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Neuromechanik

Ran an die Nerven!

Kippt dein Becken während des Lauftrainings immer zur Schwungbeinseite ab? Oder löst sich dein Griff beim Kreuzheben, bevor der Zielmuskel ermüdet? Yassin Jebrini und Tim Jost erklären, welchen Einfluss unsere Nerven auf sportliche Leistungen haben.

Die Ursache eines unökonomischen Laufstils wird häufig in Fußfehlstellungen, Koordinationsmängeln und muskulären Dysbalancen des jeweiligen Läufers vermutet.

Das Scheitern an tiefen Kniebeugen, sogenannten „Ass to grass“-Kniebeugen, bei Trainierenden wird als

Mobilitätsdefizit in der Hüfte und im

Sprunggelenk aufgefasst, während erschlaffende Finger beim Klimmzug auf eine defizitäre Griffkraft hinweisen können.

Gemeinsam ist all diesen Problemen bei Athleten ihre Reduzierung auf einen vermeintlich rein biomechanischen Ursprung und einen propriozeptiven Ansatz zu ihrer Behebung.

Andere potenzielle Ursachen von Leistungseinbußen hingegen werden ignoriert, darunter auch unsere Nerven.

DIE AUFGABE DES ZNS

Auf neuronaler Ebene wird die Bedeutung der Nerven für die Entstehung von Bewegungen deutlich. Das größte Anliegen des zentralen Nervensystems (ZNS) ist immer das Garantieren unserer unmittelbaren Sicherheit und Unversehrtheit 24/7 – Tag und Nacht! Diesem Vorgehen wird alles andere untergeordnet, außer in akuter Lebensgefahr. Ob du einen Marathonlauf absolvierst oder dich auf der Yogamatte austobst – dem zentralen Nervensystem ist das egal, Hauptsache, du überstehst den Versuch unbeschadet.

Dabei handelt unser zentrales Nervensystem als höchste steuernde Ins-

tanz im menschlichen Körper stets nach derselben Methode: Aus der Um- und der Innenwelt empfängt es ununterbrochen sensorischen Input, den es analysiert und interpretiert. Erst im nächsten Schritt leitet das ZNS daraus Befehle ab, die über efferente Nervenfasern an die Muskulatur in der Peripherie geleitet werden. Nur über die Einordnung und die Koordination der sensorischen Informationen kann das zentrale Nervensystem einen motorischen Output einleiten.

Der Output ist vom Input abhängig: Je präziser unseren Sinnesorganen die Wahrnehmung von Reizen gelingt, desto genauer kann unser zentrales Nervensystem die aktuelle und zukünftige Situation prognostizieren. Maximale Sicherheit in der Bewegung entsteht dann, wenn die Informationsqualität aus den Zuliefersystemen – primär dem visuellen, dem vestibulären und dem propriozeptiven System – als hervorragend einzustufen ist. Eine in diesem Zyklus mögliche, äußerst sensible Störvariable, die unter Trainern und Athleten kaum Beachtung findet, sind unsere Nerven.

wenn die Befehle, die von unserem Gehirn an die Muskeln in der Peripherie gesendet werden, in ihrer Güte abnehmen. Ein Vergleich aus dem Alltag macht den Ablauf verständlich: Knickt man einen Gartenschlauch oder Eine mögliche, äußerst klemmt ihn sensible Störvariable, die ein, unterunter Trainern und Athleten bricht das den Wasserdurch kaum Beachtung findet, fluss; die Blu sind unsere Nerven. men bleiben im Trockenen stehen. Gleiches passiert, wenn die Nervenfasern unser Gehirn nicht einwandfrei mit Informationen versorgen können: Das Gehirn muss Prognosen über die nahe Zukunft erstellen, die auf lückenhaften Informationen beruhen. Folglich zieht das ZNS die Handbremse und schränkt aus seinem Sicherheitsbedürfnis heraus den motorischen Output ein. Doch nicht nur die direkte Informationsübertragung, sondern auch die Bewegungsfreiheit der Nerven kann eingeschränkt sein. Denn sobald wir uns bewegen, verändern periphere Nerven ihre eigene Lageposition. Da Nerven ein sensibles Gewebe sind, kann jede Form von Druck oder Scherkräften, die die Belastungstoleranz des Trainierenden übersteigen, ebenfalls zu Bewegungseinschränkungen und Schmerzen führen.

WAS MACHEN DIE NERVEN?

Unsere Nerven garantieren als zusammenhängende Einheit den Informationsaustausch zwischen den sensorischen Rezeptoren, dem Gehirn und den ausführenden Organen. Die Datenübertragung zwischen dem zentralen Nervensystem und den bewegungsausführenden Organen ist für das Gelingen von Bewegungen eine kritische Determinante. Wenn sensorische Informationen, die an den Rezeptoren generiert werden, durch die Übermittlung der Nerven an unser Gehirn in ihrer Qualität abnehmen, liegt ein Übertragungsproblem vor. Ebenso wird von einem Übertragungsproblem gesprochen, SIGNALLEITUNG STÄRKEN

Die mechanischen Bedingungen des peripheren und des zentralen Nervengewebes haben Auswirkungen auf unsere Leistungsfähigkeit! Spannend wird es in der Mobilisation oder der Entspannung der Nerven zur Verbesserung der Signalübertragung vom motorischen Kortex über das Rückenmark zum Muskel und zurück. Insbesondere langjährige Schmerzzustände oder Immobilitäten in bestimmten Körperbereichen, aber auch Missempfindungen wie Taubheit oder Kribbeln in den Körperextremitäten deuten in der Anamnese auf häufig reversible Beeinträch-

MOBILISATION DES NERVUS MEDIANUS

Der Trainierende bringt das Handgelenk, die Finger und den Ellbogen in die maximale Extension. Der Arm wird außenrotiert, die Schulter 30–40 Grad abduziert und gleichzeitig in die maximale Depression geführt.

Wird der Kopf nun zur anderen Seite geneigt, befindet sich der Nervus medianus unter maximaler Streckung. Um ihn zu mobilisieren, muss er nun in unterschiedlichen Gelenken bewegt werden.

Die gesamte Position wird weiterhin gehalten, nur führen die Finger eine alternierende Flexion und Extension zur Spannungserzeugung und Spannungsauslösung aus.

Die Finger sind das einzige Element in der Kette, das sich

bewegt. Sobald die Finger eine bestimmte Wiederholungszahl überschritten haben, werden sie wieder in die Ausgangsposition gebracht und das Handgelenk wird gebeugt und gestreckt.

ASSESSMENTS DER NERVEN

Über den individuellen Nutzen von Mobilisations- oder Entspannungsübungen entscheiden Assessments.

Bevor der Trainierende die entsprechenden Nerven, die den definierten Problembereich innervieren, bearbeitet, setzt er mit einer ihm vertrauten Übung (z. B. Toe-Touch, Schulterinnen- und -außenrotation etc.) einen Leistungsstandard, um im Anschluss an die Übung prüfen zu können, ob der zwischenzeitliche Input einen positiven, einen neutralen oder einen negativen

Stimulus ausgelöst hat.

Reflexe oder Schmerzzustän-

de können dabei ebenfalls als Bewertungsmaßstab dienen. Das Ziel der Assessments ist es nicht, diese zu verbessern, sondern nur, die Funktionalität der durchgeführten Nervenmobilisation auf unser zentrales

Nervensystem zu bewerten.

tigungen der Nerven hin. Wem beim Kreuzheben oder bei Klimmzügen regelmäßig die Finger aufgehen, kann ein Defizit in der Griffkraft oder ein Problem auf Ebene der Nerven aufweisen.

DRILLS

Die Optimierung der neuromechanischen Voraussetzung des Rückenmarks und der peripheren Nerven gelingt über neuromechanische Drills. Treten bilateral Probleme an den Nerven auf, ist es sinnvoll, die Intervention ab der Ebene zu starten, an der die Nerven zusammenlaufen, sprich am Rückenmark oder an einer höheren Hierarchiestufe. Wenn Probleme unilateral an den Nerven auftreten, startet die Intervention an den Strukturen, die diese Nerven innervieren.

NERVUS MEDIANUS

Nehmen wir den Nervus medianus als Beispiel zur Veranschaulichung einer neuromechanischen Intervention. Dieser Nerv innerviert den Daumen, den Zeigefinger, den Ringfinger und viele Muskeln des Ober- und Unterarms. Kraftlosigkeit oder Taubheit in diesen Körperpartien geben in der Anamnese einen ersten Hinweis auf ein potenzielles Nervenproblem an dieser Stelle. Da dieser Nerv über mehrere Gelenke zieht, muss in der Intervention die gesamte Kette vom Finger über das Handgelenk, den Ellbogen, die Schulter bis zum Kopf bearbeitet werden, wobei sich immer ein Element aus dieser Kette während der Spannungserzeugung bewegen sollte.

ASSESSMENTS DER NERVEN

In der Beschreibung der Mobilisation des Nervus medianus erfährst du den Ablauf einer neuromechanischen Intervention. Alle anderen Elemente der Kette werden nach demselben Prinzip angesprochen. Während der Übung sollte durch die Spannungsfrequenz ein leichtes Kribbeln spürbar sein. Ist dieses nicht zu spüren, kann es sein, dass der Trainierende ein Glied in der Kette nicht mehr in der Ausgangsposition hält oder aber, dass der Nerv so frei arbeitet, dass keine Probleme vorliegen. Ein anschließendes Re-Assessment wird Auskunft über die Wirksamkeit der Nervenmobilisation geben.

SPANNUNGSREDUKTION

Anstelle der Mobilisation kann der Nervus medianus auch eine Entspannung benötigen, also eher das Bedürfnis nach Spannungsreduktion aufweisen. Um diese Entspannungsfrequenz zu erzeugen, muss der Trainierende den Ablauf in umgekehrter Reihenfolge wiederholen – sprich: die Finger einrollen, das Handgelenk und den Ellbogen beugen, die Schulter anheben und den Kopf in dieselbe Richtung bewegen. Das bewegende Element in dieser Entspannungsübung ist nun eine tiefe und kraftvolle Atmung.

INTEGRATION INS TRAINING

Nervenmobilisationen und Nervenentspannungen können im Training auf vielfältigste Weise genutzt werden. Die Techniken eignen sich sowohl für die Integration ins Warm-up als auch ins Cool-down und können während eines Krafttrainings als aktive Pause genutzt werden. Der Nervus medianus kann beispielsweise zwischen Klimmzugsätzen nochmals

SEMINAR „NEUROMECHANIK“

Im Online-Seminar „Neuromechanik“ werden die Abläufe zwischen Bewegungsplanung und Bewegungsausführung untersucht. Dabei werden 15 relevante Nerven und ihre Innervationsgebiete in den Fokus genommen. Die trainingspraktische Bearbeitung der Nerven lernst du anhand verschiedener Drills und Assessments. Das dreieinhalbstündige Seminar kostet 199 Euro. www.jebrini-training.de

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