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Neuro meets Functional

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Personal Branding

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Neuroathletik ist eine junge Disziplin in der Sportwelt, die immer populärer wird. Und das zu Recht: Die angewandte Neurologie ermöglicht uns ein höchst individuelles Training und eine optimale Betreuung unserer Leistungs- und Breitensportler. Dies gewährleistet Trainern, Coaches, Therapeuten und Athleten ein effizientes Training und eine sinnvolle Therapie mit nachhaltigen Erfolgen. Eine allgemeingültige Definition existiert jedoch nicht. Dies liegt insbesondere FUNCTIONAL TRAINING daran, dass dieses Thema so umfassend und weit- Funktionelles Training orientiert sich an dem indireichend ist. Wir definieren „neurozentriertes Trai- viduellen Funktionszustand des Kunden. Anhand ning“ wie folgt: Das neurozentrierte Training basiert funktioneller Screenings und Testverfahren werauf sport- und neurowissenschaftlichen Erkennt- den Dysfunktionen, Asymmetrien und Schmerzen nissen, die alle Untersuchungen über die Struktur identifiziert und anschließend mittels Korrekturüund die Funktion des Nervensystems zusammen- bungen auftrainiert. Das Ziel ist es, einen gesunden, fasst und interpretiert. Dennoch ist Neuroathletik leistungsfähigen und schmerzfreien Organismus nicht grundlegend neu. Teilbereiche der Sportwis- zu erhalten beziehungsweise zu entwickeln. senschaften und die Neurowissenschaften befassen In der Lehre und in der Trainingspraxis des Funcsich seit Jahrzehnten mit der Neuroanatomie und tional Trainings wird insbesondere die funktionelle der Funktionsweise des Nervensystems. Die Heraus- Anatomie des Bewegungsapparates thematisiert – forderung besteht darin, diese Erkenntnisse in die sprich das Muskel-Skelett-System. Welche Muskeln

Bewegungslehre zu transferieren und im Training und Knochen sind an der Bewegung eines Gelenks anzuwenden. Die Begrifflichkeiten „Neuroathletik“, und eines komplexeren Bewegungsmusters betei„Neuroathletiktraining“, „ange- ligt? Welche biomechanischen wandte Neurologie“ und „neuro- Anforderungen gilt es zu erfüllen, zentriertes Training“ können syn- um sich effizient zu bewegen? onym verwendet werden. Neben der Biomechanik liegt ein

Doch was unterscheidet den weiterer Schwerpunkt des funkneurozentrierten Ansatz von bis- tionellen Trainings auf der Lehre herigen Ansätzen? Die klassische der Herz-Kreislauf-Physiologie.

Trainings- und Bewegungslehre Wie funktioniert das Herz-Kreisstellt das muskuloskelettale Sys- lauf-System? Welche Trainingstem in den Mittelpunkt der Arbeit. interventionen sind aus Sicht der

Dieses basiert auf der Annahme, Sportwissenschaften zu empfehdass das Muskel-Skelett-System len? Und welche Anforderungen jegliche Bewegung steuert. Das gilt es aus neurozentrierter Persbedeutet vereinfacht, dass der pektive, ergänzend im Functional

Muskel alleinig für die Bewegung Training zu berücksichtigen? verantwortlich ist. Doch Bewegung entsteht nicht im Muskel, BEWEGUNGSSTEUERNDE sie wird lediglich über den Bewe- SYSTEME gungsapparat ausgeführt. Beim Neuroathletiktraining wird

Ein enormer Vorteil gegen- das Nervensystem erstmals in den über anderen Ansätzen besteht Mittelpunkt der Arbeit gestellt. Die darin, dass das Neuroathletik- Neuroathletik beschäftigt sich mit training über die Prinzipien der zentralnervösen Prozessen, die

Sport- und Bewegungswissen- maßgeblich an der Bewegungsschaft hinausgeht und weitere planung und -steuerung beteiligt wertvolle Erkenntnisse über das sind. Das bedeutet: Bewegung entvestibuläre, das visuelle und das steht im Gehirn. Doch nicht nur taktile System liefert. Dies er- das – auch Schmerzen, Emotiomöglicht es uns, Bewegung und nen, Gedanken u. v. m. entstehen

Schmerz aus einer anderen Per- im Gehirn. In der neuroathletispektive zu betrachten und neue schen Trainingspraxis gilt es, die

Lösungen zu finden. Funktionsweise und die Interak-

MARINA WREDE Die Co-Founderin von Brain Based Movement hat ihre Expertise im strategischen Management und Marketing mit dem Schwerpunkt Digitalisierung www.brainbasedmovement. digital DAVID HILLMER Der Sportwissenschaftler, Personal Trainer, Ausbilder und Keynote Speaker ist Co-Founder von Brain Based Movement hat seine Expertise in den Themenbereichen „Functional Training“ und „Neuroathletiktraining“. www.brainbasedmovement.de

Wir nutzen Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften und bringen diese in den Kontext der Sportwissenschaften.

tion zwischen dem zentralen und dem peripheren Nervensystem zu überprüfen und individuell zu verbessern. So steigern gezielte neuronale Reize nicht nur die Leistungsfähigkeit, sondern lindern auch Schmerzen und senken das Verletzungsrisiko.

Wir betrachten das Individuum immer aus der Sicht folgender drei Systeme, die maßgeblich für die Gesundheit des gesamten Nervensystems verantwortlich sind: • Das vestibuläre System • Das visuelle System • Das taktile System Unser Gehirn erhält permanent Informationen aus dem vestibulären, dem visuellen und dem taktilen System. Diese Informationen werden im Gehirn aufgenommen, verarbeitet und interpretiert. Anschließend trifft das Gehirn eine Entscheidung. Diese kann sich in Form einer Bewegung, einer Handlung und/oder eines Verhaltens (motorischer Output) äußern. Man spricht auch von dem Input-Brain-Output-Modell.

INTEGRATIONSMÖGLICHKEITEN INS FUNCTIONAL TRAINING

TRAINING DES VISUELLEN SYSTEMS

Startposition ist mit geschlossenen Füßen im aufrechten Stand. Die Brockschnur ist an einem stabilen Gegenstand befestigt oder wird vom Trainer gehalten. Die drei Kugeln werden gleichmäßig verteilt, das Ende der Schnur wird auf Höhe der Nasenspitze positioniert.

Zuerst fixiert der Trainerende die am nächsten liegende Kugel. Optisch sollten zwei Schnüre in die Kugel hinein- und auch wieder herausführen. Der Schnittpunkt der Schnüre sollte in der Kugel erfolgen. Nun gilt es, Blicksprünge zwischen den verschiedenen Kugeln zu absolvieren. Dabei sollte ein Blicksprung erst erfolgen, wenn die fixierte Kugel vom Auge scharfgestellt wurde und alle „vier“ Schnüre zu erkennen sind.

Integration ins Functional Training:

Sollte die Übung in der Isolation einwandfrei funktionieren, kann der Trainerende die Blicksprünge mit der Brockschnur in Übungen wie z. B. den seitlichen Ausfallschritt integrieren. Alternativ dazu können auch sportartspezifische Positionen eingenommen werden. So wird das Nervensystem spezifisch in der relevanten Position und Bewegung geschult, wie beispielsweise für den Torschuss beim Fußball, den Abschlag beim Golf und den Aufschlag beim Tennis. INTEGRATION

Neurozentriertes Training und Functional Training sollten nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Elemente und Übungen aus dem klassischen Neuroathletiktraining, wie beispielsweise Blicksprünge, das periphere Sehen und das Training der Gleichgewichtskanäle, können effektiv in das funktionelle Training integriert werden. Das übergeordnete Ziel beider Ansätze besteht darin, Bewegung zu optimieren.

Wählst du für dein Nervensystem die passende Korrekturübung, kannst du beispielsweise mehr Gewicht stemmen, schneller laufen und dich besser bewegen. Das Besondere am Neuroathletiktraining ist, dass das Nervensystem innerhalb weniger Sekunden eine Rückmeldung gibt. Das bedeutet, dass dir dein Körper unverzüglich mitteilt, ob die Übung für dich passend ist oder nicht. Dies erkennst du beispielsweise an einer Veränderung der Beweglichkeit, der Kraft und der Stabilität sowie am Schmerzempfinden.

PRAXISBEISPIEL

Ein „Klassiker“ im Personal Training: Der Kunde klagt über wiederkehrende Hals- und Nackenverspannungen. Aus Perspektive des funktionellen Trainings starten wir mit der Verbesserung der Wahrnehmung des umliegenden Gewebes der Halswirbelsäule, indem wir das myofasziale Gewebe massieren. Ergänzend dazu wählen wir Übungen für die aktive Bewegungskontrolle der Halswirbelsäule. Dazu zählen die Flexion, die Extension, die Rotation, die Lateralflexion, die Protraktion und die Retraktion der Halswirbelsäule. Aus Sicht des Functional-Training-Ansatzes erwarten wir durch die lokale Lockerung und Aktivierung des Gewebes eine Verbesserung der Beweglichkeit und der Verspannung.

Durch das Neuroathletiktraining werden weitere Lösungsmöglichkeiten herangezogen. Mithilfe des Trainings des vestibulären, des visuellen und des taktilen Systems haben wir die Möglichkeit, gezielt Bereiche im Gehirn zu aktivieren, die wie-

derum einen Einfluss auf die globale Spannungs- bzw. Tonusregulation der Muskulatur haben. Über motorisch absteigende Bahnen des Rückenmarks, die durch das Visual- und Gleichgewichtstraining aktiviert werden, haben wir einen unmittelbaren Einfluss auf die Innervation der axialen Muskulatur (Stütz- und Haltemotorik). Aus neurozentrierter Sicht erwarten wir durch Augen- und Gleichgewichtsübungen ebenfalls eine Verbesserung der Beweglichkeit und der Verspannungen der Halswirbelsäule. Hierfür eignen sich beispielsweise die Übung der räumlichen Wahrnehmung mit der Brockschnur und die Sakkadne (siehe Übungen) von nah nach fern.

NEUROATHLETIK ALS GAMECHANGER

Neuroathletiktraining kann ein Gamechanger im Leistungs- und Breitensport sein. Dabei gilt es, das neuronale Anforderungsprofil des Individuums im Alltag und im Sport zu berücksichtigen. In Bezug auf den (Leistungs-)Sport werden durch Neuroathletik enorme Potenziale freigesetzt. Dazu zählen die Verbesserung der Wahrnehmung, der Reaktions- und der Handlungsschnelligkeit und somit die allgemeine Steigerung der sportlichen Leistung. Dennoch ist es ein Irrglaube, dass nur Leistungssportler von dem neurozentrierten Ansatz profitieren. Auch Hobbyathleten und Alltagshelden profitieren von den Möglichkeiten des Neuroathletiktrainings, da bereits kleinste Funktionsauffälligkeiten des Nervensystems bei fehlender Intervention zu (chronischen) Schmerzen und Unwohlsein führen können. Das neurozentrierte Training ermöglicht es, alltägliche Beschwerden wie z. B. Kopfschmerzen und Migräne, Nacken und Rückenverspannungen, Magen-Darm-Beschwerden und Konzentrationsschwächen zu beheben.

FAZIT

Wir möchten uns davon distanzieren, Neuroathletik ausschließlich auf Augenliegestütze, Blicksprünge und Zungenkreisen zu begrenzen. Vielmehr sollten die einzelnen Übungen nach und nach in das Functional Training integriert werden. So kann die Kombination aus Neuroathletik und Functional Training für die Bewegungsoptimierung bestmöglich genutzt werden. Nutzt man die Parallelen der Ansätze sinnvoll, ergeben sich sowohl wertvolle Übungskombinationen für die Trainingspraxis als auch ergänzende Lösungsmöglichkeiten, um wiederkehrenden Problemen wie Kopfschmerzen, Nackenverspannungen, Bewegungseinschränkungen, Gleichgewichtsstörungen u. v. m. effizient entgegenzuwirken.

Bei der Integration der beiden Ansätze wird Bewegung nicht alleinig aus biomechanischer Sicht

SAKKADEN

Eine Alternativübung mit gleicher Ausgangsposition sind Sakkaden. Der Trainierende positioniert einen Vision Stick mit einer Armlänge Entfernung und stellt einen Buchstaben scharf. Anschließend nimmt dieser einen weiteren Fixpunkt, der auf einer Distanz von ca. 6–10 m positioniert ist, peripher wahr. Jetzt werden Blicksprünge zwischen den beiden Fixpunkten absolviert. Es wird immer dann der Fixpunkt gewechselt, wenn dieser klar und scharf von dem Auge wahrgenommen wird.

Integration ins Functional Training:

Fortgeschrittene können die Sakkaden z. B. während Ausfallschritten oder im Lauf-ABC absolvieren, um den Reiz zu intensivieren.

NEURO BUNDLES

Die praxisorientierten Trainingsprogramme bestehen aus drei Bundles mit spezifischen Übungen für das vestibuläre, das visuelle und das taktile System und umfassen mehr als 150 Übungen und acht Stunden Videomaterial.

betrachtet, sondern durch die neurobiomechanische Sicht, die sowohl das Muskel-Skelett-System als auch das Nervensystem berücksichtigt, ergänzt. Bedenkt man, dass das Gehirn als Teil des Nervensystems die Steuerungszentrale bildet und somit dem Muskel-Skelett-System übergeordnet ist, ist es naheliegend, die neurozentrierte Perspektive in den Testing- und Trainingsprozess zu integrieren. W

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