkinos den Helden in die Versen kneift, zwicken auch uns die kleinen Alltagsfragen: abzuheftende Steuerunterlagen, der Wechsel des Telefonanbieters, der baldige Kindergeburtstag. Das Unerledigte begleitet uns bis ins Bett. Ausgerechnet in der Nacht, die dem Träumen vorbehalten sein sollte, wollen wir vernünftige Pläne schmieden? So um den Schlaf gebracht, liegen wir da und fragen uns: Wie soll ich das alles schaffen? Es ist keine Sorge, keine Furcht oder Angst, die uns umtreibt, eher eine aufgeregte Unruhe, für die es ein schönes Wort gibt:
Es leitet sich vom Baumeln ab. Etwas bewegt sich in einem hin und her. Das Herz schlägt pochend. Bammel hat man vor der Schulprüfung am nächsten Tag, vor der ersten Verabredung mit der großen Liebe. Und manchmal, wenn das Bammeln zu groß wird, möchte man lieber gar nicht hingehen, sondern seine Zeit woanders vertrödeln.
Ja, ich habe als Schüler mehrfach die Schule geschwänzt. Ob aus Bammel vor Prüfungen oder weil ich keine Lust hatte hinzugehen, weiß ich nicht mehr. An das, was ich in den geschenkten Stunden gesehen habe, kann ich mich sehr wohl erinnern. Die riesige Glaskuppel im Münchner Justizpalast und die spuckenden Löwenmäuler am Treppengeländer, die geschliffenen Kiesel im Eisbach des Englischen Gartens, die ausgestellten Gebeine der Märtyrer im Kirchenschiff des Alten Peter. Das mittelhochdeutsche swenzen leitet sich vom Wedeln des Schwanzes ab. Man bewegt sich hin und her. Noch treffender ist die Bezeichnung im Französischen. Faire l‘école buissonnière, in die Buschschule gehen, sagt man, wenn jemand den Unterricht versäumt. Wer sich die Zeit nimmt, vom Weg abzukommen und in die Büsche schlägt, kann dort etwas lernen. Aber müssen wir immer etwas lernen? Kann man nicht auch nutzlos seine Zeit verplempern? Wer etwas versäumt, verpasst etwas. Aber vielleicht liegt ja gerade im
das Glück. Wir kennen das Wort saumselig. Das kommt dem Zustand schon etwas näher.
SPREEWALD SOMMER
„Ambulo ergo sum – Ich spaziere, also bin ich“, schrieb der Französische Philosoph Pierre Gassendi (1592-1655) als Entgegnung auf Descartes „Ich denke, also bin ich.“ Erkenntnis kann nicht nur am Weg der bloßen Vernunft, sondern auch auf Feldwegen durch die wahrnehmbare Welt gewonnen werden. So wird auch sprachlich seit dem 17. Jahrhundert aus einem bewanderten Weg ein bewanderter Mensch. Heute sprechen wir eher von Erfahrung. In zunehmender Geschwindigkeit durchfahren wir die Landschaft und glauben, uns ein Bild von der Welt zu machen. Doch was hängen bleibt, ist meist unscharf, verwischt. Ein Umstand, der den Schweizer Soziologen Lucius Burkhardt in den frühen 1980er Jahren dazu brachte, das
ins Zentrum seiner Forschung zu stellen. Er begründete die Spaziergangswissenschaft, Promenadologie oder englisch auch Strollology, deren Ziel es ist, die Wahrnehmung des menschlichen Körpers durch Raum und Zeit zu untersuchen. Unsere Städte und Landschaften, die wir vermehrt aus einer erfahrenen Erfahrung heraus planen und beleben, wieder zu erlaufen, im menschlichen Maß wahrzunehmen. Eine Forderung, die heute an Bedeutung gewinnt, wenn man bedenkt, dass es immer üblicher wird, uns den Weg von Navigationssystemen zeigen zu lassen. Wer sich überall orten lassen kann, verliert schnell die Orientierung. Ein Grund mehr, öfter vom Weg abzukommen. Doch Vorsicht: Wer spazieren geht, den hält man schnell für einen Faulenzer. Kein Chef will seine Mitarbeiter einfach spazieren gehen lassen. Wir joggen, walken, wandern, pilgern einem Ziel hinterher. Der bloße Müßiggang des Spazierens kommt dabei zu kurz.
sommer im teepavillon „ D ie 8 weisen “
Wer sich entspannen will, braucht dafür eine Erlaubnis. Der Urlaub geht auf das mittelhochdeutsche urloup zurück, der Erlaubnis sich zu entfernen. Oder aber man fährt zur Kur (so fern das noch bezahlt wird). In einigen Kurorten kennt man noch die Wandelhalle. Man stärkt sich an den Heilquellen, wandelt an der frischen Luft und wird dabei gesehen. Im
steckt die Verwandlung. Man könnte meinen, wer wandelt, ist auf Veränderung aus. Doch so wie beim Baumeln, meint auch das Wandeln ein Hin und Her. Sprachlich leitet es sich vom Winden und Wenden ab. In der Verwandlung entsteht also nichts Neues, es zeigt sich nur unsere andere Seite, das, was ohnehin schon in uns steckt. Wer aber etwas Neues vor sich hat, kann im Gehen einen guten Übergang schaffen. Wenn ich etwas Aufregendes vor mir habe, gehe ich gerne zu Fuß dorthin: zum ersten Date, einer wichtigen Besprechung, einer Premiere. Als ich 2011 im Rahmen des Spreewald-Literaturstipendiums eingeladen wurde, einen Monat im Hotel Bleiche zu leben und zu arbeiten, bin ich ebenfalls eine Strecke zu Fuß gegangen. Ich wollte mit leichtem Gepäck anreisen und mein Alltagsgrübeln zu Hause lassen. Auf dem Weg von Lübbenau nach Burg durch den Nebel verhangenen Spreewald geisterte mir noch einiges durch den Kopf: Werde ich in dem Monat zum Schreiben kommen? Was wird man von mir erwarten? Darf ich mich überhaupt so lange zurückziehen? Mit jedem Schritt wurde ich ruhiger. Ich sah auf dem Weg: Spuren von Fahrradreifen, Wanderstöcken, Wildwechsel. Beim Gehen hinterlassen wir Spuren. Manchmal können wir dabei auch eine Spur des Lebens hinter uns lassen, in dem wir nur spuren.
端ber br端cken und fliesse wandeln
Man könnte meinen, die Menschheit war schon immer gestresst. Dabei kennen wir Stress erst seit rund 80 Jahren. Früher war man vielleicht erschöpft, ermattet, angespannt. Der aus Wien stammende Mediziner Hans Selye bezeichnete 1936 in einer ersten Arbeit den Zustand körperlicher Belastung durch äußere Einwirkung als Stress. Die auf ihn zurückgehende Stressforschung versteht den Begriff zunächst wertfrei. Stress kann stimulierender Anreiz oder lähmende Blockade sein. Das Wort ist aus der Werkstoffkunde entlehnt und beschreibt die Veränderung von Material durch äußere Krafteinwirkung. Es kann sich anspannen, verzerren, verbiegen. Wird der Druck zu groß, kann es auch zu Rissen kommen. Das Leben zeichnet uns. In unserem westlichen Verständnis versuchen wir solche
zu verbergen. Aus der Tradition des japanischen Wabi-Sabi, mit dem wir uns bereits im ersten Teil dieser Reihe beschäftigt haben, stammt der entgegengesetzte Ansatz. Kintsugi heißt die Technik des Goldflickens, bei der angestoßene, zerbrochene oder gerissene Porzellan- oder Keramikstücke mit Urushi-Lack wieder zusammengefügt und fehlende Teile ergänzt werden. Beigefügt in den Lack wird feiner Gold, Platin oder Silberstaub. Die Einfachheit und die Wertschätzung des Fehlerhaften stehen im Zentrum dieser Technik. Die Risse werden nicht verborgen, sie werden gezeigt, sie werden gefeiert. Auch das Leben hinterlässt Spuren. Oft versuchen wir sie zu verwischen oder zu glätten. Noch immer gilt in unserer Kultur Glätte als Maßstab für perfekte Schönheit. Doch über eine glatte Fläche zu streichen, verliert bald seinen Reiz. Unsere Finger suchen nach der unebenen Stelle. Erst wenn wir Spuren von etwas finden, beginnen wir zu spüren.
S O M M E R wabi - sabi
Unterdessen mag die Ästhetik des Gebrauchten längst Einzug in unsere Kultur erhalten haben. Die Online Portale sind voller Retro, Vintage und Patina-Objekte. Doch Wabi-Sabi zeigt nicht das bloße Abbild der Lebensspuren der Dinge. Es will ihre Aura
Der Begriff Wabi-Sabi gilt als kaum übersetzbar. Die Zusammenfügung aus Wabi (elend, einsam, verloren) und Sabi (alt, reif, gewachsen) trifft noch nicht das Wesentliche. Gerne wird eine Geschichte erzählt, um den Geist des Wabi-Sabi zu veranschaulichen: Ein Wanderer ist auf dem Weg über Land, als die Dunkelheit einbricht. Wo wird er Unterkunft für die Nacht finden? Er sammelt Binsen, die auf den Feldern liegen, und bindet sie an der Spitze zusammen. Das Zelt bietet ihm Schutz für eine Nacht. Am nächsten Morgen löst der Wanderer den Knoten, die Binsen fallen auseinander und liegen wieder dort, wo er sie aufnahm. Das nächtliche Lager hinterlässt kaum eine Spur, außer einigen leicht geknickten Binsen und der Erinnerung im Gedächtnis des Wanderers. Die Dinge gelangen für einen Moment zu einer Bestimmung und werden sogleich wieder ihrem Eigenleben überlassen.
der spreewald erwacht
Man muss nicht bis in den fernen Osten gehen auf der Suche nach Entspannung. Unsere Wege mögen alle ein Ziel haben. Doch wer sagt, dass wir nicht auch auf ihnen
können. Wir kennen den Begriff vielleicht vom Einkaufsbummel oder vom Schaufensterbummel, von öden Sonntagsspaziergängen mit den Eltern durch ausgestorbene Fußgängerzonen. Längst ist der Bummel dem Shopping gewichen. Und anstatt uns zu Fuß durch die Innenstädte zu bewegen, bestellen wir lieber online mit dem Finger. Das ziellose Hin und Her des Bummels hat seine Entsprechung im Netz gefunden. Dort heißt es Surfen. Der Begriff geht auf die amerikanische Bibliothekarin Jean Armour Polly zurück. 1992 suchte sie für einen Artikel nach dem passenden Ausdruck für die Bewegung im Internet und fand ihn beim Anblick ihres Mauspads, auf dem ein Surfer zu sehen war. Im Gegensatz zum Bummler müssen Surfer stets in Bewegung bleiben, von einer Welle zur nächsten, um nicht von den Untiefen geschluckt zu werden. Auch Bummeln kann einen runter ziehen, erst recht, wenn es nicht das eigene ist. Bummelnde Züge, Sachbearbeiter und Kinder auf dem Heimweg können einem den letzten Nerv rauben. Bummeln sollte ein freiwilliger Akt sein. Es bedarf der Nähe und des Vertrauens, um ihn gemeinsam auszuführen. In meiner Gegend beobachte ich immer wieder ältere türkische Männer, die gemeinsam die Straße auf und ab bummeln, stets verbunden in der gleichen Körperhaltung: Einer verschränkt die Hände auf dem Rücken, der andere hakt sich lose mit einem Arm unter. Wem solch elegantes und zugleich liebevolles Nebeneinanderhergehen nicht gelingt, sollte lieber alleine bummeln.
DER BLEICHE GARTEN
Bimmeln, bammeln, baumeln, bummeln. Die Laute malen eine leichte Bewegung. Hin und her geht es und klingt langsam aus wie der Tag. Unsere Beine
von einem Steg ins Wasser, wir bummeln über die Felder, von weitem bimmelt das abendliche Kirchengeläut. Wenn das Leben an uns zerrt wie ein Glockenstrang und wir ins Straucheln geraten, dann sollten wir für eine Weile baumeln und nachschwingen bis wieder Ruhe einkehrt. Und nachts, wenn wir noch immer keine Ruhe finden, hilft das Bummeln gegen den Bammel. Manchmal, wenn ich schlaflos im Bett liege, stelle ich mir Wege vor, die ich einmal gegangen bin. Der Weg durch den nebligen Spreewald zur Bleiche gehört auch dazu. Und wenn ich, vorbei an den Kanälen, eine Brücke nach der anderen nehme, werde ich immer entspannter, bis ich fast schon im Dämmern bin. Doch dazu beim nächsten Mal mehr.
Fortsetzung folgt
Foto: Bernward Reul
der Autor
Sebastian Orlac
Geboren 1970 in Bochum, lebt gerne mit Frau, Tochter und Sohn in Berlin. Nach dem Abitur arbeitet er zunächst als Regieassistent, dann als Regisseur für Schauspiel (u.a. Schauspielhaus Bochum, Nationaltheater Weimar) und Musikvideos. Seit 2001 schreibt er Theaterstücke, Romane, Erzählungen, Drehbücher. 2006 ist sein erster Roman „Verteidigung der Himmelsburg“ bei Klett-Cotta erschienen. Im ZDF sind u.a. die von ihm geschriebenen „Lotta“-Filme mit Josephine Preuß zu sehen, sowie Ende 2013 das Helmut Schmidt Doku-Drama „Lebensfragen“. Zusammen mit der Gruppe KULTURMASSNAHMEN realisiert er zudem seit 2002 „Die Show des Scheiterns“, deren TV-Adaption 2012 für den Grimme-Preis nominiert wurde. Spreewald Literatur Stipendium der Spreewälder Kulturstiftung, Winter 2010-2011
IMPRESSUM Herausgeber und Redaktion: Christine und Heinrich Michael Clausing BLEICHE RESORT & SPA Bleichestraße 16 · 03096 Burg / Spreewald, Telefon+49(0)35603-620 · Fax +49(0)35603-60292 www.bleiche.de · reservierung@bleiche.de Hotel „Zur Bleiche“ Heinrich Michael Clausing e.K. Fotos: Nikolaj Georgiew, www.georgiew.de Text: Sebastian Orlac Konzept & Gestaltung: Ronald Reinsberg, reinsberg.de Druck: Druckteam, Berlin
bleiche resort & spa · BleichestraSSe 16 · D-03096 Burg / Spreewald · Telefon +49(0)35603-620 · Fax +49(0)35603-60292 www.bleiche.de · reservierung@bleiche.de