Den Bregenzerwald gibt es nicht Der Philosoph Peter Natter nimmt sich im Bregenzerwald Bücher vor und liest sie mit Blick auf seine unmittelbare Umgebung. Diesmal „Die Pest“, „Der Fremde“ und „Der Mensch in der Revolte“ von Albert Camus Nicht ganz freiwillig, aber gleichwohl willkommen war ein Ausflug in einige viel besuchte, bestens ausgebaute, und, wie es so schön großspurig heißt, weltbekannte Tourismusorte: Achensee, Seefeld, St. Anton am Arlberg und Lech ebenda. Verglichen mit diesen Destinationen ist der Bregenzerwald in der aus meiner Perspektive überaus glücklichen und noch privilegierten Lage, ein Geheimtipp zu sein – anders gesagt: verschont zu werden von der ganz großen Welt. Das Wohnen ist ein Schonen, so ungefähr heißt es beim Philosophen Martin Heidegger. Darin steckt viel Potenzial und noch mehr Mahnung. Wo der schonende Umgang mit Ressourcen gepredigt wird, könnte es in diese Richtung gehen. Natürlich gibt es den Bregenzerwald, die Frage oder vielmehr die Aufgabe ist: wie? Und vielleicht sogar ein bisschen auch: wo? Ist er auch eine Ressource? Nicht mehr? Was tut not? Nur Schonung? Wo so vehement für Vielfalt und Diversität gefochten wird, darf auch eine Stimme zu Wort kommen, die anders oder einfach nur eigen ist: eigenartig, eigenwillig, eigentlich. Ich spreche nicht unbedingt von der meinigen. Nicht nur, weil ich lieber zuhöre als rede, aber auch. So bin ich wieder in meinem Bregenzerwälder Refugium, mit mir ein Buch: Albert Camus, Tagebuch 1935 – 1951. „Eine einzige Stunde frei sein! / Frei, fern!“, wie Ingeborg Bachmann dichtet, fern dem Trubel, der Animation, der Eventwelt, oder: „Wer vermag zu sagen: 26 · reisemagazin bregenzerwald
ich habe acht vollkommene Tage erlebt.“ Diesen bedenkenswerten Satz vertraut Albert Camus (1913–1960) im Sommer 1941 seinem Tagebuch an, und er zitiert Fjodor Dostojewski: „Wahrhaft leben wir nur ein paar Stunden unseres Lebens.“ Immer wieder lese ich in diesem Tagebuch, einer faszinierenden Sammlung von Reflexionen, Erzählungen, Fragen, Notizen eines Philosophen, der sehr gut wusste, dass „die Philosophien so viel wert [sind] wie die Philosophen. Je größer der Mensch, desto wahrer seine Philosophie.“ Damit
will Camus zum Ausdruck bringen, welche Größe zählt: Es ist der Mensch – bewusst im Singular. Das Leben des Albert Camus war unruhig, schwierig, kompliziert. Von der Kindheit in Algerien in einfachsten Verhältnissen, dem frühen Tod des Vaters im Ersten Weltkrieg, bis zum Engagement Camus’ in der Résistance und zu seinen großen literarischen Erfolgen „Die Pest“ (1947; und in der Pandemie wieder ein Renner), „Der Fremde“ (1942) und „Der Mensch in der Revolte“ (1951) sowie tiefgreifenden