SPREEWALD ANTHOLOGIE II

Page 1

SPREEWALD ANTHOLOGIE II

Spreewald-Literatur-Stipendium 2009 - 2010



SPREEWALD ANTHOLOGIE II

Spreewald-Literatur-Stipendium 2009 - 2010 Larissa Boehning Robert Seethaler Bodo Morshäuser Thomas Lang Martin Rose

S P R E E W Ä L D E R KULT URSTIFTUNG auf Schloss Müschen


INHALT

FRIEDRICH SCHIRMER, Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 04 LARISSA BOEHNING . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 09 Das Thuja-Hecken-Öfchen-Zimmer mit dem geheimnisvollen Schrank . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Der rote Raum mit dem windschiefen Tisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Das grüne Gewölbe, das sich als Wintergarten tarnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Der lange Gang (mein Zimmer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Der Kamin am Wasser mit dem pfeifenden Engel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 ROBERT SEETHALER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Erinnerung an den Spreewald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24


BODO MORSHÄUSER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Scheine! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 THOMAS LANG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Krabat Resort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 MARTIN ROSE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Gespaltenes Holz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 DIE JURY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69


VORWORT

„Über das Schreiben“

Nein, ich „schreibe“ nicht, kann gar nicht „schreiben“.

Wie pikant! wie originell! Er läuft schnell vor den Spiegel.

Ich bin ein einfacher Leser, das meint, ich lese ein-

Auf Ehre, ich sehe doch recht genial aus! Er setzt sich an

fach, oder schaue mir Geschriebenes – lebendig wer-

einen Tisch. Nun will ich anfangen!

dend – auf der Bühne des Theaters an. So einfach ist das für mich.

Ich saß an meinem Tisch und kaute Federn,

Nun aber bin ich gebeten ein Vorwort zu „schreiben“...

So wie – –

Hilfesuchend schweift mein Blick über die BücherstaJa, was in aller Welt sitzt nun so, daß es aussieht wie

pel in meinem Arbeitszimmer. Ich greife zu, schlage auf:

ich, wenn ich Federn kaue? Wo bekomme ich hier ein Christian Dietrich Grabbe –

schickliches Bild her? Ich will ans Fenster springen und

einer meiner Lieblingsdichter –

sehen, ob ich draußen nichts Ähnliches erblicke! Er

Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung

macht das Fenster auf und sieht ins Freie. Dort sitzt ein

2.Akt, 2.Szene

Junge und kackt – Ne, so sieht es nicht aus! – Aber drü-

„Der Dichter RATTENGIFT sitzt an einem Tische und

ben auf der Steinbank sitzt ein zahnloser Bettler und

will dichten. Ach, die Gedanken! Reime sind da, aber

beißt auf ein Stück hartes Brot – Nein, das wäre zu tri-

die Gedanken, die Gedanken! Da sitze ich, trinke Kaf-

vial, zu gewöhnlich! Er macht das Fenster wieder zu und

fee, kaue Federn, schreibe hin, streiche aus, und kann

geht in der Stube umher. Hm, hm! fällt mir denn nichts

keinen Gedanken finden, keinen Gedanken! – Ha, wie

ein? Ich will doch einmal alles aufzählen, was kauet.

ergreife ichs nun? – Halt, halt! was geht mir da für eine

Eine Katze kauet, ein Iltis kauet, ein Löwe – Halt! ein

Idee auf? – Herrlich! göttlich! eben über den Gedan-

Löwe! – Was kauet ein Löwe? Er kauet entweder ein

ken, daß ich keinen Gedanken finden kann, will ich ein

Schaf, oder einen Ochsen, oder eine Ziege, oder ein

Sonett machen, und wahrhaftig dieser Gedanke über

Pferd – Halt! ein Pferd! – Was dem Pferde die Mähne

die Gedankenlosigkeit, ist der genialste Gedanke, der

ist, das ist einer Feder die Fahne, also sehen sich beide

mir nur einfallen konnte! Ich mache gleichsam eben

ziemlich ähnlich – Jauchzend. Triumph, da ist ja das

darüber, daß ich nicht zu dichten vermag, ein Gedicht!

Bild! Kühn, neu, calderonisch!

4


Ich saß an meinem Tisch und kaute Federn,

10. Es mag helfen zu beten. Oder etwas anderes zu

So wie der Löwe, eh der Morgen grauet,

lesen. Oder sich immer wieder den heiligen Gral vor

Am Pferde, seiner schnellen Feder kauet –

Augen zu halten: das veröffentlichte, fertige Exemplar deines großartigen Buchs.

Er liest diese zwei Zeilen noch einmal laut über und schnalzt

Margaret Atwood

mit der Zunge, als ob sie ihm gut schmeckten. Nein, nein! So eine Metapher gibt es noch gar nicht! Ich erschre-

1. Fange nicht an, eine Geschichte zu schreiben, wenn

cke vor meiner eignen poetischen Kraft! Behaglich eine

du nicht weißt, wie sie endet. Das kann jeder.

Tasse Kaffee schlürfend. Das Pferd eine Löwenfeder! Und

4. Vertraue dir selbst! Wenn es dir schlecht erscheint,

nun das Beiwort »schnell«! Wie treffend! Welche Feder

ist es schlecht.

möchte auch wohl schneller sein als das Pferd? – Auch

Alessandro Baricco

die Worte »eh der Morgen grauet!« wie echt homerisch! Sie passen zwar durchaus nicht hierher, – O, ich

9. Wenn dir ein Buch nicht dabei hilft, das zu verste-

muß noch einmal vor den Spiegel laufen! Sich darin be-

hen, was dich umgibt und die trüben Wasser unseres

trachtend. Bei Gott, ein höchst geniales Gesicht! Zwar

Daseins hier auf Erden zu durchqueren, warum dann

ist die Nase etwas kolossal, doch das gehört dazu! Ex

all die Mühe? Mache dich auch nicht daran, ein Werk

ungue leonem, an der Nase das Genie!

zu verfassen, das dich nicht verändert, dir nicht ermöglicht, die Dinge von einem anderen Standpunkt

„An der Klaue erkennt man den Löwen“ – ich ertaste

aus zu betrachten. Warum solltest du deine Zeit damit

meine Nase, nun ja, ich jedenfalls bin kein Genie und

vergeuden, wenn du bereits weißt, wie es ausgehen

brauche weitere Hilfe. Ein kleines, blaues Bändchen der

wird, was du da gerade angestoßen hast? Der Weg zur

DVA mit dem Titel „Zehn Gebote des Schreibens“ –

Literatur ist die Ungewissheit.

zusammengetragen von höchst unterschiedlichen

Rafael Chirbes

Dichtern und Autoren – verspricht Rettung. Ich fange an zu blättern und lese mich fest...

5


2 . Sei nett zu dir selbst. Fülle Seiten, so schnell es geht;

10. Vertraue dir selbst, respektiere dich, liebe dich

doppelter Zeilenabstand, oder lasse immer eine Zeile

genug, um lange Stunden nur mir dir allein zu verbrin-

frei. Betrachte jede neue Seite als kleinen Triumph...

gen, aber sei nicht stolz – sei demütig deiner Gabe ge-

3. ...bis du auf Seite 50 ankommst. Dann solltest du

genüber. Eine Gabe ist etwas, das man geben kann.

langsamer werden und dir allmählich Gedanken über

Nancy Huston

die Qualität machen. Sei ruhig nervös - das gehört dazu. 9. Vergiss nicht, dass du das Schreiben liebst. Sonst

Roddy Doyle

wäre es das Ganze nicht wert. Wenn die Liebe verblasst, 7. Stell dir vor, du lägest im Sterben. Wenn du an einer

tue, was nötig ist, um sie wieder aufleben zu lassen.

unheilbaren Krankheit littest, würdest du dann dieses

10. Vergiss nicht, dass das Schreiben dich nicht liebt.

Buch beenden? Warum nicht? Was dieses nur noch

Du bist ihm egal. Dennoch kann es sich erstaunlich

zehn Wochen zu leben habende Ich stört, ist das, was an

großmütig verhalten. Sprich gut davon, ermutige an-

dem Buch nicht stimmt. Also ändere es. Höre auf mit

dere, gib es weiter.

dir selbst zu streiten. Ändere es. Siehst du? War ganz

A.L. Kennedy

leicht. Und niemand musste sterben. 10. Finde dich damit ab, dass im Leben, aber mehr

Anne Enright

noch in der Literatur, Erfolg und Misserfolg oft unge10. Man muss zuerst etwas lieben, bevor man unerbitt-

recht verteilt sind. Vergiss nicht, Moby Dick war ein

lich sein kann.

Flop und Melville musste wieder eine normale Arbeit

Jonathan Franzen

als Zollbeamter annehmen, bis er schließlich eine bescheidene Pension erhielt.

2. Höre auf deine innere Stimme. Wenn sie dir sagt, du

François Lelord

bist etwas Großem auf der Spur, dann folge ihr. Wenn sie dir sagt, etwas stimmt nicht, glaube ihr, schreibe

10. Vertraue niemals solchen Listen, sondern schreibe

nicht weiter, sondern gehe der Sache auf den Grund.

dir deine eigene.

Thomas Glavinic

Eva Menasse

6


3. Schreibe 500 Wörter pro Tag. Wenn du das 100 Tage

10. Meditiere, wie auch immer du magst. In der Medi-

lang machst, hast du ein Buch von 50 000 Wörtern.

tation kann man an einen grenzenlosen Fundus von

Schreibe nie mehr, nicht einmal, wenn es gut läuft.

Ideen und Bildern gelangen. Mit diesem Fundus kann

Cees Nooteboom

man das Leiden hinter sich lassen, das entsteht, wenn man alles rational angeht.

10. Sage die Wahrheit durch welche Blume auch immer,

Banana Yoshimoto

aber sage sie. Und finde dich mit der lebenslangen Wehmut ab, die daher rührt, niemals zufrieden zu sein.

10. Und jetzt schreib, verdammt!

Zadie Smith

Juli Zeh

1. Die Schriftstellerei ist ein Beruf für Versager. Übe dich im Versagen und mache deine Schwächen zu deinen Stärken. 2. Reduziere deine Fixkosten. Sei mutig. Versuche

Nun, das haben die Autorin und die Autoren des 2.

glücklich zu sein. Vergiss die Nachwelt. Es gibt sie nicht.

Jahrgangs (Herbst 2009 bis Sommer 2010) des Spree-

Peter Stamm

wald Literatur Stipendiums getan. Geschrieben, im Spreewald – frei von Alltagssorgen und ohne Ablen-

1. Glaube nichts von dem, was deine Charaktere sagen,

kung. Davon erzählen die Texte, sie spiegeln den Auf-

und glaube auch das nicht, was deine Charaktere tun.

enthalt im Spreewald und im Hotel zur Bleiche.

Alles Lügner und Betrüger. Ich habe mal einen Charakter eine ganze Banane so aufessen lassen, dass er

Und uns Leserinnen und Lesern bleibt jetzt nur noch:

diese Banane immer wieder in seinen Earl Grey getunkt

Einfach Lesen!

hat. Wer, bitte schön, tunkt seine Banane in Earl Grey? Saša Stanišić

Friedrich Schirmer

Quelle: Zehn Gebote des Schreibens 2011, dva/Verlagsgruppe Randomhouse GmbH

7


HERBST 2009


Foto: © Julia Baier

LARISSA BOEHNING Larissa Boehning wurde 1971 in Wiesbaden geboren und wuchs im Süden Schleswig-Holsteins auf. Sie studierte Kulturwissenschaften, Philosophie und Kunstgeschichte in Lüneburg und Berlin. Während und nach ihrem Studium arbeitete sie zunächst als Grafikdesignerin für verschiedene Agenturen. Arbeitsaufenthalte in Frankreich und den USA folgten ebenso wie eine lange Asienreise. Von 2004 bis 2007 lebte sie in Spanien, unterrichtete dort neben dem Schreiben an einer Filmschule. Ende 2007 kehrte sie mit ihren beiden Kindern zurück nach Berlin. Ihre literarische Arbeit wurde mit verschiedenen Preisen und Stipendien geehrt, zuletzt erhielt sie den Mara-Cassens-Preis 2008 für das beste Romandebüt. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben an mehreren Universitäten. 2003 erschien der Erzählband „Schwalbensommer“, 2007 folgte der Roman „Lichte Stoffe“ und 2011 „Das Glück der Zikaden“.

9


FÜNF RÄUME DAS THUJA-HECKEN-ÖFCHEN-ZIMMER MIT DEM GEHEIMNISVOLLEN SCHRANK

Eine rote Zahl kündigt mir an, wie warm es hier ist. Die Bezüge hängen über den Ohrensesseln, plattgesessen, verkrumpelt, die Kissen gedrückt, hier haben viele Menschen gesessen und die Wärme genossen. Sich leise was erzählt, das hängt noch im Raum, Worte zwischen Eheleuten, Paaren, Worte einer Mutter an ihre Tochter, Trost, Hoffnung, ein kleines Gelingen. Der Hopfen, der Lebensbaum, das Hirschgeweih, das Kreuz aus Stein. Sie tragen auch dazu bei. Die Ruhe. Der Ofen, der nicht knistert, nichts erzählt, der Stille ist und wärmt und die Thuja-Hecke auf ihm duften läßt, so, daß man es lange nicht merkt, bis dann, doch. Und das kleine Kästchen mit drei Stäben, länglich und geheimnisvoll, eine Uhr, denke ich, keine Uhr, hier gibt’s keine Uhren und gut so, daß sie verbannt sind, ich trage sonst auch nie eine, aber in den Straßen gibt es genügende, und mein Handy sagt mir immer, wie spät es ist, und daß es zu spät ist, sowieso, kein Handy, keine Uhr, nur ein Kasten mit drei Stäben und einem Rätsel, was er enthalten könnte, weil alles andere im Raum so selbsterklärend ist und ich immer das Geheimnis wissen will, obwohl es besser wäre, es einfach Geheimnis sein zu lassen. Ich denke: Ein Schlüsselkasten mit Schlüsseln zu noch viel geheimeren Räumen. Ein Schlüssel zum Wald, zum Fluß, zu den Bergen, ein Schlüssel zu einer Kammer voller weichem Fell, ein Schlüssel zur Erinnerung, ein Schlüssel, der zu keinem Schloß der Welt passen will. Ein Schlüssel zum Verstehen, warum es so schwer ist, Ruhe zu finden, heutzutage. Ein Schlüssel zur Demut, die mir sagt, was Glück ist. Ein Schlüssel zur Stille, die alle Gedanken nimmt, in den Ohrensessel zieht, in den Ofen, in den Hopfen, ins Kreuz. 37 Grad sollen es hier nur sein. Nein, denke ich, es ist ein Grad mehr als wir sind, ein Grad mehr als das Leben, ein Grad mehr von allem und das nennen wir, ganz einfach, Entspannung, nur.

10


11


12


DER ROTE RAUM MIT DEM WINDSCHIEFEN TISCH

Er müßte, jeden Moment. Jetzt gleich, nein, doch nicht. Jetzt aber, wenn der Weinkühler auf ihm abgestellt wird, nein, wieder nicht. Er steht wie ein Reh, das gerade laufen lernt, er steht so und steht und wird immer so stehen, ich bewundere den Tisch, wie er so kreuz-und-quer-beinig stehen kann, drei zu allen Seiten, eines eingeknickt, wie gesagt, ein Reh, das das Aufstehen lernt, und dem werden nicht einfach zwei Teller, zwei Gläser, eine Flasche auf den Rücken gestellt. Gotische Kirchen, ihre Aufrißzeichnungen, auf den Wandschirmen. Die Gotik, die so hoch hinaufstrebte, weil der Mensch Streben erfunden hatte, Tragflächen, die das Gewicht verlagerten, auslagerten, die Höhe war nur möglich durch die Breite, die Tiefe, die Mehrdimensionalität. Das ist der Tisch. Er ist kein gotischer Tisch, aber er scheint sich das Prinzip zu eigen gemacht zu haben, von den Wandschirmen abgeschaut. Dann werden ihm die Kochbücher, die Kräuterlexika, die Weinwälzer was eingeflüstert haben: Steh, kleiner Tisch, steh. Du schaffst es. Nur weiter so! Er steht also, seine Platte hat zwar schon einen Knick, aber er steht, und er wird noch stehen, wie eine gotische Kirche, seine große Schwester, eine Kathedrale, seine noch größere Schwester, und weil er diese vor Augen hat, vielleicht, fällt er nicht um. Um ihn herum tragen die Wände ihr ruhiges Rot, ihr offenes Weiß, ein Teufel freut sich als Buchstütze, aber er wird keinen Sieg erringen. Er wird irgendwann schlafen gehen, gesättigt, entzückt, träumend vom Tisch und seinen vier Beinen, der im Zentrum steht, nicht nur dieses Raumes, aber allen Räumen, den heimeligen, niedrigdeckigen Räumen, die zuerst da waren und von denen aus die Höhe, die Breite und die Tiefe aller restlichen Räume erobert worden ist.

13


DAS GRÜNE GEWÖLBE, DAS SICH ALS WINTERGARTEN TARNT

Es versucht, mich zu täuschen. Ich bin ein Gewölbe. Nein, sage ich, du bist ein Wintergarten. Nein, ich bin ein Gewölbe, schau, du mußt zu mir hinab gehen, in mich hinein, und dann mache ich meinen gläsernen Rücken über deinem Kopf krumm, drei Mal, einmal rechts, einmal links, einmal in der Mitte. Und dazwischen wächst das Stroh und das Holz und der Filz und die Kürbisse und die grünen Kerzenhalter und die alten Fliesen und die Früchte und das Wasser draußen, direkt vor meiner Tür. Was bin ich anderes, als ein Gewölbe. Ein dreifaches Gewölbe, wenn’s so ist, sage ich, ja, sagt das Gewölbe, dann vielleicht auch das, du Erbsenleser-Krümelzähler. Danke, sage ich, bitte, sagt das Gewölbe und jetzt iß mal was, Kind. Gut, sage ich, und schaue auf den Tisch. Er ist gedeckt, wie im Märchen, von feengleicher Hand. Ungesehen. Wann gemacht? Immer, ohne daß man eine Mühe sieht, das ist das Geheimnis. Das Weiß des Leinens, es ist bedeckt mit den Gläsern für Wein und Wasser, der Vase für die Gräser, dem goldenen Teller wie – wir wissen schon –, den drei Gabeln links, den drei Messern rechts, plus Löffel, der zwischen der Schlankheit liegt wie eine Dickmadam neben drei Silberpfeilen. Die Serviette gefaltet, die Karte versteckt, die immer den richtigen Namen trägt, oh, weiteres Wunder, samt Kärtchen, das mich dem Tisch ankündigt, das aber so beiläufig mitgenommen wird, weil: ich will ja gar nicht unbedingt daran erinnert werden, wer ich eigentlich bin. Hier, jetzt, im Gewölbe, bin ich staunendes Märchenwesen aus Tischlein-Deck-Dich, wie viele Messer, wie viele Gabeln, wie viele Teller. Ich werde mich langsam von außen nach innen durch den Reichtum der Helfer arbeiten, die so bereitwillig für mich auf dem Leinen liegen. So, daß man am Ende weiß: Essen heißt, mit Werkzeugen Lebenskraft zu sich zu nehmen, langsam, von außen nach innen, von oben nach unten, von Wein umspielt, vom Wasser gekühlt, von Käse gerundet. Im Gewölbe, der grünglänzenden Höhle, dem Zentrum der Erde.

14


15


Der Goldrand des Teelichtglases glänzt, das Regenwasser gurgelt in den Rinnen, es trommelt mit seinen Milliarden Fingern aufs Gewölbedach. Ich vertue mir die Zeit damit, die Menschen zu beobachten. Es gibt so unendlich viel zu sehen. Es gibt so viel zu verstehen, zu memorieren, zu begreifen. (Aber das wäre eine andere Geschichte). Meine Mutter ging mit mir ins Einkaufszentrum, es mußte eine neue Hose her, neue Schuhe, schnell abgehandelt, dann ging sie ihrer Lieblingsbeschäftigung nach, Leute gucken, ihnen zuhören, was sie sagen. Ich habe es von ihr, mir damit prächtig die Zeit zu füllen. Nie geahnt, daß es das ist, was man zum Schreiben braucht. Sehen, verstehen, mehr sehen, lernen, erinnern, memorieren, nie genug bekommen von all den zwischenmenschlichen Wundern, die es zu sehen gibt, den Überraschungen, den Mutmaßungen, die sich als zu kurz gedacht erweisen, den Blicken, den Gesten, den hingeworfenen Sätzen, den Rissen, den Abgründen, den Hoffnungen, den Sehnsüchten, den leisen Fragen und den noch leiseren Antworten.

16


DER LANGE GANG (MEIN ZIMMER)

Kreuzchen für Kreuzchen gehe ich voran. Karo für Karo komme ich zum Stehen. Die langen Vorhänge. In verschwenderischer Fülle fallen sie zu Boden, als behüteten sie im aufgestauchten Rest das Gesehene dieses Zimmers, mehr als diskret, einfach verschwiegen. Der grobe Jutestoff, auch eher Leinen, der Chaiselongue, er hat den matten Glanz von Sandpapier und Einschlüsse, die wie Körperfalten wirken, ein Arm, eine Achsel, die Falte am angewinkelten Ellenbogen. Der Holzfensterrahmen, der zart weiß gebeizte Rahmen. Wie auch die Tür, der Schrank. Selbst das schwarze Loch des Fernsehers geht verlustig zwischen der Übermacht des Stofflichen. Kein Plastik hier. Nur die Fernbedienung, die letzte Erinnerung an meine Plastikwelt draußen, und wenn jemand das erfunden hätte – eine Fernbedienung aus Holz – hier würde sie liegen, da bin ich mir sicher. Die Miniaturausgabe eines Zweiges, ein Ästchen nur, fällt unten auf die Tischdecke, niemand sitzt am Tisch, die Terrasse ist leer, der Wind streift über sie hinweg, wie auch über die Einfahrt, durch die Birken. Das Ästchen trifft noch den Tassenrand, es macht ein Geräusch, pling, es ist laut, viel lauter als ich dachte, ich höre es bis hier hinauf. Es ist ein Geräusch, das vergessen zu gehen drohte, wie das Knarren alter Dielen, das träge Fallen des Leinenvorhangs, das weiche Rascheln barfuß auf dem Karoteppich. Über Sand gehen, Stoffe wie Haut, selbst der Bademantel, ein ganz normaler Bademantel! Er fühlt sich an wie zwei, ineinandergewebt. Stofflichkeit droht vergessen zu gehen, unsere Edelstahl-Glas-Bahnhöfe, Plastik-Schalen-Gemüse-Importe, Kratzfenster-UBahn-Blicke, ‚Die kalte Haut der Stadt’, hieß mal ein Buch.

17


Ein Holztisch, das Sofa, ein Gast sagt zu mir: So einen haben wir auch im Zimmer, wir könnten zu zehnt Skat daran spielen. Das macht man dann nicht, aber man sitzt an den Tischen und redet und ist diskret und doch ehrlich, sagt etwas, was man denkt und fühlt, vielleicht ist es der Tisch, das Holz, das Stroh, das Leinen, die alten Sachen, die das mit uns machen: sich zu fragen, wo es mal war, was es jetzt ist, was es mal sein wird. Woher wir kommen, wohin wir gehen, die alten Fragen, das Sofa, die Sessel, die Karos, die Kreuzchen, der Baldachin, der knarrende Schrank, der nur zur Nacht hin knarrt. Das ist seine Geschichte. Überall sonst: Die Sparren, die Himmel, die Wandverkleidungen, die Springbrunnen, die Steine, ihre abgeschabten Oberflächen, ihre Einprägungen, ihre heimlichen Leben davor, danach. Wer ist schon alles über sie gegangen? Ins Jetzt tragen sie das mit hinein. Ein Hotel, schreibt Paula Fox irgendwo, ich weiß nicht mehr wo, ist ein Ort, an dem es sich zu leben lohnt. Denn man bricht, so sinngemäß, immer wieder auf, man kommt nie an, man muß immer weiter und ist (selten) zuhause, aber nimmt etwas mit. Die Geschichten der Menschen, die vor einem hier waren, die nach einem hier sein werden, man ist ein Mensch in einer Reihe von Menschen und das ist, was wir Menschen doch eigentlich sind.

18


19


20


DER KAMIN AM WASSER MIT DEM PFEIFENDEN ENGEL

Er pfeift sich eins. Hola-dihi. Hola-diho. So oder so. Neben ihm, auf der anderen Seite des Kamins, gähnt sein Kumpel, der Löwe. Abends, jetzt, wenn niemand mehr hier ist, seltsamerweise. Ich bin allein mit meinem Sohn. Der Engel pfeift. Der Löwe gähnt. Die Liebchen zwitschern, die Sonne fällt, das Wasser rauscht, der Holzscheit knackt, mein Kind ruft Mama! und taucht hinab. Es taucht wieder auf, es schüttelt den Kopf, es sagt, schau mal, der Engel, der pfeift, ich sag: Ja, auch. Und der Löwe, der gähnt. Ich sag: Genau. Und die Sofas, die schlafen. Und die Vögel, die sagen einander nur noch, was sie so am Tag erlebt haben. Und die blauen Decken, die falten sich, und die Bibliothek träumt von der Welt, der Globus mit ihr, sie betten sich in die roten Kissen, einen Tee auf jedem Tablett. Ein Pferd, schau, Mama, ein Pferd, sagt mein Kind, mitten im Reiten stehen geblieben. Mitten im Schwimmen aufgehört, und herumgewandert durch die Räume, schau mal, Mama, noch ein Kamin, sagt mein Kind auf der Hinterseite, und ein Königsstuhl und ein Königinnenstuhl und eine Bank für die Füße und eine Wärme für uns zwei, und mein Kind sagt: Mama, morgen besuch ich dich wieder und übermorgen und überübermorgen und überüberübermorgen und jeden Tag weiter und immer so, und ich sage nein, leider nicht, aber was soll’s mit dem Erklären, ich sage: Ja, du besuchst mich, und wir gehen zusammen durch den Saal und die Vorhänge, über die Steine, Teppiche, durch die Holzbalkengänge, wir öffnen die Bühne und stellen uns vor, den Löwen, den pfeifenden Engel, das knackende Holz, das Rauschen des Wassers, das Zwitschern der Liebchen, das Gurgeln des Bades, das Atmen der Liegen, das Weltenbummeln der Bücher, das Schnarchen des Globus, die Stille und das Licht. Ja, Mama, sagt er. Gut, Süßer, sag ich. Das ist so schön, sagt er. Ja, sag ich nur.

21


WINTER 2009/2010


Foto: © Katja Kuhl

ROBERT SEETHALER Robert Seethaler, geboren 1966, wurde 2007 für seinen Roman „Die Biene und der Kurt“ mit dem Debütpreis des Buddenbrookhauses ausgezeichnet. Er erhielt zahlreiche Stipendien, darunter das Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste und das Heinrich-Heine-Stipendium. Der Film nach seinem Drehbuch „Die zweite Frau“ wurde mehrfach ausgezeichnet und auf verschiedenen internationalen Filmfestivals gezeigt. 2008 erschien sein zweiter Roman „Die weiteren Aussichten“, 2010 „Jetzt wirds ernst“ und 2012 „Der Trafikant“ (alle im Verlag Kein & Aber). Robert Seethaler lebt und schreibt in Wien und Berlin.

23


ERINNERUNG AN DEN SPREEWALD Die Felder atmen schwer, darüber zittert die Luft, In heller Weite verliert sich der Blick. Ein Glück … Zerstoben an diesem glühenden Tag. Stille geht um und Wolken versinken im Wald, Ein schwarzer Engel sitzt im Baum. Ein Traum … Verronnen in dieser samtblauen Nacht. Lautlos geht der Kahn, im Wasser treiben weiße Blüten, Ein Mädchen steht am Fließ. Sie hieß … Sie hieß …

24


25


FRÜHJAHR 2010


BODO MORSHÄUSER 1953 wurde Bodo Morshäuser in Berlin geboren. Er wuchs in West-Berlin auf. Zu analogen Zeiten machte er analoge Rundfunk-Musiksendungen für den Sender Freies Berlin, später Hörspiele und Features für verschiedene Radiosender. Er veröffentlichte über ein Dutzend Bücher, darunter „Die Berliner Simulation“, „Hauptsache Deutsch“ und „In seinen Armen das Kind“. Er lebt in Berlin. Mehr Information unter www.bodomorshaeuser.de.

27


SCHEINE! FRÜH Ich gehe hinaus in ein Hochsommerwetter, in dem alles scheint. Die Landschaft ist schön, oder scheint sie nur? Scheint sie nur schön zu sein? Sehe ich die Landschaft, oder sehe ich mein Befinden auf der Folie dieser Umgebung? Warum habe ich nach wenigen Schritten schon drei Fragen angehäuft und eine vierte hinterher? Zur selben Zeit, in der ich mich als Sommergast umschaue, schaut sich ein hiesiger Bauer um, aber den Bauern sehe ich nicht, er ist in mir. In den Jahren bis 1961 war ich mit den Bauern zusammen auf den Feldern. Niemand sagte, die Landschaft sei schön. Für sie war die Landschaft eine Menge Arbeit, die Jahr um Jahr füllte, Tag für Tag. Auch für mich als Kind war die Landschaft nicht schön, sie war einfach da. Erst der Gast hier hat die Freiheit und den Willen, sie als fein und zart zu empfinden, hier verträumt, da versteckt, oft unberührt, wie es scheint. Erst der Gast hat die Freiheit, sich diese Landschaft auszudenken, während er durch sie stapft. Er legt sie sich zurecht. Er blickt sie sich schön. Er tagträumt und verweilt, wie kein Hiesiger es tun würde. Für meine Oma waren Katzen eine Plage, die überschüssigen wurden im Backhaus entsorgt. Am Hafen von Lübbenau bleibe ich wegen eines kleinen Rudels junger Katzen stehen und amüsiere mich, dann kommt eine alte Frau in Spreewaldtracht aus einem baufälligen Haus und tritt mit den Füßen nach ihnen, um sie durch die Luke unterm Hoftor zurück auf den Hof zu scheuchen. Der dicksten, die nicht schnell genug ist, verpasst sie einen heftigen Schlag. Für meine Oma war das weite Feld hinter dem Hof ein Acker, der Jahreszeit für Jahreszeit bis zur Erschöpfung zu beackern war. Der Gast, der am Vormittag hier eine Runde dreht, mag den Gleichwuchs von Gemüse und Getreide Reihe an Reihe über hunderte von Metern. Dem Bauern ist der Gleichwuchs nützlich. Der Gast erntet eine Schönheit, die in seinem Blick entsteht. Nutzen ist die Kategorie des Bauern, Gefallen die des Gastes. Sie schauen auf das Gleiche: der eine auf ein Muster, der andere auf sein Werk. Wer lebt schon in einer einzigen Haut, in einem einzigen Kopf? Wer lebt schon in einer einzigen Zeit? Der Tiefenentspannte. Der Aus-der-Haut-Fahrende. Der Irre. Der Unbeirrbare. All die glücklich oder unglücklich Kopflosen. Die anderen leben gleichzeitig in mehreren Zeiten. In diesen Tagen lebe ich, der Gast, gleichzeitig in den Jahren 2010, 1961

28


29


und 1940. In verschiedenen Zeiten lässt sich am besten leben, wenn man sie sich aussucht. Man kann Opfer zu vieler Zeiten sein, dann, wenn die eine in einem über die andere in einem herfällt und man nicht mehr dazu kommt, deren Begegnung wenigstens zu moderieren. Irrtümlich gehen die meisten davon aus, Herr über die eigene Gedankenwelt zu sein, allzuoft ist man aber lediglich der Schauplatz einer Gedankenwelt, die man seine eigene Gedankenwelt nennt, nur weil sie in einem selbst stattfindet. Es ist ein Unterschied, ob ich Austragungsort oder Veranstalter einer Sache bin. Lieber bin ich Veranstalter, als Austragungsort werde ich so oder so benötigt. 2010 lese ich in diesem Haus die Tageszeitung, ziehe mich um, gehe hinaus und bin erst 1940, dann 1961 unterwegs, mit Abweichungen, es kann sich auch um 1958 handeln, dann wieder um 1938, auch ein 1946 passiert mir hin und wieder, ein 1992 ist mir mehrmals dazwischengerutscht, die Zeiten wechseln, der Ort, im regionalen, im landschaftlichen Sinn, der bleibt: Es ist der Spreewald. Männer schneiden sich die Hosenbeine ab. Männer fragen: Was machen wir heute? Männer fahren Auto. Männer sind still, wenn Frauen sprechen. Frauen tragen Sonnenbrillen im Haar. Beim Fahrradfahren fährt der Mann vorn. Der Mann fährt auch Auto. Die Frau ist für das Grüßen zuständig. Deute ich einen Gruß zum Mann an, grüßt die Frau. Deute ich keinen Gruß zum Mann an, grüßt die Frau auch nicht. Grüße ich die Frau, dann grüßt, etwas abgemildert, auch der Mann. Grüße ich die Frau nicht, grüßt auch nicht der Mann. Charlotte Domek ist 1922 hier in der Nähe geboren worden, und ich bin ihr Sohn. Ich weiß ziemlich viel über Charlottes Leben, bevor sie mich bekam, das erweitert das Jahreszahlengedränge in mir über meine eigene Lebenszeit hinaus. Es sind nur die Jahreszahlen, die mir hier wissentlich durch den Kopf schwirren. Wer kann schon etwas dafür, dass einen all die anderen Hinweise anfallen, sobald man, egal wo, den Kopf wendet. Ich schaue auf und sehe ein Möbelstück aus dem Fin de siècle, im Foyer ein Bildband über Barockmalerei, fast jeder Blick fällt auf eine andere Zeit als der davor – so geht es den ganzen Tag. Für diese Zeitenbeballerung ist man lediglich Austragungsort. Mit den von mir ausgesuchten Jahreszahlen bestreite ich meine eigene Veranstaltung. Die Veranstaltung, die in meinem Kopf im Jahre 2010 hier im Spreewald stattfindet, besteht aus dem Leben von Charlotte Domek, 1922 hier geboren, 1940 fortgegangen, 1945 wiedergekommen, 1946 wieder gegangen, dann immer wiedergekommen und immer wieder gegangen.

30


Ihre Freundinnen in Caminchen, wie sie von den Berlinerinnen gesprochen hatten: abfällig, alt wie ihre Eltern. Die Berlinerinnen waren anders als die Spreewälderinnen. Schneller, sagte man; Lotte fand, sie redeten mehr als die Frauen von den Dörfern. Berlinerinnen redeten Sachen, die keinen Sinn ergaben, sie sagten andere Wörter, Stadtwörter; sie redeten, so empfand sie das, einfach drauf los. So zogen sie sich auch an. Lotte musste immer hingucken. Sie schaute Ansichtskarten an, die sie an die Eltern schicken wollte, sie kaufte solche, auf denen breite Straßen mit Bussen, Droschken, Elektrischen und Menschenmengen zu sehen waren, mehr als ihr Dörfchen Einwohner hatte. Lotte strich gern durch Geschäfte und Kaufhäuser nur mit dem Ziel, sich an Parfumständen die Handrücken zu bestäuben. Sie hatte sich bei anderen Frauen abgeschaut und flugs angewöhnt, das Handgelenk leicht abzuknicken. Manchmal hauchte sie das h. Sie war sicher, jetzt merkte man ihr nicht mehr an, dass sie ein Landei war. Das Gegenteil war der Fall. Ihr wurde anders, wenn ihr einfiel, wo sie herkam. Wie es muffte und miefte und wie sie gestunken hatte, wenn sie auf dem Feld gearbeitet, im Backhaus gestanden, oder wenn sie das Plumpsklo saubergemacht hatte. Da war er wieder, der Kloß im Hals oder etwas darunter. Wenn sie an den Hof dachte, spürte sie den Kloß ziemlich genau unter dem obersten verschlossenen Knopf ihrer hellblauen Bluse. Für ein paar Hochsommerwochen wohne ich im Logierhaus. Ich sitze gleich hinter der Fensterecke vor einem schmalen alten Tischchen auf einem alten Stuhl und schaue auf den Zufahrtsweg und das Kommen und Gehen der Hotelgäste oder, zur Rechten unter mir, auf die im Freien sitzenden Kaffeetrinker. Auch auf meinem Tischchen steht ein Kännchen Kaffee, daneben ein Glas Mineralwasser. Drehe ich mich um, schaue ich mehr als zehn Meter tief in mein Zimmer hinein. Es befindet sich direkt über dem Haupteingang. Schaue ich durch meine Fenster, sehe ich eine lange Zufahrtsstraße, die in zwei Geraden zum Haupteingang führt, ein kleiner Kreisverkehr verbindet sie. Dahinter, darüber die Spreewälder Weite. Zur Linken schaue ich hinter einer Grünanlage auf einen Pferdestall und die beiden Pferde, wie sie auf der Wiese nebenan, wenn sie nicht fressen, starr nebeneinander stehen und sich unterhalten über etwas, von dem ich keinen Schimmer habe. Jeden Tag um die gleiche Zeit tun sie das gleiche wie am Tag zuvor. Liebe Lotti, wir haben uns über deine Karten gefreut. Wie schön die sind. Eine bleibt in der Stube, wir schauen immer wieder hin. Die mit den Straßencafés hängt über meinem Bett. Wie aufregend

31


32


das sein muss. Hier ist nichts passiert. Der Ackergaul ist eingegangen, jetzt ist er tot. Paule hat die Masern, Bethchen hat ihn angesteckt. Im Konsum sind die Regale leer. Jeden Tag wecken wir Obst ein. Wir brauchen ein Pferd und kriegen keins. Es gibt fast nichts mehr. Uns geht es gut. Bei dir geht es bestimmt noch verrückter zu. Grüße und Küsse von Mutti, Paule, Bethchen und von Gerti. P.S. Pellanks Kurtchen fragt mich Löcher in den Bauch, wann du wiederkommst. Du machst mir Spaß, sagte Lotte in der Mittagspause vor sich hin, wir haben nichts und es geht uns gut. Lotte wusste, den Gaul brauchten sie für das Feld hinterm Hof, sie hatte keine Ahnung, wie der Acker ohne ihn gepflügt werden sollte. Gerti war vier Jahre jünger, ein Jahr älter als Bethchen, und Paule mit seinen acht Jahren das Küken, aber jetzt war er kein Spielzeug mehr wie damals, als er alles mit sich machen ließ und die Mädchen mit seinem Strahlen zum Lachen brachte. Lotte hatte die Karte im Büro eingesteckt und mitgenommen, bei jedem Lesen fiel ihr etwas anderes zu ihrem Dörfchen ein, jedesmal stand es in anderem Licht vor ihren Augen. Beim letzten Lesen sah sie den Keller, in dem Obst, Gemüse und Kartoffeln überwinterten, dort hatte sie ein Versteck, von dem nur sie wusste. Mit Pellanks Kurtchen ist sie ein paar Mal in den Scheunen gewesen, erst in seiner, dann in ihrer, wenn sie mit der Arbeit fertig waren, manchmal schon vorher, haben sie sich ins Heu geworfen und sich geküsst und die Hände am anderen wandern lassen. Das hätte Lotte auch gern in Berlin getan, aber es war niemand dafür da, Kurtchen nicht und auch kein anderer. Sowieso war in Berlin alles anders, Kurtchen wäre dort am falschen Platz, Berlin war nicht die Scheune, Kurtchen gehörte ins Heu, und Lotte würde Gerti nicht schreiben können, dass sie ihm den Tag ihrer Rückkehr verraten kann, sie wusste nicht einmal, ob sie Urlaub bekommt und wann, und Weihnachten war noch lange hin, und die Scheune dann kalt. Und jetzt, als sie Klein-Paule plötzlich vor sich sah, war es um sie geschehen, sie hatte Sehnsucht nach ihren Geschwistern, sie sah sich mit dem Kleinen den Mühlberg rauf und runter trollen, sie sah sich Himbeeren sammeln und mit zerstochenen Händen wiederkommen und beim Opa auf dem Schoß sitzen, der ihr die Hände eincremte. Aber sie wollte nicht mehr hinschauen, sie war ein erwachsenes Mädchen und sie war in Berlin. Tränen strichen ihre Wangen hinab, sie wischte sie ab, sie schaute in die kalte Frühjahrssonne, sie ging weiter.

33


TAG Ein Gast setzt sich an den Computer, seine Frau kommt nach und sagt „Ach Schatz, keinen Wetterbericht jetzt, das Wetter wird schön, ich sags dir“; der Mann steht auf und geht hinter der Frau her weg. Die Autos, die auf das Gelände fahren, sind eine Weile unterwegs, bis sie am Logierhaus ankommen. Hier halten sie vor dem Haupteingang, meistens steigt der Fahrer, der meistens der Mann ist, aus, die Frau steigt etwas später aus, so ist das hier, und es kommen fast nur Paare hierher. Alle steigen anders aus. Alle stehen anders da, wenn sie sich nach längerer Zeit wieder aufgerichtet haben. Manche ziehen ihre Hose hoch, andere eilen schnurstracks zum Kofferraum und wuchten ihr Gepäck heraus, andere bleiben sitzen und warten, bis jemand die Kofferraumhaube geöffnet und die Koffer ausgepackt und ins Haus gebracht hat. Dann geben sie den Autoschlüssel ab, damit der Schlitten zum Parkplatz kommt. Eben schält sich ein langer Mann aus einem Porsche, öffnet den Kofferraum und holt eine Tasche nach der anderen hervor, jede aus einer noch tieferen Tiefe, und der Zweimetermann biegt sich immer tiefer in den Kofferraum hinein, so dass ich denke, unterhalb des Autos sei ein Loch im Asphalt, ein Schacht, eine Kammer, aus dem er zuletzt Gummistiefel zaubert, dann noch ein Paar, und noch ein Paar, und irgendwo sei die versteckte Kamera. Die Gäste hier sind zumeist Paare. Die Gäste, die nur für sich gebucht haben, sind berufstätige Frauen, beim Abendessen sitzen sie in meiner Nähe, manchmal wechseln wir ein paar Worte, schließlich sieht man sich täglich um dieselbe Zeit zum selben Ritual. Es bietet sich an, Gästen ohne Begleitung kleinere Tische am Rand des Grünen Gewölbes mit Blick auf das ganze Restaurant und den im Abenddämmer unsichtbar werdenden Kanal zu geben. Also sitzen wir Alleinreisenden aufgereiht jeder an seinem Tisch und schauen die Paare an. Die Damen neben mir sind nicht einsam, sie brauchen die Tage, die sie sich hier gönnen, sie haben sich diese Pause erarbeitet, sie wollen nichts als Ruhe, Entspannung und Wohlbefinden, keine Aufregung, kein Abenteuer, nichts, das sie über sich selbst und ihr Gefühl für sich selbst hinausführt. Zeitgenossen also, neben denen ich wunderbar existieren kann, auch ich will meine Ruhe, vielleicht ab und zu ein gepflegtes Selbstgespräch führen, eine Seite in dem Buch lesen, das ich bei mir habe, allein mit mir bin ich

34


in bester Gesellschaft und meistens gut unterhalten, besonders, wenn ich anderen Menschen bei ihrem Dasein zuschauen kann wie hier im Grünen Gewölbe. Hier ist alles gut, hier sehe ich klar, was ist und was war. Bis nach Caminchen, dem Geburtsort meiner Mutter Charlotte Domek und dem Ort, an dem ich in den fünfziger Jahren mehrmals die Sommerferien verbracht hatte, sind es zehn Kilometer. Ich wollte mich in diesem Sommer im Spreewald oder in seiner Nähe aufhalten, weil ich in der Nähe von Caminchen sein wollte, wo ich als Kind öfter die Sommerferien verbracht hatte, bis zu dem Sonntag, als es hieß, wir müssen packen, Ulbricht baut die Mauer. Im Radio hatten sie gesagt, Bürger Westdeutschlands und Westberlins, die sich in der DDR aufhalten, sollten sich auf die Heimreise machen, es werde keine Probleme bei der Rückkehr geben. Am Sonntagabend waren wir wieder in Westberlin, und von da an gab es für mich nie wieder Sommerferien in Caminchen. In diesem Sommer will ich Caminchen wiedersehen, ich fahre über nagelneue Straßen dort, wo früher Sandwege waren. In dem hohen Wald, der das Sträßchen, das von der Bundesstraße abgeht, säumt, hatten wir Waldbeeren gesammelt, ich sehe einen lichten Wald vor mir – und gleichzeitig einen dichten, tiefen und unheimlichen Wald, als den ich ihn früher empfunden hatte; ich fahre den Kilometer bis zum Ortseingang und ich merke, wie lang mir dieser Kilometer früher vorgekommen war, zurückgelegt auf dem Sandweg und zu Fuß, manchmal mit dem Fahrrad. Doch vom Ortseingang ab erkenne ich nichts mehr wieder, obwohl sich wahrscheinlich nicht viel verändert hat, neue Dächer auf alten Häusern, auch ein paar neue Häuser zwar, jeder Weg nun asphaltiert, doch ist das keine große Veränderung. Mir ist, als hätte ich früher dem tiefen, hohen Wald und den anderen unwegsamen Feldern und Rändern um Caminchen all meine Aufmerksamkeit gegeben, so dass ich dann im Dorf nirgends mehr hinschaute und nur noch mit zu Boden gerichteten Augen den Weg zu unserem Häuschen hinten am Mühlberg entlangträumte, dem letzten Haus am östlichen Ende des Dorfes. Ich suche den Konsum von damals, es gibt ihn nicht mehr, ich suche die Kneipe von damals, sie öffnet nur sonntags. Ich suche einen Ort, an dem ich im Dorf sein kann, ohne draußen

35


herumzustehen, es gibt keinen einzigen, nicht einmal ein Wartehäuschen für einen Bus, nichts, dann gehe ich auf den Friedhof und schaue die Grabsteine an. Der Friedhof ist der einzige Ort im Dorf, an dem man sich aufhalten kann, ohne herumzulungern und die Blicke der Menschen hinter Fenstergardinen sowie der Hunde in Vorgärten auf sich zu lenken. Selbst auf einer kleinen Straßeninsel, wo ein Denkmal für die Gefallenen des ersten Weltkriegs steht, werde ich aus den Fenstern heraus angeschaut wie einer, der sich gleich an diesem Denkmal vergehen will. Ich sage die Namen der Männer vor mich hin, die in den Stein des Denkmals geschlagen sind, Männer, die um 1880 herum geboren wurden, darunter ein Bruder meiner Großmutter, und als ich die Namen vor mich hin sage, weiß ich, das sind sämtlich Nachnamen, die ich aus dem Dorf und den Erzählungen der Alten gehört hatte – jede Familie, die zu diesem Dorf gehört, hatte dort ein paar Männer verloren, und im nächsten Krieg war es nicht anders, doch gibt es dafür kein Denkmal. All die Nachnamen kenne ich, weil man die Menschen hier zuerst mit dem Nachnamen, dann mit dem Vornamen bezeichnet hat. Pellanks Kurtchen, mit dem Lotte in der Scheune Küsse getauscht hatte, hieß Kurt Pellank, und Charlotte Domek wurde von allen im Dorf nur Domeks Lotte genannt. Und wie ich das denke, sagt jemand Entschuldigung, ich drehe mich um; eine Frau in meinem Alter sagt meinen Vornamen mit einem Fragezeichen dahinter, und ich nicke auf das Fragezeichen hin, und sie sagt, sie sei Pellanks Moni. Ich kenne Pellanks Moni gar nicht, sie ahnt das und fragt nach meiner Schwester, ich sage, meiner Schwester gehe es gut, sie sagt, sie habe mit meiner Schwester früher gespielt, ob ich sie von ihr grüßen könne, ich sage ja, ich werde sie von Ihnen grüßen, kannst doch du sagen, sagt sie, ich werde sie von dir grüßen, sage ich, sie habe mein Berliner Nummernschild gesehen und sich sofort gedacht, der da über den Friedhof geht, das muss Domeks Lottes Jüngster von damals sein, und das ist jetzt fast fünfzig Jahre her, so vergeht die Zeit, und mit dem letzten Satz ist sie bereits ein paar Schritte weiter mitsamt dem Rollstuhl, in dem eine sehr alte Frau sitzt. Ich drehe mich noch einmal in ihre Richtung, doch ist nichts mehr von ihr, von dem Rollstuhl, von der alten Frau zu sehen, im Sand ist nicht mal die Spur eines Rollstuhls. Liebe Gerti, danke für deine lieben Zeilen. Ich habe solche Sehnsucht nach euch allen. So gern würde ich rumtoben mit euch, aber ich glaube, ich werde jetzt erwachsen. Schließlich arbeite ich in einer richtigen Behörde mit allem Drum und Dran. Die Leute sind nett zu mir. Besonders nett sind die Frauen, bei denen ich wohne. Im Büro ist es überhaupt nicht langweilig, jetzt kann ich

36


37


schon fast Schreibmaschine schreiben. Hier werden die Uniformen genäht und ausgebessert. Zu Hause kann ich auch nähen. Alle nähen hier. Hier im Amt wurde ein Lager aufgelöst, dann waren da Sachen übrig, und die Mitarbeiter konnten sich was mitnehmen. Gut, es waren nur Reste, aber die Alma und die Johanna, bei denen ich wohne, die können perfekt nähen, formidabel nähen, wie Johanna sagen würde. Ich habe eine ganze Tasche voller Stoffreste mit nach Hause genommen. Erst hat der Pförtner geguckt wie ein Auto. Dann hat er gelacht. Eine Hälfte taugt nur zu Putzlappen. Aber mit der anderen Hälfte werden wir uns was einfallen lassen. Es gibt kaum noch Stoffgeschäfte. Habt ihr einen neuen Gaul bekommen? Schön, dass es euch gut geht. Die Masern sind wohl wieder weg, was? Müsst ihr ganz aus dem Eingekellerten leben, oder gibt es im Konsum ab und zu mal was? Manche Sachen werden auch hier knapp. Das sagen die Leute. Ich merke das nicht so. Mittagessen ist in der Kantine, und zu Hause ist auch immer was. Hier wird jede Woche gefeiert, dass wir siegen werden. Dann gibt es auch wieder alles zu essen. Oh, gerade sehe ich Vati vor mir, wie er die Augenbrauen verzieht. Ich glaube auch, dass wir siegen werden. Es wird nicht mehr lange dauern. Geht es denn Vati und Mutti auch gut? Schreib mir doch mehr von euch, ich möchte alles wissen. Vertröste Pellanks Kurtchen noch ein bisschen. Ich weiß nicht, wann ich Urlaub bekomme. Ich tu ein paar Ansichtskarten in den Umschlag, sind die anderen an der Wand nicht so allein. Ich küsse euch alle. Lotti.

38


ABEND Ein Gast sucht einen Platz für seine Familie, zuerst im Freien. Nach minutenlangem Kampf gegen Wespen entscheidet er sich für einen Tisch drinnen. Auftritt seiner Tochter und seiner Frau: Sie stemmt die Hände in die Hüften, sagt, da können nicht alle sitzen und setzt sich an einen anderen Tisch. Er steht auf und folgt ihr. An dem ersten Tisch war für drei gedeckt und es fehlte ein Stuhl. Am zweiten fehlte kein Stuhl; er war nur für zwei gedeckt. An ihrem neunzehnten Geburtstag im September 1940 hatte Lotte frei bekommen, sie fuhr mit der S-Bahn bis Grünau und stand sich, wie Alma Mielke gesagt hätte, die Beine in den Bauch, bis endlich der um drei Stunden verspätete Durchgangszug nach Lübben einfuhr. Sie setzte sich in die Nähe einer Horde Soldaten, die auf dem Weg nach Norwegen waren und sich in Lübben sammelten. In Lübben würden sie am kommenden Tag noch eine Kahnfahrt unternehmen, sagten sie. Auch Lotte stieg in Lübben aus. Sie fühlte sich wohl unter Soldaten, einer passte auf den anderen auf, und als sie darüber nachdachte, fiel ihr ein, dass sie sich unter Soldaten, solange sie nüchtern waren, am sichersten fühlte. In Lübben musste sie wieder warten und warten, bis die letzte Bimmelbahn nach Wußwerk in den Bahnhof ächzte – nach Sonnenuntergang musste nicht nur verdunkelt werden, es fuhren auch keine Züge mehr. Wie gern sie früher mit ihrer Mutter mit der Bimmelbahn gefahren war; auf dem Hinweg wusste sie, sie würde unterwegs etwas geschenkt bekommen, und auf dem Rückweg hätte sie das Geschenk in Händen und könnte damit spielen. Wie missmutig nun aber die Leute in der Bimmelbahn dasaßen oder auf dem Steg draußen standen und vor sich hin starrten, ohne ein Wort miteinander zu reden. Und die zwei Frauen, die sich unterhielten, taten dies so leise, als sei es verboten zu reden. Lotte schaute aus dem Fenster, sie kannte jedes Haus, jede Kurve, jeden Baum, fast jeden Strauch, aber sie freute sich nicht wie sie sich sonst immer gefreut hatte, wenn sie von irgendwoher zurück nach Caminchen kam, sie hatte Angst, sie spürte einen Kloß im Hals, sie wusste nicht, wovor sie Angst hatte. In Wußwerk wartete ihre Schwester Gerti mit einem Fahrrad plus Anhänger, doch hatte Lotte gar keinen Koffer dabei, sondern nur eine mittelgroße Tasche, und sie wollte nicht auf dem Gepäckträgersitz mitgenommen werden, sondern die drei Kilometer zu Fuß gehen. Als Gerti immer wieder auf die Tasche schaute, die Lotte dabei hatte, dämmerte ihr, dass sie kein Geschenk

39


40


mitgebracht hatte, sie hatte in Berlin vergessen, etwas zu besorgen und einzupacken, und sie merkte, nie wäre ein Geschenk so willkommen gewesen wie in diesem Moment. Auch Gerti wirkte bedrückt, fand Lotte, und sie entschuldigte sich für ihr Versäumnis und versprach, beim nächsten Mal dafür Dinge mitzubringen, die Gerti und die anderen brauchten, sie sollten in den kommenden Tagen eine Liste machen. Gerti stellte Fragen um Fragen nach der Arbeit, nach der Wohnung, nach der großen Stadt, und Lotte tat nichts lieber als all die Geschichten zu erzählen, die für Gerti eine Neuigkeit sein mussten, und neu war für sie ungefähr alles, was es überhaupt zu erzählen gab. Er hört ihr zu. Spricht sie - und nur sie spricht, ihm bleibt allein Raum für Zwischenbemerkungen - dann klingt sie, als weine sie. Aber sie weint nicht. Sie klagt die Aufmerksamkeit des Aufmerksamen ein. Sein Gesicht ist wohlwollend, von dauerhaftem Lächeln verzogen. An einem Samstag wurde ihr klar, sie würde nicht zurückgehen nach Caminchen, höchstens für einen Besuch all der Lieben wegen, die dort wohnten, sie würde in Berlin bleiben. Von einer Sekunde auf die andere war es um sie geschehen, sie war kein Landei mehr, sondern eine Frau aus der Stadt. Dieses Gefühl kam langsam, es war ein Rauschen, ein Summen, es war Sirren und Flirren, und dann traf es sie wie ein Schlag. Das Rauschen kam von dem Wasser, das in die Badewanne lief, das Sirren und Flirren lag in der Luft dieses Samstags. Lotte fühlte sich wie neu, sie hatte den köstlichsten Kaffee ihres Lebens getrunken, die Sonne strahlte die oberen Ränder der Hausreihe an, und selbst in den Hof drangen schon ein paar Streifen. Es war ihr zweiter Frühling in Berlin. In Caminchen, in Neu Zauche oder Straupitz waren die Lebensmittelrationen noch knapper, was sollte sie dort. Im Hof gegenüber öffnete Johanna Yps ein Fenster, sie winkte Lotte zu, immer wenn sie ein Fenster öffnete, schaute sie als erstes herüber. Lotte stand ein paar Meter hinter dem Badezimmerfenster, sie hatte ein Handtuch um sich gehüllt und winkte zurück zu Johanna, die einen Handtuchturban auf dem Kopf trug. Die Luft flimmerte, in Lotte summte und sirrte es, das Badewasser rauschte immer noch langsam und friedlich in die Wanne hinein. Ging es ihr nicht viel zu gut? Was hatte es zu bedeuten, dass sie sich plötzlich so wohl fühlte, während der Krieg die Leute beschäftigte. Es war das Badewasser. Das aus einem schnutenförmigen Hahn in die geräumige

41


Wanne einplätschernde Badewasser. In jenem Moment nämlich, als sie das Fenster geöffnet hatte und die Dinge, die sie zum Waschen benötigen würde, im Badezimmer zusammensuchte, um sie auf den Rand der Wanne zu legen, als sie im selben Moment Johannas Turban gegenüber hin und her wedeln sah, da fiel ihr, wieder mit einem Schlag, ein, wie sie sich auf dem Land gewaschen hatte, die ganzen Jahre lang, und auch zuletzt, als sie zu Besuch gewesen war. Im Wohnhaus, und dort in der Küche, ist ja nur die Katzenwäsche möglich, wenn man sich richtig waschen oder wenn man baden will, was selten vorkommt, muss man über den Hof hinüber ins Backhaus, den Ofen anfeuern, und eine Viertel- oder eine halbe Stunde geht dahin, bis man den Bottich mit heißem Wasser füllen kann; sie war dann nicht bis zum Hals im Wasser wie in der Berliner Wanne, sie saß in einem See und wusch sich zügig, da ihr obenrum schon wieder kühl wurde. In Berlin badete Lotte samstags, weil sie am Samstag frei und Zeit und das Wochenende vor sich hatte, aber auch weil sie immer schon samstags gebadet hatte, drüben im Backhaus, wenn nacheinender die ganze Familie über den Hof huschte, um sich eine Viertelstunde der Hitze und den Dämpfen hinzugeben. Und an diesem Samstag badete sie, weil sie Lust hatte, sich in die Wanne zu legen und die Gedanken schwirren zu lassen. Als sie das Badezimmer Carmerstraße zehn und das Backhaus am Mühlberg in Caminchen in dieser kurzen Sekunde auf einmal sah, in einem Bild, das in der Mitte geteilt war, rechts Berlin, links Caminchen, da wurde ihr klar, und das war der Schlag: Ich gehe nie mehr zurück. Ich bin von hier. Ich sage nicht mehr Sonnabend, wie sie das auf dem Land tun, ich sage Samstag. Sie stoppte den Wasserfluss und legte sich in die Wanne. Hier dagegen, dachte sie weiter, schiebt sie ein paar Kohlen in den Ofen und hat ein warmes Badezimmer und warmes Wasser. Hier ist nicht ein Spiegel an der Wand, hier sind drei Spiegel an den Wänden. Hier gibt es zwei Waschbecken und eine Wanne. Hier gibt es einen Raum, der nur dazu da ist, dass man sich reinigt. Backen tut man hier in der Küche. In Caminchen kann man in der Küche nicht backen, weil sie zu klein ist. Alles in Caminchen ist klein und eng. Das ist auch schön, fand sie, aber das war da. Und sie war nun hier. Jedesmal wenn Johanna drüben durch den Fensterausschnitt wedelte, hatte sie ein anderes Oberteil an. Lotte versuchte mit einem Handtuch einen Turban zu stecken, er war klein und schief und lächerlich, sie sah sich nicht im Spiegel, sie fand sich wunderbar und winkte zu Johanna hinüber, die winkte zurück und hustete; was für ein himmlischer Samstag, dachte sie, während sie das Wasser immer wieder hochschob zu den Schultern und zusah, wie es an ihr hinabglitt in die Wanne zurück.

42


Er geht zum Käse, steht mit dem leeren Teller neben mir. Seine Frau huscht heran, greift sich zwei Trauben, steckt sie in den Mund, schneidet ihm kauend schnell ein paar Käsestücke ab, sie landen auf seinem Teller, und schiebt ihn aus dem Raum heraus. Wieder vor dem Käse. Er und ich. Wir lassen einander den Vortritt, mit der beiderseitigen Bemerkung, wir schauten erst einmal. Nach einer Pause, während der wir den Käse, das Brot, die Trauben betrachten, sage ich: „Ich fang dann mal an.“ Seine Frau, die hinter uns steht, zu mir: „Sie können von allem so viel nehmen, wie Sie wollen, Sie müssen sich nicht zurückhalten.“ So wehre dich doch endlich, denke ich. Und gern genommen wäre etwas Beistand der klugen Frau, der wirklich Gleichen, die nicht den Lächerlichen neben sich braucht.

43


44


NACHT Die Hitze in der Lausitz an diesem späten Abend, in dieser frühen Nacht, sie steht. Auch das Lausitzgewitter, das seit einer Weile zu hören ist, steht. Nie zieht es vorbei wie ein übliches Gewitter, das Lausitzgewitter richtet sich in der Lausitz ein. Erst heulen die Hunde, dann bellen sie. Das Gewitter kommt von Westen und scheint nicht nach Osten zu wollen oder zu können. Alle, die ich in dieser Gegend kenne, hatten schon einmal Angst bekommen, als ein Lausitzgewitter sich über der zarten Landschaft eingerichtet hatte, um der kaum erträglichen Hochsommerlausitzhitze ein Ende zu bereiten, wie man dachte, für ein paar Stunden jedenfalls, wie man hoffte, oft vergebens, denn manchmal ließ die hiesige Schwüle sich von einem hiesigen Gewitter nicht im geringsten vertreiben, vielmehr erhöhte sich die Luftfeuchtigkeit ins Unerträgliche, wenn das Lausitzgewitter in der Lausitzhitze einfach weitermachte, und wenn nach dem Gewitter die Hitze blieb. Die Erinnerung an ein Lausitzgewitter ist eine bleibende Erinnerung. Deswegen erzählen Generationen um Generationen von den Gewittern, die sie in der Lausitz erlebt haben, erleben mussten. Meine Oma schloss alle Türen im Haus, zog alle Stecker heraus, verkroch sich in einem Zimmerchen ohne Außenwand auf dem Boden und betete darum, verschont zu werden. Ihr Haus hatte keinen Blitzableiter und wurde nie getroffen. Bei Pellanks gegenüber war dreimal die Scheune abgebrannt, jedes Jahr lag mindestens ein Haus im Dorf in der eigenen Glut, und Pellanks hatten immer eine neue Scheune. Ich, der Gast, sitze hinter dem Fenster und schaue stundenlang die Blitze an, ich fühle mich sicher. Lotte hockte sich 1940, als sie zu Besuch war, zusammen mit ihrer Mutter in deren Gewitterecke. 1961, drei Tage vor der Teilung Deutschlands, saß ich hinter einem Fenster wie heute, aber ich hatte Angst, denn alle hatten Angst, und in dieser Nacht falle ich, müde vom Gewitterschauen, ins Bett, während draußen Lausitzwetter tobt. Irgendwann höre ich vor Müdigkeit die Luftschläge nicht mehr. Erst sind wir nicht auf der Welt, dann leben wir, dann sterben die Älteren, dann sterben wir selbst, und bevor der erste da war, war das Lausitzgewitter schon hier, und nachdem der letzte gestorben sein wird, wird das Lausitzgewitter mitsamt seinem Vorboten, der Lausitzhitze, über diesen Landstrich ziehen und den Menschen Schrecken einjagen, bevor es sich verzieht und die Lieblichkeit dieser Landschaft, so scheint es jedenfalls, am nächsten Morgen wie neu erblüht. Scheine!

45


SOMMER 2010


Foto: Astrid Menigat

THOMAS LANG 1967 in Nümbrecht, Nordrhein-Westfalen, geboren, studierte Thomas Lang Literatur in Frankfurt am Main. Seit 1997 lebt er als Autor in München. 2002 erschien sein Roman „Than“, ausgezeichnet mit dem Bayerischen Staatsförderpreis (2002) und dem Marburger Literaturpreis (2002). 2005 erhielt Thomas Lang für einen Auszug aus seinem Roman „Am Seil“ den Ingeborg-BachmannPreis. Zuletzt erschien von ihm die Erzählung „Jim“. Thomas Lang lebt in München.

47


KRABAT RESORT Ein vom Frühlicht umglühter Kirchturm wird sichtbar und spielt eine Weile Verstecken mit uns; aber nun haben wir ihn wirklich. (Fontane, In den Spreewald)

1. AUTO PARKEN Bei der alten Mühle, die es nicht mehr gab, stiegen wir aus, um den restlichen Weg bis ins Dorf zu laufen. Kantorka wollte es so. Allerdings trug sie keine Schuhe. Ihre Sandalen waren an dem Kanal verlorengegangen, an dem wir schweigend, ich schlaflos, die Nacht verbracht hatten, bis uns am Morgen der Lärm von einem Dutzend in einem Kahn vorbeifahrenden Jugendlichen vertrieb. Hätte mir jemand gesagt, Kantorka hat ihre Sandalen mit Absicht ins Wasser geworfen, ich hätte ihn nicht für verrückt erklärt. Kantorka lief barfuß über das Verbundpflaster, der Splitt stach in ihre Fußsohlen. Häufig verzog sie das Gesicht. Sie verlangte, ich solle sie Huckepack nehmen. Ich wies darauf hin, dass ich kleiner als sie sei. Schließlich saß sie auf, ich schleppte uns die lange Straße hinunter. In der Mittagssonne wirkte das Dorf wie ausgestorben. Nicht einmal vor der Würstchenbude war eine Seele zu finden. In meiner Lage war es mir nur recht, unbeobachtet zu bleiben. Ein zierlicher junger Mann, der sein Mädchen huckepack durch die Straßen trägt – das mochte angehen, solange er seine Aufgabe heldenhaft bewältigte. Ich aber zitterte, schwitzte, trat fehl. Auf einen Kilometer wäre mir anzumerken gewesen, dass meine Last mich überforderte. Bei der Mühle hatte mich bereits dieses Gefühl der Schwere erfasst, ich hörte ein heftiges Prasseln von Feuer, und das vielkehlige Stöhnen, das mich begleitete, seit wir in diese Gegend gekommen waren, schwoll wieder an. Es war lange her, dass ich hier gewesen war, zu lang, um mich zu erinnern, wann, wo, wie und warum. Ich dachte nun, dass ich mich schon am Tag davor schwer gefühlt hatte,

48


49


als wir zum ersten Mal aus dem Auto gestiegen waren, um uns in eine rings von Wald gesäumte, ungemähte Wiese zu werfen. Noch früher, bei den tausendjährigen Eichen, hatte die Schwere mich schon erfasst, oder bereits auf dem Weg in diese Gegend, als wir im Auto saßen und hinter einem Traktor herfuhren, den ich lange nicht überholen konnte. Ich dachte endlich, dass es schon immer so gewesen sein musste. Ich kannte mich gar nicht anders als gemütsschwer. „Wir könnten Schuhe kaufen.“ Mit diesem Satz wollte ich wohl mir selbst ein wenig Hoffnung geben, etwas von der trügerischen Nahrung, die uns manchmal über den Rand des Aussichtslosen hinaustreibt. Ich rechnete nicht wirklich damit, in diesem Dorf ein Schuhgeschäft zu finden, schon gar nicht eines, das um die Mittagszeit geöffnet war. Ich täuschte mich. Nicht weit hinter der Brücke über den Mühlgraben erblickten wir einen Laden mit blitzendem Schaufenster. Er tauchte so plötzlich auf, dass ich erst gar nicht hingehen wollte. Irgendeine Erfahrung hatte mich gelehrt, plötzlichen Erscheinungen zu misstrauen. Weit hinten im Nebelland meiner Erinnerungen saß diese warnende Stimme, eigentlich keine Stimme, sondern ein andauerndes Pfeifen, das außer einem selbst keiner hört – wie Tinnitus. Ein nicht mal meterhoher Aufsteller warf seinen kurzen schwarzen Schatten auf die grauen Steine. Etwas Handschriftliches stand darauf, das ich aus der Ferne nicht entziffern konnte. Kantorka jauchzte und schlug mir ihre nackten Fersen in die Weichen. Ich dachte zuerst, sie würde sich freuen, weil es tatsächlich Schuhe zu kaufen gab. Dabei war ich es, der sich freute. Mir fiel ein, dass sie, auf meinen Schultern sitzend, einen deutlich anderen Blickwinkel hatte als ich. Bessere Augen auch, das wusste ich. Sie hatte bereits entziffert, was auf dem Aufsteller zu lesen war. Ächzend beschleunigte ich meinen Schritt. Der Schweiß rann mir in die Augen, sie brannten, und ich sah praktisch nichts mehr. Ich beugte mich ein bisschen vor, um Kantorka abspringen zu lassen. Sie hatte aber nichts dergleichen vor. So wären wir um ein Haar beide gestürzt. „Was ist?“, rief ich vor Überraschung ungehalten. „Willst du nicht absteigen? Ich kauf dir Schuhe.“ „Wir müssen zurück“, sagte sie. „Wir sind doch da!“ „Aber wir müssen mit dem Auto herkommen.“

50


Ich schaute sie an, als wäre sie von allen guten Geistern verlassen. „Hast du nicht gelesen?“, fragte sie. Ich kniff die Augen zusammen und entzifferte nun die Wörter auf dem Aufsteller. 1. Auto parken 2. Schuhe kaufen 3. Glücklich sein Nun begriff ich. Wenn wir den ersten Schritt nicht machten, wie sollten die anderen dann folgen? Taumelnd trug ich sie zurück.

2. SCHUHE KAUFEN Kantorka wollte keine Socken anziehen, solang ihre Füße schmutzig waren. Ich wusch sie ihr mit Wasser aus dem Obergraben. Als ich es holen ging, wäre ich beinah auf einen Frosch getreten. Im letzten Moment verlängerte ich meinen Schritt, mein Fuß kam dicht vor ihm auf den staubigen Pfad zu stehen – eine zwiespältige Gnade, denn es schien mir ausgemacht, dass die Sonne ihm bei dem Grad von Entkräftung, den ich ihm unterstellte, einen qualvollen Tod bereiten musste. Sollte er es jedoch ins feuchte Gras schaffen, würde der Storch ihn fressen. Ich hatte mehrere dieser Tiere bereits in der Nähe herumstehen sehen. Längs des Wassergrabens verlief ein ungemähter Grasstreifen. Brennnesseln wuchsen da und Kletten, im Untergrund vermutete ich modernde Zweige. Statt des beständigen qualvollen Ächzens hörte ich nun den Gesang einer einzelnen süßen Stimme. Nun geschah etwas Merkwürdiges. Ich hatte das Gefühl, aus meinem Körper herauszugehen. Schon war das letzte Band gelöst. Wie ich über dem Graben schwebte, sah ich sie. Meine Kantorka! Entrückt in das leichte Kräuseln kleinster Wellen im Wasser, und doch so nah wie schon lang nicht mehr. Kantorka hat helles Haar, schmal ist sie und von hohem Wuchs und sie hat eine stolze Art, wie sie geht und den Kopf hält. Die Augen sind groß und sanft, sie blicken zu mir herauf – und sehen mich doch nicht. Da kehrte ich in mich zurück. Um ihr die Füße zu trocknen, nahm ich mein T-Shirt.

51


Die Schuhverkäuferin telefonierte, als wir, ich tief gebückt, Kantorka an meinen Schädel geschmiegt, den Laden betraten. Beim Autofahren hatte ich frische Kräfte gesammelt und kam mir schwungvoll vor. Die Frau begrüßte uns mit den Augen und bedeutete uns, zu der aus einer Reihe von Polsterstühlen gebildeten Bank in der Mitte des Raumes zu gehen. Wir waren umringt von Kartons, die sich vom Boden zur Decke stapelten; einzelne Exemplare hockten auf den Deckeln wie der Gruft entkommene Friedhofbewohner. Ein Standventilator blies kühle Luft in den Raum; er ließ mich an ein Mühlrad denken. Kantorka war von meinem Rücken auf die Bank geklettert; ich hörte von ihr keinen Laut. Der Luftzug erinnerte mich an den vorigen Abend, als ein frischer Wind uns förmlich vor sich hergetrieben hatte. Nach langer Zeit waren wir mal wieder Hand in Hand gegangen, vorbei an alten, edel sanierten oder verfallenden Hofstellen. Nah am Weg hatte der Storch sein Nest gebaut, dort saß er reglos, den Hals gebogen, den Schnabel waagrecht haltend, attrappengleich. Immer weiter waren wir dem Kanal gefolgt. Er hätte uns zum nächsten Dorf geleitet. Nach einem guten Stück Wegs waren wir auf ein Seitenfließ gestoßen und hatten uns entscheiden müssen, ob wir umkehren oder dem Fließ folgen wollten, in der Hoffnung auf eine Brücke zu treffen. Das untergründige Murmeln wie von menschlichen Stimmen setzte wieder ein, ich dachte an das Singen von Galeerenruderern. Im Laden war kein Schuhschemel vorhanden. Ich hockte mich, um ihn zu ersetzen, vor der Bank auf die Teppichfliesen. Kantorka wollte es so. Früher wäre mir die Verwandlung leichter gefallen. Ich wühlte in meiner Erinnerung, etwas war doch gewesen, ein an seinem Platz festgemachtes Buch, gemurmelte Sprüche ... Kantorka stellte ihren zierlichen Fuß auf meinen Rücken und probierte Schuhe. Ich hätte nie gedacht, dass der kleine Laden ein dermaßen großes Sortiment beherbergen konnte. Es waren solche dabei, deren Sohle sich wie Moosgummi anfühlte. Andere waren mit spitzen Absätzen versehen, die zwischen meine Rippen piekten. Durch das Schaufenster sah ich einen großen Wagen vorfahren. Ich bekam eine Gänsehaut. Ich sah nicht, aber fühlte, das jemand hinter den schwarzen Scheiben im Fond saß, mit dem ich durch ein altes Band verknüpft war. Die Gänsehaut wurde zum Kribbeln, jede Faser meines Körpers wurde von einer unfasslichen Kraft erfüllt, derer ich keineswegs Herr wurde.

52


53


Endlich hatte Kantorka gewählt. Zum Zahlen mit Karte ging ich in einen kleinen, durch einen Vorhang abgetrennten Raum. Dort schlief, in einer dunklen Ecke des Regals versteckt und doch gleich zu sehen, eine rotgetigerte Katze. Ich gab meine Identifikations-Nummer in ein kleines Gerät ein und wartete auf die Bestätigung. Die vier Sterne auf dem Display erloschen, doch statt der gewohnten Worte erschien nach kurzer Zeit eine wilde Folge von Zeichen, unter denen ich mehrere Drudenfüße erkannte. Auf der anderen Seite des Vorhangs hörte ich die Ladenklingel, doch statt der erwarteten Stimmen schien sich ein lähmendes Schweigen auszubreiten. Die Katze sprang mir vor die Füße. Sie machte einen Buckel und plusterte ihr Fell auf. Ohne mich lang zu besinnen, zog ich einen Kreis auf den Boden und zeichnete die Folge der Symbole, die mir eben erschienen waren, an seinen Rand. Krabat erwachte in einem üppig gepolsterten Liegestuhl. Das Prasseln eines Feuers drang an sein Ohr. Sonst war alles still. Er schaute sich um. Da waren noch mehr Stühle, in einigen lagen Menschen in weißen Bademänteln und mit geschlossenen Augen. Er hielt sich für tot, er hielt die anderen für tot, sogar als einer von ihnen mechanisch nach einem Apfel griff, wie sie in großen Schalen mengenweise hier vorhanden waren, und ohne die Augen zu öffnen hineinbiss. Ein anderer wippte leise mit seinen Frotteeschlappen, ein dritter trank aus einem Glas. Alles geschah in vollkommener Lautlosigkeit und ohne zu schauen. Er glaubte, er sei in der Unterwelt, aber er konnte sich nicht des Übergangs entsinnen. Eine Zeitlang beobachtete er still daliegend den hohen Raum, den mächtigen Kamin, die anderen Wesen oder Unwesen. Als eine der Gestalten sich stumm erhob und den Raum verließ, stand auch er aus seinem Liegesessel auf. Er fühlte sich leicht, seine Bewegungen waren übermäßig, als hätte der Boden unter seinen Füßen nicht die gewohnte Anziehungskraft. Beinah schwebend folgte er dem anderen. Ein weiteres Wesen erhob sich und ging hinter Krabat drein. Sofort fühlte er sich unbehaglich. Er dachte, die beiden wollten ihn nun fortbringen an einen Ort, der sicher unbequemer war als dieser. Bei aller Leichtigkeit fühlte er sich zu Widerstand nicht fähig. Sie gingen lautlos, in ihre weißen Kutten gehüllt durch eine Tür in einen weiteren Raum mit einem quadratischen Schwimmbecken. Eine magische Form, dachte Krabat. Er war nun sicher, dass er wenn nicht ins

54


Jenseits, so doch an einen verzauberten Ort gelangt war. In dem Becken befanden sich mehrere Wesen, allesamt stumm und nackt. Auch hier fand er kein Augenpaar, in dass er hätte schauen können, keine Miene, die Lust oder Leid ausdrückte. Vom Wasser stieg kein Dampf auf, es musste kalt, vielleicht eiskalt sein. Weiter ging der lautlose Zug durch dunkle Zimmer mit verhangenen Fenstern, mit leichten und mit schweren Leibern, die reglos auf Kissen und Matratzen lagen. Überall hörte er es rinnen, plätschern, regnen. Auch Stimmen hörte er, die in der Tiefe eintönige Lieder sangen. Er tat es den anderen Gestalten nach und ließ sein Gewand zu Boden gleiten. Der vor ihm öffnete die Tür, sie schlüpften in eine heiße, dunkle Kammer, der hinter ihm schloss die Tür wieder. Lauter nackte, bis auf die Schöpfe haarlose Wesen waren auf mehreren Ebenen versammelt. Manche lagen, manche verharrten in sitzender Stellung auf den langen Holzbänken. Die Körper glänzten feucht. Auch hier fand Krabat nur totengleiche Starre, keine Blicke. Wenn sie lebten, wenn sie irgendwie bei Bewusstsein waren, mussten sie in sich gefangen sein, ohne die anderen zu bemerken. Oder sie reagierten nur auf Bewegungen eines anderen wie seine beiden Wächter, oder wie er im Bann seiner Wächter. Er bemerkte, wie in der Feuerhölle der Schweiß auf seine Haut trat. Auf dem Weg hierher waren sie an einem Raum vorbeigekommen, in dem sich nur eine Gestalt befunden hatte. Dieser Raum war von oben bis unten vereist und der drinnen hatte vor der Eiswand gestanden, Gesicht, Brust, Bauch, Geschlecht der kalten Materie zugewandt, völlig reglos und wahrscheinlich festgefroren. In der Hitze, die ihn umfing, wollte Krabat unbedingt nach jenem kalten Ort. Sie hatten ihm die Qual der Sehnsucht eingepflanzt. Krabat saß reglos und spürte dem Rinnen von Schweiß auf seiner Haut nach. Er atmete flach. Seine Körperfunktionen waren auf das Notwendigste reduziert. Immerhin schwitzte und atmete er! Es bestand also Hoffnung, dass dies kein Totenort war. Aus dem Gemurmel und Gestöhne, dem unterirdischen Gestampfe löste sich zaghaft, dann immer deutlicher jene süße Stimme. Er lauschte ihrem klaren Gesang. Ein kleines Wohlgefühl drang durch Dunkelheit und Hitze zu ihm. „Kantorka!“ Nicht mal sein Schrei riss die ihn umgebenden Wesen aus ihrer Versunkenheit. Was war das für ein Wort, das er geschrien – ein Name, ein Ort vielleicht, an dem er sich einst wohlbefunden hatte?

55


56


Die Tür ging auf. Ein Mädchen kam herein. Sie trug ein Handtuch um die Hüften. Sie brachte einen Holzeimer mit einer Kelle. Sie hatte die Augen geöffnet. In diesem Moment kam sie Krabat unendlich schön vor. Er wollte sie anreden, er konnte es nicht. Nur die Augen riss er auf in der Hoffnung, dass sie in ihm ein lebendiges Wesen erkannte. Sie und er waren die beiden mit den offenen Augen! Doch sie hatte keinen Blick für ihn. Mit klarer Stimme singend, nahm sie die Kelle und schöpfte Wasser auf die Steine, die jemand in einen Kasten in der Mitte des Raums gesammelt hatte. Fauchend wurde es zu Dampf. Ein betörender Duft stieg auf. Das Mädchen nahm das Handtuch von den Hüften und schwang es rhythmisch über der Box mit den Steinen. Es wurde heißer und immer noch heißer. Er glaubte, die Haut würde ihm verbrennen. Er fragte nicht mehr, wie er hierher gekommen war. Ein mächtiger Zauber lag über all dem. Er nahm die anderen Leiber in dem Dampf nur noch undeutlich wahr. Er fragte sich, ob sie etwas fühlen konnten. Er selbst fühlte Qual und Süße in einem. Das Mädchen stand jetzt direkt vor ihm. Lächelnd und singend schwang sie ihr Handtuch auf und nieder, fachte den Feueratem an; er blies ihm direkt ins Gesicht. Sie lächelte, doch, wie er nun bemerkte, mit der Kühle eines Automaten. Er sank auf die Bank, ihm schwanden die Sinne. Der Raum in seinem Innern versank wie der äußere im Dampf. Er glaubte noch zu sehen, wie die Wächter sich von ihren Plätzen erhoben und sich gemessen voreinander verneigten. Die Tür ging wohl auf –

Der Text bezieht sich auf den Roman „Krabat“ von Otfried Preußler. Darin lernt der Junge Krabat zusammen mit zwölf anderen Burschen das Zaubern in einer gespenstischen Mühle. Mit Hilfe der Liebe des Mädchens Kantorka, kann er sich schließlich befreien und ins normale Leben zurückkehren. Die Beschreibung der Kantorka ist dem Roman direkt entnommen.

57


Sonderstipendium DIE „FÜNFTE JAHRESZEIT“


MARTIN ROSE Martin Rose wurde 1970 in Brüssel geboren und wuchs dort zweisprachig (Deutsch/ Französisch) auf. Er studierte verschiedene Bereiche in Bayern (Passau) und Italien (Pavia) und arbeitete unter anderem als Hotelpage (Baden-Baden), Übersetzer und Journalist (u. a. Reisereportagen für Die Zeit). Es folgten längere Aufenthalte in Griechenland und Italien. Er war Stipendiat der ProsaWerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin. Veröffentlichungen liegen in Literaturzeitschriften und auf literaturport.de vor. Martin Rose arbeitet derzeit an seinem Romandebüt „Amnesia Orange“ (AT) und lebt mit Frau und Tochter in Berlin.

59


GESPALTENES HOLZ

Das Stadtkind, das ich war, zog hinaus in den morastigen Wald, Spreewald, vier Wochen lang. Ich hatte das Stipendium bekommen und war sehr beglückt, und dann war ich dort, in der Tiefe des Herbstes. Nebelschwaden schwappten mir entgegen, wenn ich aus dem Fenster blickte, wabernde Dunstfelder, materielose Masse, es wurde dunkel um vier. Auch in der Stadt wird es dunkel zu dieser Zeit, doch das bemerkt man nicht so recht: mit den Zerstreuungen hier und da, den Lichtern überall, die Stadt erleuchtet, flimmernd, die Nacht einfach weggetrickst. Im Spreewald fand ich nach vier nicht den Weg, wenn ich das beleuchtete Hotelgelände verließ, ich hatte vergessen, wie dunkel Dunkelheit ist. Am Morgen machte ich mich im Schutz des Nebels auf den Weg. Ich fuhr mit dem Rad nach dort, und erzählte am Abend der Dame des Hauses: Heute bin ich nach dort gefahren, und die Dame sagte: Ach was, dort ist es uninteressant, da finden Sie nur Gurkenfelder. Sie müssen dahin fahren, und wies mit dem Arm vage in die entgegengesetzte Richtung, so fuhr ich am nächsten Tag dahin. Und tatsächlich, ich staunte, als ich sah, was ich sah: düstere Gespensterwälder, verschlungene Baumhöhlen, Grabengewässer, milchige Weite, Stoppelwiesen, zotteliges Gebüsch. Ich besah mir die Details: drei kleine Strauchäste, im Nebelwind leicht wippend, die losen gelben Blätter trunken taumelnd, als lösten sie sich im nächsten Moment als letzte Farbklekse im Novembertrüb vom Zweig. Ich sah eine Scheune, schief stehend, mit Moos auf den steil angelegten Dachziegeln, verlassen und bewohnt zugleich: Brennholz gestapelt an der Seitenwand. Ein Baum hatte seinen Grund im schmalen Spalt zwischen Schober und Holzstapel gefunden, dachhoch. Seine blattlosen Äste hingen wie ein Lampenschirm über dem gestapelten Holz. Ich fuhr weiter durch den Dunst. Sah ein winziges Häuschen aus rotem Ziegelstein, die Dachkante auf Brusthöhe, die holzige Flügeltür reichte mir bis zur Stirn. Ich dachte an Hexen oder Waldschrate, an kleine Menschen, bucklig vom jahrelangen Krümmen beim Hereintreten. Eine verrostete Eisenstrebe verband die beiden Türflügel, das Vorhängeschloß lag im Laub zu meinen Füßen. Ich traute mich nicht, die Tür zu öffnen, fuhr weiter auf dem Sträßchen nach Nirgendwo. Eine Krähenschar zog vorüber. Wasser plätscherte, hinterm und unterm Gras, Rinnsale zwischen Gebäum

60


und Gesträuch. Silbriges Geäst zitterte in der Luft. Ein Hochstand in Kipphaltung auf scheinbar solidem Gestänge. Von Motorsägen und Blitzeinschlägen massakrierte Pappeln, Baumstümpfe, aus denen mit Notblütentrieb dünne Ästchen heraus schossen. Notblüte, dachte ich, welch ein schönes Wort. Dann, völlig unerwartet: Bäume mit Fetzen in den blattlosen Ästen, Fetzen, die ich nicht zu deuten wußte. Dutzende kleine Segel, beim Herannahen bemerkte ich: Tütenplastik, vier, fünf nebeneinander gereihte Bäume mit Plastikfetzen an den Ästen wie entwurzelte Tannenbäume mit ihren bunt glitzernden Kugeln. Die Frage nach Ursprung und Entstehungsmöglichkeiten: übergangen. Weiter trieb es mich durchs menschenleere Nebelland, Landschaft wahrnehmend in der Nahaufnahme. Sah eine gestutzte, gespaltene Doppelpappel oder einen Doppelspaltpappelstumpf in der Form eines Herzens. Ein kurzer Stich im Thorax, doch ich sagte mir: Ich bleibe unbeeindruckt angesichts solch kruder Metaphorik, und so bemühte ich mich, unbeeindruckt zu bleiben, dachte schließlich an sie, daran, daß ich hier war und sie weit weg, Momente intensiven Selbstmitleids. Ich suchte ihr grünes Auge, hinter einer Strähne verborgen, sah, wie sie mich aufmerksam ansah aus ihrem Versteck. Sah ein Lächeln, spürte ihre Kuppen auf der Haut. Ich dachte: Ich bin allein mit mir und meinem Text in der Geborgenheit der Bleiche, was bin ich für ein armer Tor! und doch auch glücklich obendrein. Eine wärmende Insel, die Bleiche, umgeben von Sumpf und holprigem Geäcker, von karger Novemberszenerie, von menschenfernem Land. Eine Schar fliegender Flugenten lachte mich aus. Vielleicht, hoffte ich, gibt es heute abend Ente, mit Steckrüben und Maronen und Kürbisparfait, es wäre wunderbar. Ich zog weiter, weiter, aber wohin? Nach Nirgendwo, also trat ich in die Pedale und betrachtete den Weg dorthin. Sah dieses und jenes, sich wiederholende Elemente, nur ein Herz tauchte nicht mehr auf. Statt dessen eine Koboldfratze auf der Rinde einer Birke, der Schemen eines Gespenstes auf einer Trauerweide. Trauer, dachte ich, schöne Trauer. Ich schweifte ab, dachte daran, daß sie vorüberging, die sanfte Novemberdepression, denn danach kam die des Dezembers, die schauriger war, gewaltiger, als das novemberliche Melancholiegeplänkel. Ich kam an eine der unzähligen

61


62


Brücken über einen der unzähligen Wasserarme, diesem trüben, dunklen, morbiden Wassergeflecht, und da plötzlich, ein Straßenname stand auf dem Brückenbogen geschrieben. Ich zoomte mich heran und las: Sackgasse. Überall ausgehöhlte Baumstämme, morsch und gedeihend zugleich. Eine Pappel, eine tiefe, breite Pappel mit einem Loch, ein Schlund, ein wohlig düsterer Schlund im unteren Bereich. Ich entdeckte Trollvisagen mit Knollnasen auf der Rinde sich verknäulender Baumstämme, die Silhouette eines Waldschrats im Geäst. Der Geruch von feuchter Erde. Wie vergessen, aus Raum und Zeit gefallen: Heuballen, zu einer Linie aufgereiht wie der Limes als Schutz vor den Barbaren. Erblickte pinkfarbenes Geäst am Wegesrand, windschiefe und morsche Zäune, Bäume, die ihre Äste in den Himmel streckten. Alles hat seine Form, dachte ich: die zu einem Fächer hochragenden Äste eines Baumes, schwingende Blätter eines Farns, im Nebelwind tänzelnde Zweige eines Strauchs, wie zum Bouquet arrangierte Sumpfgräser auf der feuchten Wiese. Alles hat seine Logik und seine Form, auch in trübster Herbstödnis. Es gibt Hoffnung, dachte ich, als ich nach vorneoben blickte. Schimmer am Horizont, ein Streifen Helligkeit: zunächst blechern bläuliches, dann rosafarbenes, schließlich orangenes Licht. Hoffnung mehr das Changieren als das Licht an sich. Ich hielt an einer hölzernen Bretterwand, einer Infotafel über die heimische Flora. Ich betrachtete seit jeher mit Ehrfurcht solche Tafeln, ich staunte, daß vermodernde Gräser und greuliches Gebüsch geradezu poetisch wurden, wenn man ihre Namen erfuhr: Berle, Bachbunge, Knäuelbinse, Bittersüßer Nachtschatten, Quellmoos, Sumpfdotterblume. Und auch die Fauna war vertreten, langbeinige und kurzgeflügelte Vögel, sonderbares Gewürm und Krabbeltiere, und ich warf auch hier einen Blick auf die Namen: Eremit aus der Gattung der Rosenkäfer, Heldbock, auch Großer Eichen- oder Spießbock genannt, Hirschkäfer oder Feuerschröter, Borken-, Werft-, Nagel-, Pracht- und Rüsselkäfer – so viele Käfer hier im Holz, und ich sah einen vor mir über den Sand kriechen, ein schwarzer mit zweigeteiltem Rumpf. Ich beobachtete ihn, wie er sich träge und stoisch zugleich vorwärts schleppte: die Hinter- und Vorderbeinchen parallel, die Mittelbeinchen gegen die Laufrichtung, die kleinen Antennenstümpfe aufrecht gestreckt. Ich dachte an Gregor Samsa, so wie ich jedes Mal an Gregor Samsa denke, wenn ich Käfer sehe, so beschränkt ist mein Assoziationspotential. Ich dachte daran, daß Samsa- und Käferforscher,

63


die in dieser Doppelung selten sind, die es aber geben soll, den Samsakäfer nicht als Käfer anerkennen, weil er keiner Käfergattung zuzuordnen ist, sondern der Großfamilie der Schaben. Dennoch denke ich stets an Gregor Samsa, wenn ich Käfer sehe. Ich sah einen umgekippten Baum, der Stamm in der Mitte glatt durchgeschnitten, die Holzareale in seinem Inneren sahen aus wie Intarsien. Mir fiel auf, daß recht viele Bäume herumlagen, umgeworfene Stämme, Stümpfe aus dem Morast sich emporhoben, abgebrochene, meterdicke Äste den sandigen Weg säumten, und immer wieder von Blitzeinschlägen zertrümmerte Halbstämme. Holztrümmer, Trümmerhaufen, überall gespaltenes Holz. Ich sah zum Himmel, sah, daß sich das orangene Licht verstärkte, grell hinter der Wolkendecke eine Korona bildete, die Erde still und karg und dunkelbraun, stumm fliegende Krähenschar. Ich dachte an Atompilze und die Urknallsimulation, daran, daß die Welt nach der Maya-Exegese bald untergeht, ich blickte auf das in der Ferne kernschmelzglühende Sonnenlicht, sah um mich herum nichts als totes Gehölz. Herbst war immer meine liebste Jahreszeit: der kathartische Übergang der grünen Farbtöne in gelbe, orangene, feuerrote. Die milden Lüfte, Erddüfte, feuchtes Laub. Der Geruch von Kastanien, gerösteten Maronen, der sich in den Métrogängen meiner Herkunftsstadt ausbreitete, ein wohliger Geruch, kleine, abgespaltene Momente von Kinderglück. Dunkelheit, die sich wie ein Mantel über die Welt hüllt. Leicht fallender, kalter Regen, Winde. Herbst war immer meine Zeit gewesen, jetzt grauste es mir in der apokalyptischen Dämmerung, dem menschenverlassenen, grauen Land. Nur Käfer wühlten sich durch den Sand, sie hatten nicht bemerkt, daß die Welt gerade unterging. Das Rad rumpelte, der Weg wurde weicher, sandig. Stehendes Gewässer säumte ihn, sumpfig, mit kleinsten grünen Blättern, wie helle Pigmentierungen auf sonnengegerbter Haut. Ich blieb stehen vor einem imposanten Baum, mit einem Namenschild versehen: Christoph-HeinrichEiche. Donnerwetter, war das ein Prachtkerl von Gehölz! Ramponiert das Äußere, extravagant in der Form, unruhig geriffeltes Muster, Furchen durch den Stammkörper gezogen. Tellergroße Löcher hier und tote, verdrehte Äste da, wahrlich ein Charakterbaum. Einschußlöcher, Granatensplitter im meterbreiten Stamm, ein Überlebender. Oben, im fernen Wipfel, fröhlich wippende Zweiglein mit einzelnen Blättern, den Herbstwinden getrotzt. Ich lief weiter, das Rad an einem Bäumchen abgestellt, begegnete der Kaiser-Wilhem-Eiche, breit und hohl, eine Schreckgestalt. Ein

64


65


wenig versetzt, versteckt im Wald: Johanna – eine regelrechte Vollversammlung von altem Gehölz. In den höheren Gefilden gut bewachsen, war Johanna untenherum ein morsches Gebilde, ohne Rinde, von Rinnsalen der Borkenkäfern zerfurcht. An ihrem Fuße der Gedanke: sieht aus wie ein Elefantenfuß. Knarrendes, ächzendes, sich bewegendes Holz. Ein Riesenast lag massig auf dem Boden. Er ließ mich an einen Alligator denken, der sich tot stellte oder schlummernd, aber wahrscheinlich stellte er sich tot, um dann, plötzlich, zuzuschnappen, der Niederlausitzalligator im Hudewald. Ich setzte mich auf einen Stein am Rande des Wäldchens. In der Ferne sah ich die beiden Türme der Schinkelkirche von Straupitz. Sie sahen in ihrer kantigen Schlankheit aus wie die Türme des World Trade Center, eine Krähenschar flog geräuschlos auf sie zu. Die Wolkendecke riß einen Spalt breit auf, letzte abendliche Sonnenstrahlen fielen schräg auf die Wiesen und Äcker, Wasserfurchen und Wälder. Es sah aus, als werfe Gott im Strahl einer Taschenlampe einen Blick auf die letzten verbliebenen Erdenmenschen. Ich lief weiter, den schlängeligen Weg entlang, stieß auf die Grande Dame unter den toten Eichen: Florentine. Als einzige ganz und gar blattlos und zweigenlos, ebenmäßig und gleichmäßig die glatte, rindenfreie Haut, die Aststümpfe wie verdrehte Finger in alle Richtungen zeigend. Man konnte mit wechselnder Perspektive eine Hühnerkralle sehen, die starr aus der Erde herausstach, ein aufgerissenes Krokodilmaul, die Wasserspeier einer gotischen Kathedrale. Die runden Löcher im Stamm sahen aus wie die Kanonenrohre von Piratenschiffen. Eine Statue, stolz, erhaben, mit spiralförmiger Drehung in der Musterung. Mehr Stein als Holz. Ich erinnerte mich, hier schon einmal gewesen zu sein, Jahre zuvor, ich hatte es zwischenzeitlich vergessen. Ich war als Begleiter einer anderen Sie, einer Vor-Sie, Gast in einem Cottbusser Hotel der besseren Kategorie, jedoch schnell zur heruntergekommenen Jugendherberge degradiert, nimmt man die Bleiche zum Maßstab. Die Vor-Sie war als potentielle Kundin für Großveranstaltungen geladen, und ich ihr schmarotzender Geselle, der sich wie der Borkenkäfer am Bast der Bäume an den Buffets durchfraß. Es gab eine Fahrt in den Spreewald, mit Kahngeschiebe und Freiluftschmaus, am Fuße der Florentine. Mit weißen Stoffdecken überzogene Tische waren beladen mit Schweinelendchen, Zanderfilets und Rebhuhnschenkeln an frischen Feigen unter sommerlich sanft wippenden Eichenzweigen. Man staunte beim Anblick der stolzen Florentine, über die man uns sagte, sie sei tausendjährig gestorben in dem Jahr, als der Zweite Weltkrieg endete, und ich dachte damals:

66


Welch Metaphorik! Die Welt liegt in Trümmern, Tote im Millionenfach, die keiner recht zählte, und der tausendjährige Baum besiegelt das Menschenzeitalter und beginnt zu sterben, das Ende der Hoffnung. Welch grauenvoll schönes Bild! So oder so ähnlich dachte ich damals, und jetzt stand ich davor und sagte mir: Es ist nur ein toter Baum, der ein wenig älter geworden ist als andere Bäume. Ich bemerkte, wie mich eine Kuh interessiert beobachtete, als ich Florentine interessiert betrachtete. Ein stoischer oder einfältiger Blick, der fremde Mann mit Lederjacke sehenswerter als das prähistorische Gebilde: Florentine, benannt nach einer jungen, vermutlich gelangweilten Gattin eines Straupitzer Gutsherren und Generals, die nach süßem Müßiggang trachtete, während der Gemahl Heerscharen befehligte im Kampf gegen Kosaken und Tartaren. Ich sah sie, während der adlige General Schlacht um Schlacht focht, unter dem Baume sitzen, lesend oder betend oder verträumt sinnierend, vermutlich letzteres. Liebhaber, gewiß.

67



DIE JURY DES SPREEWALD-LITERATUR-STIPENDIUMS

69


70


NINA BOHLMANN ist seit 1989 in der Filmbranche tätig. Nach ihrer Laufbahn u.a. bei der Lichtblick Filmproduktion und Corona Film Hamburg gründet sie gemeinsam mit Babette Schröder die magnolia Filmproduktion. Die erste Foto: © magnolia / Jat J.Olczyk

Eigenproduktion „Süperseks“ läuft 2004 auf dem Filmfest Hamburg; für den Fernsehfilm „Kuckuckszeit“ gewinnen sie 2007 in Hamburg den „TV-Produzentenpreis“. Ihre deutsch-österreichische Koproduktion „Die Fälscher“ läuft 2007 im Wettbewerb der Berlinale und gewinnt 2008 den Oscar für den besten nichtenglischsprachigen Film. Neben ihrer Arbeit als Produzentin ist Nina Bohlmann auch als Autorin für Film und Fernsehen tätig.

HEINZ RUDOLF KUNZE wurde 1956 im Flüchtlingslager Espelkamp geboren. Vor dem Lehramtsstudium der Germanistik und Philosophie besucht er das GrafStauffenberg-Gymnasium in Osnabrück. Schon früh entdeckt er seine Liebe zum Foto: © Nikolaj Georgiew

sprachlichen Balanceakt. 1978 wird er mit dem Literatur-Förderpreis der Stadt Osnabrück ausgezeichnet, bald darauf musikalisch bei einem Nachwuchs-Festival entdeckt. Das junge Talent bekommt seinen ersten Plattenvertrag und veröffentlicht sein allererstes Album. Songs wie „Dein ist mein ganzes Herz“, „Mit Leib und Seele“ oder „Finden Sie Mabel“ machen Heinz Rudolf Kunze zu einer der Koryphäen deutschsprachiger Rockmusik. Übersetzungen diverser preisgekrönter Musicals, Buchveröffentlichungen, große Tourneen und musikalische Lesungen schließen sich an. Zwischenzeitlich moderierte Kunze Radiosendungen, unterrichtete als Gastdozent und trat in Fernsehserien auf. Nur wenige andere Künstler schafften es bisher so wie Kunze, ihrem Stil treu zu bleiben und sich dennoch künstlerisch kontinuierlich vorwärts zu bewegen. Ende August 2011 veröffentlichte er seinen ersten Prosatext unter dem Titel „Vor Gebrauch schütteln – Kein Roman“ im Aufbau Verlag.

71


FRIEDRICH SCHIRMER, Theaterintendant und Dramaturg. 1951 in Köln geboren, begann er seine Theaterlaufbahn unmittelbar nach dem Abitur 1970 als Assistent und Dramaturg am Westfälischen Landestheater Castrop-Rau-

Foto: © Ilona Habben

xel. Sein Weg führte ihn anschließend über die Freie Volksbühne Berlin, die Städtischen Bühnen Nürnberg, das Nationaltheater Mannheim und die Städtischen Bühnen Dortmund zu seiner ersten Intendanz an der Württembergischen Landesbühne Esslingen (ab 1985). 1989 wurde Friedrich Schirmer Intendant der Städtischen Bühnen Freiburg. Von 1993 bis 2005 leitete er als Intendant das Schauspiel Staatstheater Stuttgart. Seit der Spielzeit 2005/2006 war Friedrich Schirmer Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Im September 2010 trat er infolge nicht eingehaltener finanzieller Zusagen und erheblicher Zuschusskürzungen seitens der Stadt Hamburg zurück.

Der Schriftsteller und Jurist BERNHARD SCHLINK wurde 1944 bei Bielefeld geboren und wuchs in Heidelberg auf. Er wurde Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an den Universitäten in Bonn, Frankfurt und Foto: © Herlinde Koelbl

Berlin (Humboldt-Universität) und Professor of European Law and Comparative Constitutionalism an der Benjamin N. Cardozo School of Law, New York. Von 1988-2007 war er Richter des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen. Seit 1985 veröffentlicht er Romane, Erzählungen und Essays. Sein Roman „Der Vorleser“ machte ihn international bekannt.

72


FRANZISKA STÜNKEL, Regisseurin, Drehbuchautorin und Fotokünstlerin. Die Filme von Franziska Stünkel liefen in 19 Ländern auf über 150 Internatio-

Foto: © Stefan Neuenhausen

nalen Filmfestivals und wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem „Best New Director Award“ in New York. Für ihren Kinospielfilm „Vineta“ arbeitete sie mit Peter Lohmeyer, Ulrich Matthes, Justus von Dohnanyi, Matthias Brandt und Susanne Wolff zusammen. Franziska Stünkel erhielt für ihre Leistungen als Regisseurin den „Otto-Sprenger-Preis“ und wurde unter anderem für den „Prix Genève Europe – Bestes Europäisches Drehbuch“ nominiert. Als Regisseurin realisierte sie ferner den 15stündigen TV-Dokumentarfilm „Der Tag der Norddeutschen“. Für ihre fotografischen Arbeiten wurde sie mit dem Audi-Art-Award ausgezeichnet. Im Jahr 2012 erschien ihr Fotokunstbuch „Dialog der Geschichten“. Seit 2008 betreut sie als Kuratorin das Spreewald-Literatur-Stipendium.

73


74


S P R E E W Ä L D E R KULTURSTIFTUNG auf Schloss Müschen

Die Spreewälder Kulturstiftung wurde im Jahr 2002 ins Leben gerufen. Ihr Anliegen ist die Förderung und Bewahrung der traditionellen Spreewälder Kultur und des Brauchtums. Die Wahrung der ursprünglichen Zeugnisse des Spreewaldes sowie das bewusste Wahrnehmen der einzigartigen Leistungen in der prähistorischen Zeit (1300 v. Chr.) und der sogenannten „Lausitzer Kultur“ (bronze- und eisenzeitliche Kultur 1300-500 v. Chr.) ist ein wesentlicher Schwerpunkt der Stiftungsarbeit. Mit der Unterstützung des Spreewald-Literatur-Stipendiums möchte die Stiftung darüber hinaus zeitgenössischen Literaten die Möglichkeit eröffnen, sich vom Spreewald inspirieren und ihn so in ihre Werke einfließen zu lassen.

www.spreewaelder-kulturstiftung.com

75


S P R E E W Ä L D E R KULTURSTIFTUNG auf Schloss Müschen

IMPRESSUM Herausgeber: © 2013 Spreewälder Kulturstiftung Fotos: Nikolaj Georgiew, Gerd Spans, Volker Linger, Esther Bernstorff, Wolfgang Schlüter Gestaltung: Ronald Reinsberg Druck: Druckteam, Berlin ISBN 978-3-00-040544-0


77


S P R E E W Ä L D E R KULTURSTIFTUNG auf Schloss Müschen


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.