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Hypertrophie 2.0

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Elektromyografie

Elektromyografie

2: Muskelhypertrophie basiert auf den drei Faktoren „mechanische Spannung“, „metabolischer Stress“ und „lokale Schädigung des Muskelgewebes“. Ein progressiver Anstieg der Belastungsintensität durch Erhöhung des Widerstands und auch ein ansteigendes Krafttrainingsvolumen durch mehr Wiederholungen für den einzelnen Muskel pro Woche rufen die stärksten hypertrophen Reaktionen auf ein Training hervor. Die allgemeinen Empfehlungen beinhalten zumeist die Durchführung von mehreren Sätzen (3–6), von 6–12 Wiederholungen mit kurzen Ruhepausen (60–90 s) und einer moderaten Belastungsintensität (60–85 Prozent des One-Repetition-Maximums (1RM)) mit entsprechender Steigerung des Trainingsvolumens (12–28 Sätze/Muskel/ Woche). Fortgeschrittene sollten weitere Trainingstechniken und -methoden nutzen, um Plateaus zu durchbrechen und Monotonie zu vermeiden.

TRAIN HARD OR GO HOME?

Lange Zeit herrschte Einigkeit darüber, dass der mechanische Stress die wichtigste Trainingsvariable für die Zunahme von Muskelmasse ist. Diese Ansicht wird durch weitverbreitete Sprüche wie „Train hard or go home“ gestützt. Doch der mechanische Stress als Mutter anaboler Reaktionen wird aktuell infrage gestellt, denn manche Krafttrainingsnovizen haben durch Trainingsprogramme an Muskelmasse zugelegt, die von den klassischen, oben erwähnten Belastungsvorgaben stark abwichen. Auch Fortgeschrittene erzielten beträchtliche hypertrophe Effekte, wenn sie aus dem für sie über lange Zeit vorgeschlagenen Belastungsrahmen (1–12 Wiederholungen, 3–6 Sätze, 70–100 Prozent der maximalen Wiederholungszahl) ausbrachen. Das Spektrum für mechanische und metabolische Stressauslöser hinsichtlich des trainingsbedingten Muskelwachstums scheint somit breiter angelegt als zunächst gedacht. Krafttraining unter geringer

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Belastung (z. B. 30 Prozent des 1RM) und auch unter moderater Belastung (z. B. 70 Prozent des 1RM) kann selbst bei gut trainierten Athleten zu signifikanten Zunahmen der Muskelvolumens führen.

KEINE SPEZIFISCHEN LEITLINIEN

Derzeit gibt es keine ausreichenden Erkenntnisse, um spezifische Leitlinien für Umfang, Belastungsintensität und Häufigkeit im Krafttraining aufzustellen. In der Krafttrainingsforschung klaffen große Lücken. Daher ist die Experimentierfreudigkeit für vielfältige Methoden in der Trainingspraxis auf allen Leistungsstufen ungebrochen. So werden die bekannten Trainingsvariablen nach eigenem Gusto erhöht oder gesenkt, mal hier und mal da priorisiert oder akribisch periodisiert, um spezielle Muskelanpassungen zu erzielen. Neben verschiedenen Möglichkeiten abseits der Mainstream-Trainingstipps werden oftmals Vorerschöpfungstechniken, akzentuierte exzentrische Belastungen, Clustersätze, Supersätze oder Drop-Sets durchgeführt. Die in diesem Zusammenhang wohl innovativste Idee, um ein Muskeldickenwachstum zu erzeugen, wird von vielen in dem nun seit einigen Jahren schon etablierten „Blood Flow Restriction Training“ gesehen, bei dem eine schmale aufblasbare Manschette am proximalen Ende der zu trainierenden Extremität angelegt und so weit aufgepumpt wird, dass der arterielle Blutfluss zu der arbeitenden Muskulatur reduziert und der venöse Rückfluss unterbrochen wird. Richtig angewendet, kann diese verminderte Blutversorgung eine Vergrößerung der Muskelmasse bewirken, ohne dass die Zusatzlasten hoch wären (20–40 Prozent des 1 RM). Dies stellt noch einmal infrage, inwieweit der mechanische Stimulus wirklich als die wichtigste Determinante für Hypertrophie gesehen werden muss.

ZENTRALNERVÖSE ENTSCHEIDUNG

Doch um die genaue Methode geht es nicht, denn vielmehr lassen sich immer Studien finden, die gerade für Krafttrainingsnovizen positive Effekte hinsichtlich der Hypertrophie nachweisen. Wie viel muskuläre Spannung ein Mensch erzeugen kann, basiert auf einer zentralnervösen Entscheidung, die unmittelbar an die Qualität des Inputs und die Interpretation von sensorischen Informationen geknüpft ist. Der höchste Sicherheitsstatus, den das Gehirn für eine optimale Initiierung von Bewegungen benötigt, setzt sich dabei aus der Prognose über die zukünftige Situation zusammen. Wesentlich spannender wäre doch ein Zugang, der sich mit der bewegungssteuernden Instanz des Körpers, unserem Gehirn und dem zentralen Nervensystem, beschäftigt und die Frage klärt, zu welchem Zeitpunkt für wen welches Training am besten ist.

Aus neuronaler Sicht ist Kraft die erlern- und trainierbare Fähigkeit des Gehirns und des zentralen Nervensystems, im Muskel Spannung zu erzeugen. Wenn die Umwelt und die Innenwelt durch eine gute Informationsqualität aus den sensorischen Zuliefersystemen vorhersehbar sind, gelingt die Antizipation und damit auch die angestrebte Kraftentfaltung. Letztlich werden Sportler immer nur Kraft in dem Umfang entfalten können, in dem sich ihr Gehirn sicher fühlt – und zwar unabhängig von den individuellen, konditionellen und konstitutionellen anatomischen Voraussetzungen.

Das Ziel ist es also, den Krafttrainingsrahmen über einen neurozentrierten Zugang so zu gestalten, dass hypertrophe Effekte zu erwarten sind. Ein langfristiges Muskeldickenwachstum kann erreicht werden, wenn die Informationslage des Gehirns hinsichtlich sensorischer Informationen als gut eingestuft wird. Liegen beispielsweise schlechte visuelle Informationen vor, schränkt das zentrale Nervensystem die Spannungsentfaltung ein und verhindert eine progressive Steigerung des mechanischen und metabolischen Stressors über lange Zeiträume. Generell gibt es einige Hinweise auf positive Auswirkungen ausgewählter visueller Techniken insbesondere in Bezug auf Trainingsumfang, Zeiteffizienz und Belastungsintensität. Auch wenn die meisten dieser Techniken und Methoden im Vergleich zu traditionellen Ansätzen keine überlegene Hypertrophiereaktion zeigen, könnten sie eine lohnenswerte Ergänzung darstellen.

STÜTZMOTORISCHE FUNKTIONEN

Die Leistungsfähigkeit des visuellen Systems steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der stützmotorischen Funktion des Körpers, die bei sportlichen Bewegungsabläufen eine bedeutende Rolle in der Kraftentfaltung spielt und dementsprechend die potenzielle Höhe des mechanischen Stimulus mitreguliert. Neuronal sind dabei besonders der Hirnstamm und das Kleinhirn involviert, die durch die Ansteuerung der Rumpfmuskulatur und der Streckmuskeln der Extremitäten den Körper gegen die Schwerkraft aufrecht halten sowie den Kopf und den Nacken stabilisieren. Das Kleinhirn kontrolliert dabei die Stützmotorik, besonders das Körpergleichgewicht; es koordiniert die Stützmotorik mit der Zielmotorik und veranlasst Kurskorrekturen bei teilweise „fehlerhaft“ (Abweichung zwischen Istwert und Sollwert) ausgeführten Bewegungen. Im Hirnstamm ist vor allem das Mittelhirn als visuelles reflektorisches Zentrum von Bedeutung, da dort Informationen des peripheren Sehens verarbeitet werden, die für die situationsadäquate Ausrichtung und die Stabilität des Körpers im Raum zuständig sind. Zusätzlich erhält der Hirnstamm Informationen aus anderen Zentren über Muskellänge und -spannung sowie Gelenkwinkelstellung, über Hautkontakte und visuelle Eindrücke auch aus dem Gleichgewichtsorgan und von der Halsmuskulatur, die er modifiziert an die spinalen Motoneuronen weitergibt. So kontrolliert und integriert der Hirnstamm die stützmotorischen Reaktionen und ermöglicht damit erst zielgerichtete Bewegungen.

HYPERTROPHIETRAINING

Die allgemeinen Empfehlungen beinhalten:

• 3–6 Sätze

• 6–12 Wiederholungen mit kurzen Ruhepausen (60–90 s)

• moderate Belastungsintensität (60–85 Prozent des One-Repetition-Maximums (1RM))

• Steigerung des Trainingsvolumens (12–28 Sätze/Muskel/Woche)

OPTIMIERUNG DER HIRNAKTIVITÄT

Insgesamt betrachtet benötigt das visuelle Training zur Maximierung der Muskelhypertrophie Werkzeuge, mit denen die Aktivität des Mittelhirns und die des Kleinhirns gezielt optimiert werden können. Eine sehr gute Möglichkeit, dies zu erreichen, sind Augenliegestütze. Diejenigen Muskeln, die unsere Augen bei Konvergenzbewegungen führen, erhalten ihre Bewegungsbefehle aus den Kernen der Hirnnerven 3 (ziehen das Auge nach innen und oben) und 4 (ziehen das Auge nach unten). Das Kleinhirn übernimmt bei den Augenliegestützen die Koordination der muskulären Führung und wird durch diese Übung aktiviert. Zur Durchführung der Übung wird ein neutraler Stand oder eine sportspezifische Position eingenommen und mit einem Arm ein visuelles Ziel (bspw. ein Kugelschreiber mit einer deutlich erkennbaren Aufschrift) auf Höhe der Nasenwurzel aus der Armstreckung langsam zur Brücke der Nase geführt. Während der Kopf gerade in seiner Position gehalten wird, fixieren die Augen permanent das visuelle Ziel, das im Nahbereich zwar unscharf, aber nicht doppelt gesehen werden darf. Aus der Konvergenzposition wird dann das weiterhin mit den Augen fixierte visuelle Ziel wieder zurück in die Armstreckung geführt und dieser Vorgang mehrmals wiederholt.

Eine weitere Möglichkeit, Rückschlüsse auf die Funktionalität des Mittelhirns und die Aktivität

des Tractus tectospinalis, der an der Stabilität des Mittelhirns oder des Kleinhirns – und anschließend Kopfes und des Augen- und Nackenbereichs betei- die erneute Ausgangsübung (Retest). Anhand dieses ligt ist, zu ziehen, besteht im Testen von Systemen, Neuro-Assessments lässt sich überprüfen, ob die jedie im gleichen Gebiet liegen. So wird das Mittel- weilige Übung zur Aktivierung des Mittelhirns oder hirn auch bei vertikalen Augenbewegungen wie des Kleinhirns eine positive, neutrale oder negative Blicksprüngen aktiver, da die hier Auswirkung auf den Athleten hatte. involvierten Muskeln ebenfalls ih- So beurteilen Assessments nicht die re Bewegungsbefehle aus den Ker- Qualität einer Übung, sondern nur nen des Hirnnervs 3 erhalten. Zur deren Wirkung auf das Gehirn und Durchführung: Im neutralen Stand das zentrale Nervensystem des Athoder in einer sportspezifischen Po- leten zu einem konkreten Zeitpunkt. sition werden die Augen sprunghaft von einem tieferen visuellen Ziel FAZIT zu einem höheren Ziel bewegt. Der Was sind die wirklich anabolen SiWechsel erfolgt immer erst dann, gnale und was ist nur Firlefanz? wenn das fixierte visuelle Ziel weder Grundsätzlich ist sich die Literatur scharf noch deutlich erkennbar ist. darüber einig, dass die richtige MiWichtig ist auch, dass die Bewegun- schung aus Krafttrainingsvolumen gen ausschließlich von den Augen (Wiederholungszahl x Sätze) und vollzogen werden und der Nacken den für die Übungen verwendean der Bewegung nicht beteiligt ist. ten Trainingslasten der Schlüssel für Muskelhypertrophie ist. DenPERIPHERES SEHTRAINING noch: Krafttraining wird seit JahrDarüber hinaus können wir unser visuelles Reflex- zehnten durchgeführt und jede Methode hat ihre zentrum über peripheres Sehtraining fördern und so Anhängerschaft. Alles funktioniert – es gibt keine ebenfalls die Aktivität im Mittelhirn erhöhen. Hierzu starren Grenzen. Aus diesem Grund ist es unmögwird im neutralen Stand oder in einer sportspezifi- lich, ein allgemeingültiges Patentrezept oder eine schen Position ein Punkt fixiert, den die Augen wäh- allumfassende Handlungsanleitung zu geben. Die rend der Übung nicht verlassen dürfen. Der Trainer individuellen Bedürfnisse und Ziele der Athleten vasteht hinter dem Trainierenden und führt von da aus riieren – und was zu einem Zeitpunkt funktioniert seine Hand ins linke oder rechte periphere Sichtfeld hat, muss zu einem anderen Zeitpunkt nicht auch des Trainierenden. Dieser gibt eine Rückmeldung, unbedingt funktionieren. Die nachgewiesene Traisobald im peripheren Sichtfeld eine Bewegung wahr- nierbarkeit der Augenmuskulatur, des räumlichen genommen wird. Neben der Förderung des visuellen Sehvermögens und des Tiefensehvermögens legt naReflexzentrums und damit einer erhöhten Aktivie- he, mögliche individuelle Adaptationsreserven im rung des Mittelhirns lassen sich mit dieser Übung Bereich der Blickmotorik durch gezieltes Training zu auch Schwächen im peripheren Sichtfeld erkennen erschließen. Die vorgestellten Ergänzungsübungen und so gezielt trainieren. oder auch Augenrollen, Augenmuskel-Stretching,

Welche der Übungen, die zusätzlich zum Kraft- schnelle horizontale und diagonale Blicksprünge training durchgeführt werden sollen, auf Dauer hy- sowie Augenkreisen in Form einer Acht, Scharfstelpertrophe Effekte verstärken, lässt len auf Objekte in unterschiedlichen sich nicht pauschal beantworten. Entfernungen scheinen in diesem Es empfiehlt sich, sogenannte Neu- Kontext attraktive Trainingstools zu ro-Assessments durchzuführen, sein. Natürlich führt ein Training der die nach dem Prinzip Test-Retest Augen nicht unmittelbar zu einem difunktionieren und an anderer Stel- ckeren Arm und einer größeren Brust. le bereits ausführlich diskutiert Dennoch – und das sollte durch diewurden. So wird anhand einer für sen Artikel klar geworden sein – kann den Athleten vertrauten Ausgangs- das visuelle Training durch verbesserübung (Test) zunächst ein indivi- te Bewegungsprogramme und Stabilidueller Leistungsstandard gesetzt tätsgrundlagen zu einer verbesserten (z. B. die Tiefe beim Toe Touch). Im zentralnervösen Steuerung führen, Anschluss erfolgt die für den Ath- die es dem Muskel erlaubt, höhere leten zu überprüfende Übung – Spannungen aufzubauen und dembeispielsweise eine der aufgeführ- entsprechend Fortschritte im Bereich ten Übungen zur Aktivierung des der Hypertrophie zu erzielen. W

YASSIN JEBRINI

Der Sportwissenschaftler M.A. und Z-Health-Absolvent arbeitet als Neuroathletiktrainer mit Profi- und Freizeitsportlern. Zusätzlich ist er als Referent tätig und bildet Trainer in Neuroathletik aus. www.jebrini-training.de

TIM JOST

Der Masterstudent an der Deutschen Sporthochschule Köln ist als Buchautor tätig und schreibt für Jebrini Training den Newsletter und die

Beiträge auf den SocialMedia-Kanälen. www.jebrini-training.de

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