60 JAHRE
R A U M F Ü R I N S P I R AT I O N
next generation mutig, phantasievoll, visionär – wie wir morgen leben werden
KNOW-HOW So gelingt jeder Dachgarten HOTSPOT Designreise nach Leipzig
Italian Masterpieces Come Together sofa designed by Ludovica + Roberto Palomba Arabesque armchair + ottoman designed by Kensaku Oshiro Ilary low table designed by Jean-Marie Massaud poltronafrau.com
Coverfoto: George Messaritakis; Porträt: Matthias Haslauer
AUS DER REDAKTIO
n wir morgen leben? Während ich über diese Frage grübele, sitze ich im New Yorker Hotel Nomad am Broadway und schaue auf Hochhausfassaden. Vielleicht gibt es keinen besseren Ort, um über Zukunft nachzudenken, vielleicht auch keinen schlechteren: Ich habe ein Zimmer im vierten Stock, die Morgensonne erlebe ich nur an den heller leuchtenden neoklassizistischen Backstein-Hochhauswänden gegenüber, Sunset ist (im April) irgendwann gegen 15 Uhr, wenn der Feuerball sein einstündiges Intermezzo zwischen zwei 90er-Jahre-Wohnsilos abrupt beendet. Bis Mitte des Jahrhunderts wird auf dem Planeten Wohnraum für zusätzlich 2,6 Milliarden Menschen benötigt, überwiegend in Städten. In New York erlebt man hautnah, was das bedeutet: Ein bis dato ungekannter Bauboom hat die Stadt ergriffen, in atemberaubendem Tempo versinkt die alte, nach 9/11 eh kaum gelernte Skyline, zwischen Condominium-Towern rund um die Billionaires Row an der 57. Straße. Projekte wie der 435-Meter-Wohntower 111 West 57 (111w57. com) vermitteln ein Gefühl dessen, was auf uns zukommt: Mit einem Höhen-Breiten-Verhältnis von 1:24 wird der im Herbst fertiggestellte Bau neben der berühmten Steinway-Hall das schlankeste Gebäude der Welt. Wer die immer längeren Schatten im Central Park kennt, weiß, dass diese Entwicklung nicht nur zu begrüßen ist. Dennoch: Wir werden auch in Deutschland nicht um eine Antwort herumkommen, warum unsere Städte eigentlich nicht mehr wachsen dürfen – und das bei epochalen Verschiebungen der Gesellschaft: Die Entwicklung weg von der Kernfamilie hin zu temporären Lebensgemeinschaften wird den Druck auf die Städte erhöhen, denn sowohl jüngere als auch ältere Singles schätzen die realen sozialen Netzwerke, die sie auf dem Land immer weniger vorfinden. Die Zahl der Einpersonenhaushalte hat sich seit 1987 fast verdoppelt. Dieser Trend führt dazu, dass die Bevölkerung insgesamt mehr Wohnfläche beansprucht; ein Single braucht heute schon circa ein Drittel mehr als ein Zweipersonenhaushalt. Jeder bewohnte Quadratmeter Fläche in Gebäuden wird beleuchtet, beheizt, möbliert, muss gereinigt und instand gehalten werden. Dies führt zu erhöhtem Energie- und Ressourcenverbrauch. Eine Herausforderung, auch gestalterischer Natur: Denn je mehr Städte das soziale Umfeld mit definieren, umso mehr werden wir Flächen für Parks, Begegnungsstätten und Lebensraum im sozialen Sinne benötigen. In hoch mobilen Gesellschaften verschärfen Hotelprojekte, die ebenfalls boomen, das Ganze. Eine erste Lösung könnten Wohnraum-Sharingmodelle sein. Ich habe mich mit 45 Jahren entschieden, sowohl meinen Hamburger wie auch meinen Münchner Wohnraum (welch ein Luxus, ich weiß) mit mir vertrauten Menschen zu teilen. Was sich für mich wie ein aufregendes Abenteuer anfühlt, ist für meine neuen Mitbewohner übrigens ganz „easy“. In diesem Sinne eine entspannte Lektüre unserer Next-Generation-Ausgabe.
Für WolkenKratzer und Subwaysurfer
Die Kollektion Studioline in der Farbwelt Shine. Find your style.
Hochwertige Home-Accessoires aus Rohleder-Markenstoffen. Hautfreundlich und aus Deutschland. In höchster Qualität von Hand gefertigt. Erhältlich im ausgewählten Fachhandel, unserem Online-Shop und auf www.ambiendo.de
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AW Architektur&Wohnen
INHALT
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Gebrauchte Bauteile wiederverwerten: Das Petralona House in Athen (Point Supreme) steht für neues Denken
88
Haucht einem Haus, das Geschichte atmet, neues Leben ein: Marie Aigner liebt Kunst – und hat Humor
176
Auf geht’s! Unter der Rubrik „Zimmerservice“ stellen wir ab jetzt HotelHighlights vor
52
Vor und zurück: Schaukelstühle vom Feinsten. Hier der „Tip Ton“ von Vitra
6
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Das Parente’sche Prinzip: „Eleganz ist ein Mix aus Anmut und Respektlosigkeit“
3/2019
50 Sie spielen mit starken Farben und klaren Formen: Jef De Brabander, und Kathleen Opdenacker aus Antwerpen
Next Generation
108 Kopfkino à la Nouvelle Vague
12 Wie wir morgen leben werden
In einem Pariser Pied-à-Terre setzt Interior Desi-
Ob Großstadtdschungel oder Wüstenplanet:
gner Rodolphe Parente neue Akzente – durch
Wohnen und Arbeiten rüsten sich für die
kühne Brüche und eine Prise Respektlosigkeit
Zukunft – und die hat bereits begonnen
118 Wer wohnt denn da? Möbel, Bücher, Kunst. Zeder vorm Fenster, Misch-
Design & Handwerk 30 A Family Affair
pult im Wohnzimmer. Unsere Kolumnistin folgert: Hier lebt ein libanesischer DJ. Ob da mal nicht Klischees den Blick verstellen …
Der englische Möbelhersteller Ercol schreibt seine Erfolgsgeschichte fort, bewahrt Altes und wagt Neues. Eine Visite in der Provinz 36 Meisterstück Die Tischlerin Hendrike Farenholtz hat einen Regalschrank gebaut. Der Renaissancemaler Antonello da Messina stand dabei Pate 39 Von der Skizze zum Objekt Das Berliner Haus Bastian von David
Architektur & Raum 128 Die wilden Zeichen-Künstler Eine junge Generation kreativer Schweizer macht in der Baukunst gerade, was sie will – und das ziemlich gut 138 Raumkonzepte
Chipperfield gelangt per Schenkung in neue
Haus der offenen Türen. Das G-Lab in
Hände – und erfährt eine neue Nutzung
Brügge von Innenarchitekt Tom Callebaut ist
40 Uhren-Kolumne
vor allem eines: ein Ort der Begegnung
Diesmal: die „Max Bill Automatic“ und die
162 Dem (Design-) Himmel so nah: die Leipziger Versöhnungskirche von Hans Heinrich Grotjahn
100 Pool-Position in Neapel: ein Bau aus dem 18. Jahrhundert mit Blick aufs Meer
AW Architektur&Wohnen
Fotos: George Messaritakis; Sorin Morar; Robertino Nikolic; Luca Meneghel; Stephan Julliard; Nathalie Krag/Living Inside
„Max Bill Chronoscope“ von Junghans 42 Lessons for Future
Garten & Landschaft
In Londons berühmter Hochschule für Kunst
146 Paradies auf doppeltem Boden
und Design steht die Lust am Experiment
Dachterrassen machen unsere Städte grüner.
weit oben auf dem Lehrplan. Wir waren dort
Die Landschaftsarchitektin Andrea Keidel hat
50 Notizen
sich auf das Gärtnern mit Gefäßen spezialisiert
62 Designer von Sinnen
156 Ruf der Wildnis
Der junge Pariser Gestalter Pierre Charrié
Pflanzen sind die Helden unserer Zeit,
arbeitet mit Klängen und Düften –
findet die junge englische Gärtnerin Sophie
und gibt so dem Unsichtbaren Gestalt
Walker. Ein Porträt
68 Designtalente Drei neue Kandidaten für den Kaldewei Future Award by Architektur & Wohnen 72 Andere Ton-Art Die neuen Vasen sind Ultra-Individualisten. Jede überraschend anders . Und alle wahre Performance-Künstler 80 „Gott steckt im Detail“ Die Traditionsfirma Knoll frischt ihre Bestseller auf – und fährt eine neue Strategie
Reise & Inspiration 162 Mehr Mut zum Übermut Leipzig ist ein bisschen größenwahnsinnig – und dabei unsagbar charmant. Wo sonst werden zum Beispiel Wolken im Labor gezüchtet? 172 Bienvenue dans le futur Ein Luxus-Mobil, selbstfahrend und zu 100 Prozent elektrisch: Renaults neues Roboterkonzept „EZ Ultimo“. Vive la création!
Wohnen & Stil 88 Wer sagt denn, dass Knallrot Krach macht?
176 Zimmerservice Diesmal: Seehotel Ambach, Kalterer See
Ein Denkmal wie die Münchner Diesel-Villa zu bewohnen, ist eine Herausforderung. Der
RUBRIKEN
Architektin Marie Aigner macht es sichtbar Spaß
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Editorial
100 Neapolitanische Metamorphosen
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Contributors
Ein architektonisches Juwel am Golfo di
10 Impressum
Napoli – Baumeister Giuliano Andrea dell’Uva
38 Bücher
verbindet hier Tradition und Moderne
178 Kolumne
7
CONTRIBUTORS MEIKE WINNEMUTH Wer pflanzt denn da? Die Auflösung des Rätsels: unsere Kolumnistin! Ein kleines eigenes Grundstück an der Ostsee wurde für sie zum Experimentierfeld und Erfahrungsraum. Dort hat sie, die ihr Leben lang in der Welt unterwegs war, Wurzeln geschlagen. In einer Hütte mit Holzofen, mit Fiete, ihrem Foxterrier. Ein Jahr hat sie geackert, gebuddelt, geerntet. Erfahrung? Hatte sie nahezu keine. Da war nur die Lust zu suchen, was man auf dem eigenen Stück Garten so finden kann. Ein berührendes Tagebuch ist daraus geworden. Man freut sich mit Meike, wenn sie Schnecken vertreibt, futtert mit ihr Unmengen selbst gezogener Radieschen, Kartoffeln und Tomaten, vertieft sich in Stauden-Latein, meuchelt auch mal eine Rose. Aber letztlich geht es um Geduld, ums Ankommen, um Heimat und um die Erkenntnis: Es geht immer weiter – im Garten wie im Leben. „Aus-Lese“: „Bin im Garten. Ein Jahr wachsen und wachsen lassen“ (Penguin Verlag).
8
SANDRA GOT T WALD Gut gestaltete Räume sind für diese Frau nicht nur schnöde Theorie. Die Autorin, die u. a. für „Vogue“, „AD“, „Alps“ und „Capital“ arbeitet, legt gern selbst Hand an. Zum Beispiel beim Ausbau des eigenen Häuschens. Und wo steht das? In Mönchengladbach! Kleine Frage am Rande: Warum zieht man von München nun ausgerechnet dorthin? „Wegen der Nähe zu den BeneluxLändern“, erklärt Sandra Gottwald. Denn dort gehe man viel freier mit Architektur um. Den Beweis liefert sie in diesem Heft: mit dem visionären Raumkonzept des Innenarchitekten Tom Callebaut in Brügge (Seite 100).
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Foto: Felix Amsel
JOSEPHINE GREVER Eine Aachenerin verschlägt es nach London. Seit 40 Jahren lebt die gelernte Sozialpädagogin in der britischen Hauptstadt und kennt jede gesellschaftliche Ecke, von – bis. Sie hat u. a. für „Feinschmecker“, „Geo“, „Geo Saison“, „Madame“, „Elle“, „Elle Decoration“ geschrieben und Reisebücher für Polyglott und den ADAC verfasst. An London schätzt sie diese gewisse Laissez-faireAttitüde. In dem aufstrebenden Ex-Scherbenviertel King’s Cross hat Josephine für uns die dortige Art School besucht und beschrieben, was aufstrebende Kreative dort so alles lernen und ausprobieren (Seite 42). By the way: 1987 hat sie durch AW ihren Mann, den Maler und Möbel-Designer Willie Landels, kennengelernt. Was beweist: Wir können nicht nur Hefte machen…
mit
Ausgabe 3/2019, Mai–Juni, Erstverkaufstag dieser Ausgabe ist der 7.5.2019 AW erscheint zweimonatlich in der JAHRESZEITEN VERLAG GmbH, Harvestehuder Weg 42, D-20149 Hamburg Telefon +49(0)40/27 17-0 (Zentrale), -36 19 (Redaktion), Fax -20 73 E-Mail: redaktion@awmagazin.de Redaktionsmitglieder direkt: vorname.nachname@awmagazin.de Verlagsmitarbeiter: vorname.nachname@jalag.de · ISSN 0171-7928 www.awmagazin.de Chefredakteur: Jörn Kengelbach (v.i.S.d.P.) Art Director: André M. Wyst (fr.) Creative Director: Nina Lang (fr.) Leitende Redakteure: Dr. Elke von Radziewsky (Antiquitäten/Garten/Handwerk/Wohnen) Jan van Rossem (Architektur/Design/Reise/Wohnen) Textchefin: Annette Hohberg (fr.) Leitung Bildredaktion: Elgin Schultz Editor-at-Large: Ralf Eibl (fr.) Leitender Redaktionsmanager: Bartosz Plaksa Assistentin Chefredaktion: Inge Winterhalter Schlussredaktion: Schlussredaktion.de Freie Mitarbeiter: Thomas Edelmann, Martin Tschechne, Meike Winnemuth, Katrin Kaldenberg, Antje Steinke Vertrieb: DPV Deutscher Pressevertrieb GmbH, Postfach 57 04 12, 22773 Hamburg, www.dpv-vertriebsservice.de Abonnementbestellung: DPV Deutscher Pressevertrieb GmbH, Tel. 040/21 03 13 71, Fax 040/21 03 13 72, E-Mail: leserservice-jalag@dpv.de. Ein Jahresabonnement von AW kostet 55,80 € inkl. MwSt. bei Versand innerhalb Deutschlands, für die Schweiz sfr 102,00, bei Versand mit Normalpost ins übrige Ausland 60,30 € inkl. Versandkosten. Studenten, Schüler und Auszubildende zahlen gegen Nachweis im Inland 27,90 €, im Ausland 30,30 €/sfr 51,00. Eine Ausgabe verpasst? Einzelheftbestellungen gerne an sonderversand@jalag.de, tel. bei unserem Info-Service unter +49(0)40/27 17–1110, Fax -1120. Bitte Heftnummer und Erscheinungsjahr angeben. Preis pro Heft: 8,90 € (inkl. 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Sabine Rethmeier Objektleitung: Rose Sieberns Leitung Eventmarketing: Kenny Machaczek Marketing Consultant: Alexander Grzegorzewski Gesamtvertriebsleitung: Jörg-Michael Westerkamp Abo-Vertriebsleitung: Christa Balcke Vermarktung: BM Brand Media GmbH, Harvestehuder Weg 45, 20149 Hamburg, Tel. 040/27 17-1200, Fax -43 43, www.bm-brandmedia.de Geschäftsführung: Helma Spieker, Hilleken Zeineddine Anzeigenstruktur: Corinna Plambeck-Rose , Tel. 040/27 17-2237 Ihre Ansprechpartner vor Ort Region Nord, Jörg Slama, T +49 40 22859 2992, E joerg.slama@bm-brandmedia.de Region West/Mitte, Michael Thiemann, T +49 40 22859 2996, E michael.thiemann@bm-brandmedia.de Region Südwest, Marco Janssen, T +49 40 22859 2997, E marco.janssen@bm-brandmedia.de Region Süd, Andrea Tappert, T +49 40 22859 2998, E andrea.tappert@bm-brandmedia.de Repräsentanzen Ausland: Belgien, Niederlande & Luxemburg Mediawire International, Telefon +31/651/48 01 08, Fax +31/35/5 33 59 85, info@mediawire.nl Frankreich & Monaco Affinity Media, Telefon +33/1/53 89 50 00, Fax +33/1/53 05 94 04, l.briggs@affinity-media.fr Großbritannien & Irland Mercury Publicity, Telefon +44/20/76 11 19 00, stefanie@mercury-publicity.com Italien Media & Service International srl, Telefon +39/02/48 00 61 93, Fax +39/02/48 19 32 74, info@it-mediaservice.com Schweiz Affinity-PrimeMEDIA Ltd, Telefon +41/21/7 81 08 50, Fax +41/21/7 81 08 51, info@affinity-primemedia.ch, Österreich Michael Thiemann, Telefon +49 40 22859 2996, michael.thiemann@bm-brandmedia.de Skandinavien International Media Sales, Telefon +47/55/92 51 92, Fax +47/55/92 51 90, fgisdahl@mediasales.no Spanien & Portugal K. Media, Telefon +34/91/7 02 34 84, Fax +34/91/7 02 34 85, info@kmedianet.es Diese Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge, Abbildungen, Entwürfe und Pläne sowie die Darstellung der Ideen sind urheberrechtlich geschützt. Mit Ausnahme der gesetzlich zugelassenen Fälle ist eine Verwertung einschl. des Nachdrucks ohne schriftliche Einwilligung des Verlages strafbar. Für unverlangt eingesandte Texte und Bildmaterial übernehmen wir keine Haftung. Eine Rücksendung erfolgt nur, wenn ein adressierter, frankierter Umschlag beiliegt. Zurzeit gilt Anzeigenpreisliste 8a, gültig ab 1.1.2018. AW Architektur&Wohnen ist im Zeitschriftenhandel und in allen Verkaufsstellen des Bahnhofsbuchhandels erhältlich. Bei Nichtlieferung ohne Verschulden des Verlages oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen den Verlag. Der Preis des Einzelheftes beträgt 8,90 € inkl. MwSt. Im Lesezirkel darf AW nur mit Verlagsgenehmigung geführt werden. Dies gilt auch für den Export und Vertrieb im Ausland. Repro: K+R Medien GmbH, Darmstadt, Druck: Firmengruppe APPL, echter druck GmbH, Senefelderstraße 3–11, 86650 Wemding Architektur & Wohnen (USPS no 0012434) is published bi-monthly by JAHRESZEITEN VERLAG GMBH. Subscription price for USA is $ 73 per annum. K.O.P.: German Language Pub., 153 S Dean St, Englewood NJ 07631. Periodicals postage is paid at Englewood NJ 07631 and additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: Architektur & Wohnen, GLP, PO Box 9868, Englewood NJ 07631. Urheber- und Reproduktionsrechte: © VG Bild-Kunst, Bonn 2019: S. 6, 91: Joan Miró (Gemälde); S. 6, 109: Jean Royère (Kerzenständer); S. 7, 50: Jef De Brabander („Urban Shape", „Form“, Nortstudio); S. 15: SelgasCano („Plasencia Conference Center“); S. 40: Max Bill (Drahtobjekt); S. 56: Ralph Fleck (Berlin 2, Sozialpalast); S. 89: Thomas Ruff (Fotoarbeiten); Jean-Luc Moerman („Kate Moss“); Tom Wesselmann („Monica Nude with Matisse“); S. 92: Mike Kelley (Objekt); S. 93, 99: Teng Fei („Blumenübung“); S. 95: Günther Förg („Ohne Titel“); S.101, 104, 107: Le Corbusier, Pierre Jeanneret, Charlotte Perriand (Sofa „LC3“, Cassina); S. 101: Le Corbusier, Pierre Jeanneret, Charlotte Perriand (Stuhl „LC7“, Cassina); S. 103: Jean Prouvé („Potence“, Vitra); S. 104: Charlotte Perriand (Beistelltisch „Petalo“, Cassina); S. 105: Marzia Migliora („Ohne Titel“); S. 106: Sergio Fermariello (Gemälde); S. 118: Alex Katz („Ada with Sunglasses“); Isamu Noguchi (Sofa „Freeform“, Vitra); S. 120: Frank Stella (Gemälde); Frank Roth (Gemälde); Jean Prouvé (Sessel, Vitra); S. 121, 125: Judith Lauand (Gemälde); S. 121,123: Jean Prouvé (Tisch „Trazepe“, Stühle „Standard“, Vitra); S. 123: Salvador Dali (Stuhl „Leda“, BD Barcelona); Tom Wesselmann (Gemälde); S. 124, 125: Allan D’Arcangelo (Gemälde); S. 166: Josef Albers (Fenster); S. 168: Oscar Niemeyer (Kugel)
EIN UNTERNEHMEN DER GANSKE VERLAGSGRUPPE
Weitere Titel der JAHRESZEITEN VERLAG GmbH: COUNTRY, DER FEINSCHMECKER, FOODIE, LAFER, MERIAN, PRINZ, ROBB REPORT, WEIN GOURMET
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TITELTHEMA
palmen im himmel singapur Das Luxushotel Parkroyal on Pickering mitten in Singapur verleiht dem Begriff Großstadtdschungel gleich eine ganz andere Bedeutung. Das 16 Stockwerke hohe und insgesamt 15 000 Quadratmeter umfassende Gebäude mit seiner organischen, wellenförmigen Fassade ist üppig begrünt. Innen erscheinen die hohen Räume eher konventionell, ähnlich anderen luxuriösen Herbergen. Zudem nagt der Zahn der Zeit schon unübersehbar an manchen Gebäudeteilen. So anmutig in die Höhe gestapelte Bepflanzungen auch wirken – wie nachhaltig diese Bauweise für die Zukunft ist, wird sich wahrscheinlich erst nach einem Jahrzehnt sagen lassen. Entwurf: Architekturbüro WOHA/Singapur, eröffnet 2013
next generation TEXT
manuela van rossem
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Foto: Lucas Foglia/Human Nature, Nazraeli Press
Ob abgehoben oder abgetaucht, Großstadtdschungel oder Wüstenplanet – Leben und Arbeiten werden fit gemacht für die Zukunft. Sie hat bereits begonnen
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AW Architektur&Wohnen
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TITELTHEMA
futter bei die fische lindesnes
Fotos: Ivar Kvaal (2); Iwan Baan
Schlicht „Under“ heißt Europas erstes Unterwasser-Restaurant in Südnorwegen. An die 40 Gäste können fünf Meter unter dem Meeresspiegel speisen. Was? Natürlich Meeresfrüchte! Wie ein Monolith ragt der obere Teil des Restaurants an der felsigen Küste aus der Nordsee. Rau geht es hier zu, wenn bei Seegang die Wellen an das Gebäude branden. Die Panoramascheibe verleiht dem Speiseraum Aquariums-Atmosphäre. Unter die normalen Zaungäste wie Dorsche und Seelachse mischen sich mit etwas Glück auch kleine Haie und große Robben. Ein bisschen nachhelfen muss man der Natur allerdings schon: Durch Licht unter Wasser lockt man die Meeresbewohner an. Entwurf: Snøhetta, eröffnet: 2019
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Wie ein überdimensionierter Diamant, der gerade vom Himmel gefallen ist, wirkt das Plasencia Conference Center in der spanischen Region Extremadura. Als Verbindung zwischen dem städtischen Raum und der Natur scheint es – fast schwebend – sein Eigenleben zu führen. Eine Hülle aus ETFE, transparenten Polymeren mit hoher Energieeffizienz und großer Widerstandsfähigkeit, ist die „Haut“, die „Knochen“ sind das Gerüst aus Metall. Das Gebäude hat nur wenig Bodenhaftung, ist so konzipiert, dass es nicht viel Fläche braucht; der Großteil der Konstruktion ist freitragend. Die Eingangshalle schimmert durch ihre orangefarbenen Waben-SandwichPlatten bis nach draußen und wirkt wie das Herz eines unbekannten Wesens. Innen spiegelt die Leichtbauweise die äußere Landschaft wider. Die Grenzen scheinen fließend. Entwurf: SelgasCano/Madrid, fertiggestellt: 2017
ein haus aus haut und knochen plasencia AW Architektur&Wohnen
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TITELTHEMA
was von anderen übrig blieb athen
Fotos: George Messaritakis; James Mollison
Wie sehr Tradition und Mythologie auch die eigene Architektur beeinflussen, zeigt das Petralona House des griechischen Büros Point Supreme. Konstantinos Pantazis und Marianna Rentzou haben aus einem typischen Athener Einfamilienhaus ein modernes Zuhause geschaffen – unter Verwendung gebrauchter Bauteile wie Türen, Fenster und Treppengeländer, die sie vom Müll gerettet haben. Zusammen mit zeitgenössischem Sichtbeton und einer von antiker Vasenmalerei inspirierten Wanddekoration ist ein mutig zusammengewürfeltes Gebäude entstanden. In jedem Fall ein Eyecatcher! Entwurf: Point Supreme/ Athen, fertiggestellt: 2016
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AW Architektur&Wohnen
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TITELTHEMA
Fotos: DBOX for CIM Group/Macklowe Properties; Hayes Davidson; SpaceX
Schwindelerregend hoch ist der Wohnturm „432 Park Avenue“ in New York. Atemraubend der Blick über die (restliche) Stadt und den Central Park. 104 Wohnungen auf 88 Etagen! Dieser Tower der Extraklasse aus Stahlbeton, Glas und Stein ist 426 Meter hoch. Errichtet auf nur 28 x 28 Metern Grundfläche ragt der schlanke Turm ohne jede Bauplastik in den Himmel. Um dem Wind möglichst wenig Angriffs-fläche zu bieten, sind fünfmal auf die Länge verteilt jeweils zwei Stockwerke für den Durchzug geschaffen worden. Der Tower wird nicht allein bleiben. Noch ein paar Meter höher wird das Haus „111 West 57“ von Shop Architects sein. Entwurf „432 Park Avenue“: Rafael Viñoly Architects New York, SLCE Architects, New York, eröffnet: 2016
dem himmel so nah new york 18
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mars macht mobil galaxie
Landschaft endet nicht auf der Erde! g war gestern, heute e Urban gardening b ratschlagen La be L ndschaftsarc r hitekt k en wie der Au ralier Thomas Go ooch h mit ei r el e zahl von Industrie i firm men n Vil illlage f Konferenzen der Moon Association über die e nac altige e s edlung der Planeten. Ein si ine e Utopie, die durch wieder ere ein nset etzbare R umfähren der Firma SpaceX mer Ra wahrscheinlicher gem ht wird. Hier: ein Start Ende Febru ruar 20119. Über Schutzräume in d unwirtlichen A mosphäre des At e Mars chte ch te die i d nisc s he Firma Saga Space e nach und nu utzzt fliegend de Lö Löwe w nz n a nssaa a t al as Vo orb d r W hn aps p el e n. Mit Koh hle l ase se er - F ä äd d n so s len e Dan ande deli l on ns Sh h l ers i c e Ele e iz i itätt aus us der s aub ubig gen n tm sp ph hä äre r des ess Plane ete en er e nte t . office e the h rss aces co he om asa aga sp p ce
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TITELTHEMA
morgen beginnt jetzt
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Fotos: Theo Cohen (2)
in Keller voller Spinnen – für Arachnophobiker eine Horrorvorstellung. Für Tomás Saraceno dagegen eine Welt voller Wunder. Im Untergeschoss seines Berliner Ateliers hält der Argentinier unzählige dieser Tierchen. Aus rein wissenschaftlichem Interesse. Ihn fasziniert ihre Fähigkeit des Netzbaus. Spinnen sind Meisterinnen darin, ihre Arbeit ist effizient, ressourcenschonend und wahrhaft ästhetisch. Prädestiniert als Vorbild für die Architektur von morgen. Saracenos Studien fließen in großformatige, oft begehbare Skulpturen, die der Künstler als Ausdruck der Vision eines zukünftigen Lebens betrachtet, in dem wir nicht mehr die Erde bewohnen, sondern dauerhaft den Luftraum erobern. Es kann kein Zufall sein, dass auch der Architekturprofessor Achim Menges im Keller seines Arbeitsplatzes Spinnen beobachtet. Die For-
schungsarbeit des Visionärs am Stuttgarter Institut für Computational Design and Construction befasst sich mit der Konvergenz von technologischen Prozessen und natürlichen Systemen. Sein Beispiel: die Wasserspinne. Sie bettet zuerst eine Luftblase unter Wasser in ein Stütznetz, um sie dann von innen her mit Fasern so auszukleiden, dass sie darin leben kann. Übertragen auf die Architektur eines Pavillons bedeutet das: Die Fähigkeit der Spinne, die Statik von Netz und Luftblase zu „berechnen“, bildung übernimmt der Computer, für die straße london den man zuvor mit Daten Zentrales Element von „The gefüttert hat. Basierend Stack“ ist eine Bibliothek – mit auf Algorithmen verwebt Werken wie den Visionen eines ein 3-D-Drucker weiche William Morris, den AbenCarbonfasern an den Wän- teuern des Sherlock Holmes und den Dystopien von JG Balden einer durchsichtigen lard. Um all jene Bücher, die Membran so, dass sie, sich mit dem Leben in London sobald sie ausgehärtet sind, beschäftigen, gruppieren sich eine stabile und belastbare die anderen Funktionsräume Form annehmen. Die wirk- dieses Mini-Living-Projekts, wie liche Innovation erklärt Schlafen, Kochen, Essen. Bei der Idee, die anlässlich Menges so: „Die Maschine des London Design Festivals arbeitet nicht mehr nach vorgestellt wurde, geht es den Vorgaben des Architek- darum, Bibliotheken als Magaten. Vielmehr sammelt sie zine des Wissens möglichst Informationen aus der Um- jedermann überall zugänglich zu machen. Entwurf: Sam welt und passt ihre Arbeit Jacob Studio/London, 2017 an deren Bedingungen an.“ Die Suche nach zukunftsfähigen Lösungen basiert auf der Prognose, dass bis zur Mitte unseres Jahrhunderts weltweit zusätzlicher Wohnraum für 2,6 Milliarden Menschen gebraucht wird. Die Bauwirtschaft aber stagniert, die üblichen Ressourcen sind endlich. Viel Energie fließt in die Forschung zu innovativen Materialien wie Graphen, Carbon- und Glasfasern, neuen Verbundwerkstoffen und Materialien, die sich unter bestimmen Bedingungen selbst zu Strukturen organisieren. Führend ist das MIT (Massachusetts Institute of Technology), das in seinem Self-Assembly Lab mit dem 4-D-Druck experimentiert. Am Beispiel von Polymeren, die aus
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SITZSYSTEM ALEXANDER
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DESIGN RODOLFO DORDONI
ENTDECKEN SIE MEHR BEI MINOTTI.COM/ALEXANDER
B E R L I N BY HERRENDORF, LIETZENBURGER STR. 99 - T. 030 755 4204 56 M Ü N C H E N BY EGETEMEIER WOHNKULTUR, OSKAR VON MILLER RING 1 - T. 089 55 27 32 510 AUCH BEI ANDEREN AUTORISIERTEN HÄNDLERN UND IN ANDEREN STÄDTEN. PLZ 0/1/2/3/4/5 HANDELSAGENTUR STOLLENWERK - T. 0221 2828259 - TIM.STOLLENWERK@WEB.DE
TITELTHEMA Four Streets retten sie Häuser vor dem Verfall und bieten durch kluge Raumnutzungskonzepte zahlreichen Bewohnern einen lebenswerten Ort und eine Perspektive. Wie das städtische Leben in der Zukunft aussehen kann, veranschaulichen die Schweizer mit ihrem Projekt Kalkbreite. Auf dem Gelände einer alten Tram-Abstellanlage mitten in Zürich baut
selbstversorgung im hochhaus: der küchengarten über den wolken
gleichen oder unterschiedlichen Bausteinen zusammengesetzt sein können, testen die Wissenschaftler Materialien – etwa für MöNoch ist er eine Utopie, dieser bel –, die sich selbst zusammenbauen. Doch Entwurf eines Hochhauses aus bei aller Begeisterung für die neuen MögSchichtholz-Dreiecken. Der lichkeiten: Selbst der gängigere 3-D-Druck Gedanke dahinter: Die Bewohner sollen ihr eigenes hat noch seine Tücken. Die viel beachtete Gemüse anbauen, nicht nur, um Brücke des Niederländers Joris Laarman aus sich selbst zu versorgen und dem 3-D-Drucker überspannt noch immer dadurch nachhaltiger zu leben. keine Amsterdamer Gracht. Vielmehr geht es dem Während die einen in Laboren und an österreichischem Architekten– Hochleistungsrechnern nach der Zukunft paar Chris und Fei Precht um die Erdung der Großstadt– suchen, reagieren Künstlerkollektive und bewohner, die jeglichen engagierte Bürger bereits in zahlreichen LänKontakt zur Natur verloren dern auf Raummangel und gesichtslose Trahaben. Entwurf: Penda, bantenstädte. Ihr Imperativ lautet: Erhalten! Pfarrwerfen/Deutschland 2018 In jeder Metropole gibt es Areale, die, weil Industrie oder Bewohner abgewandert sind, brachliegen. Stadtverwaltung und Wirtschaft streiten hier meist um den Grad zukünftiger Gentrifizierung, Aktivisten dagegen nehmen das Heft in die Hand. Sie gründen Gemeinschaften und gestalten den Raum. Wie im Falle des Liverpooler Viertels Granby
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die gleichnamige Genossenschaft ein neues Stück Stadt auf über 6000 Quadratmetern. Es umfasst öffentliche Bereiche und private Rückzugsorte – dabei beziehen die Initiatoren auch den Wandel von der Kernfamilie zu temporären Lebensgemeinschaften ein. In einem beispielhaft partizipativen Prozess entsteht hier ein visionäres Lebensmodell für eine Gemeinschaft, das nachhaltig auf Flexibilität und Modularität angelegt ist. Großgeschrieben wird das Teilen: Räume, die ein Bewohner nicht dauerhaft nutzt, wie Gästezimmer und Büro, stellt er zwischenzeitlich anderen zur Verfügung. 3/2019
Fotos: www.precht.at (2)
grüner wird’s nicht pfarrwerfen
TITELTHEMA
kreativität von maschinen
brücke in die zukunft amsterdam
Dass Jeans als Fast-FashionProdukt eine der größten Umweltsünder im Textilbereich ist, weiß mittlerweile (fast) jeder. Um dem ein wenig entgegenzuwirken, verarbeitet die junge Neuseeländerin Sophie Rowley die Verschnitte aus den Fabriken zu Möbeln. In ihrer Arbeit „Bahia Denim“ schichtet sie die Stoffe aufeinander und verklebt sie miteinander. Dadurch entsteht der reizvolle Marmoreffekt. Ungeklärt bleibt aber: Wie werden die Objekte später entsorgt? Oder recycelt? Denn endlich sind auch sie. Entwurf: Sophie Rowley, Berlin, 2017
Zwei Roboter, die autark ein Ufer mit dem anderen verbinden? Klingt nach Science-Fiction. Ist es auch. Noch. Joris Laarmans Brücke aus dem 3-D-Drucker steht zwar bereits ausgedruckt in einer Amsterdamer Lagerhalle, noch aber wird getestet, ob sie zukünftigen Belastungen durch Radfahrer und Fußgänger auch standhält. Nach vielen Testläufen und Materialproben waren vier Metalldrucker unter Aufsicht am Werk, die das auf 1500 Grad Celsius erhitzte Material verarbeitet haben. Entwurf: Joris Laarman, Amsterdam und MX3D, 2015
Foto: Joris Laarman for MX3D
und materia a li en
ein blaues wunder berlin
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TITELTHEMA Ressourcen schonen, „die eigene Tradition und damit Identität bewahren“ – das ist auch dem jungen Athener Architektenbüro Point Der „Hubba-To Working and Supreme wichtig. Immer wieder verbauen Artisan Space“ in Bangkok sie Materialen, die sie auf Müllhalden und bietet auf knapp 1000 QuadRecyclinghöfen finden. Der fantasievolle ratmetern neben Büroflächen und einer großen Küche Umgang mit den unterschiedlichen FundAteliers, Werkstätten, Dunkelstücken verleiht ihren Häusern eine ganz kammern und Präsentationseigene Poesie. Über allem aber steht ein flächen – die kreative Szene Grundgedanke: Effiziente Raumnutzung steht Schlange. Türkisfarbene in Metropolen – ob in herkömmlicher BauLeitungen lassen den Raum wie eine Platine wirken. weise oder als spektakuläre Architektur mit Entwurf: Supermachine Studio, innovativen Baustoffen – kann nicht heißen, Bangkok, 2016. legebatterieähnliche Behausungen zu schafDer Schalterraum der ehemalifen. Seit Jahrzehnten arbeitet der Däne Jan gen Grand Montreal Bank ist Gehl daran, wie menschenwürdige Lösungen heute ein Co-Working-Space aussehen könnten und setzt sein Prinzip des der Edelklasse. Die einzelnen Raumkompartimente des „Human Scale“ mittlerweile global um. Gehls „Crew Collective“ sind umsichtig Forderung: „Den Menschen wieder zum Maß in die ehrwürdige Architektur der Dinge machen“. Konkret bedeutet das: von 1926 integriert worden. Straßen nicht als Autobahnen wie SchneiEntwurf: Henri Cleinge, sen durch Wohngebiete ziehen, sondern als Montreal, 2016 Kommunikationswege wiederentdecken – als Spielplätze, als Verkehrszonen für Fußgänger und Radfahrer, als Treffpunkt für Menschen. Das andere große Thema, das Stadtplaner und Architekten, Designer und Künstler umtreibt, ist das Klima. Wie kühlen wir in Zukunft unsere Metropolen? Wie verbessern wir die Luftqualität? Die Natur muss wieder in die City, so weit, so klar – doch wohin, wenn Raum knapp ist? Lösungsansätze könnte die Hortictecture bieten, eine Sparte, die aus
neue räume für moderne arbeitsnomaden der Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen hervorgegangen ist. Natur aufs Dach und an die Fassade – das stellt Planer nicht nur vor konstruktive und gestalterische Herausforderungen, sondern auch vor biologische, klimatische und geoökologische. Wie muss eine an sich statische Architektur auf die Dynamik einer wachsenden und sich verändernden Natur reagieren? Können üppig bepflanzte Wohntürme eine Möglichkeit sein? Stefano Boeris „Bosco Verticale“ in Mailand hat schon viele Ableger, den jüngsten in Tirana. Doch wie tragfähig ist diese Variante? Müssen neue Baustoffe so beschaffen sein, dass sie Pflanzen ein möglichst naturähnliches Habitat bieten – indem sie Wasser speichern, Sonne regulieren und sogar Nährstoffe produzieren? Wer weiß, ob nicht auch dafür die Natur schon längst Vorbilder bereithält, die wir nur finden müssen – so wie im Fall der Spinnen. –
Foto: Wison Tungthunya
bürojobs anders definiert bangkok. montreal
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Design& Handwerk FORMFRAGEN Zerknautscht, schrundig und bekleckert, manchmal technoid: Studiokeramik heute erzählt Geschichten, abstrahiert Bilder. „Dendrocopos major“, Buntspecht, nennt die Leipzigerin Elke Sada die Vase in den Gefiederfarben des Vogels (2200 Euro). Scarlet Berner beruft sich mit ihrem Dreifüßer „Wuthering II“ auf Emily Brontës Sturmhöhe (1400 Euro). Und vielleicht kann man in den Plateauvasen von Claire Maria Lehmann und Iben Harboe etwas von Kiefernzapfen ausmachen (70 Euro).
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Foto: Andreas Achmann
S.
AW Architektur&Wohnen
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WERKSTATTBESUCH
A FAMILY Aair TEXT
jan van rossem
FOTOS
robertino nikolic
Wer an Hersteller von MĂśbeln denkt, wird nicht unbedingt England im Sinn haben. Und wer an Design denkt, nicht dort in der tiefsten Provinz suchen. Ein Fehler. Unweit von London schreibt Ercol mit genau dieser Kombination Erfolgsgeschichte
Linke Seite: Spaß muss sein – in einer der Lackierkammern demonstriert Firmenchef Henri Tadros britischen Humor und ein bisschen Nationalstolz. Diese Seite: Eines der neueren Modelle ist der „Flow Chair“ der Designerin Tomoko Azumi
der Möbelindustrie Großbritanniens. Wie im Rest der Welt hat sie sich dort angesiedelt, wo viel Wald, also Holz zu finden ist. Und außerdem: So weit weg vom Rest der Welt liegt man hier ja auch wieder nicht. Es ist schließlich nur eine gute Stunde nach London – wenn die Züge fahren. Die eleganten Design-Wurzeln des Unternehmens sind allerdings nicht in dieser beschaulichen englischen Provinz zu finden, sondern in Italien. 1888 wird in der Nähe des Städtchens Urbino in den Marken südlich der Toskana ein gewisser Lucian Ercolani geboren. Sein
„WIR HATTEN SCHON GANZE FAMILIEN AUF EINMAL BEI UNS“ HENRI
atürlich wird, wer den Londoner Bahnhof St Pancras für eine gut einstündige rumpelige Zugfahrt in leicht nordwestlicher Richtung verlässt, damit rechnen, in the middle of nowhere zu landen. Wer dann in Princes Risborough aussteigt, einem Ort, der nur mit fortgeschrittenem englischen Zungenschlag flüssig artikulierbar ist, wird dennoch in mehrfacher Hinsicht überrascht sein. Erstens weil ein öffentliches Verkehrsmittel sich kurz vor Oxford die Mühe macht, einen regulären Stopp einzulegen. Die übeaschaubare Ansammlung von
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Häusern macht eine solche Maßnahme nicht unbedingt zwingend. Zweitens weil es hier mal eine Bahnhofsgaststätte gab. Die Überflüssigkeit dieser Institution hat wohl auch der ehemalige Betreiber vor ziemlich langer Zeit eingesehen und seine Konsequenz mittels endgültiger Schließung gezogen – obwohl Pubs auf der Insel doch eigentlich eine sichere Bank sind. Und drittens weil ausgerechnet von hier angesagtes englisches Möbeldesign stammen soll. Das tut es aber. Typisch englische Kauzigkeit, könnte man meinen. Aber es ist quasi die natürliche Heimat
TADROS
Vater ist Rahmenbauer. Er beliefert unter anderem die Uffizien in Florenz. Trotzdem siedelt die Familie mit dem damals achtjährigen Lucian nach London über. Gestaltung und die Arbeit mit Holz scheint Ercolani im Blut zu liegen. 1920 gründet er eine Möbelmanufaktur, der er seinen – entitalianisierten – Namen gibt. Der wirtschaftliche Erfolg stellt sich schnell ein. Ercol setzt auf brauchbares, gut verarbeitetes Mobiliar. Damit macht man sich einen Namen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als England im wahrsten Sinne dringend wieder aufgemöbelt werden muss, die finanziellen Mittel aber knapp sind, bittet die Regierung Ercolani um ein mittleres Wunder. Einen Stuhl für jedermann, den sich auch jedermann leisten kann. Nach kurzer Bedenkzeit und einem knappen Jahr Entwicklung für neue Maschinen präsentiert der Firmenchef den „50 Pence Chair“. In Zeiten, als ein guter Stuhl zehn Pfund kostete. Das Unternehmen wächst stetig und schnell. Zeitweise sind 800 Mitarbeiter angestellt, „bevor CNC-Maschinen die Arbeit präziser und rationeller übernommen haben“, sagt Henri Tadros, 31, seit 2011 in der Firma und seit Kurzem in 31
WERKSTATTBESUCH leitender Funktion tätig. Er ist die vierte Generation. Vater Edward ist als Chairman noch mit wachsamen Augen dabei. Ercol versteht sich als Familienbetrieb – in mehrfacher Hinsicht. „Es gibt Mitarbeiter, die seit 53 Jahren hier tätig sind“, berichtet Tadros stolz. Die haben auch 2002 den Umzug nach Princes Risborough mitgemacht, in die modernen Werkshallen. „Es kommt nicht selten vor, dass wir mehrere Familienmitglieder gleichzeitig beschäftigen“, freut sich der junge Firmenchef über deren intensive
Verbundenheit mit seinem Unternehmen. Stellen werden oft quasi von Generation zu Generation weitergegeben. Natürlich nicht in offizieller Erbfolge. Heute arbeiten in Princes Risborough rund 200 Mitarbeiter an zahlreichen Modellen, die zum Großteil für den traditionell geprägten britischen Markt ausgelegt sind. „Seit knapp zehn Jahren wendet sich Ercol allerdings auch stärker internationalen Absatzmöglichkeiten zu“, berichtet Tadros und dementiert nicht, dass dieser Stra-
tegiewechsel unter anderem mit ihm zu tun haben könnte. Die Kollektionen für beide Märkte sind strikt getrennt. In der Heimat nimmt man bei Ercol eher auf solider, massentauglicher Ware Platz, für die international angebotenen Produkte werden arrivierte Designer engagiert. Allen voran ein alter Hase, der aus unverständlichen Gründen viel zu unbekannt ist in der Szene: Matthew Hilton. Seine Entwürfe changieren mit feinem Gespür zwischen skandinavischem Möbeldesign, englischer Bodenständigkeit
„UNSER TREUESTER MITARBEITER IST HIER SEIT 53 JAHREN BESCHÄFTIGT“ edward tadros
Input von außen: Designer wie Tomoko Azumi (l. o.) und Matthew Hilton (l. u.) steuern regelmäßig Entwürfe zur Kollektion bei. Von Hilton stammt der Tisch „Pero“ auf dieser Seite, für Azumis „Flow Chair“ bitte einmal zurückblättern
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In ihre Elementarteilchen zerlegt: oben der „Windsor Chair“ und unten der Sessel „Von“ des Isländers Hlynur V. Atlason
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Spektakulärer Farbtupfer inmitten der Werkshalle: Wenn die Lackierungen aufgetragen sind, erfolgt die Fahrt durch den Trockenofen
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Gelassene Geschäftigkeit: Gutes Handwerk braucht eben Zeit; ob in den alten Biegeformen oder beim manuellen Finish – jedem Modell wird maximale Aufmerksamkeit zuteil
„WIR SIND MODERN – UND STOLZ AUF UNSERE GESCHICHTE“ henri
tadros
und hoher Handwerkskunst. Auch die junge Japanerin Tomoko Azumi, die mit ihrem Mann, einem Sammler von moderner Kunst und historischen Fahrrädern, am östlichen Rand von London lebt, steuert mit schöner Regelmäßigkeit Modelle bei, die geprägt sind von asiatischer Konsequenz und britischem Pragmatismus. Der Plan scheint aufzugehen. Tadros sieht sich bereits in einer Liga mit erfolgreichen Marken wie Carl Hansen und
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Gubi. Und die weltweite Designszene nimmt die Firma aus der Nord-Londoner Provinz, die mit ihren Messeständen oft noch sehr britischem Understatement folgt, durchaus wahr. Bereits 2009 hatten Ercol-Stühle einen vielbeachteten Auftritt, als der Südtiroler Designer Martino Gamper im Hof des Victoria & Albert Museums anlässlich des London Design Festivals einen doppelten Triumphbogen aus 120 „Stacking Chairs“ inszenierte.
„Wir wollen den internationalen Markt erobern“, sagt Tadros, „sind aber zugleich stolz auf unsere Geschichte und zeigen das auch.“ Fester Bestandteil des Angebots auf internationaler Bühne ist daher der „Windsor Chair“, ein Modell, das ohne Metall, also ohne Schrauben auskommt. Noch wichtiger aber: Der Stuhl ist der leicht aufgefrischte Nachfolger des legendären „50 Pence Chairs“. Selbst wenn er dessen Preis heute nicht mehr ganz halten kann. – 35
HANDWERK
Das Lieblingsbild der Hamburger Tischlerin Hendrike Farenholtz ist der berühmte „Heilige „Hieronymus im Gehäus“ des Renaissancemalers Antonello da Messina. Die Schreibstube des Gelehrten steht darin frei in einem hohen mit Kacheln gepflasterten Kirchenraum. Ein Möbel wie dieses „Gehäus“ hat die Tischlerin mit dem kleinen Regalschrank aus Kirsche gebaut
1 BAUART Einfach und klösterlich soll das Schreibmöbel sein. Dafür wählt die Tischlerin die simple Brettbauweise mit Dübeln als Eckverbindungen. Sie gestaltet es transparent, um Inneres und Äußeres gleich schön zu machen.
Kontakt hendrike-farenholtz.de
2 KONSTRUKTION Innenliegende Kreuze steifen die Konstruktion von Tür und Regal aus. Einlegeböden und Kästen für Stifte lassen sich variabel einsetzen. Die Tür läuft auf Rollen.
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Text: Elke von Radziewsky; Foto: Kai-Uwe Gundlach
OBERFLÄCHE Die Farbe des Holzes „befeuert“ Hendrike Farenholtz, indem sie die Kirsche mit Leinöl behandelt, dem sie Bienenwachs und Harze beigemischt hat.
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DIE NEUE WOHNMODERNE
walterknoll.de
So wohnen wir heute: mit Möbeln, die frei sind und selbstbewusst. Poetisch. Freundlich. Klar. Die Formensprache der Moderne – jenseits aller Moden, schon immer für morgen.
Living Landscape, The Farns, Oki Table. Design: EOOS. Badawi Pillow, Legends of Carpets. Design: Helmut Scheufele.
BÜCHER HEIMSPIELE Die digitale Gesellschaft sehne Bofill sich nach Natur und Häusern, die sich zu ihr öffnen, sagt Autor Philip Jodidio, zwei Jahrzehnte lang Chefredakteur des französischen Kunstmagazin „Conaissance“. Wie es Architekten in aller Welt gelingt, mit Grundrissen Landschaften und Gärten nach drinnen zu holen, beschreibt er so anschaulich, dass man beim Blättern Baupläne schmiedet. Taschen, 456 Seiten, 50 Euro.
KÖ R P E R G E F Ü H L
ALLESKLEBER Einen „Wilden“ nannte die etablierte Szene den 1869 geborenen Franzosen Henri Matisse wegen seiner Farborgien und naiven Formen, „fauve“. Umstritten blieb der „Vater des Fauvismus“ bis zu seinem Tod 1954. Ab 1944, an den Rollstuhl gefesselt, erfindet er das Malen abermals neu: Aus mit Gouache gefärbtem Papier schneidet er Formen aus und lässt sie aufkleben. Das Buch ist Kunstband, Familienalbum und Tagebuch zugleich und macht Mut, seiner Zeit vorauszugehen. Taschen, 412 Seiten, 30 Euro.
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Text: Petra Sadowsky Fotos: Kumicak + Namslau
Mit gewagten Balanceakten wie dem Wohnturm Xanadú in Alicante (siehe Fotos) tanzt der katalanische „Erfinder der Postmoderne“ Ricardo Bofill seit den 60ern aus der Reihe der Modernisten. Was denkt er sich? Antworten von ihm und Weggefährten schärfen den Blick auf die Zeit- und Baugeschichte. Gestalten, 300 Seiten, englischer Text, 49,90 Euro.
VON der SKIZZE zum OBJEKT
Berliner Quadratur Ein Ort der Kunst wird zu einem Haus der Bildung. Als großzügiges Geschenk nun im Eigentum der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, erfährt das Haus Bastian von David Chipperfield eine neue Nutzung
Text: Jörg Zimmermann; Foto: Ioana Marinescu; Skizzen: David Chipperfield; Alexander Schwarz
Kontakt davidchipperfield.com Und: preussischer-kulturbesitz.de
DIE MUSEUMSINSEL IM BLICK Nahtlos hat David Chipperfield als Gewinner des Architekturwettbewerbs das 2007 fertiggestellte Galeriehaus Am Kupfergraben 10 in den Bestand skizziert. Der Grundriss folgt dem im 2. Weltkrieg zerstörten Vorgänger; in der Höhe nimmt der Bau mit den großformatigen Fensteröffnungen die Nachbarbebauung auf. Ein Doppelpfeil im Lageplan deutet die Blickbeziehung zum gegenüberliegenden Ufer der Museumsinsel an. Dort wird aktuell die ebenfalls von Chipperfield entworfene JamesSimon-Galerie fertiggestellt. Der Architekt sieht „Haus Bastian“ mit „direktem Bezug zum kulturellen Herzen der Stadt“. Über eine Dekade hatte Eigentümer Heiner Bastian in dem Bau mit der geschlämmten Altziegelfassade und den 5,5 Meter hohen Räumen eine Galerie und einen Kunstraum betrieben. Nach der Schenkung wird das Haus ab Sommer 2019 als Zentrum für Kulturelle Bildung der Staatlichen Museen zu Berlin genutzt werden. Eine jüngst erschienene Publikation (Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln) dokumentiert das Gebäude im Detail.
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A R C H I T E K T U R der Z E I T fig. 1
Als der Schweizer Max Bill (fig. 1) im Jahr 1956 mit Studenten der von ihm selbst entworfenen Hochschule für Gestaltung in Ulm an einer Küchenuhr (fig. 2) für Junghans arbeitete, dem damals drittgrößten Uhrenhersteller der Welt, war ihm sicher nicht bewusst, dass sich aus diesem Projekt einmal ein großer Uhrenklassiker der Nachkriegszeit entwickeln würde. Das Zitat in der Überschrift – ein Geständnis des berühmten Gestalters – lässt allerdings erahnen, dass die heute nach ihm benannte und 1961 eingeführte Armbanduhr des Schwarzwälder Unternehmens kein Zufallsprodukt ist. Es stammt aus dem Buch „Funktion und Funktionalismus“, das vor elf Jahren im Benteli Verlag erschienen ist und eine aufschlussreiche Sammlung zwischen 1945 und 1988 verfasster Schriften zum Lebensthema des Schweizers beinhaltet: die gute Form. Im Kapitel „Erfahrung mit Uhren“ begründet Bill diese Leidenschaft folgendermaßen: „Das muss daher kommen, dass einer meiner Großväter Uhrmacher war und wir zu Hause schöne alte Uhren hatten, die mein Vater sorgfältig pflegte und regulierte. Zwei dieser Uhren waren mir von Kind auf besonders lieb: eine Wanduhr und eine Taschenuhr.“ Er gesteht, dass er, wann immer er Uhren begegnete, diese mit den beiden „Urbildern“ seiner Kindheit verglich, einer Industrie-Wanduhr, wie man sie aus Fabriken kannte, und einer Viertelstundenrepetitionsuhr, deren Schlagwerk ihm sein Vater gelegentlich vorführte. Im Weiteren beschreibt Bill darin ebenso amüsant wie scharfzüngig, dass der Uhrenhersteller, dem Bills Skulpturen aufgefallen waren, ursprünglich eine Schmuckuhr im Sinn hatte. Ein solches „Saisonblümchen“ war nun so gar nicht nach dem Geschmack dieses Mannes. Max Bill zog den Entwurf einer „Idealuhr“, wie er es nannte, aus einer seiner Schubladen. Wie groß der Wurf war, zeigt sich besonders beeindruckend im 100. Jahr des Bauhauses, rund 25 Jahre nach Max Bills Tod. Denn wenn in diesem Jahr verständlicherweise viele Hersteller an die Wurzeln der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückerinnern – Max Bills Uhren dürften wohl als einzige das Label „echt Bauhaus“ tragen. Gerade einmal 18-jährig reist der Schweizer im Frühling 1927 nach 40
fig. 3
1000-MAL 100 : Anlässlich des 100. Bauhaus-Jubiläums legt Junghans
1000 Exemplare der „Max Bill Automatic“ auf. Den Glasboden der Uhr ziert die Glasfassade in Dessau mit der berühmten mennigroten Tür. Im gleichen Farbton ist die Datumsscheibe gehalten. Preis: 1225 Euro. Noch exklusiver ist die Weißgoldvariante des Max-Bill-Chronographen, von dem es lediglich 100 Exemplare geben wird. Die „Max Bill Chronoscope“ ist erst die zweite Golduhr in dieser Serie und noch strenger limitiert als das Modell von 2011 anlässlich des 150. Junghans-Jubiläums. Preis: 7950 Euro.
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Fotos: Max, Binia + Jakob Bill Stiftung; Kai-Uwe Gundlach
„Ich habe eine Schwäche FÜR UHREN“
Dessau, nachdem er erfahren hatte, dass Walter Gropius dort, in einem von ihm errichteten Gebäude, die Schule des Bauhauses fortführte. Er bemüht sich um die Einschreibung in eine Architekturklasse, muss dann allerdings erst mal den Grundkurs von Josef Albers und Lázló Moholy-Nagy besuchen. Die beiden limitierten Uhren, die Junghans anlässlich des großen Jubiläums seiner Lehranstalt herausbringt, halten auf der Rückseite einen wichtigen Lebensmoment dieses Mannes fest: Im Buch „Max Bill am Bauhaus“ beschreibt sein Sohn Jakob den Augenblick, in dem Bill das erste Mal der berühmten Fassade gegenüberstand, als „Etwas Niedagewesenes“ (fig. 3). Heute stehen Junghans-Uhren fast synonym für Design von Max Bill. Mit dessen Modellen führte die Schwarzwälder Unternehmerfamilie fig. 2 Steim zusammen mit deren Geschäftsführer Matthias Stotz den Hersteller aus dem Konkurs, extrem behutsam wird Bills Erbe gehütet: Im letzten Jahr erschien erstmals eine Funkuhr im reduzierten Bill-Look, natürlich ohne gestalterische Kompromisse. Jörn Kengelbach
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LESSONS for FUTURE Lucian Freud, Stella McCartney und Alexander McQueen waren Alumni in Central Saint Martins, die Sex Pistols hatten hier ihren ersten Auftritt. Heute experimentiert man in Londons Hochschule fĂźr Kunst und Design mit Werkstoffen wie Algen, Seetang und Lachshaut und macht Stiefel aus Kaugummi text
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josephine grever
fotos
gregor hohenberg
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in Sommertag in Granary Square, dem Herzstück des jüngst zu neuem Leben erwachten Stadtviertels King’s Cross, gleich hinter dem gleichnamigen Bahnhof und der St. Pancras Station. In der Mitte tanzen Fontänen. Mitarbeiter der umliegenden Büros sitzen mit ihren Lunchboxen unter schattigen Linden. Und Studenten von Central Saint Martins, der Hochschule für Kunst und
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Design, stehen vor dem „Ruby Violet Ice Cream Parlour“ Schlange. Mit Wundern ist das so eine Sache, aber die Veränderung dieses Quartiers nordöstlich des Londoner Zentrums kommt einem solchen gleich: War es Mitte des 19. Jahrhunderts wichtiger Verkehrsknotenpunkt und Warenumschlagplatz einer blühenden Industrienation, ging es nach dem Zweiten Weltkrieg unaufhaltsam mit ihm bergab.
Noch vor zehn Jahren stand King’s Cross für Verfall, Prostitution, Drogen – bis Investoren und namhafte Architekten begannen, sich für die Gegend zu interessieren. Neue Bauten entstanden. Alte Lokschuppen, Bahnviadukte, Güterhallen, Gasometer wurden umgestaltet. Büros, Luxuswohnungen, Läden, Cafés, Restaurants beleben heute das Viertel. Und seit Central Saint Martins (CSM) 2011 in einen ehemaligen Getreidespei-
Das 19. Jahrhundert trifft auf die Zukunft: Im ehemaligen Getreidespeicher von 1852 wurde einst Mehl für Londons Bäcker aufbewahrt. Heute können hier 4500 Studenten aus aller Welt ihren Bachelor oder Master machen. Das Architekturbüro Stanton Williams entwarf einen Neubau aus Sichtbeton und Glas, der eine harmonische Brücke zum alten Komplex schlägt
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SCHULBESUCH Stoff für neue Narrative: Die Abteilung Textildesign spielt eine große Rolle und umfasst die Fachrichtungen Druck, Stricken und Weben. In den Webwerkstätten gibt es 60 Webstühle aller Art, darunter der hochmoderne computerisierte JacquardWebstuhl, der komplexe Muster produzieren kann
cher umsiedelte, ist die weltberühmte Talentschmiede der große Star des reanimierten Quartiers. Ein genialer Schachzug, vom bisherigen, räumlich begrenzten Standort in der Charing Cross Road hierher zu ziehen, denn das CSM ist die ebenso perfekte wie genial-kreative Mischung aus Geschichte und Gegenwart. „Durchaus logisch“, meint Anne Marr, eine aus Hamburg stammende Professorin, verantwortlich für die Studiengänge Schmuck- und
Textildesign. „Früher wurden an diesem Ort Getreidesäcke für Londons Bäcker aufbewahrt. Heute handeln wir hier mit der Ware Wissen.“ Das CSM als Ideenbörse – ein in vielerlei Hinsicht treffender Gedanke. Der historische Bau aus rotem Backstein, 1852 von Lewis Cubitt, dem Architekten von King’s Cross Station, entworfen, wurde teilweise erhalten und bildet heute die Hauptfront des Ganzen. Für die Erweiterung schuf das Londoner Architekturbüro Stanton Williams einen Neubau aus Sichtbeton und Glas, der sich an den alten Komplex schmiegt. Eine zentrale „Straße“ führt als überdachtes Atrium und eine Art Mittelschiff durchs gesamte Gebäude und teilt es praktisch in zwei Hälften. Hier trifft man sich, hier wird Tischtennis gespielt und Kaffee getrunken, es sei denn, die „Street“ wird gerade für die jährlichen Abschluss-Mo44
„STUDIERENDE WERDEN ERMUTIGT, IHRER FANTASIE FREIEN LAUF ZU LASSEN“
ANNE MARR
deschauen und Ausstellungen genutzt. In den Seitenflügeln sind auf fünf Stockwerken die einzelnen Studienbereiche untergebracht: Kunst, Mode, Kultur und Enterprise, Schmuck- und Textil-, Produkt-, Keramik- und Industriedesign, Kommunikation, Architektur, Drama, Performance. Darüber hinaus finden sich dort Vorlesungssäle, Seminarräume, ein Theater, die Bibliothek, eine Galerie sowie Büros. Am CSM können 4500 Studenten ihren Bachelor oder Master machen. Das Kollegium besteht aus rund 3/2019
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SCHULBESUCH den Druckbereich. „Textildesign hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Es geht nicht nur um Mode. Wir entwickeln Textilien im allerweitesten Sinne, etwa für Flugzeug-Interieurs. Materialien wie Kork werden von uns recycelt. Und wir recherchieren, mit welchen Werkstoffen sich nachhaltig arbeiten lässt.“ Die 52-Jährige ist seit 2008 Mitglied der Fakultät und unter anderem Kursleiterin des Bachelor-Studiengangs „Textile Design“. Wenn sie über Algen, Seetang und Foodreste wie Lachshaut redet, wirkt ihr Enthusiasmus schnell ansteckend. „Unser Studiengang geht über Stofflichkeit hinaus“, schwärmt sie. Das sei total spannend. Wovon man sich an Ort und Stelle dann auch gleich überzeugen kann: Die Gummistiefel aus Kaugummi, die in der Bibliothek ausgestellt sind, sehen wirklich wunderbar aus – und beweisen, dass man aus Abfallprodukten Neues und Gutes schaffen kann. „Wir entwickeln ökologische und ökonomische Designs und progressive Herstellungsweisen, unter anderem mithilfe afrikanischer Kunsthandwerker“, bestätigt sie. „Jede Kultur ist mit Textilien eng verbunden. Im Seminar sind wir experimentell, man könnte auch sagen verspielt. In Deutschland ist man da funktioneller.“
„WIR ENTWICKELN ÖKOLOGISCHE UND ÖKONOMISCHE DESIGNS“
1000 Lehrkräften. Seit sieben Jahren ist Architekt Jeremy Till der Dekan. Durch die Erweiterung konnten alle Studiengänge unter einem Dach vereint werden. „Dies hat das Miteinander sehr gefördert“, bemerkt Anne Marr, als sie durch ihre Abteilung im dritten Stock führt. „Studierende und Lehrkräfte der verschiedenen Bereiche arbeiten gemeinsam oder tauschen Ideen aus.“ Sie zeigt uns die Weberei, die Stickerei, 46
ANNE MARR
Für zukunftsorientiertes Denken war das heutige CSM von Beginn an bekannt. Seine Geschichte wurzelt in der Arts-andCrafts-Bewegung des 19. Jahrhunderts – und damit in der Reformbewegung der Kunstschulerziehung: Die Idee, das „Making“, also die physische Dimension des Machens, in die Lehre von Kunst und Design einzubinden, war revolutionär. Der Name „Central Saint Martins“ entstand 1989 aus der „Central School of Art & Design“ (gegründet 1896) und der „St. Martin’s School of Art“ (gegründet 1854). Progressives Denken bewies die Akademie zudem durch die Zulassung von Frauen zum Studium. Bereits 1901 wurde die 1842 entstandene „Royal Female School of Arts“ integriert. 3/2019
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Magnetwirkung: Granary Square vor Central Saint Martins ist das Zentrum des neuen Viertels. In der Mitte tanzen 1080 beleuchtete Wasserfontänen, ein Design der in Kent ansässigen Firma „The Fountain Workshop”. Der Clou: Man weiß nie, wann und wo es gleich hochsprudelt – ein Gratisvergnügen, das auch Londoner aus weiter entfernten Stadtteilen anlockt. Linke Seite: Eine Studentin arbeitet an Schnittmustern (o.). An den Strickmaschinen wird mit Mustern und unterschiedlich dicken Garnen experimentiert (u.)
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SCHULBESUCH In den 60er-Jahren stellt dann eine neue Riege von Bildhauern, darunter Anthony Caro und Eduardo Paolozzi, traditionelle Materialien und das Objekt an sich infrage. Zu weiteren berühmten Alumni zählen die Künstler Frank Auerbach, Lucien Freud, Gilbert & George. Modedesigner wie John Galliano, Alexander McQueen und Stella McCartney machen bei ihren Abschlusskollektionen mit frechen Entwürfen von sich reden. Und der erste Auftritt der Sex Pistols findet am 6. November 1975 in einem kleinen Raum im Obergeschoss des St. Martins College statt. Bassist Glen Matlock ist damals als
Student dort eingeschrieben, was die Genehmigung für den ungewöhnlichen Auftritt erklärt. Heute gehört das CSM zu den sechs Hochschulen der „University of the Arts“, die 2004 den Status einer unabhängigen Universität erhalten hat. Eine ihrer tragenden Säulen ist Internationalität. „65 Prozent unserer Studenten sind britisch oder europäisch, der Rest kommt aus aller Welt. Auch das Kollegium ist sehr europäisch“, sagt Anne Marr. „Wir waren die ersten, die am Tag nach dem Brexit-Referendum vor der Downing Street protestiert haben.“ Für sie ist London ein kreativer
„Im ersten Jahr werden alle Bereiche ausprobiert”, sagt Professorin Anne Marr, 52, die seit 2008 im CSM arbeitet. Sie ist Programmleiterin für die BA-Studiengänge Schmuckdesign und Textildesign, die MA-Abschlüsse Material Futures und Biodesign und Kursleiterin für BA Textildesign. Rechts: Ein Student beim Siebdruck (o.) und ein Versuch mit Plastik (u.)
Drehpunkt, der nie an Anziehungskraft verlieren wird. Was mag sie am meisten hier? „Man nimmt sich nicht so ernst. Die eigenen Vorurteile werden immer wieder hinterfragt.“ Kurzes Nachdenken. „Und da ist der Humor, über sich selbst lachen zu können. Nichts in dieser Stadt ist wirklich perfekt.“ – 48
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IM RASTER DER GROSSSTADT Er kommt vom Industriedesign, sie ist in der Grafik zu Hause. Was Jef De Brabander und Kathleen Opdenacker aus Antwerpen gemeinsam entwerfen, gibt solche Wurzeln zu erkennen – und hat doch eine ganz neue, putzmuntere Dimension: Die Bank „Urban Shapes“ zum Beispiel, Aluminium und Stahlgitter, greift urbane Muster und Strukturen auf, übersetzt sie in starke Farben und klare Grundformen. Und macht sich prima auch im Stadtpark. 7013 Euro, limitiert auf 99 Exemplare. nortstudio.be
Sawaru ist ein Verb, aber man nähert sich ihm am besten durch Adjektive an: zärtlich, sinnlich, sanft. Sawaru heißt streicheln, berühren – und Nendo, A&W-Designer des Jahres 2019, hat den Namen für seine betörend einfache, dabei unverschämt raffinierte Bodenlampe klug gewählt: Sawaru lässt sich dimmen, in der Lichttemperatur variieren und in drei Positionen feststellen. Aber immer wirft sie ein tastendes Licht auf das, was mit Blicken zu berühren ist. Ab ca. 800 Euro. flos.com
DIE MODERNE DENKT VORWÄRTS Zwei Jahre lang waren sie wegen Renovierung geschlossen, jetzt bewähren sich das Haus Lange (Foto, Eingang) und das Haus Esters in Krefeld, entworfen von Ludwig Mies van der Rohe, als Bühne für neue Konzepte. 20 Designer und Architekten präsentieren in drei Ausstellungen ihre Vorstellungen vom Leben 100 Jahre nach Gründung des Bauhauses. Sie tun das sehr zeitgemäß: utopisch, dystopisch und mobil. „Anders wohnen“, bis Januar 2020. kunstmuseenkrefeld.de
Alle Preise verstehen sich als Circapreise
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Fotos: Philippe Corthout; Delfino Sisto Legnani + Marco Cappelletti; Volker Döhne (2)
EINE LEUCHTE MIT TASTSINN
Händler unter www.next125.com
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Wipp-Loung
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Onkel Toms Hütte? Huckleberry Finn? Nichts da – Schaukellstühle sind eine Entdeckung! 1 „Orinoco“, 439 Euro. bloomingville.com 2 „Eames Plastic Armchair“, 519 Euro. vitra.com 3 „Newhaven“, 1750 Euro. garpa.de 4 „Rocking Nest“, Design: Anker Bak, ab 1595 Euro. carlhansen.com 5 „Click“, Design: Henrik Pedersen, 399 Euro. houe.com 6 „Kay High Rocking Chair“, Design: Henrik Pedersen, 2350 Euro. gloster.com 7 „Acapulco“, 539 EEuro. boqa.fr 8 „Flow“, 425 Euro. weishaeupl.de 9 „Brick 307“, Design: Paola Navone, 1939 Euro. gervasoni1882.it
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OUTDOOR COLLECTION by Marcel Wanders
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AUGEN ZU, ALLES SEHEN Sie lockt ihr Publikum in ungekannte Tiefen und lässt sich selbst in glühender Lava versinken: In ihren Raum- und Videoinstallationen erkundet die Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist Sphären voll sinnlich-fließender Farbigkeit. Zu ihrer ersten Einzelschau im Louisiana Museum in Humlebæk montierte sie über 40 Soft-Cell-Akustikpaneele des dänischen Stoffspezialisten Kvadrat zu einer spektakulären Reise in die Bilderwelt auf der Rückseite des Augenlids. Bis 23. Juni 2019. louisiana.dk
Maisgelb? Wie arm die Erde doch gewordenn ist! Bevor der Anbau durch Chemikalien standardisiert wurde, war der Mais in Mexiko rot, schwarz, violett oder rosa. Fernando Laposse ließ die alten Sorten wieder anpflanzen, verarbeitete die Deckblätter zu farbigem Furnier – und mahnt mit seinenn Lampen und Vasen zu mehr Respekt vor der Natur. fernandolaposse.com
HÄNGT EIN RÄTSEL AN DER WAND
Ist das eine Skulptur? Oder eher ein Regal? Der Designer Taidgh O’Neill lässt sich nicht gern festlegen. „Mich interessiert es, Dinge gebrochen und zugleich stabil in dieser Gebrochenheit aussehen zu lassen“, sagt er. Na also. Wer mag, stellt was drauf. Oder bewundert einfach das Objekt. Eiche oder Nussbaum, ab ca. 1149 Euro. classicon.com
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Fotos: Poul Buchard/Louisiana Museum of Modern Art; Elias Hassos
DIE WELT HAT VIELE FARBEN
A D V E R T O R I A L
WOHNBÜHNEN mit PRESTIGE Das Traditionsunternehmen RALF SCHMITZ verfeinert den Glanz bewährter Formensprachen um die Komfortansprüche von heute Premiu ium m in Perfek r ktion enttste tehht im fein nen Hamburg-N en ed en
as diese Firma baut, das verweigert sich kurzlebigem Zeitgeschmack. Elegante Fassaden, deren Ästhetik lange Bestand hat, sind Vorzeichen für die großzügigen Grundrisse dahinter. Frische Interpretationen bewährter Stildetails aus Gründerzeit und Art déco durch renommierte Architekten prägen den Charakter aller RALF SCHMITZGebäude: Klassik neu definiert. Die Qualität der einzigartigen Immobilien zeigt sich auch beim Umsetzen der Entwürfe. Das 1864 begründete Familienunternehmen, heute an vier Standorten aktiv, steht für repräsentative Foyers und Treppenhäuser, luxuriöse Aufzüge und edle Bäder aus hochwertigen
Materialien, die für jedes Objekt ein individuelles Gesamtkonzept ergeben. Denn „nur Wert hat Bestand“, wie es der Firmengründer formulierte – das Leitmotiv bis heute. Ausgewählte Adressen garantieren Wertbeständigkeit für künftige Generationen. In Hamburg etwa entsteht im feinen Elbvorort Nienstedten ein gehobenes Ensemble aus einem freistehenden Haus und vier Stadtvillen von 238 bis 360 Quadratmetern. Torfbrandklinker, Erker, Sprossenfenster unter geschwungenen Mansarddächern sind Zitate hanseatischer Architektur, die sich in der Umgebung vielfach findet.
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KEMPEN · DÜSSELDORF · BERLIN · HAMBURG RALFSCHMITZ.COM
Gediegen, klassisch-elegant, dennoch komfortabel: Diese Vokabeln beschreiben die hier alteingesessene Lebensart – besonders geschätzt von Familien. Eine luxuriöse Showroom-Wohnung in Othmarschen zeigt die Baukultur der Firma. Mehr über unsere exklusiven Projekte erfahren Sie unter RALFSCHMITZ.COM
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KÜCHEN-PHILOSOPHIE FÜR FORTGESCHRITTENE Vor 90 Jahren begann August Siekmann mit Büfetts, die tatsächlich noch Griffe hatten. Schon damals wusste der Möbeltischler aus Löhne in Westfalen, dass die Küche ein besonderer Ort ist. Also setzte er auf Qualität und gute Form. Was er kaum ahnen konnte: wie sehr Kochen und Genießen später ins Zentrum rücken sollten. Also verschwanden die Griffe, aus guter Form wurde edles Design. Und heute kocht man sogar in Sydney oder Ho-Chi-Minh-Stadt in Küchen von Siematic. siematic.com
LEBENS-RÄUME Der Seelenort der Gegenwart ist die Stadt. Wie sinnlich die sein kann, wie lebenswarm und bewegt – das zeigen die Gemälde des Freiburgers Ralph Fleck. Der Ku’damm mit Gedächtniskirche (2000) und selbst der „Sozialpalast“ (2016) dokumentieren die mitreißende Lust des Malers am Umgang mit Farbe und Licht. Die Monografie mit fast 400 Abbildungen ist ein Augenschmaus. 58 Euro. modoverlag.de
NUN SCHEINT DIE SONNE JEDEN TAG
Zweimal hinschauen, kaum zu glauben – doch, doch, es ist Stroh! In der Strohmanufaktur Simone Schwarz zu einer strahlenden Sonne geflochten, geschützt von einer Glasplatte. Edle Handarbeit bis ins Detail, aber das ist bei den Bielefelder Werkstätten ja selbstverständlich. In fünf Farben, Durchmesser 60 und 90 cm, 1850 und 2450 Euro. bielefelder-werkstaetten.de
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DROP CITY BY BRETZ
ICONIC AWARD 2019 SELECTION ALEXANDER-BRETZ-STR. 2 D-55457 GENSINGEN TEL. 06727-895-0 INFO@ BRETZ.DE BRETZ.DE FLAGSHIPS: STILWERK BERLIN HOHE STR. 1 DORTMUND WILSDRUFFER STR. 9 DRESDEN STILWERK DÜSSELDORF ALTE GASSE 1 FRANKFURT STILWERK HAMBURG KAISERWILHELM-STR. 9 HAMBURG HOHENSTAUFENRING 62 KÖLN BERLINER STR. 45 LEINEFELDE-WORBIS REUD NITZER STR. 1 LEIPZIG BRÜHLSTR. 6 METZINGEN HOHENZOLLERNSTR. 100 MÜNCHEN HALLPLATZ 37 NÜRNBERG KÖNIGSBAU PASSAGEN STUTTGART SALZGRIES 2 WIEN
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ART DÉCO & ABSINTH Korallenrosa statt Plüschrot: Im Sacher brechen neue Zeiten an. Neben dem für seine Atmosphäre und die Schokotorte weltberühmten Wiener Café wagt jetzt der Salon Sacher den Sprung vorwärts ins Art déco der 1920er-Jahre. Edel und mondän, perfekt restauriert. Dazu Kaviar und ein Schlückchen Absinth – stilecht. Beinahe schon frivol … sacher.com
WASSER WIRD ZUM ERLEBNIS 4700 Schichten, jede dünn wie der Atemhauch auf einer Glasscheibe – so entsteht ein Wasserhahn im 3-D-Metalldrucker. Grohe hat das Verfahren entwickelt. Die Armatur „Allure Brilliant“ wird immer noch von Hand gebürstet und poliert: Hightech trifft auf Handwerk. Elegant und filigran. Und jedes Stück ist ein Unikat. grohe.com
Im Alltag restauriert Katrien Mestdagh Kirchenfenster ihrer flämischen Heimat. Ihr Landsmann Maarten de Ceulaer ist Designer – einer, der gern die emotionalen Qualitäten seiner Werkstoffe erkundet. Zusammengebracht hat sie das Projekt „Doppia Firma“ (doppelte Signatur) in Mailand, das im April schon zum vierten Mal die Kooperation ausgesuchter Designer mit exzellenten Handwerkern aus ganz Europa und Japan dokumentierte: grenzenlos kreativ! doppiafirma.com
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Foto: Laila Pozzo
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NEWS Wo der Fluss Li sich seinen Weg durch die Kegelberge der südchinesischen Provinz Guilin bahnt, liegt Litopia: ein Ort, der nicht von dieser Welt ist. In jeder denkbaren Dimension: anders. Das Hotel „The Other Place“ empfängt seine Gäste in Räumen wie „Maze“ oder „Dream“, in denen die Treppen des visionären Künstlers M. C. Escher zur fantastischen Realität werden. theotherplace-guilinlitopia.com
DAS HOTEL AM RANDE DER WIRKLICHKEIT
ENZYKLOPÄDIE DER STEINE Die Bibliothek umfasst zehn Bände; sie heißen Giallo Siena, Rosa Perlino, Bianco Carrara – und spätestens hier wird klar, dass die Rede von den Marmorstützen des Regals „Colonnata“ von Piero Lissoni ist. Die Bretter sind aus Eiche, Bücher können von beiden Seiten eingestellt werden. 165 cm hoch, 15 000 Euro. salvatori.it
Ob ein Cocktailsessel adlig sein kann? Muss er wohl, wenn er sich Freifrau nennt. Sebastian Herkner aus Offenbach hat seinem Modell „Ona“ alle Attribute verliehen, die edle Herkunft zu erkennen geben: vornehme Zurückhaltung, schlichte Eleganz und solide Verarbeitung. Ausbau zur Dynastie ist in Planung. Verschiedene Bezugsstoffe und Lederqualitäten; auch Loden ist eine Option. Ab 1058 Euro. freifrau.eu
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Foto: Chao Zhang (2); Gaby Gerster
EINE KLASSE FÜR SICH
What a Viu
Willkommen im Bad von morgen. Die Idee: Weiche organische Formen im Inneren treffen auf geometrisch präzise Außenkonturen. Eine Fusion der unterschiedlichsten Materialien - Keramik, Holz, Metall und Glas. Der Anspruch: Perfektion aus jeder Perspektive, Technologie für maximalen Komfort. Das Ergebnis: Viu. Design by sieger design, realisiert von Duravit. What a Viu! Noch mehr Baddesign: www.duravit.de
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DESIGN von Sinnen Was jetzt? Stehen oder gehen? Pierre Charrié wartet vor dem Bäcker auf Anweisungen des Fotografen. Immerhin hat er schon mal ganz stilecht ein Baguette in der Hand. Probiert hat er es offensichtlich bereits
Der junge Pariser Gestalter Pierre Charrié hat ein spezielles Feld für seine Arbeiten entdeckt: Objekte, die Klänge und Düfte integrieren. Seine Mission: dem Unsichtbaren Gestalt geben
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jan van rossem
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robertino nikolic
ine Konstruktion aus zusammengesteckten Abflussrohren steht im Regal des kleinen Studioraumes im elften Arrondissement. Sie sieht nicht so aus, als solle sie unter einer Spüle oder einem Waschbecken zum Einsatz kommen. „Ein erster Prototyp für mein Objekt ‚Pan‘“, sagt Pierre Charrié schmunzelnd. Er nennt es Objekt, weil die Bezeichnung „Vase“ irreführend wäre und der Begriff „Karaffe“ der Sache auch nicht wirklich gerecht würde. Es ist ein Gebilde mit einem Ausguss und einem zylindrischen Griff, der eine besondere Überraschung parat hält: Der flötenförmige Henkel besitzt, wie es sich für eine ordentliche Flöte gehört, eine Öffnung samt Labium, also jenem Teil, der beim Luftaustritt den Ton erzeugt. Der Luftstrom wird bei „Pan“ nicht durch Pusten, sondern durch hin und her schwappendes Wasser erzeugt, wenn das Objekt gefüllt, geleert oder bewegt wird. Pierre Charrié ist in seinem Element, wenn er diesen Coup erklärt. Er sitzt in der Nähe seines Ministudios im Eckbistro „L’amnésie passagère“, übersetzt „Zur vorübergehenden Amnesie“, was sich auf die Trinkgewohnheiten der Stammgäste beziehen könnte. Vor ihm steht die bestellte Plat du jour, aber er isst nicht. Es gibt viel zu erzählen. „Meine Arbeiten sollen eine sinnliche Komponente haben“, beginnt er. Eine Karaffe, die Töne von sich
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gibt. Oder Instrumente, die wie Haushaltsgegenstände aussehen. Ganz wie man will. Inspiration für sein Werk „Pan“ fand er bei Ethno-Instrumenten und präkolumbianischen Vasen, die auch Geräusche machen. „Das Objekt bekommt so eine Seele“, sagt Charrié und macht eine kleine Pause, die er schnell zur Nahrungsaufnahme nutzt. Aber eins noch, ganz wichtig: „Es geht auch um die physische Umsetzung und Interpretation von etwas Unsichtbarem, dem Sound.“
Dies sind keine Schutzschilde für den Vorsitzenden des Plenums im Rathaus des elften Arrondissements. Die leicht gebogenen, dünnen Holzplatten dienen als Lautsprecher. Kabel auf der Rückseite verbinden sie mit der Musikquelle. Der Klang? Einfach toll!
Klänge sind ein häufiges Motiv seiner Arbeiten. Pierre Charrié, geboren 1983 in Montpellier, ist geprägt durch seinen Vater. Der spielt professionell Oboe, traditionelles südfranzösisches Liedgut. Pierre liebt Musik, aber vor allem zeichnet er. Und das sehr gut. Die Kunstakademie in Nîmes ist also nach der Schule nahe liegend. „Dort habe ich aber plötzlich mein Interesse an Skulpturen,
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nicht mehr. Sollte aussehen wie ein Elektromagnet, sieht aber zu sehr aus wie eine überdimensionierte Birne“, sagt Charrié. Aber er hat einen großen Hersteller im Portfolio. Immerhin. Für einen Designer ohne allzu viele Big Names auf der Kundenliste ist Paris zu teuer. Da reicht es eben nur zu einem Ministudio. Pierre Charrié wohnt mit seiner Frau, der Textildesignerin Lily Alcaraz, und Tochter Rita, ein Jahr alt, in Montreuil, einem östlichen Vorort. „Die Fahrt hierher dauert nur 20 Minuten“, sagt er. Das ist nicht länger als um zwei Häuserblocks in Paris. In Montreuil leben viele Künstler, denen es ähnlich geht. Für den jungen Gestalter eine inspirierende Umgebung. Charriés Ideen changieren zwischen Kunst und Design, Einflüsse der holländischen Droog-DesignSchule sind unverkennbar. Sein Design will eine Geschichte erzählen – und sich gleichzeitig nützlich machen. „Die Kunst ist oft zu abgekoppelt vom Leben“, findet er. Ein wenig Magie kann der Realität umgekehrt aber auch nicht schaden.
Sinnlichkeit ist ein wichtiger Aspekt in den Arbeiten von Pierre Charrié. Bei der Ledertür steht die Haptik im Fokus, die schwingenden Straußenfedern (r.) fungieren als Parfum-Diffuser
„Die Kunst ist oft zu abgekoppelt vom Leben“ pier r e ch a r r ié
an Volumen entdeckt.“ Der Lehrer empfiehlt ein Designstudium. Charrié geht nach Paris zur École nationale supérieure de création industrielle, kurz ENSCI, und studiert vier Jahre lang Industriedesign. Für die staatliche französische Designplattform VIA entwirft er eine Lampe, die auf Luftqualität reagiert und je nach Verschmutzungsgrad Licht gibt. Ligne Roset will sie produzieren, aber es stellt sich als zu kompliziert heraus. Stattdessen einigen sie sich auf eine Bodenleuchte mit Spiegelfront. „Sie ist nicht mehr im Programm, ich mag sie auch
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„Magie“ ist übrigens ein gutes Stichwort. Mit seiner Rundbrille sieht Pierre Charrié aus wie der große Bruder von Harry Potter. Beim heutigen Treffen ist er aber gut getarnt hinter einem üppigen Vollbart. Der wird noch eine Rolle spielen. Das nächste zu fotografierende Objekt (man kann seine Werke wirklich kaum anders nennen) ist „Nuto“. Dabei handelt es sich um eine Straußenfeder an einem langen flexiblen Stil, der von einem Motor 3/2019
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Der Falttisch wurde während eines Workshops in Japan entwickelt. Die Flächen sind mit oxidierter Silberfolie bezogen. So entsteht das Farbspiel, das wie lodernde Glut aussieht
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Klangobjekte sind eine der Spezialitäten von Pierre Charrié. Auf dem Tisch: die flötenden Karaffen „Pan“. Rechte Seite: Die „Rhombes“ (o.) erzeugen je nach Form verschiedene Töne, wenn sie durch die Luft geschwungen werden. Auch der Tisch „Campane“ (u. l.) entpuppt sich als Gong. Nur die Leuchte „Pôle“ (u. r.) macht keine Geräusche
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Fotos: Robertino Nikolic (5); Baptiste Heller; Lise Gaudaire (2); Damien Arlettaz
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angetrieben wird. Die Feder wird mit Parfum bestäubt und schwingt hin und her wie in einer leichten Brise. „Eine sehr elegante Bewegung“, findet der Erschaffer und referiert kurz, wie sehr „motion“ und „emotion“ zusammenhängen – auch und gerade in seinen Ideen und seinen Werken. „Bewegung hat mit Leben zu tun.“ Und das Federwerk wieder mit etwas Unsichtbarem, das er sichtbar macht: Geruch. „Man könnte die Federn bei einem Barber Shop fürs Foto inszenieren“, schlägt Charrié vor. Ein paar Ecken weiter gebe es einen ganz neuen; sehr stylish sei der. Für die federnden Parfum-Diffuser eignet sich
die Location bei näherer Betrachtung dann aber doch nicht so gut. Aber was könnte man bloß noch in einem Barber Shop tun? Mal überlegen. Die Kolumbianer, die den Frisiersalon betreiben, sind sehr überzeugend. Ehe der getarnte Harry Potter noch gute Gegenargumente hervorzaubern kann, wird ihm eine wohltuende Sonderbehandlung zuteil – und der Bart ist Geschichte. Eine Aktion, die stellvertretend ist für das Credo des Designers, immer etwas Überraschendes tun zu wollen. Nur dass die Neugestaltung in diesem Fall ausnahmsweise an ihm durchgeführt wird. –
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TALENTE
LINDE FREYA TANGELDER
Material Girl. Ökonom Joseph Schumpeter (1883–1950) sprach von „schöpferischer Zerstörung“ – und meinte, dass der Kapitalismus unaufhörlich alte Struktur vernichte und eine neue schaffe. Heute sprechen wir von Disruption. An die Doppelgesichtigkeit von Kreativität erinnert bereits der Name des Designstudios Destroyers/Builders. Linde Freya Tangelder gründete es 2015 mit dem Landschaftsarchitekten Jo Groven. Das Brüsseler Büro legt nach eigener Aussage den Fokus auf Materialität. Die Gegenstände kennzeichne „sensorische Relevanz“. Dazu gehören Möbel, die teils limitiert über Galerien vertrieben werden. Tangelder arbeitete nach dem Studium an der Design Academy Eindhoven bei den Campana-Brüdern in São Paulo, gründete mit Cleo Maxime aus Amsterdam das Label no-made. Ihre Objekte für Destroyers/Builders haben skulpturale Qualitäten, wirken mitunter wie Mikroarchitekturen. Der „Bolder Chair“ scheint auf Betonsäulen zu ruhen. Tatsächlich verwendet die Designerin textiles Kompositmaterial und Spanplatten. Thomas Edelmann
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IST AM ENDE COSY, WAS ZUNÄCHST MASSIV WIRKT? MIT IHREN MÖBELN VERWIRRT EINE GESTALTERIN AUS BRÜSSEL UNSERE SINNE – UND DAS AUF SIMPLE WIE ERLESENE ART 1
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Fotos: Alexander Popelier (2); Chris Tonnesen
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1 Der Stuhl „Bolder Chair” ruht auf Säulen aus textilem Kompositmaterial. 2 Die Holzstruktur des Hockers „Bolder Seat“ ist mit Alpaka, Mohair oder Wolle bezogen. 3 „Horn Variations“ heißen mehrfach lackierte Holzmöbel. 4 Das schmale „Archetyping Daybed“ wirkt wie eine Skulptur aus Stein. Tatsächlich besteht es aus Spanholz mit regelmäßig gefrästen Vertiefungen
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1 Sessel „Oblong” (2018, Northern). 2 Beistelltisch „Pig“ aus Aluminium (2018, mx object). In einer Metallhandlung hatte Tsai ineinandergesteckte Aluminiumrohre entdeckt, die er zu einer Art überdimensionalem Sparschwein mit Ablage und Stauraum verwandelte. 3 Tischchen „Insert“ aus massivem Eschenholz (2018, Ferm living) – mit stabiler Basis und schwebender ovaler Platte
MARIO TSAI ALS KIND SCHUF ER AUS DEM, WAS ER VORFAND, BRAUCHBARES. HEUTE ENTWICKELT DER CHINESISCHE DESIGNER MIT NAHEZU UNFASSBARER ENERGIE MÖBEL – AUCH FÜR EUROPA
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Der Marathon-Mann. Aufgewachsen in der ländlichen Provinz Hubei, lebt und arbeitet Mario Tsai heute in der Neun-Millionen-Metropole Hangzhou. Er begann zunächst, an der Forestry University in Peking Architektur und Industrial Design zu studieren, bald wechselte er zur Möbelgestaltung. Nach dem Studium arbeitete er kurz in einer Möbelfabrik. Arbeitslos geworden, suchte er mit seinem Bruder nach dem idealen Standort für einen Kunstgewerbeladen. In der Dajing-Gasse in Hangzhou wurden sie fündig. Mario entwarf die Ausstattung. Für eine Messe in Schanghai baute er fünf Möbel in drei Wochen selbst. 2014 gründete er sein Designbüro, 2015 wurde er zur „Ambiente“ nach Frankfurt eingeladen; Ausstellungen und Auszeichnungen in Mailand, London, Stockholm folgten. Heute arbeite er 16 Stunden täglich, sagt er. Daher könne er so viele neue Produkte entwickeln. Anders als die europäischen Kollegen verschwende er keine Zeit fürs Kaffeetrinken und Essen. Tsai reicht etwas Tee. Seine Auftraggeber sitzen in China, Italien, Dänemark, Norwegen. Ferm Living und Northern sind die bekanntesten Marken, für die er entwirft. Thomas Edelmann
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TALENTE 1 Sessel „Arch Chair” (2017, Favius) mit Sitz aus im Fass gegerbtem Rindsleder. 2 Steh- und Leseleuchte „Cinétique“ (2017, Ligne Roset) mit ausbalancierten Armen, inspiriert von Alexander Calder. 3 Stuhl „Friday“ (2017, Fést), individuell gefertigt, mit oder ohne Armlehne. 4 Wanduhr „Mirror Clock“ (2017, Ligne Roset) vergrößert mit ihrer Doppelfunktion den Raum
MARTIN HIRTH WAS UNTERSCHEIDET DEN
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JUNGEN DEUTSCHEN VON VIELEN SEINER ZEITGENOSSEN? NEBEN LEICHTIGKEIT UND ELEGANZ DENKT ER AUCH AN FUNKTIONALITÄT 1
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Foto: Clemens Mayer
Der Multitasker. Er stammt aus Horb am Neckar, ging nach Offenbach am Main, um Produktdesign an der dortigen Hochschule für Gestaltung (HfG) zu studieren. 2011 bis 2014 war Martin Hirth Assistent des bekannten Offenbacher Designers Sebastian Herkner. Bereits während des Studiums begann er, selbstständig zu arbeiten – und hatte so längst vor seinem Abschluss an der HfG 2014 fundierte praktische Erfahrungen. Er nahm an Ausstellungen und Messen teil und erhielt erste Auszeichnungen. Inzwischen bietet er ein breites Portfolio: von Möbeln über Accessoires bis zu Leuchten und Teppichen. Zu seinen Auftraggebern gehören bekannte Marken wie Ligne Roset, Roche Bobois, Schönbuch, Tecta, aber auch neue Labels wie Favius, Fést, Vonbox. Seine Entwürfe überschreibt er mit „Leichtigkeit der Form“ und „konzeptioneller Stringenz“. Herausragend ist sein „Arch Chair“, mit Sitz und Rücken aus pflanzlich gegerbtem drei Millimeter dünnem Kernleder (in einem Stück!) sowie einer beweglichen filigranen Stahlkonstruktion – was verschiedene Sitzpositionen ermöglicht. Thomas Edelmann
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NEXSYS DIE BESSERE LÖSUNG PERFEKT KOMBINIERT: DIE VORTEILE EINER EMAILLIERTEN DUSCHFLÄCHE MIT DEM DESIGN EINER RINNENDUSCHE.
kaldewei.de
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Die neuen Vasen sind Ausdruck unseres Ultra-Individualismus. Jede überraschend anders – wahre Performance-Künstler. Ihr fantasievolles Spiel feiert Besitzer wie Blumen: ob als Solisten oderTeil eines Orchesters
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3er-Set von Bruno Gambone, Preis auf Anfrage. schlicht-designmoebel.com Stachelige Steingutvase „Vesuvius“, 269 €. jonathanadler-germany.com Bauchiges Gefäß „17/17“, Lutz Könecke, 400 €. lutzkoeneke.de Keramik „Marulus“, 1 700 €. elkesada.de. Alle Preise verstehen sich als Circapreise
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KERAMIK Orangefarbene Vase von Ulugbek Ahmedov, Keramik glasiert, 460 €. vonform.de Zylindervase in Gelb und Weiß, Beatrice Pedersen, 210 €. plumeinteriors.com Tonvase „Bottle“ von Sophie Alda, 80 €. soisblessed.com Emaillierte Steinzeugvase „Antenne II“, Atelier Polyhedre, 160 €. polyhedre.com Porzellan-Kalebasse „Raku“ von Regina Müller-Huschke, 450 €. vonform.de
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Keramikvase „Okapi“, Alice Gavalet, 400 €. cargocollective.com/alicegavalet Kapselgebrannte Keramik von Evelyn Hesselmann, 95 €. hesselmann-keramik.de Gefäß „2735“ mit Schaumglasur in Gelb, Martin Schlotz, 250 €. schlotz.de
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Keramik „Masai Collar“ von Serena Confalonieri, 300 €. stephanie-thatenhorst.com Vase „Rough Monolith“ von Troels Flensted, Preis auf Anfrage. adorno.dk
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Gemeißelte Steinzeugvase mit gelber Innenlasur, Hans Fischer, 300 €. bayerischer-kunstgewerbeverein.de Gefäße „Ninfea“, Paola Paronetto, kleine grüne Vase, 62 €, Schale in Nude, 146 € und lachsfarbene Dekoflasche, 124 €. paolaparonetto.com
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Hohes Gefäß „2636” mit Mattglasur, Martin Schlotz, 400 €. schlotz.de Schwarze Terracotta-Karaffe, 50 €. datcha.paris Steinzeug-Pitcher „Volcapeli“ von Atelier Polyhedre, 290 €. polyhedre.com
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Bauchige Vase in Weiß mit Kreisdekor, 35 €. madamstoltz.dk Großes Gefäß „18/11“ von Lutz Könecke, Steinzeug, 750 €. lutzkoenecke.de Flaschenhalsvase „Clio“ mit Mattglasur, 79 €. fermliving.de Gefäße „18/12“ in Grau-Weiß und „17/94“ in Rosé, 600 und 400 €. lutzkoenecke.de Vase „Ania“, mit weißer Mattglasur, 69 €. fermliving.de
FIRMENPORTRÄT
Gott steckt IM DETAIL Eine Möbelfirma mit Tradition tritt wieder hinter ihren vielen Klassikern hervor. In Foligno bei Assisi fertigt Knoll seine Möbel – und eine neue Strategie TEXT
thomas edelmann
noll, das ist wirklich eine lange Geschichte“, sagt Demetrio Apolloni, seit 2012 Europa-Chef der Marke. Es ist ein transatlantisches Abenteuer. Gleich zu Beginn steht eine Lovestory. Nicht ohne Grund fällt der Name Bauhaus. Nach einer Epoche der Berechenbarkeit scheint Knoll nun neu erwacht, versucht, sein Profil zu schärfen. Von New York aus forcierte die Marke seit den späten 30er-Jahren die Entwicklung moderner Möbel – zunächst in Amerika, später international. Was wir unter Moderne verstehen, wie wir Räume konzipieren und Marken erleben, das hat Knoll vorgelebt und angestoßen. Aus
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gutem Grund heißt das Firmenmotto „Modern Always“. Demetrio Apolloni trat 2012 im Auftrag der amerikanischen Eigentümerfamilie an. Seine Mission: die Marke in Europa sichtbarer zu machen. Er leitete für B & B Italia die US-Geschäfte, war für Vitra und Cassina tätig. Bei Knoll hat er großen Erfolg. In den letzten sechs Jahren ist die Firma beträchtlich gewachsen. Dass sie eigene Präsentationen zum Bauhausjahr zeigt, hat nichts mit Hybris zu tun, sondern mit historischen Fakten. Ein maßgebliches Kapitel der Knoll-Story behandelt die Durchsetzung der Bauhausmöbel von Amerika aus. Im Firmenprogramm wimmelt es von Klassikern: Ludwig Mies
van der Rohes „Barcelona“-Sessel, Marcel Breuers Stahlrohrsessel „Wassily“, der Stuhl und der Sessel des Bildhauers Harry Bertoia, die „Pedestal“-Tische und „Tulip“-Stühle von Eero Saarinen, um nur einige zu nennen. Trotz des historischen Erbes ist das Unternehmen alles andere als museal. Bei einem Besuch der wichtigsten europäischen Fertigungsstätte von Knoll in Folignio, 1963 von den CastiglioniBrüdern entworfen, erlebt man, wie die Marke traditionelle Stücke kontinuierlich weiterentwickelt. Ziel Apollonis und seines Teams ist die Verbesserung, ohne Gestalt oder Design der Entwürfe anzurühren – ein delikater Prozess. Wie kann 3/2019
Demetrio Apolloni (l.) sorgt seit 2012 als Europa-Chef bei Knoll für frischen Wind. Mit Details wie farblich kontrastierenden Aluminiumfüßen des Systems „Sofa“ (l. u., 2013, Barber & Osgerby) setzt die Marke neue Akzente. „Avio“-Sofasystem von Piero Lissoni (o., 2016)
Geschichte fortschreiben: Heute steht Knoll für das selbstverständliche Miteinander von Neu und Tradiert, etwa im Zusammenspiel der Platner Side Chairs (Warren Platner, 1966) mit dem neusten Tisch „Smalto“ von Edward Barber und Jay Osgerby (2019)
Ikonen der Gegenwart: Rem Koolhaas’ Büro OMA entwarf den Knoll-Stand auf dem Salone del Mobile 2019 und zum 75-jährigen Bestehen der Marke 2013 den drehbaren „Counter“. Der neigbare Sessel mit Ottomane von Piero Lissoni (KN 02 und KN 03) kombiniert Minimalismus mit Lässigkeit
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FIRMENPORTRÄT Die Möbel von Piero Lissoni (l.) stehen bei Knoll für Erneuerung. Die besonders aufwendig und von Hand gefertigte „Platner“-Kollektion von 1966 ist ein Beispiel für das sorgsam gepflegte Erbe
Die „KN“-Kollektion von Lissoni bietet vielseitige Varianten vom Sessel bis zum Sofa (l. und u.). Der „Barcelona“-Sessel von Ludwig Mies van der Rohe aus dem Jahr 1929 steht als Ikone der Moderne für Einzigartigkeit. Im Bauhausjahr erscheint sie in einer auf 365 Stück limitierten Version mit schwarz verchromtem Gestell
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die Fertigung einfacher, das Resultat zugleich besser werden? Wie lässt sich die charakteristische Form lederbezogener Kissen der „MR Chaise“ von Mies van der Rohe am besten erreichen? Das Geheimnis liegt in einem textilen Innenleben, das den Schaumstoff für Käufer und Nutzer unsichtbar in Form hält und den Fertigungsprozess erleichtert. Blick zurück zu den Anfängen: Die Knoll-Geschichte beginnt mit dem Deutschen Hans Knoll, der 1938 nach Amerika auswandert. Er stammt aus einer württembergischen Familie traditionsreicher Möbelhersteller, ist Neffe von Walter Knoll, nach dem ein ebenfalls bekanntes Möbelunternehmen benannt ist. Ein Jahr nach seiner Ankunft gründet er mitten in New York sein eigenes Label. Er lernt die amerikanische Innenarchitektin Florence Schust kennen, die bei ihm arbeitet und rasch die Planungsabteilung übernimmt. „Schu“, wie sie genannt wird, hat enge Bindungen zur Architektenfamilie Saarinen, zu dem finnischen Traditionalisten Eliel Saarinen und dessen dem organischen Design verbundenem Sohn Eero. Sie studiert in London, später an der Cranbrook Academy in Michigan. An den Hoch-
schulen von Cambridge, Massachusetts und dem Illinois Institute of Technology in Chicago sind ihre Lehrer Walter Gropius, Marcel Breuer und Ludwig Mies van der Rohe. „Sie verstand, was die Bauhausidee war“, sagt Demetrio Apolloni. „Nicht das einzelne Produkt stand
objekte bietet Knoll damals an, sondern ein umfassendes Verständnis von Raum und Stil. Für große amerikanische Firmen wie General Motors oder Verlage in New York entwirft sie die Führungsetagen. Das Unternehmen Knoll bringt seine Möbel nach Europa, auch nach
DER BARCELONA-SESSEL WIRD IN EHREN GEHALTEN WIE EINE MADONNA bei ihr im Fokus, sondern das Resultat, der Lebensstil, der ganzheitliche Ansatz.“ Mies vertraute ihr die Neuauflage einiger seiner Möbel an. 1946 heiraten Florence und Hans Knoll. Nach seinem frühen Tod 1955 bei einem Autounfall in Kuba übernimmt sie die Firmenleitung, baut das Netz von Kreativen aus, für das Hans Knoll erste Kontakte geknüpft hatte. Zum Erfolgskonzept der Firma gehört es, Bürolandschaften und Chefbüros mit wohnlichen, zum Teil repräsentativen Möbeln auszustatten, gradlinig und dabei nicht ohne eine gewisse Grandezza. Die Büros der TV-Serie „Mad Men“ führen eine puristische Moderne vor, wie es sie so höchstens in von Florence Knoll gestalteten Büros gab. Nicht Einzel-
Deutschland, wo die amerikanische Kollektion mit europäischen Wurzeln rasch Furore macht und Florence Knoll 1960 auf dem „Spiegel“-Titel landet. 1965 zieht sie sich aus der Firma zurück. Ab 1966 entwickelt Massimo Vignelli das Grafikdesign der Marke, in der Schrift Helvetica und mit warmem Rotton bis heute in Gebrauch. Der damalige KnollChef Robert Cadwallader beauftragt Richard Sapper mit dem Entwurf von Büromöbeln. Sapper, in Mailand zu Hause, sei „eine gute Mischung aus einem starrköpfigen Deutschen und einem romantischen Italiener“. Investor Marshall Cogan erwirbt Knoll International 1977, Sohn Andrew Cogan übernimmt 2001 die Leitung des börsennotierten Unter-
„Modern Always“: Der KnollMessestand, gestaltet von OMA, zeigt Neuheiten wie die „Smalto“-Tische von Edward Barber und Jay Osgerby sowie das „Gould“-Sofa von Piero Lissoni im Zusammenspiel mit Bauhaus- und anderen Knoll-Klassikern
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FIRMENPORTRÄT anbetungswürdiges Kunstobjekt. Besser ist es, Freude daran zu haben – also gleich zwei gegenüber dem Sofa zu nutzen, idealerweise einem, das von Florence Knoll gestaltet wurde. Neuere Knoll-Modelle stammen von David Adjaye, Marc Newson, Jehs+Laub, die Mailänder Novitäten 2019 von Piero Lissoni sowie Barber & Osgerby. Mit unterhaltsamen, monografischen Broschüren zeigt Apolloni, was ein Original von Knoll heute ausmacht. Etwa Mies van der Rohes „Barcelona“-Sessel. Käufern soll der spezifische Wert nahegebracht werden, fast so, als seien sie beim Firmenbesuch dabei, wo man erfährt, wie sorgsam mit jedem Gestell, jeder Marmorplatte, jedem Gurt, Kissen und Bezug hantiert wird, bevor aus Einzelteilen ein wertvolles Gebrauchsobjekt wird. Von sämtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern werde der „Barcelona“-Sessel in Ehren gehalten wie eine Madonnen-Statue, erklärt der Verantwortliche für Qualität in der Fabrik in Foligno. Auf
welche Weise die Befestigung der Gurte des Sessels mittels Aluminium-Nieten verbessert und der Lederzuschnitt optimiert wird, ist ein Prozess, der vom Käufer unbemerkt immer weiterläuft. So entdeckte man, dass der Sessel in seiner Frühphase während der 30er-Jahre weit weniger straff gepolstert war. In Foligno machte man sich an die Umsetzung eines etwas legereren Erscheinungsbilds mittels aktueller Techniken. Bei einer Reihe von Möbeln, so auch dem „Womb“-Sessel von Saarinen, gibt es mittlerweile Relax-Varianten, die zeitgemäßen Gewohnheiten entsprechen. Sie sind flexibler, ohne dass dabei Größen, Proportionen oder gar Details tangiert werden. Denn „Gott steckt im Detail“, zitieren sie in Foligno Mies van der Rohe. Eine Firma mit mehr als 80jähriger Geschichte kennt keine Hektik. Geht Apollonis Plan auf, verändert sich unsere Wahrnehmung. Knoll wäre dann in neuer Weise sichtbar – modern wie immer. –
Fotos: Agostino Osio (2); Federico Cedrone (5); Veronica Gaido; Ezio Prandini (2); Gionata Xerra
nehmens. Florence, vielfach geehrt und als Beraterin geschätzt, stirbt im Januar 2019 im Alter von 101. Eine lange Geschichte also … Wenn Europa-Chef Apolloni über den Wert von Knoll in Europa nachdenkt, hört man heraus, dass er noch viel vorhat. Er macht auch gleich mal die Proportionen deutlich: Knoll International hat 4000 Mitarbeiter, 250 sind es in Europa, 6 entwickeln im Forschungszentrum in Meda neue Produkte. In den USA gibt es vier Werke, zwei kleine in Italien. Und doch gelang es Apolloni, die Marke in Europa zurück aufs Spielfeld zu holen. Sie müsse proaktiv sein, sagt der Manager. Dazu gehöre, sich auf der Messe den Wettbewerbern zu stellen. Neuerdings nicht nur beim Salone del Mobile in Mailand, sondern auch in Köln. Weniger am einzelnen Produkt orientieren sich die neuen Fotoproduktionen, sondern vielmehr an gegenwärtigen Lebensentwürfen und -stilen. Sie zeigen: Ein „Barcelona“-Sessel gehört nicht in die Ecke, als sei er ein
Prägend: Florence Knoll (1917–2019) war nach dem Tod des Gründers Hans Knoll 1955 Firmenchefin. Die Sofas und die Sessel ihrer „Florence Knoll“-Kollektion, einst für US-Vorstandsetagen entworfen, gehören – wie die verstellbare „MR Chaise Lounge“ von Mies van der Rohe – zu den Stücken, die im inneren Aufbau merklich verbessert wurden
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Wohnen & Stil SUPERLATIVE Eine fünf Meter hohe Decke im Salon, 350 Quadratmeter Wohnfläche, massiver Marmor, geölte Eiche: Interior-Experte Rodolphe Parente schöpft in einem Pariser Pied-à-terre in jeder Hinsicht aus dem Vollen. Zugegeben, ein hochelegantes, aber eher eklektisches Zukunftskonzept, welches das Mixen vorhandener Materialien zur Maxime erklärt. So tut es – weit bescheidener, aber nicht minder spannend – auch Giuliano Andrea dell’Uva aus Neapel, der mit Shabby-Wänden und Avantgarde-Möbeln Wohnstillleben inszeniert, die man nachmalen möchte. Stil ist eben keine Frage des Geldes …
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WER SAGT DENN, dass KNALLROT KRACH MACHT?
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Der Stoff für ihr Kleid, sagt Marie Aigner, sei sündhaft teuer gewesen. Von Chanel eben. Zum Glück half ein preiswerter Schneider in Marrakesch, das Budget wieder auszugleichen. Rechte Seite: Vor der Vertäfelung der Halle eine nackte Kate Moss, bemalt von Jean-Luc Moerman, daneben Fotoarbeiten von Thomas Ruff. Und im Vordergrund Schall schluckende Absorber – als Sitzmöbel
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Sie verpasst einem Denkmal Farbe, bespielt es mit Kunst – und sorgt dennoch für Ruhe. Der Münchener Architektin Marie Aigner gelingt in der Bogenhausener Diesel-Villa Großes. Wie das? Mit Humor!
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MÜNCHEN LEUCHTET Im oberen Salon filtern von Hand genähte Vorhänge von Boussac (Hoyer & Kast Interiors) das Licht. An der Wand fängt der Absorber „Sceletton“ Geräusche ein. Rechte Seite: Und dann die Halle! Werke von Tom Wesselmann und Joan Miró, Max Ernst, Heiner Schilling, Hadrien Dussoix – und über dem Kamin das erste Bild der Sammlung, eine Komposition von Ernö Foth
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as Bild links: ein Günther Förg, wohl aus den 90ern. Zwei Farbflächen, Acryl auf Metall, sehr konzeptuell, sehr cool. Das Bild rechts: ein shaped canvas in Form eines Dreiecks, ebenfalls in zwei gleiche Flächen geteilt, oben ein Spiegel, unten weicher Schaumstoff – ein Pendant also zu Förgs strenger Positionsbestimmung der Moderne im Zeitalter der ästhetischen Beliebigkeit? Nö, ein Schallschlucker. Bei Marie Aigner ist da Vorsicht geboten: Nicht alles, was so aussieht, ist tatsächlich Kunst. Oder vielleicht doch? Vielleicht gerade deshalb! Die Skulptur vor dem Bilderensemble jedenfalls, zwei aneinanderlehnende kantige Stelen in kräftigem Gelb und Blau, ist keine Arbeit einer Avantgarde der Minimal Art, sondern dient zunächst dem Zweck, den kalten Hall großer Räume zu wohnlicher Akustik zu dämpfen. Die Münchner Architektin entwirft solche Objekte, Absorber aus recycelten PET-Flaschen oder Melaminharzschaum, gibt ihnen die Form von Stehlampen, Hochzeitstorten, Felsbrocken oder Blumenvasen – und stattet damit Klubs und Konzerthallen aus, Hotels, Apartments und Bürohäuser in der Schweiz, Brillenboutiquen am Odeonsplatz. Und Zimmerfluchten und Salons in ihrem Haus. Das hatte von Anfang an das prachtvollste der Stadt werden sollen. In Bogenhausen, hoch über dem
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rechten Ufer der Isar. Erbaut 1899 bis 1901. Stolzer Neobarock, durchsetzt mit Kleinodien im Jugendstil. Der Bauherr: Rudolf Diesel, reich geworden mit … – nun ja, der Erfinder des Dieselmotors sah den Moment gekommen, sich selbst und sein Genie zu feiern. Aber richtig! Die Villa konnte kaum groß und elegant genug sein. Später sollte sein Sohn Eugen klagen, dass 900 000 Mark für Grundstück und Bau doch unvernünftig viel gewesen seien: „Fast eine Million von den fünfen war also nicht mehr zinsgebend, sondern Unkosten fressend geworden.“ Außerdem sei es der Architekt Max Littmann gewesen, der seinem Klienten das jugendstilige Geranke und Geschnörkel an den Stuckdecken und um die Kamine herum erst schmackhaft habe machen müssen. Dem Maschinenbauer Dr. Ing. habe so viel Lieblichkeit gar nicht entsprochen. Aber als Diesel junior seine Klage anstimmte, war der Vater längst an seinem eigenen Erfolg verzweifelt, durch Spekulation in finanzielle Schieflage geraten und 1913 auf einer Schiffspassage über den Ärmelkanal unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Der Sohn hatte guten Grund zur Bitterkeit. „Der Mann hat das Haus um die Halle herum gebaut“, sagt Marie Aigner dagegen. „Und die Halle wohl in erster Linie für die Mama.“ Der
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Harmonie in Creme: Aus der Stuckrosette in der Decke weht ein „Avatar“ und fächelt Ruhe in den Raum, der Teddy in der Nische links ist ein Kunstwerk von Mike Kelley. Im Speiseraum hinten ein Gemälde des Chinesen Teng Fei. Vorhang von Mullberry (Hoyer & Kast Interiors), Ohrensessel und Sofa von Sé London. Der Sessel vorn heißt „Franz“ und ist – ein Absorber
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Nicht alles, was so aussieht, ist Kunst. Oder vielleicht doch?
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„Der Herd ist nicht unbedingt mein Lebensmittelpunkt“ m a r ie a igner
Der Denkmalschutz mag streng sein – Marie Aigner lenkt einfach von seinen Vorgaben ab: quietschgrüne Wände, Ringo-Starrund John-Lennon-Poster von Richard Avedon (1967), Keramikfliege von Rob Wynne (1999). Stört sich da noch irgendjemand an Blümchenkacheln und tristen Terrakottafliesen?
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Noch grüner geht’s nur im Schlafzimmer. Fotoarbeiten von Ralph Müller, Zeichnungen von Antony Gormley, Vorhang von Créations Métaphores (Hoyer & Kast Interiors) Unten rechts: Gemälde von Günther Förg, Absorber, dreieckig, von Marie Aigner. Davor eine Skulptur, die ebenfalls Schall schluckt
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Signalgeber: Der rote Refektoriumstisch im weit ausschwingenden Erker ist Marie Aigners Arbeitsplatz. Rechte Seite: Aktenschrank und Sessel üben ihre Funktion nur im Nebenberuf aus. Im Hauptberuf sind sie – na klar – Schallschlucker aus Kunststoffschaum
Spott ist nicht zu überhören. Gemeint ist Diesels Ehefrau Martha, und eine repräsentative Halle galt in jenen Gründerjahren als Statussymbol gehobener Kreise. Aber deutlich wird: Allzu innige Zuneigung, auch zu einem Haus, birgt immer ein Risiko. Die Architektin und Designerin weiß, sich davor in Sicherheit zu bringen. Seit vier Jahren lebt und arbeitet die so zart wirkende Frau mit ihrem Mann Michael Illbruck und vier Söhnen in der Beletage und dem ersten Stockwerk. „Patchwork“, sagt sie. Und „zur Miete“. Auf dem Flur liegen Turnschuhe. Doch die Villa ist Wohnung und Projekt zugleich – denn Illbruck, in seiner Freizeit Autorennfahrer und Segelweltmeister, sorgt hauptberuflich für Ruhe. Sein Unternehmen Pinta acoustic konstruiert und produziert Schallschutz: für die Kantine bei Audi, das Guggenheim Museum in New York, Hörsäle, Werkhallen, Restaurants. Und für akustisch ausbalancierte Wohnräume, die nicht aussehen sollen wie ein Tonstudio. „Stimmt“, sagt Marie Aigner und lacht. „Wir haben uns bei der Arbeit kennengelernt.“ Um dem gravitätischen Prunk der denkmalgeschützten Villa etwas von seiner Strenge zu nehmen, brauchte sie freilich Unterstützung – aber ihre Truppen können sich sehen lassen: Es sind Künstler wie Max Ernst und Tom Wesselmann, Marie Jo 96
Lafontaine, Max Pechstein und Mike Kelley. Vom Expressionismus über die Pop-Art bis zum PostPop-Punk. Dazu Sammelstücke aus allen Winkeln der eigenen Biografie: Keramik aus Korea, ein altes Buch der Großmutter, ein dämonischer Garuda aus Indonesien, mannshoch, mit Adlerschnabel und gespreizten Flügeln. Und es sind ein paar Farben, von denen das Mahagonigewölbe im Speisezimmer und der mit Messing intarsierte Marmorkamin nie auch nur geträumt hätten. Denn Marie Aigner hat Humor. Und Humor findet immer wieder Vergnügen daran, allzu ernsthaft postulierte Gewissheiten ein bisschen aus dem Lot zu rücken. „Ich habe in einer Eisdiele tanzen gelernt“, sagt sie. „Weil ich dort so interessante Leute beobachten konnte.“ Es fing also an mit dem Teppich in der Halle. Oder mit der Küche gleich daneben. Auf den alten Perser kniete sich die neue Bewohnerin mit ihrem zehnjährigen Sohn und färbte die hellen Linien und Ornamente im dunklen Muster mit Acrylfarbe ein. Signalgelb, Signalorange, echt schrill. Und die Küche mit ihren Blümchenkacheln und dem verhärmten Terrakottaboden fand sie so trist, dass nur Quietschgrün und psychedelische Poster von George Harrison, Ringo Starr und John Lennon an den Wänden von dem Elend ablenken konnten,
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Der Ehemann produziert Schallschutz, die Architektin gibt dem eine Form
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Die Villa in MünchenBogenhausen war der Stolz des Erfinders Rudolf Diesel – und riss ihn in den Ruin. Rechte Seite: Heute geht Marie Aigner lockerer mit dem noblen Bauwerk um. Im Speisezimmer trifft ein Gemälde von Teng Fei auf Stühle von Cassina
Kunst ist Marie Aigners Kraftzentrum, Unerschrockenheit ihr Naturell
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allerdings, gesteht Marie Aigner, sei der Herd ohnehin nicht ihr Lebensmittelpunkt. Noch grüner nur das Schlafzimmer, wo sich eisblau-kühle Gebirgspanoramen des Fotokünstlers Ralph Müller von den neonmarkerfarbenen Wänden abheben. In dunklem Violett das Studio neben dem Salon – dafür ist der zum Arbeitsplatz umfunktionierte Refektoriumstisch dort von einem Knallrot, das jede Warnweste zur gedeckten Herbstmode reduziert. Dunkeltürkis das Speisezimmer, in zartem Mauve das zur Halle offene Jagdzimmer oben auf der Galerie. Südseeblau das Knabenzimmer und – nun doch noch vornehm – cremefarben der Salon, dessen Wände von goldgerahmten Kassetten und Stuckreliefs voller Faune und rankenden Pflanzen bedeckt sind. Dafür hängt von der Decke des Saals ein umgedrehter „Wedding Cake“. Aus der Stuckrosette unter der Decke wehen die sanft von innen beleuchteten Kunststoffstreifen eines „Avatar“. Vor den Wänden stehen „Bertas“ wie schlanke Figuren im Abendkleid mit einer gläsernen Leuchtkugel anstelle des Kopfes. Und überall im Haus mischt sich „Franz“ als Stuhl oder Sitzbank aus gehärtetem Kunstschaum unter die Möbel von Cassina oder Sé Collections. Lauter Schallschlucker. Oh nein, Marie Aigner lässt sich nicht so schnell bange machen.
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Wie also begegnet man einer acht Meter hohen Halle, deren dunkel getäfelte Würde jeden Besucher in die Knie zwingt? „Petersburger Hängung!“, erwidert die Architektin und meint, dass keine zwei Bilder neben- oder übereinander irgendeinen erkennbaren Bezug zueinander haben sollen, nicht in Stil, Farbe, Epoche, Rahmen, Künstler. Eine spätromantische Landschaft und die tanzenden Symbole eines Joan Miró, eine nackte Kate Moss, über und über bemalt, und die verhaltene Strenge der Fotoarbeiten von Thomas Ruff. Regie führt die Sammlerin. „Sie können das nicht planen. Genauso wenig, wie Sie vorher exakt festlegen können, wo die Schallschlucker von einer Decke hängen sollen. Sie müssen es ausprobieren.“ Kunst war immer schon ihr Kraftzentrum, Unerschrockenheit ihr Naturell. Gerade 16 war sie, als sie ihr erstes Bild kaufte. In Budapest, unterwegs mit einer Freundin, die schon den Führerschein hatte. Drei Tage schlich sie um das abstrakte Gemälde des Ungarn Ernö Foth herum, dann traute sie sich. Das Geld für Unterkunft und Rückfahrt? Egal! Heute hängt das Bild über dem Kamin in der Halle. Dass es zu klein ist für den Rahmen, der einst das Porträt des Hausherrn hielt – was soll’s. So wird sichtbar, was hinter der eleganten Vertäfelung steckt: schnöder Beton, grau und ein bisschen rissig. –
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Neapolitanische Metamorphosen text
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chiar a dal canto
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nathalie kr ag
Baumeister Giuliano Andrea dell’Uva bewohnt die oberste Etage eines alten Hauses in der Stadt am Golfo di Napoli. Es ist ein architektonisches Observatorium, das Tradition wie Moderne im Blick behält
Ein Wohnzimmer über der Stadt – mit Sofas von Le Corbusier, einem karierten Tisch von Mooi vor einem Eisenkamin aus der Hand des Baumeisters. Linke Seite: Der Terrassengarten ist sehr frei vom Palazzo Butera in Palermo inspiriert. Der Boden wurde mit glasierten türkisfarbenen Keramikfliesen überzogen, gekauft bei Galleria Elena Superfici. Die Stühle „Locus Solus“ entwarf Gae Aulenti 1964. Auf dem Tisch: Vietri-Vasen aus den Fifties
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Raffinierter Dreh: Der Tisch aus Breccia-Marmor ist in den monolithischen Block aus schwarzem Granit eingebettet. VintageLampe von Stilnovo, Stühle von Corbusier und Gio Ponti. Rechte Seite: Das Studio im obersten Stock punktet mit Panorama – auf das Meer und Capri. Die PotenceLampe von Jean Prouvé ist eine Reedition von Vitra
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n guten Tagen ist Neapel wie ein Sprungbrett ins Mittelmeer. Capri, Ischia, dazu ein Wölkchen über dem Vesuv und auf den Wellen ein schnittiges Segelboot Richtung Amalfiküste. Doch nichts ist hier, wie es ab und an scheint. Hinter der lichten Leichtigkeit der Stadt verbirgt sich stets die beängstigende Tiefe von Geheimnis und Tod. Sprungbretter führen eben manchmal nicht nur in blaues Poolwasser; oft findet sich da grauer Beton mit Schimmel, Müll und Graffiti in dunklen Ecken. Neapel ist seit jeher auch ein Ort des Leidens und der Friedhöfe gewesen, auf denen sich gespenstische Metamorphosen vollziehen – wie in einem Buch von Anna Maria Ortese, die immer wieder die tieferen Schichten der Stadt freigelegt und so gezeigt hat, dass sich jede scheinbare Tatsache hier schnell in ihr Gegenteil verkehren kann. Neapel sei nämlich alles andere als ein Sonnenreich, sondern ein „Land der Vorspiegelungen und Täuschungen“. Auch der Architekt Giuliano Andrea dell’Uva, der das oberste Stockwerk eines alten neapolitanischen Hauses wie auf einem Sprungbrett ins Mittelmeer bewohnt, stieß im Rahmen seiner Umbauarbeiten auf die Beschreibungen Orteses: „Als ich zufällig ihr Buch ‚Il mare non bagna Napoli‘ las, dachte ich – und ich bin mir jetzt sicher –, dass das dort beschriebene Observatorium der Stadt genau aus diesem Gebäude stammt. Dicke Wände, Räume mit hohen Decken und alte Gemälde, die in Schichten und Putzschichten verborgen waren, warteten darauf, dass ich sie sah.“ Orteses Werk beinhaltet eine Mischung aus brillanten Erzählungen und Reportagen über die Teile der Stadt, die in Armut vor sich hindümpeln und nichts vom Glanz des Meeres abbekommen. Das Buch ist Offenbarung und Schicksal zugleich. Vor allem der letzte Abschnitt, in dem die Schriftstellerin die selbstzufriedenen Intellektuellen der neapolitanischen Oberschicht kritisiert, sollte ihr zum Verhängnis werden. Der schockierende Scharfsinn dieser Seiten wird ihr sogar von ehemaligen Freunden lebenslang derart nachgetragen, dass ihr letztlich nichts anderes übrig bleibt, als alle Brücken nach Neapel hinter sich abzubrechen. Ein Trauma, von dem sie sich nie wieder erholt. Erst flüchtet sie nach Mailand, dann flüchtet sie nach Rom (wegen der verunglückten Liebe zu einem deutlich jüngeren Mann in Mailand) – und stürzt dabei in die desolateste Phase ihres Lebens. So schlimm endet diese Geschichte hier nicht. Sie verfängt sich höchstens ein wenig in den Widrigkei-
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ten moderner Arbeitsrealitäten. Denn der Architekt Giuliano Andrea dell’Uva gehört zu den Menschen, die sich niemals loseisen können. Tatsächlich hören seine Handys in seinem Haus nie auf zu läuten: „Ich muss ehrlich sein: Ich habe ein ziemlich arbeitsreiches Leben, und es ist schwer, es mit meinem Privatleben in Einklang zu bringen. Eine Architektur wie aus Puzzleteilen – das ist meine Welt“. Den Baumeister zwischen Neapel, Mailand, Capri und Lecce zu erwischen ist eine unmögliche Aufgabe. Aber wenn man ihn in der ruhigen Atmosphäre seines neapolitanischen Hauses trifft, im obersten Stockwerk eines Gebäudes aus dem 18. Jahrhundert, dann erlebt man einen anderen Mann. Es ist ein Mann, der sehr viel von sich erzählt: „Dies ist Neapel, das Neapel, das ich für mich wollte, Arbeiterklasse und Eleganz zusammen, das fröhliche, gelassene Neapel, das ich liebe. Wie alle, die ein Zuhause suchen, habe ich viele Orte besucht. Und leider oder glücklicherweise habe ich als Architekt immer versucht herauszufinden, wie mein Leben an jedem dieser Orte aussehen würde.“ Fantasieprüfungen pur. Er dachte an sich – und daran, wie er in den verschiedenen Stadtteilen leben würde. Er mochte das spontane Miteinander aristokratischer 103
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„ICH BEOBACHTE DIE WELLEN VON MEINER DENKFABRIK AUS“ G I U L I A N O A N D R E A D E L L’ U VA
Knalleffekt: Der von Gio Ponti entworfene Bettrahmen stammt aus dem berühmten Hotel Royal in Neapel. Leuchtende Farben dominieren hier den Raum. Für Kontrast sorgt das schwarze Parkett
Hat gesucht – und gefunden: der Hausherr und Architekt Giuliano Andrea dell’Uva vor einem Werk des BauhausSchülers und Bühnenbildentwerfers Alexander Victor Schawinsky (genannt Xanti). Rechts: Eine neapolitanische Tür aus dem 18. Jahrhundert führt vom Schlafzimmer in den Essbereich der Küche
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Bademeister: Das maßgefertigte Bad ist eine kreative Leistungsschau. Tara-Armaturen von Dornbracht. Die futuristische Szenografie an der Wand öffnet die Tür zu einem begehbaren Kleiderschrank. Unten: Die Treppe verbindet die Ebenen wie baustoffliche Vergangenheit und Gegenwart
Klassentreffen von Klassikern: Sofa von Rodolfo Dordoni für Cassina, Stuhl von Gio Ponti, Lampe von Sebastian Wrong für Flos. An der Wand: „Forever overhead“ von Marzia Migliora aus der Galleria Lia Rumma
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Architektur und der Märkte der Menschen in der Gegend von Sanità. Im historischen Zentrum hätte er gern dessen geschichtete Monumentalität atmen lassen. Er landete in seiner Kindheit, im Viertel, in dem er aufgewachsen ist, in Chiaia. Er imaginierte sein Haus auf einem dekadenten Gebäude aus dem späten 17. Jahrhundert. Und letztlich entschied er sich dann für das Sprungbrett ins Meer. Das typische Leben Neapels ist hier allgegenwärtig, jenes, das morgens mit einem Lächeln, am Nachmittag mit neomelodischer Musik, mit Prozessionen von Heiligen und salzigen Gerüchen aus dem Meer geschaffen wird. Immer wieder das Meer, das ist Teil der Topografie dieser Stadt. „Ich beobachte die Wellen von meiner Denkfabrik aus, während meine Ideen Gestalt annehmen“, sagt dell’Uva. „Ich wollte nicht, dass das Haus von mir erzählt, sondern dass es Teil meiner Entwicklung ist.“ Seine Architektur verleiht dem Gebäude ein neues
Licht, verbindet spontan dessen Räume. Der Ort soll wieder so sein, wie er irgendwann am Anfang war – das macht sich Giuliano Andrea dell’Uva zur Aufgabe. Er kümmert sich um das Layout, schneidet die Räume auf seine Bedürfnisse sowie die seiner Frau Andrea hin zu. Sein Streben ist es, dass die antiken Möbel und Designerstücke der Familie in Harmonie zusammenleben, dass sich alter und zeitgenössischer Einfluss miteinander verbinden.
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Und dass die von Gio Ponti für Neapel entworfenen Möbel eine Art internationale Hotelgeschichte der Stadt erzählen: „Die Häuser, die ich mag, sind die, in denen ich aufgewachsen bin. Jedes Alter oder jede Periode hat etwas Schönes hervorgebracht, alles kann friedlich nebeneinander existieren. Ich denke an die Familienhäuser, die von meinem Urgroßvater, dem Architekten, entworfen wurden. So bin ich.“ Es wurde bereits gesagt: dell’Uva reist viel. Er überschreitet dabei auf gemäßigtere Weise als Ortese die geografischen und kulturellen Grenzen seiner Stadt – um neue visuelle Anreize zu finden, die seine Projekte beeinflussen. Eine Architektur, die durch auf mehreren Ebenen angeordnete Räume belebt wird. Die breite Deckenhöhen ausnutzt und sich durch Terrassen und Gärten zum Dach hin öffnet. Mit einer klaren Intention: etwas Privatsphäre gewährleisten, das Haus vor den Fenstern der umgebenden Gebäude schützen – und sich doch einen unglaublichen Blick sichern. Auf diese faszinierende Stadt und das Meer. – 3/2019
Ein Königreich für Besucher: Im oberen Teil der Wohnräume befindet sich das Gästezimmer – Samtsofa, von Le Corbusier, Leuchten von Michael Anastassiades (l.) und Vico Magistretti (r.). Rechte Seite: Das Gästebad. An der Wand ein Familienporträt. Über der Kommode von Giuliano dell’Uva Werke von Sergio Fermariello (l.) und William Kentridge (r.)
„DIES IST DAS FRÖHLICHE GELASSENE NEAPEL, DAS ICH LIEBE“
Fotos: Nathalie Krag/Living Inside
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stephan julliard
KOPFKINO à la Nouvelle Vague Perfektion findet er langweilig. In einem Pariser Pied-à-terre beweist Interior Designer Rodolphe Parente, dass die Liaison von Klassik und Moderne durch kühne Brüche gewinnt
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Über dem Esstisch „Abbott“ von Bernhardt leuchtet ein Lüster von Arteriors Home. Das Sidebord ist ein Entwurf von Rodolphe Parente. Darauf finden sich Vasen von Sophie Dries und eine Tischleuchte aus der Serie „Minimal Kiss“ von Atelier van Lieshout. Die Rosenholzstühle aus den Fifties stammen aus Brasilien. Linke Seite: Blick vom Entrée in die Küche, wo edle Hölzer, Steinfurnier und weiß glasierter Lavastein den Ton angeben
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ugegeben, auf den ersten Blick wirkt dieses im achten Arrondissement von Paris gelegene Appartement mit seinen Steinböden extraordinaires und reich verzierten Boiserien an Wänden, Türen und Fenstern ein wenig déjà-vu. Doch dann erkennt man Rodolphe Parentes raffinierte und inzwischen bei Kunden aus aller Welt begehrte Rezeptur. Was Eleganz angeht, hat der Interior Designer eine sehr klare Vorstellung: „Sie ist ein gekonnter Mix aus Anmut, Haltung und Respektlosigkeit. Unabhängig vom persönlichen Geschmack.“ Geschickt jongliert er daher mit Materialien, mixt Alt und Neu zu einem extravaganten Cocktail und riskiert Brüche, die einem den Atem stocken lassen. Ehrfurcht vor der Architektur? Bien sûr – aber wir leben schließlich im 21. Jahrhundert. Das muss auch in einem klassischen Interieur sichtbar und spürbar sein. Sein Rüstzeug holte sich der heute 38-Jährige nach Abschluss seiner Studien in Dijon, Straßburg und Lausanne bei Andrée Putman, der Grande Dame
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des französischen Interior Designs. Von ihr lernte er auch, wie wichtig es ist, eine gute Inneneinrichtung mit Humor und Esprit zu beseelen. Wie gut ihm das gelingt, zeigt eben auch dieses 320 Quadratmeter große Appartement im Triangle d’or zwischen Avenue Montaigne, Avenue George V und den Champs-Élysées. Für ein französisches Paar, das derzeit in Singapur lebt, baute er die ehemalige Anwaltskanzlei in der fünften Etage eines repräsentativen Bürgerhauses zu einem schicken Pied-à-terre um. Das Briefing der beiden: très parisien! Als Erstes überarbeitete Parente den kompletten Grundriss und setzte einen imposanten Ess- und Wohnraum als Herzstück in die Mitte der Wohnung. Visueller Ankerpunkt für den über fünf Meter hohen Salon: ein offener Kamin mit einem breiten Sims aus handgefertigten Terrakottafliesen und streng angeordneten massiven Marmorblöcken. „Ich wollte den fein gearbeiteten Wandverkleidungen aus Holz als Kontrast etwas Solides gegenüberstellen“, erklärt der Interior-Profi. Dort, wo die Decke des Salons von einer spektakulären Kuppel überspannt wird, türmen sich üppige, grau schattierte Wolkenformationen – ein Deckenfresko der in Paris lebenden Künstlerin Florence Girette. Die Maßnahmen, die der Designer ergriff, spiegeln seine konsequente und äußerst gradlinige Formensprache. „Ich lege Wert auf Präzision und grafische Qualität in meinen Räumen“, sagt er. Zitatgeber für seine Werke? Da wären Carlo Scarpa, Pierre Chareau
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Linke Seite: In der Mitte des kreisrunden Vestibüls steht ein „Pyramid Side Table“ von Pierre Gonalons. Von dort aus gelangt man zu den beiden Gästezimmern – und in den leuchtendrot gestrichenen Media-Room der Familie. Vor dem blauen Samtsofa von Eichholtz steht ein Coffee Table von Jonathan Adler. Die Architekturfotografie ist eine Arbeit von James Casebere aus dem Jahr 2017
„Meine Handschrift ist eher asketisch als französisch“ r o d o l p h e pa r e n t e
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„Ich lege in meinen Räumen Wert auf Präzision und grafische Qualität“ r o d o l p h e pa r e n t e
Herzstück des Appartements ist die fünfeinhalb Meter hohe Mastersuite, in der die Passion der Bewohner für Kunst und zeitgenössische Keramik offensichtlich wird. Den klassischen Boiserie-Arbeiten stellte Parente skulpturale Tische von Emma Donnersberg und Jaime Hayon sowie ein Paar schwungvolle Sofas von Arteriors gegenüber. Das Deckenfresko schuf die Künstlerin Florence Girette
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À L A PA R ISIENNE
Vor dem offenen Kamin aus Terrakottafliesen und massiven Marmorblöcken gruppieren sich vier „Aubree“-Sessel von Bernhardt um eine Steinskulptur von Maarten Stuer. Der minimalistische Lüster aus Glas und Bronze ist ein Entwurf von Parente
„Das Briefing der Besitzer lautete: très parisien!“ r o d o l p h e pa r e n t e
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Über den Dächern von Paris: Wie ein bourgeoises Palais thront das Appartement auf dem 1910 erbauten Gebäude. Rechts: Im Innern der Küche wirkt der Frühstücksplatz mit Zanotta-Tisch, Poufs und einer maßgefertigten Eckbank dagegen very contemporary
Über dem Polsterbett in einem der Gästezimmer hängt eine schwarzweiße Fotoarbeit von Valérie Belin. Rechts: Nobler Gardien: Im Hauseingang werden Besucher von einer klassischen Büste begrüßt
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und Peter Zumthor … Die Parente‘sche Ordnung zieht sich übrigens auch durch die beiden Gästezimmer mit dem neuen kreisrunden Vestibül, das Studio des Hausherrn sowie das Esszimmer. In Letzterem bekamen die Wände stoffbespannte Paneele. Sie bilden ein zeitgemäßes Pendant zu den historischen Wandverkleidungen im Salon und sorgen für gute Akustik. In Parentes Welt ist selbst Farbe mehr als ein modisches Accessoire. Sie wird zum Stilmittel für architektonische Qualität, wie der gemütliche Wohnraum, in dem die Familie oft spontan zusammenkommt, zeigt: Das satte Rot an Decke und Wänden scheint den Besucher förmlich zu umarmen. Übergeordnetes Ziel bei diesem Projekt war es, der sehr klassisch geprägten, typischen Pariser Architektur im Innern einen zeitgemäßen Look zu geben. „Meine Handschrift ist eher asketisch und nicht gerade französisch“, bekennt Parente. „Sie orientiert sich vielmehr am Italien der 30er-Jahre und an dem Stil der Villa Necchi.“ Bei Küche und Bad, für deren Gestal116
tung er übrigens eine ganz besondere Vorliebe hegt, ist der Einfluss aus Norditalien besonders evident. Das Masterbad der Hausherrn feiert in seinem Mittelpunkt eine mit grünem Marmor umkleidete Badewanne. Die passenden Waschtische für sie und ihn bilden ein geniales Duo im glamourösen Zusammenspiel von Marmor, Messing und reflektierenden Spiegeln. Auch in der Küche werden Materialien zelebriert. Die Frühstücksecke mit der maßgefertigten Polsterbank ließ der Planer von einer Rippenwand aus geöltem Eichenholz einfassen. Die gleichen hölzernen Lamellen schließen auch die Enden der Hochschränke ab. Die Fronten der Arbeitsblöcke schmückt ein Steinfurnier, dessen lebhafte Struktur an die Kunst italienischer Terrazzoböden erinnert. Als Arbeitsfläche wählte Parente einen weiß glasierten Lavastein, der ihm noch aus der Küche seiner Großmutter in Erinnerung ist. „Er ist robust, pflegeleicht und gerade wieder total en vogue“, bestätigt er. „Zudem ist die Oberfläche nicht hundertprozentig glatt, sodass je nach Lichteinfall ein flirrendes Spiel entsteht.“ Während Parentes Räume sehr strukturiert und präzise sind, scheint seine Art, Möbel, Accessoires und Kunst zu integrieren, eher spontan. Er liebt es, spannungsreiche Gegensätze zwischen Objekten zu kreieren, weshalb er Bilder schon aus Prinzip nie mittig auf einer Wand platziert. „Es ist wichtig, zu betonen, wenn Dinge gut zusammenpassen – oder eben gerade nicht“, erklärt er. „Es gibt nichts Langweiligeres, als wenn in einem Raum alles perfekt ist.“ –
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„Eleganz ist ein gekonnter Mix aus Anmut und Respektlosigkeit“ r o d o l p h e pa r e n t e
Prunkstück der Wohnung ist das Masterbad mit der frei stehenden Wanne im Zentrum. Sie ist mit grünem Marmor verkleidet. Zu beiden Seiten findet sich je ein Waschtisch für sie und für ihn, eingefasst in Marmor und Spiegeln. Linke Seite: Der Red Carpet führt zum eleganten Appartement, das Interior-Shootingstar Rodolphe Parente komplett neu gestaltete
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KOLUMNE
Meike Winnemuth fragt sich:
„Wer wohnt denn da? “
Der ubiquitäre Eames-LoungeChair, monochrome Flächen, viel grafische Kunst und eine sexy Astronautin an den Wänden, sorgfältig dekorierte Kunst- und Designbände. Na klar ist das hier die Wohnung eines Mannes, sagt Meike Winnemuth – und bekennt freimütig, dass ihre Kolumne (auch) vom Klischee lebt
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Möbel, Bücher, Kunst. Ende! Die Kolumnistin folgert: Hier lebt ein Mann. Doch wo ist hier? Ein einschlägiges Kochbuch, eine Zeder vorm Haus … Vielleicht Beirut? Das Mischpult mit Plattenspielern verführt zur kühnen These: Wir haben es mit einem libanesischen DJ zu tun! fotos
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filippo bamberghi
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KOLUMNE
Ungewöhnlich: das Treffen von Einzelsesseln auf türkischen Kelims – unter anderem Sergio Rodrigues‘ Entwürfe Kilin und Tonico und Jean Prouvés Fauteuil de Salon. Ein Sammler, keine Frage. Der wenig Wert auf Gemütlichkeit legt: Die Neonröhren an der Decke und die OP-Lampe sprechen Bände
OH, SPANNEND! Eine sehr interessante Wohnung, weil sie zwar viele Möbel birgt, die man gut kennt, diese aber auf ungewöhnliche Weise einsetzt. Fangen wir mit der Anamnese an: Auf den ersten Blick wirkt es hier wie ein Museum von Design-Klassikern aus dem 20. Jahrhundert. Eames, George Nelson, Jean Pouvé, Thonet, Memphis, ein bisschen Jugendstil, ein bisschen Surrealismus – hier wohnt ein Liebhaber, ein Sammler, ein Kurator seines eigenen Lebens. Das ist alles sehr entschieden ausgewählt und hingestellt, nichts davon ist zufällig. Es ist mit 98-prozentiger Sicherheit ein Mann. Kein Schnickschnack, kein Chichi, nichts Verspieltes, sondern nur der pure, unverschnittene Stoff – Möbel, Kunst und Bücher. Ende. Die Kunst: Warhol, Op-Art, alles sehr grafisch und klar und streng. Beschienen wird das Ganze durch Neonröhren-Kreuze an der Decke und eine rollbare OP-Leuchte – kuschelig geht anders. Ein Mann, wie gesagt. (Durchschnittlicher Klischeegehalt dieser Kolumne: ebenfalls 98 Prozent.) So weit, so erwartbar. Interessant wird es mit dem Blick aus dem Fenster. 120
Zuerst hatte ich gedacht: Monaco. Luxuriöses Hochhaus-Ghetto. Denn Leute, die ihre Wohnung mit feinstem Design ausstatten, wohnen ja gemeinhin eher selten in einer Umgebung, wo die Wohnblöcke in den Himmel wachsen. Mediterranes Klima haben wir ganz sicher, ich entdecke eine schöne Zeder, und da auf dem Beton-Küchenblock ein Buch über die libanesische Küche ruht, traue ich mich einfach mal und sage: Beirut oder Tripolis. Vermutlich Beirut, denn die coolere, hippere Stadt ist es allemal, eine Stadt, die Bewohner wie diesen hier anzieht. Das würde auch erklären, warum das Wohnzimmer – was in westlichen Wohnungen eher ungewöhnlich ist – eine Ansammlung von Sesseln bietet. Keine Couchlandschaft zum Fallenlassen, sondern die im arabischen Raum eher verbreiteten Einzelmöbel. Habe ich gesagt: Keine Spielereien? Nehme ich zurück: Auf dem Esstisch stehen die scheinbar aus zwei Servicen zusammengepuzzelten Hybrid-Teller von Seletti. Doch die fallen fast schon unter Pop-Art, passen also bestens in die nüchterne, aber in der Kunst
farbstarke Umgebung. Die Gläser mit geätzten islamischen Ornamenten weisen wiederum in den levantinischen Raum. Wer wohnt hier also? Ich entdecke ein DJ-Mischpult mit zwei Plattenspielern sowie zwei Transportkoffer für LPs. Kann sein, dass das einfach nur Aufbewahrungsmöbel für die Plattensammlung des Besitzers sind, aber ich sage aus Spaß einfach mal: Der Bewohner ist ein libanesischer DJ. Groovy.
„Kein Schnickschnack, kein Chichi, nur der pure unverschnittene Stoff – sehr maskulin“
Edelstahl und Beton vor weißen Wänden, Prouvés Standard SR als luxuriöser Küchenstuhl,Warhol, – das Ganze wirkt wie eine Galerieküche aus einer Kunst-Factory
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KOLUMNE
Sie wohnen hier: Der Brasilianer Houssein Jarouche, libanesischstämmiger Design-Händler, lebt mit seiner Frau Fabiana Mayer in São Paulo
Der Hausherr sammelt Vinyl und tritt von Zeit zu Zeit immer noch als DJ auf, wenn ihm sein Leben als Brasiliens bekanntester Design-Impresario dazu Zeit lässt. Die Ordnung in der Wohnung, sagt er, ist hauptsächlich seiner Frau, dem Topmodel Fabiana Mayer, zu verdanken.
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Mehr Skulptur als Möbel: Das gilt für die drei Eames-Hocker ebenso wie für den Leda-Stuhl, den Salvador Dalí in den 30ern für Jean-Michel Frank entwarf. Auch die Hybrid-Teller von Seletti mischen mit beim poppigen Spiel mit den Formen
Meike Winnemuth bekommt die Auflösung unseres Wohnrätsels und nimmt Kontakt zu dem Design-Händler (MiCasa) Houssein Jarouche auf. Ihr altes Apartment, das Sie mit dem brasilianischen Architekturbüro Triptyque eingerichtet hatten und das man noch immer im Netz bewundern kann, war spektakulär mit seinem höhlenwandartigen Bücherregal. Warum sind Sie umgezogen? Ich bin ja nicht weit gekommen (lacht). Sondern lediglich vom fünften in den sechsten Stock gezogen. Meine frühere Wohnung war eher eine Junggesellenbude, nicht sehr familientauglich, im Wesentlichen nur ein einziger großer Raum. Als ich vor drei Jahren Fabiana geheiratet habe, habe ich den sechsten Stock gekauft und mein altes Apartment zu meinem Büro gemacht. Die neue Wohnung wirkt immer noch wie eine Junggesellenbude, cool und clean. Das ist vermutlich der Einfluss meiner
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Frau, sie ist sehr organisiert. Dagegen ist mein altes Zuhause sehr viel chaotischer, meine Sammlungen sind da, Platten, Bücher, Spielzeugautos, Comicfiguren … Sie zerstören alle meine Klischees! Sorry. Sie haben durch Ihr Designgeschäft MiCasa ja unbegrenzt Zugriff auf internationale Marken von Moroso über Vitra bis zu Artek. Wie schwer fällt da die Auswahl? Schwer! (lacht) Aber mir persönlich gefallen ohnehin eher alte Möbel aus dem 20. und teilweise auch 19. Jahrhundert. Ich habe eine große Sammlung in einem Lagerhaus, und als es ans Einrichten ging, bin ich mit Fabiana hinübergegangen, um einige passende Möbel auszusuchen. Wir sind uns sehr einig, was Möbel und Kunst angeht, wir mögen beide internationalen und brasilianischen Modernismus. Ich laufe gerade gelb an vor Neid – einfach mal kurz ins Möbellager spa-
zieren, um sich dort was auszusuchen, das muss ein derartiger Luxus sein … Heißt vermutlich, dass Sie sich öfter mal neu einrichten? Ja, ziemlich oft (lacht). Allerdings hauptsächlich mein altes Apartment, das verändere ich ungefähr einmal im Monat. Die Familienwohnung bleibt 123
KOLUMNE einigermaßen konstant, schon meinem zehnjährigen Sohn zuliebe. Zusätzlich habe ich ein Pied-à-terre in New York, ein kleines Studio in Chelsea, das wieder ganz anders aussieht, ich habe dort viel mit Flohmarktfunden gearbeitet. Meine Frau hasst die Wohnung, sie ist voller ertrödelter Jagdtrophäen. Ich werde
wohl nicht drum herumkommen, ein paar der Tiere abzuhängen … Wie oft sind Sie in New York? Alle drei Monate für ein paar Wochen, um nach Möbeln und Kunst zu fahnden. Ich habe neben meinem Möbelgeschäft in São Paulo eine Galerie für Pop-Art eröffnet, meine zweite
„Ich bin nicht sehr weit gekommen“: Nach der Hochzeit zog das Paar vom 5. in den 6. Stock
große Leidenschaft. Gebaut hat sie Studio MK27. MiCasa war immer mehr als nur ein Möbelgeschäft, es ist Ausstellungsfläche für Design und Architektur. Insofern ist die Galerie die perfekte Ergänzung. Ich weiß nicht sehr viel über modernes brasilianisches Design. Gibt es ein breites Interesse am Thema im Land? Wir sind nicht damit aufgewachsen. Nach dem Militärputsch 1964 brach die Tradition des Tropical Modernism um Sergio Rodrigues und Joaquim Tenreiro zusammen, viele Designer 124
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Fotos: Filippo Bamberghi/Photofoyer; Illustration: Karin Kellner
Klare Kante: Ein Bugholzsessel von Nigel Coates für Thonet neben einem Fundstück vom brasilianischen Vintage-Spezialisten Pé Palito unter Werken von Allan D’Arcangelo sowie der brasilianischen Modernisten Maurício Nogueira Lima, Hércules Barsotti und Judith Lauand
wanderten aus. Als ich MiCasa 1998 gründete, war es noch schwierig, eine Klientel aufzubauen, aber je mehr die Leute reisen, desto größer auch das Interesse an Design. Es wird besser. Wie sind Sie in dieses Feld geraten? Mein Vater, der in der Sechzigern aus dem Libanon eingewandert ist, hatte ein Möbelgeschäft gegründet. Ich habe dort mit meinen fünf Brüdern gearbeitet, aber ich habe es gehasst. Ich wollte mein eigenes Ding machen, mit Architekten, Künstlern und Musikern kollaborieren. Aus diesem Kollektiv-
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gedanken ist MiCasa geboren. Es scheint, als ob Sie immer in Bewegung sind, sogar in ihren Wohnungen. Gibt es trotzdem Konstanten? Nicht wirklich. Höchstens einige türkische Kelims, die aus meiner Familie stammen. Wenn Leute Fotos meiner Wohnungen in Zeitschriften entdecken, dann höre ich öfter: Oh, du hast da dieses und jenes Teil, würdest du es mir vielleicht verkaufen? Und ich sage immer: Klar, sofort. Ich mag mich nicht festlegen. Das gilt für meine Einrichtung genauso wie für das, was ich tue:
Ich verkaufe Möbel, ich entwerfe selbst, ich arbeite als DJ, ich mache Kunst, ich kuratiere Ausstellungen. Warum sollte ich mich auf irgendetwas davon beschränken?
MEIKE WINNEMUTH Die Bestsellerautorin („Das große Los“) versucht für uns, anhand einiger Fotos eines Zuhauses die Bewohner zu erraten. Meist geht es schief. Sie findet das lustig.
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Einer, der JOHANNES B. KERNER Exklusiv fotografiert für HÖRZU
zu Hause hat HÖRZU ist eine Marke der FUNKE MEDIENGRUPPE
Architektur & Raum SCHWEIZER ART
Foto: Dylan Perrenoud
Ist der Schritt von der Architektur zur Kunst hier kleiner als anderswo? Sieht so aus! Bei den Bauten von jüngeren Schweizer Büros scheinen Konzeptkunst, Kubismus, Fluxus oder sogar Dada immer ein bisschen mitzuspielen. Dabei sagen Leopold Banchini (hier: seine feste Installation für das Centre Pompidou), Bureau A, Vehovar & Jauslin und Localarchitecture unisono: „Bei uns ist alles zu 100 Prozent Architektur!“ Schön, dass die Ergebnisse trotzdem wie Skulpturen aussehen.
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DIE WILDEN Zeichen-Künstler text
alexander hosch
Die trauen sich was, die Schweizer. In der Baukunst setzt eine junge Generation von Kreativen jetzt Zeichen der besonderen Art. Vier Büros aus Genf, Lausanne und Zürich machen, was sie wollen – und das ziemlich gut
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„Wohnfabrik“ nennt Architekt Leopold Banchini seine Casa CCFF, die er in einem Vorort von Genf über ein Gleisareal setzte. Eine Villa wider Willen, die so konsequent wie störrisch ihre Möglichkeiten zwischen urbanen und ruralen Aspekten auslotet: Bäume, Garten, Weitsicht – alles da! Und per Rad in die City dauert es fünf Minuten. Unten: Die marmorne Küche im lichten offenen Großraum. Linke Seite: Die Außenfront mit den Sheddächern
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LEOPOLD BANCHINI casa
ccff
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Fotos: Dylan Perrenoud (7)
uch in der Schweiz wollen Architekten gern hoch hinaus und Großes schaffen. Weil es aber in einem kleinen Land mit kleinen Städten, dafür umso mächtigeren Bergen eine natürliche Maßstabsgrenze für Häuser gibt, liegt die wahre Größe hier oft in einer guten Idee oder einer besonderen Vision. Die extreme Landschaft verlangt einerseits beträchtliche Rücksicht, andererseits Mut zu konsequenter Moderne – damit am Ende nicht alles gleich aussieht. Häufig sind die eidgenössischen Architekten auf diesem Feld sogar die besten der Alpen gewesen. Das gilt für Legenden des 20. Jahrhunderts wie Le Corbusier und für die Weltberühmten von heute wie Peter Zumthor. Doch damit nicht genug: Die nächste Generation läuft sich bereits warm – um das Angemessene mit dem Avantgardistischen zu verbinden. Mitten in der Altstadt von Genf sitzt in einem weißen Dachbüro der 38-jährige Leopold Banchini. Zusammen mit Daniel Zamarbide fertigte er seit 2012 unter dem Namen Bureau A an den unterschiedlichsten Flecken der Schweiz wunderbar verspielte, oft temporäre und irgendwie utopische Kleinarchitekturen, die stets mit einem konzeptkünstlerischen Storytelling versehen sind. 2017 trennten die beiden ihre Büros; sie arbeiten aber weiter zusammen. Macht Banchini nun Art oder Architektur? „Für das Künstlerleben war ich zu ängstlich, ich fürchtete die totale Freiheit etwas“, erwidert er und lacht. „Bei aller Utopie brauche ich immer einen Zweck, eine Nachfrage, ein Programm, einen Auftraggeber, damit ich vor mir selber die Zeit und Energie rechtfertigen kann, die ich mit einer Idee verbringe. Und wenn es den Kunden einmal noch nicht gibt, erfinde ich ihn.“ So wie im Fall der Casa CCFF. Das kleine Privatdomizil ist eines der ersten Solowerke von Leopold Banchini Architects, sein erstes richtiges Haus, das er in der Schweiz gebaut hat. Die Casa heißt so, weil sie direkt an einem breiten Gleisareal der Schweizer Bundesbahnen (französisch: CFF) steht, in Lancy an der Genfer Stadtgrenze. Wie davor schon die Bureau-A-Projekte ist auch dieser Bau minimalistisch, ökologisch, kostenschonend in Material und Verbrauch, dazu provozierend eigenbrötlerisch. Der Blick aus dem großen Wohnraum geht über die aus- und einfahrenden Züge auf eine Agglomeration von Industrielagern mit Sheddächern. Banchini kaufte das Grundstück selbst, bevor er es bebaute. Der Kunde, der das neue
Haus dann Anfang 2018 erwarb und bezog, hat es im Internet entdeckt. Ihn faszinierte die Aussicht, in einem noch unentwickelten, aber aufstrebenden Vorort, fünf Minuten von seinem Büro entfernt, ein kleines „Landhaus“ zwischen Bäumen zu besitzen, das zugleich extrem urban ist. Nebenan wachsen die Genfer Hochhäuser der Zukunft heran. Die Casa CCFF steht auf schmalen Pilotis. Wie bei Le Corbusiers Villa Savoye oder einigen Case Study Houses lässt sich das Auto direkt unter dem schwebenden Baukörper parken. Von außen wirkt das Holzgebäude dunkel. Innen ist es komplett weiß und – bis auf die Front zu den Gleisen und ein großes Rundfenster – sehr introvertiert organisiert. Besonders liebt der Hausherr den verglasten Patio mit den Pflanzen in der Mitte sowie das Licht, das überall hereindringt und sich in Streifen über Wände und seine indigene Kunst aus Asien und Afrika legt. Die Casa hat – Antwort auf die Nachbarschaft – vier große mit Blech gedeckte teilverglaste Sheds. „Wohnfabrik“ nennt Banchini sie daher. „So ein Haus gab es bis jetzt nicht in Genf. Es wurde als Experiment entwickelt, aus vorgefertigtem Material, so einfach und billig wie möglich. Innen ist alles mit Pressholz-Platten gearbeitet und von absichtlich rauer Ästhetik.“ Gibt es in der Schweiz eine engere Verbindung zwischen Kunst und Architektur als anderswo?
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Schwarz-Weiß-Denken mit Pfiff: Man betritt das dunkle Holzhaus durch den Glaskasten im Erdgeschoss. Eine weiße Treppe wirkt wie ein Calder-Mobile, das sich in die Wohnetage hochschraubt. Kreisfenster, Zylinder, Quader und Würfel illustrieren eine ästhetische Supermoderne, die durch ihre Sparsamkeit, was Energie und Material anbelangt, zugleich zeitgenössisch ist. Unten rechts: Der bepflanzte Patio mitten im Wohnraum. Links: Die Fassade der Casa CCFF – mit Weitblick über die Gleise bis zur Genfer City
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Eine Hommage an das Schöne, das aus dem Nichts entsteht: die Gartenhütte La Fabrique bei Genf fordert im Zeitalter der unerschwinglichen Immobilien zum Umdenken auf. Aus Fensterrahmen von der Müllkippe selbst gebaut, von der Fantasie bezahlt … Warum sind eigentlich nicht alle Architekten Künstler?
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Fotos: Dorothée Thébert (2); David Gagnebin de Bons; Dylan Perrenoud für Leopold Banchini+Daniel Zamarbide (4); Dylan Perrenoud
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Spiel mit zauberhafter Schlichtheit: Zusammen mit Daniel Zamarbide erfand Banchini die transportable Theaterbühne „Monte Verità“ (im Detail l.). Das Konstrukt aus Holz, Filz, Draht, Seil, Blech, Metallösen und Neonschrift bauten sie 2015 für ein Wandertheater, das im Sommer durch die Schweiz zieht. Alle Teile passen auf eine Pick-up-Ladefläche
Undercover: Schreibtische, Sitze, Lautsprecher, sogar eine Küche sowie ein kleiner Garten befinden sich unter den klappbaren Teppichfliesen der vierten Etage des Centre Pompidou. Die fixe Installation für Workshops und Talks des Pariser Kunstmuseums baute Banchini 2018
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Staunen erwünscht: Der mystisch beleuchtete offene Circular Pavilion aus Holz, Metall, Draht und Glühbirnen stammt aus dem Jahr 2016. Die Outdoor-Location ist Teil des alljährlich im Juli stattfindenden legendären Montreux Jazz Festival
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Dynamisches Interieur: ein schmales Wohnhaus mit drei Apartments im Lausanner Stadtteil Rovéréaz. Alleinstellungsmerkmal: die Wellenfassade (u. r.). Links: Zickzack-Zoo – Eingangspavillon für den Tierpark von Le Vaud im Jura. Unten: Elegante Falten, Zacken, Knicke gliedern die Kapelle von Pompaples. Den Geniestreich, der eigentlich nur „Pausenclown“ während eines Umbaus war, gaben die frommen Schwestern dann einfach nicht mehr her
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Fotos: Matthieu Gafsou (3); Milo Keller
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„Ja“, findet Banchini. „Mindestens seit Herzog & de Meuron vor 20 Jahren für ihre Bauten mit zeitgenössischen Künstlern wie Thomas Ruff und Rémy Zaugg gearbeitet haben. Das machte ihre Projekte so besonders.“ Es gibt ein anderes Beispiel für Banchinis innovativen Umgang mit Raum und Zweck: das fixe neue Interieur, das er im Herbst 2018 für die vierte Etage des Pariser Centre Pompidou vorstellte. Unter quadratischen grauen Teppichfliesen liegt hier eine zweite Welt: Büroinstallationen, Laut sprecher, Stühle, Tische, Regale verbergen sich in der Bodenlandschaft; man kann einzelne Module aufklappen, ihre Attribute ausfahren und so das Innenleben nutzen. 2020 wird, nach über einem Jahrzehnt Planung, ein nächstes BureauAKonzept Realität: „Seit 120 Jahren träumt Genf von einem RundumZug durch die Vororte, der auch Frank reich anbindet. Jean Nouvel baut jetzt dafür einen Bahnhof, und wir haben den Wettbewerb für den Vorplatz gewonnen, wo unter anderem aus 180 Eichen – in Anlehnung an das BeuysProjekt – ein Stadtdschungel entsteht.“ Eine halbe Eisenbahnstunde weiter liegt, direkt am Genfer See und mit Postkartenblick auf das MontBlancMassiv, Lausanne. Dort lebt Manuel Bieler, 48, der in der Hügelstadt mit seinen beiden Partnern von Localarchitecture und rund 30 Ange
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stellten in den letzten 15 Jahren eine regelrechte Poetologie der ArchitekturStrukturen entwickelt hat. Zu der gehören vor allem Knicke, Faltungen, Polygone, Vektoren und mal symmetrische, mal wilde Zacken. „Die Struktur bestimmt das Bau werk, nicht die Fassade“, postuliert Bieler. „Deshalb interessiert uns der Prozess mit den Klienten, Ingenieuren und Holzkonstrukteuren oft mehr als nur die fertige Ansicht.“ Vom Treffpunkt im Lausanner Café de Grancy beginnt eine Autotour durch die Umgebung – zu Bauten mit kleinen und großen Gesten. Wie die an kubistische Plastiken erinnernde OrigamiKapelle in Pompaples. Deren extrem dünnes, gefaltetes Holztragwerk wurde mit Forschern der Universität EPFL eigentlich nur für den temporären Gebrauch entwickelt. Doch dann gaben die Diakonissen von SaintLoup sie nicht mehr her. Auch auf die skulpturale naturnahe RudolfSteinerSchule im Lausanner Vorort Bois Genoud würde keiner hier verzichten wollen. Mit ihren geschickten Knicken wirkt sie elegant und schmal, obwohl sie zwölf Klassenzimmer birgt. In Rovéréaz, einem anderen Außenbezirk, schmückt seit 2014 ein DreiApartmentHaus mit einer wel ligen Eternitfassade einen TriangelGrundriss, den sich sonst niemand zu bebauen traute. Letzte Station ist der ländliche Ort Le Vaud, wo Localarchitecture jüngst gleich zwei zeichenhafte Gebäude errichtete: den ZooEingang und eine Mehrzweckhalle. Bieler sagt, ihn habe immer die „Objektarchitektur“ seines Landes fasziniert. Die beiden Basler Signalboxen von Herzog & de Meuron oder ein Archetyp wie die neue MonteRosaHütte lasse keinen Schweizer Architekten kalt. Dennoch fühlt er sich eher von der performativen Kunst – Tanz, Theater, Happening – beeinflusst als von Malerei und Bildhauerei. Passenderweise dienen die meisten Gebäude von Localarchitecture denn auch der Zusammenkunft von Menschen: Kirchen, Schulen, Sozialwohnungen, Mehrfamilienhäuser, Gemeindehallen. „Zum Glück erlauben es uns ihre Zwecke und Programme oft, expressiv zu arbeiten, mit kleinen Übertreibungen der Formen. Dabei zitieren wir in den Motiven manchmal frühere Bauten. Bei der Halle von Le Vaud waren das zum Beispiel die offenen Holzgitter von Pavillons am See, die wir in Yverdon bauten. Diese Wiederer kennbarkeit wirkt dann fast wie ein Logo.“ Während die Architekturen der französisch sprachigen Kantone oft abgelegen in Hochtälern liegen oder ihre signalhafte Wirkung im Wettstreit mit dem Gebirge entfalten, baute das Zürcher Ehepaar Mateja Vehovar und Stefan Jauslin bisher vorwiegend zwei Autobahn oder Zugstunden davon entfernt: im deutschsprachigen Flachland 135
SCHWEIZER POSITIONEN
VEHOVAR & JAUSLIN busbahnhof
Aus der Not heraus … „Weil Aarau so ein Nebelloch ist“, ließ das Zürcher Ehepaar Mateja Vehovar und Stefan Jauslin das transparente Dach des neuen Busbahnhofs leicht hellblau färben. Damit gelang ihnen 2013 eine mehrfach preisgekrönte, spielerisch leichte Geste – mit voluminöser Wirkung
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Fotos: Eduard Hueber/Archphoto; Mensur Zulji
zwischen Zürich, Aarau und Rapperswil. Über ihr bisher stärkstes ArchitekturZeichen – ein großes amöbenförmiges Kissendach für ein BusTerminal von 2013 – berichten die beiden an einem besonde ren Ort: in der von ihnen vor 13 Jahren geplanten SihlcityKirche, einem ökumenischen Besinnungs raum mit Café und zwei Gesprächszimmern, der Teil einer ShoppingStadt in ZürichSüd ist. Haben sie sich mit dem organischen Terminal vor dem Aarauer Bahnhof, das viele internationale Preise bekam, mal so richtig ausgetobt? Die beiden müssen lachen. „Kann schon sein. Nach fast neun Jahren Planung, in denen es die ganze Zeit um das Stadtbild, die Verkehrskonzeption, die LEDIn stallationen der Unterführung, um Umsteigeorte, Platzorganisation und Fahrzeuglogistik ging, woll ten wir dem Busbahnhof am Ende etwas Helles, Fröhliches und Identitätsstiftendes aufsetzen“, sagt Mateja Vehovar. Zusammen mit Spezialbetrieben und Handwerkern entwarfen sie ein durchsichti ges Dach aus ETFEFolienkissen, das den Himmel darüber immer hellblau erscheinen lässt. Anders als das typische Schweizer Architek turobjekt ist das Aarauer Dach von 2013 kein kleiner Pavillon – sondern eine große Geste von großer Leichtigkeit, die an Wolkenformationen erinnert. Im Herbst wollen Vehovar und Jauslin im Vorort Kloten in der Nähe des Flughafens Zürich an die schöne Erfahrung mit den hiesigen Kunst handwerkern anschließen: Dann wird ihr neues, aus GlasStelen zusammengefügtes Kreiselkunst werk gebaut, das aus jedem Winkel andersfarbig leuchtet. Die nächste Signalarchitektur nach Schweizer Art! – 3/2019
Jetzt im Handel oder unter kiosk.brandeins.de Die neue Ausgabe der edition brand eins ist da: Das Beste von uns zum Thema Neustart.
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HAUS DER offenen TÜREN Wie lebt es sich in einem Experiment? Die Patchworkfamilie des Innenarchitekten Tom Callebaut macht’s vor. Das G-Lab in Brügge ist ein Ort der Begegnung. Großzügigkeit, Gemeinsamkeit und Gastfreundschaft sind hier die sandr a gottwald luc roymans planerischen Triebkräfte text
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Mexiko. Zweitens verfolgte der kreative Belgier noch ein ganz anderes Ziel – das des Teilens. Nicht aus kommerziellen Gründen – Callebaut vermietet sein Zuhause nicht über Airbnb oder andere Ferienhausportale. Nein, er lädt Menschen aus seiner Umgebung dazu ein, die „good vibrations“ des Gebäudes mit ihm zu spüren. Doch was macht ausgerechnet diesen Sixties-Bau so besonders? „Die Offenheit – und die Atmosphäre eines Ferienhauses“, schwärmt der 48-Jährige. 2006 hatte er ihn als ebensolches von einem älteren Ehepaar gekauft. Und wie es der Zufall wollte entstand auch die Idee zum Umbau in den Ferien: auf einer Reise durch Südamerika. Dort beobach-
Ein Zimmer ohne Dach? Klingt eher nach Luftschloss als nach Lebensraum. Doch wenn es nach den Callebauts geht, sollten wir viel mehr Zeit an der frischen Luft verbringen – etwa bei einer Partie Boule. Gleich neben dem leuchtend gelben Sonnenraum (r.) liegt das Schlafzimmer bzw. das Bad der Eltern. Bei Bedarf wird es mit Schiebetüren geschlossen
ls Tom Callebaut vor sieben Jahren einen Pavillon, so breit wie sein Haus, in den Vorgarten setzte, dachten wahrscheinlich viele seiner Nachbarn, dies sei ein normales Gartenhaus. Ein Platz für Geräte und Fahrräder, ein Ort, an dem die Kinder an trüben Tagen spielen könnten. Doch dann, vor gut einem Jahr, nahm Callebauts lang gehegter Traum vom offenen Wohnen neue Gestalt an: Anstelle des alten Pavillons ließ der Innenarchitekt drei Betonwände auf das Grundstück setzen, lasierte sie in hellem Grün, spannte unzählige Meter Segeltuch um die Terrassen und nannte das Ganze „Generosity-Lab“,
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kurz G-Lab. Das G steht für Großzügigkeit, für Gastfreundschaft, für Gemeinsamkeit. Der Plan dahinter? Die Räume seines Zuhauses mit Freunden, Nachbarn und anderen experimentierfreudigen Menschen zu teilen. D I E I D E E Erstens wollte Callebaut mit einfachen Mitteln mehr naturnahen Lebensraum für sich und seine Familie kreieren – auch wenn die klimatischen Bedingungen nahe der belgischen Nordseeküste mit durchschnittlich 1 650 Sonnenstunden pro Jahr nicht ganz so optimal sind wie in der Karibik oder in
tete der Planer, wie sich die Leute ganz selbstverständlich vor dem Haus oder auf der Veranda trafen, gemeinsam redeten, spielten, aßen. Nach diesem Vorbild wollte er sein Familiendomizil zu einem Ort der Gastfreundschaft ausbauen. D I E VO R AU S S E T Z U N G Kein Plan ohne Regeln! Neben seiner Partnerin Ann François sollten auch ihre beiden Söhne, 15 und 16, sowie Callebauts 13-jährige 139
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Eine Klingel gibt es zwar, doch die Haustür sucht man vergeblich. Statt dieser schützt ein acht Meter breiter Vorhang die Intimsphäre der Bewohner. Auch die rückwärtigen Veranden lassen sich mit Segeltuch verhüllen
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Tochter die Entscheidung zu den gemeinsam vereinbarten Konditionen mittragen: Mitbewohner dürfen öffentliche Bereiche wie den Garten, die neu entstandenen Open-Air-Räume sowie das Erdgeschoss nutzen. Das Schlafzimmer der Eltern, der sogenannte Moon Room, hingegen ist tabu. Gleiches gilt für die Räume der Kinder im Obergeschoss des Hauses. „Wir möchten nicht, dass sie nach einigen Jahren Hassgefühle gegen soziales Verhalten entwickeln“, erklärt der Familienvater. Deshalb dürfen sich die Kids jederzeit in ihr Reich unter der Dachschräge zurückziehen. Statt einem Zimmer für jedes Kind gibt es separate Schlaf-Konchen und offene Bereiche zum Lernen oder Chillen. Die Familie ist sozusagen die Blaupause für das Sharing. „Wir versuchen unseren Kindern zu zeigen, dass man sehr gut Dinge teilen kann, aber nicht zu jeder Zeit teilen muss“, sagt Tom Callebaut. Manchmal ist man eben offen für viel Sozialleben 140
und ein andermal sehnt man sich nach mehr Privatsphäre. Beides muss in flexiblen Räumen möglich sein.“ D I E U M S E T Z U N G Anfang 2018 war es dann so weit: Boden und Wände der neuen Außenräume wurden gesetzt und eingerichtet. Hinzu kam eine Boule-Bahn entlang des Gehwegs, sozusagen als spielerischer Einstieg für scheue Nachbarn und Gäste. Mit nur drei Wandscheiben entstanden zwei neue Räume entlang des Hauses, und die Wohnfläche vergrößerte sich von 120 auf 300 Quadratmeter. „Ich wollte nur ein Minimum an architektonischen Ele-
menten verwenden“, erklärt Callebaut. Ganz ohne Dach, Fenster, Heizung sowie Elektro- und Sanitärinstallation bekam die Familie ein großzügiges Traumhaus für einen Bruchteil des Budgets, das ein Gebäude dieser Größenordnung normalerweise kosten würde. Und womit der Innenarchitekt überhaupt nicht gerechnet hatte: Ein Gärtner, ein Maler und andere Handwerksbetriebe unterstützten das Vorhaben mit Zutaten oder Manpower, ohne dass der Planer sie darum gebeten hatte. Callebaut lud daraufhin nicht nur die Chefs, sondern ganze Handwerker-Teams zu sich nach 3/2019
Sun Room
Pink Room
Blossom Room
Neighbours Court
Zen Room
Escape Room
Free Space Room of Damn Connec ting Room
Drei Wände, ein Segeltuch – und viel Farbe: Im G-Lab verschmelzen Drinnen und Draußen zu einem großzügigen Miteinander. Die Einrichtung der neuen Open-Air-Räume wechselt je nach Saison und Anzahl der Mitbewohner
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D E R INN E NARCHITE K T TOM CALLEBAUT Der 1971 geborene Planer leitet seit über 20 Jahren das Designstudio tc plus in Brügge. Er lehrt zudem an der Fakultät für Architektur der KU Leuven. Bei Projekten in Indien, Nepal und dem Kongo liegt sein Schwerpunkt vor allem auf dem soziokulturellen Hintergrund. Mit seinem vierköpfigen Team betreut Tom Callebaut private und öffentliche, vor allem aber kirchliche Projekte. Respektvoll gegenüber dem religiösen Erbe, versucht er, Gemeinschaftseinrichtungen nach aktuellen Anforderungen zu gestalten. Was braucht ein Raum, um Menschen zusammenzubringen? Das ist sein Kernthema. Hierzu arbeitet er seit einigen Jahren an einer Designstudie mit dem Titel „The generous space, a connecting concept for a world in motion“. Callebaut ist überzeugt, dass die moderne Gesellschaft über ausreichend Wissen, Erfahrung und Ressourcen verfügt, um diesen Planeten für alle Menschen zu einem fantastischen, lebenswerten Ort zu machen. DATEN UND FAK TEN G-LAB 2006 kaufte Tom Callebaut das 120 Quadratmeter große Wochenendhaus auf einem gut 900 Quadratmeter großen Grundstück in Brügge. Nach der Scheidung lebten er und seine Tochter zunächst allein dort, bis 2012 Lebensgefährtin Ann François mit ihren zwei Söhnen einzog. Die Patchworkfamilie brauchte Platz. Als erste Erweiterung setzte der Innenarchitekt 2011 einen zehn Meter langen Pavillon in den Vorgarten. 2018 wurde die Wohnfläche durch die räumliche Umgestaltung des Vorgartens und der rückwärtigen Terrassen auf 300 Quadratmeter erweitert. Mit nur drei Betonwänden entstanden vor dem Haus zwei zusätzliche Außenräume, die von März bis Oktober genutzt werden. Zudem wurde eine Boule-Bahn angelegt, die allen Nachbarn zur Verfügung steht. Bereits im ersten Jahr nach der Erweiterung besuchten rund 1000 Menschen das G-Lab.
Hause ein: „Ich wollte, dass jedem klar wird, dass ich nicht einfach eine grüne Wand in den Garten setze, sondern dass dies Räume sind, in denen man sich einerseits geborgen fühlt und die andererseits allen offenstehen.“ D E R S T I L Das Urgebäude aus den 60er-Jahren blieb unverändert, lediglich einige Räume bekamen einen neuen Anstrich. Mit Weiß, Hellgrün, einem leuchtenden Gelb und einem romantischen Rosa gaben Callebaut und seine Frau Ann François den jeweiligen Bereichen eine klare Identität. Denn anders als gewohnt, gliedern sich die Räume ihres Hauses nicht ihrer Funktion 141
R AUMKONZEPT entsprechend in Wohn-, Ess-, Schlafzimmer und Küche, sondern nach der jeweiligen Stimmung ihrer Bewohner. Das heißt: Grün steht für die Symbiose von Architektur und Natur. Deshalb sind die Betonwände und Terrassen draußen sowie ein Teil des Fußbodens innen hellgrün gestrichen. Schiebt man die raumhohen Glastüren beiseite, scheint das Drinnen mit dem Draußen optisch zu verschmelzen. Der leuchtend gelbe Raum spendet Energie – als würde man die Sonne betreten. „Wenn dir selbst ein wenig Kraft fehlt, macht dich der Raum glücklicher“, sagt Callebaut. Rosa findet man überall dort, wo ein Ort zum Träumen einlädt. Am besten träumt es sich wohl auf der rückwärtigen Terrasse, morgens unter der Außendusche mit Blick in den Garten oder am Nachmittag bei einer Siesta in der Hängematte. Mit Agaventöpfen bepflanzt, erinnert dieser Platz an eine Veranda in Acapulco. Doch im G-Lab darf auch geschrieben, gelernt und konzentriert gearbeitet werden. Hierfür wurde der große Raum im Erdgeschoss mit Möbeln und Accessoires aus hellem, naturbelassenen Holz eingerichtet. Dort wird außerdem gestritten, damit sich die „bad vibrations“ nicht überall im Haus verteilen. Callebaut und seine Frau halten sich daran. Alle weißen Bereiche sind neutral und nehmen sich so zurück, dass der Blick automatisch nach draußen fällt. Und die Küche? Sie ist ein Sonderfall. In ihr finden sich sämtliche Farben und Materialien wieder, die im Haus verwendet wurden. Farbe signalisiert: Hier ist ein öffentlicher Bereich, den alle nutzen können. „Am Anfang haben wir Gästen beim ersten Rundgang durch das Haus immer gesagt, da findet ihr Tee und Kaffee, dort sind Gewürze, gegenüber steht die Spülmaschine, aber schon nach 15 Minuten hatten sie das vergessen“, erklärt der Planer. Nun fällt die Orientierung leicht, und alle fühlen sich schnell zu Hause. DA S E RG E B N I S Es hat sich rumgesprochen: Seit den vielen Veränderungen 142
Leuchtendes Gelb spendet Energie an grauen Tagen. Die Schränke im „Sonnenraum“ bilden eine Nische, in der man sitzen oder arbeiten kann. Draußen vorm Fenster lockt eine Hängematte
im letzten Jahr kommen Nachbarn und sogar Bewohner anderer Stadtteile, um das G-Lab zu entdecken. Manche nur aus Neugier, andere, um zu bleiben und zu teilen. Selbst eine Gruppe Studierender der Uni Bonn kam zu einer Exkursion nach Brügge; man hielt hier einen Workshop und Lectures ab. Alles in allem nutzten im letzten Jahr rund 1000 Menschen die neu gestalteten Räume. „Einen so großen Erfolg hatten wir nicht erwartet“, freut sich der Hausherr. Zumal gerade die Nachbarn anfangs sehr irritiert waren – und zu scheu, sein Angebot anzunehmen. Aber wenn Callebaut nun mit ihnen bei einer Partie Boule ins
„WIR SIND KEINE FANATISCHEN OUTDOOR-FREAKS“ TOM CALLEBAUT
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Gespräch kommt, sind sich fast alle einig, dass sein Anbau eine tolle Idee war. Einige, zum Beispiel der Gärtner oder der Tischler, die schon beim Umbau halfen, kommen oft, einfach so. Andere warten, bis sie offiziell eingeladen werden. Das macht die Familie einmal im Jahr, vor den großen Ferien. Allein schon, um zu zeigen, was sich im G-Lab getan hat. Und hat die Idee bereits Schule gemacht? Einige Freunde spielten mit dem Gedanken, eine Kinonacht in ihrem Garten zu
veranstalten, und baten Callebaut um Rat und Hilfe bei der Organisation. Andere beschlossen, etwas an ihrem Haus zu ändern, sodass sein Büro tc plus nun vier Folgeprojekte betreut. Auch familienintern gibt es positive Nachrichten. „Seit unserem Umbau sprechen wir viel mehr über das Teilen, die Gemeinschaft, das Soziale als früher“, berichtet Callebaut. „Die Architektur hat sehr dabei geholfen, diese gesellschaftlichen Themen in den Mittelpunkt zu rücken.“ Für den global
Viel Stoff für heiße Sommer: Seit dem Umbau trennen eine Außendusche und der Escape Room die beiden zum hinteren Garten gelegenen Terrassen. Wer mal ungestört sein will, zieht einfach den Vorhang vor. Die rosafarbene Treppe (r.) führt in die obere Etage ins Reich der drei Kinder
Fotos: Luc Roymans/LivingInside
agierenden Innenarchitekten hat das G-Lab jedoch noch einen weiteren Sinn: Er will Kommunalpolitiker, Abgeordnete und Stadtplaner dazu bringen, ganz anders über Gebäude, das Zusammenleben von Menschen, über Privates und Öffentliches nachzudenken. Vielleicht findet der eine oder andere sogar den Weg zu ihm nach Hause. „Unsere Tür ist ein Vorhang von acht Metern“, lacht Callebaut. Somit ist sein Haus für gute Ideen immer offen. –
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Garten & Landschaft WO L K E N I N S B E E T Sie sei auf der Suche nach dem, was „nur Zeit und Natur können“, sagt die englische Gestalterin Sophie Walker. Mit dem Bildhauer Anish Kapoor hat sie im Tilburg ein Ensemble aus Himmelsspiegel und Wassergarten geschaffen. Auch Pflanzen sind dabei. Wilde Arten wie Salbei aus Japan oder Eisenhut aus Nepal, Verwandte von in den Niederlanden gezüchteten Sorten. Spannend sei, so Walker, das Ungezähmte mit dem Veredelten zu vergleichen.
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Foto Peter Cox
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DACHTERRASSEN
PARADIES AUF doppeltem Boden
Unser großer Wunsch: Die Stadt soll grün sein. Fassaden und Dächer bepflanzt. Bienenweiden allerorten. Dass dies keine Utopie sein muss, zeigen die Terrassen von Andrea Keidel. Die Münchener Landschaftsarchitektin hat sich auf das Gärtnern mit Gefäßen spezialisiert, ein Handwerk mit vielen Sonderregeln TEXT
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elke von r adziewsky
FOTOS
regina recht
IL LUST R AT IONEN
nina lang
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RUNDUM VERSORGEN Streicheleinheiten für die Gewächse: Andrea Keidel sprüht ein homöopathisches Stärkungsmittel auf. 1998 hat sie ihre Firma „Blumen und Gärten“ mit Schwerpunkt auf Terrassen und Balkone gegründet. An die 70 davon betreut sie jedes Jahr, sorgt für den Schnitt, beugt Schädlingen vor und ergänzt die Anlage mit Sommerblumen
ZWISCHEN GRÜNEN WIPFELN BOGENHAUSEN, PENTHOUSE G r ö ß e: 13 0 m ²; Tr a g l a s t : 3 5 0 k g /m ²; ø We s t , N o r d , O s t
SCHWARZ GIBT DEN TON AN. F Fassade, Brüstung und alle Pflanzgefäße sind kohlefarben gefasst, „was immer ein schöner Hintergrund für Blattgrün und Blütenfarben ist“, sagt Andrea Keidel. Die individuell gefertigten Gefäße sind breit oder schmal, manche höher, andere niedriger – gut, um Dynamik in die Reihe der Töpfe zu bringen. Doch der große Trick liegt im Verborgenen: Sie alle sind
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innen isoliert, das schützt das Wurzelwerk vor Hitze und Frost. Außerdem ist der Boden hochgesetzt, um Erde und Drainagematerial zu sparen. Denn kritisch auf einer Terrasse ist immer das Gewicht. Weil wenig Erde weniger Feuchtigkeit bindet, braucht derartiges Haushalten eine Bewässerungsanlage. Wobei gilt: nicht zu viel wässern. Dreimal täglich maximal fünf Minuten reichen aus.
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DACHTERRASSEN
EIN BISSCHEN MITTELMEER … Die Bewohner stammen aus Südfrankreich; für etwas Heimatgefühl hat Andrea Keidel ihnen Pflanzen ausgesucht, die mediterrane Atmosphäre erzeugen wie Lavendel, Perovskia und Verbena bonariensis. Dazu großblättrige Hosta, ein besonders topftaugliches Gewächs, Weidenblättrige Birne, die dem Oliven-
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baum ähnlich sieht, und das elegant überhängende Gras Hakonechlea. Weil aber „nun mal nicht alles so perfekt steht, wie man es gern hätte“, bindet sie Triebe hoch – jeden einzeln an einen auf Länge geschnittenen dünnen Bambusstab. Hauptsache ist, die „Pflanzen haben ein schönes Gesicht und von der Fesselkunst ist nichts mehr zu sehen“.
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DIE FORM WAHREN Um den Acer palmatum ,Sango Kaku‘ niedrig zu halten, stutzt ihm Andrea Keidel zweimal im Jahr die Äste. Immer so, dass er eine lockere Form behält. Zu den Füßen des Fächerahorns strotzt eine Wachsglocke, Kirengeshoma palmata, „wunderschön im Halbschatten“, so die Gärtnerin. Anders als Gehölze, die klein bleiben sollen, wird die Staude für üppiges Wachstum kräftig mit Osmocote gedüngt
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DACHTERRASSEN
WILDNIS IM BLICK SCHWABING, HINTERHOF G r ö ß e: 3 5 +73 m ²; Tr a g l a s t : 5 0 0 k g /m ²; ø O s t , S ü d , We s t
EINE BERGWIESE WÄRE SCHÖN, sagten die Bewohner, vielleicht eine kleine Andeutung davon. Kein unmöglicher Wunsch, denn die Betondecke der ehemaligen Freikirche trägt die gut acht Zentimeter Erde, die für Zwergglockenblumen, Braunellen, Heidenelken und Gräser nötig sind. Ein Hingucker ist das Geländer zwischen Dachfläche und Terrasse. Der für den Bau verantwortliche Architekt Marco Keil hat sie aus unregelmäßig breiten Aluminiumplatten fertigen lassen. Hellblau, golden
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und in dunkler Bronze gefasst, nehmen sie Farben des Hauses auf. Auf der eigentlichen Terrasse blühen riemenblättrige Montbretien, im Hintergrund die orangeblütige Klettertrompete. Rankpflanzen wie Clematis montana ‚Superba‘ oder Parthenocissus quinquefolia liefern nicht nur Sichtschutz, sondern helfen auch, Raum zu gestalten. Flach geschnitten wachsen im Gefäß vor ihnen auch noch Stauden oder Gehölze. Wichtig: An den Winddruck denken und die Kletterhilfen fest verankern.
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EINE WIESE PFLANZEN Eine acht Zentimeter dicke Erdschicht braucht die Gräserlandschaft. 15 Zentimeter sind für Lavendel nötig, mit fünf Zentimetern kommt eine Matte aus Mauerpfeffer und kleinen Fetthennen aus. Andrea Keidel hat die Gräser und Stauden mit gut daumendicken Wurzelballen direkt aus Multitopf-Paletten heraus gepflanzt. Damit sie auf der Terrasse überdauern, wurden sie trainiert, das heißt in extra abgemagerter Erde herangezogen. Wichtig ist, dass die Wiese in ihrem ersten Sommer gut gewässert wird
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DACHTERRASSEN DAS RISIKO EINGEHEN Kiefern und etliche Gräser sind von Natur aus an extreme Standorte gewöhnt. Man könnte sich für Terrassen auf sie beschränken. Oder für die Gestaltung wichtige Gehölze nehmen und das Risiko eingehen, dass auch mal etwas erfriert. In der Regel wählt Andrea Keidel Gewächse, die im Container aufgewachsen sind, „denn die entwickeln sich besser“. Hilfreich ist ebenfalls, „sich Gehölze für die Terrasse als Bonsai vorzustellen und sie demgemäß zu behandeln“
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EXTREME WETTERLAGE GIESING, 14. STOCK G r ö ß e: 2 9 5 m ²; Tr a g l a s t : 4 0 0 k g /m ²; ø: N o r d , O s t , S ü d
TRUMPF IST DIE AUSSICHT. Pflanzen sollen sie nicht verstellen, sondern vor allem für Geborgenheit sorgen. Andrea Keidel hat Durchhaltehelden ausgewählt wie das asiatische Pfaffenhütchen, Euonymus alatus. Es färbt sich im Herbst scharlachrot und verzweigt stark – gut für Formschnitt. Dazu duftendes Tautropfengras, Sporobolus heterolepis und Sesleria autumnalis, frischgrün und ein perfekter Partner für
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elken, ob sie nun Heidene blühen oder ihre schwarz Saatstände ausgebildet haben. Terrassengeprüfte Gräser sind auch: Miscant s ‚Kleine Silberspinne‘, S Briza media und das überhänge Hakonechloa macra. Sie alle bild den mit den Jahren dichte Wurzelballen. Um Pla für weite ere Gewächse zu schaffen n, sägt Andrea Keidel mit einem superscharfen japaniscchen Pflanzmesser Löcher in den Krautstock.
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DACHTERRASSEN
KLUG WÄHLEN Das Laub des Perückenstrauchs ist schwarzrot, die Blütenrispen gleichen Zuckerwatte, der Wuchs ist locker: „Ich liebe diese Pflanze“, sagt Andrea Keidel. Cotinus coggygria ‚Royal purple‘ erträgt Winterfrost, Sommerhitze, auch mangelndes Wasser stoisch. Weitere gut geeignete Gehölze für die Terrasse sind: Essigbäume, Rispenhortensien, weil sie lange blühen und Sonne aushalten, das Großfrüchtige Pfaffenhütchen und Holunder
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SCHICHTWECHSEL: TOPFGÄRTNERN WILL GEKONNT SEIN GEWICHT ist die kritische Größe auf Balkonen. Ganz klassisch aufgebaut wiegt der 50-Zentimeter-Topf (Atelier Vierkant) samt Pflanze und wassergesättigter Erde 105 Kilo. Wie von Andrea Keidel demonstriert, sind es lediglich 86 Kilo. 1 BLÄHTON stellt die Drainage. Am besten ist er gebrochen, dann liegt er dichter und hält etwas Feuchtigkeit. Minimum ist hier eine fünf bis sieben Zentimeter dicke Schicht.
2 SCHAUMGLAS verringert das Gewicht. Im Granulat steckt ein Untersetzer aus Kunststoff, der Gießwasser sammelt – auch ein Trick, um die Wasserversorgung im Topf kontinuierlich zu halten. 3 EIN VLIES (Plantex) verhindert, dass Feinteile aus der Pflanzerde in die Blähton-Drainage vordringen und sie verstopfen. 4 STOCKOSORB speichert Wasser und gibt es langsam wieder an die Erde ab. Der Kunststoff wird als Pulver geliefert. Gut ist,
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5 ihn vor dem Gebrauch mit Wasser quellen zu lassen. 5 TORFFREIE ERDE (Oekohum) locker auf das Vlies füllen. 6 STOCKOSORB zur Erde geben. Bis zu ein Gramm Pulver pro Liter Erde. Wichtig: Sind die Gewächse eingesetzt, das Subs-
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6 trat an zwei oder drei Stellen andrücken. Das reicht, um Halt zu geben. Falsch ist es, die Erde rundum festzustopfen; der Boden soll locker bleiben. 7 ZUM SCHLUSS gibt’s einen Nebel Biplantol; das enthält Mineralien und Spurenelemente.
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JUNGE GÄRTNER KÖNIGIN DES DSCHUNGELS Sophie Walker studierte Kunst und arbeitete auf dem Kunstmarkt, bevor sie auf Gartenbau umsattelte. Einen „Garten machen“ ist für sie nichts großartig anderes als ein Gedicht zu schreiben, Religion zu praktizieren oder ein Gebäude zu entwerfen
Ruf der WILDNIS Pflanzen sind die Helden unserer Zeit, sagt Sophie Walker. Natur ist der Garant für Wahrheit. Das entdeckte die Engländerin im Regenwald von Amazonien. Seither arbeitet sie daran, die dortigen Eindrücke in Gartenentwürfen lebendig zu machen text
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howard sooley
ie hätte ich gedacht, dass Gärtnern ein ernst zu nehmender Beruf ist“, sagt Sophie Walker, weshalb sie Kunst als Studienfach wählte. Doch dann machte sie, gut zehn Jahre ist das her, eine Urwaldtour ins Amazonasbecken, hinein in den Dschungel, so tief, dass kein Himmel mehr zu sehen war und ihr Pflanzen „unausweichlich nah“ an den Körper rückten. Fest grub sich ihr die immense Kraft ins Bewusstsein, mit der Flüsse bei ihrem Weg durchs Land Boden abtragen, um andernorts „Inseln aus Schlamm zu erschaffen“. Der Dschungel zeigte ihr den „rohen Zustand der Wahrheit“. Und sie wusste, zurück in England würde sie Gartenbau studieren. Heute gehört Sophie Walker zur Garde der nachrückenden Gartenstars. Eine
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IM SCHWEIGEMARSCH Zwölf Meter hohe Säulenzypressen stehen vor einem künstlichen Meteoriten: Gemeinsam mit Anish Kapoor und Zaha Hadid Architects erarbeitete Sophie Walker 2016 den Entwurf für ein Holocaust Memorial, das am House of Parliament gegenüber von Westminster Abbey liegen soll. Der Entwurf kam in die Endrunde. Gewonnen hat David Adjaye mit Ron Arad. Noch ist unentschieden, ob ein Memorial gebaut wird
großen Baumeisters Tadao Ando. Und sie bestreitet gemeinsame GUCKKASTEN DER NATUR Im Schaufenster ihres „Cave Projekte mit ihrem Garden“ stellt Sophie Walker Lebensgefährten Anish die Beute moderner PflanzenKapoor, einem der bejäger aus. Der Beitrag erhielt rühmtesten Bildhauer auf der Chelsea Flower Show unserer Zeit. Sie 2014 eine Silbermedaille brennt für die grüne Sache, und wer immer junge Frau in einem von Männern domi- sie fragt: „Was ist ein Garten?“, dem nierten Beruf, was sie gern betont. Die antwortet sie: „Ein Platz, an dem wir die Schritte ihrer Karriere sind gut bedacht: Welt ändern können, die wir bewohnen.“ 2013 gestaltet sie einen der AusstellungsIhr Markenzeichen ist der „Cave Gargärten in der renommierten Hampton den“ geworden, den sie für die Chelsea Court Palace Flower Show. 2014 folgt ihr Flower Show gebaut hat. Anstelle des Beitrag in der noch wichtigeren Chelsea üblichen Beetes, eines eleganten GeFlower Show. Bei Phaidon veröffentlicht hölzes und Wasserflecks, hat sie einen sie ein Buch über japanische Garten- Kasten hingestellt. Geschlossen, nicht kunst, versehen mit einem Beitrag des betretbar. Der Betrachter kann nur durch
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ein Schaufenster ins Innere blicken. Dort sieht er anonymes Grünzeug, eingesammelt von modernen Pflanzenjägern, jedes einzelne Gewächs mit dem exakten geografischen Ort benannt, an dem es gefunden wurde. Doch: Keines davon erkennt er. Wilde Kräuter, fremde Gesellen: Sophie Walker stellt sie gegen das grüne Establishment, gegen die Kenner, die auf der Show „herumgehen und alles schon wissen“. Man soll die seltenen Pflanzen anschauen, frei von jeder Erinnerung. „Sie demokratisieren das Gärtnern“, so die schlagfertige Sophie Walker. Womit sie unser aller Sehnsucht nach Wildnis scheinbar einen neuen Aspekt verleiht. Wenig berührt Städter heute mehr. Das prominenteste Beispiel mit über einer Million Besuchern pro 157
JUNGE GÄRTNER
„SCHAU NUR AUF DIE
GARTEN ALS ARCHE Nur ein Drittel aller vermuteten Pflanzen sind bisher entdeckt. Ständig werden Arten zerstört, vom Menschen, aber auch von der Natur selbst. „Darum müssen wir seltene Pflanzen in die Gärten holen“, so Sophie Walker, hier in ihrem Haus
PFLANZEN, BEFREIE DICH VON ALLER ERINNERUNG. JUST BE FREE“
sophie walker
Jahr ist die New Yorker High Line – eine stillgelegte Eisenbahntrasse, deren herbeigewehter Wildwuchs sie einst zu einer Naturikone machte. Doch das darf nun bitte keiner mit der Ökowelle verwechseln, dem Trend der 80er-Jahre, als Umweltschützer gegen überkandidelte Prachtstauden wie Dahlien, Rittersporne und Schwertlilien die Schönheit einheimischer Pflanzen postulierten. In Chelsea ging es erst einmal nur um Distinktion, um Abgrenzung und das Markieren einer Position. Denn 158
die Gewächse, die Sophie Walker wählt, sind nicht etwa nur unverzüchtet. Sie sind vielmehr exquisit, auf Expeditionen teuer herbeigebracht, selten, schon gar nicht von jedem zu bekommen. Mit ihnen gegen Kennerschaft und Vorwissen rebellieren zu wollen ist bloßes Fechten unter Experten – was mit Demokratisieren wenig zu tun hat. Normalen Menschen ist das nämlich vollkommen egal. Sie kennen weder Sophie Walkers rare Stängel noch die üblichen Stauden beim Namen, son-
dern erfreuen sich einfach am schönen Blütenbild. Macht die wilde Gärtnerin dann vielleicht einen Unterschied zwischen dem ordinären Alltags- und einem künstlerischen Hochkulturgarten? „Nein, nein“, erwidert Sophie Walker. In jedem Garten und in den Pflanzen stecke etwas „sehr Ethisches“. Gärtnern sei ein Akt der Fürsorge, „an act of care“. Man müsse die ganze Persönlichkeit einer Pflanze berücksichtigen. Nötig seien dafür Ordnung, Würde, Güte. Das klingt schön und fast vertraut, aber meint sie wirklich das Gärtnern, das wir lieben, bei dem wir ackern, säen, jäten und pikieren, Kompost sieben und unsere Pflanzen vor dem Frost beschützen? 3/2019
Foto: Dave Morgan
PFLANZEN HAUTNAH Zwei dicht bewachsene Hügel neigen sich zu einem flachen Teich herab. Ein Schlitz durch das Wasser bildet den Weg, der zu dem Zentrum des Gartens führt. Mit diesem Entwurf für die Hampton Court Palace Flower Show 2013 erinnert sich Sophie Walker an ihren Ausflug in den Dschungel von Amazonien
DIE MACHT DER WEGE Der Zickzackpfad führt durch ein Feld aus ornamentalen, sich im Wind wiegenden Gräsern. Er liegt erhöht und ist von Aluminium eingefasst. „Ich mag die Idee, dass man im Garten eine Art Reise unternimmt“, sagt Sophie Walker. Genauso wie in diesem Londoner Gräserfeld herrscht in der Anlage auf den Bahamas (u.) starke Geometrie über die Natur
Wer ihre Anlagen anschaut, findet starke, dominierende Strukturen, steinerne Wege aus Beton, als krasses Zickzack durchs Gräserdickicht geführt. Kästen, die Sprießendes einsperren. Gepflasterte Mulden mit Aussparungen für Grünes. Doch Pflanzen in eine Box zu stecken und sie dort wild sein zu lassen kann nicht als „act of care“ verstanden werden. Erfolgreiche Fürsorge ist sanftes Zähmen. Ist Fördern, Helfen und Verfeinern. Ist Kultivieren. Echte Wildnis dagegen bewahrt sich nur dort, wo der menschliche Einfluss vollkommen zurückgenommen ist. In Tschernobyl etwa. Nach dem großen Gau und isoliert von der Außenwelt hat sich da eine gefeierte Pflanzenvielfalt ausgebildet. Reisegruppen besuchen und bewundern das bereits.
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Tatsächlich ist Wildnis das verkehrte Stichwort. „Ich suche etwas, das nur Natur und Zeit tun können“, sagte Sophie Walker in einem frühen Interview der Zeitschrift House and Garden. Ähnliche Aussprüche kennt man von den Künstlern der Land Art, die Steinkreise ins Wasser legen, Blitze einfangen, mit den Elementen spielen. Womit wir uns endlich dem Gemeinten nähern und unsere überkommene Gartenvorstellung hinter uns lassen. Unbekannte Pflanzen, sagt Sophie Walker, seien so etwas wie das „neue Material“, der Stoff, der im Design zu einer ästhetischen Weiterentwicklung führe. Und sie verweist auf die große Gertrude Jekyll, die mit ihren Pflanzenbildern den
Grundstein für unseren bunt blühenden Hausgarten legte. Gertrude Jekyll hatte eben als eine der Ersten die vielen Blütenstauden und Gräser zur Verfügung, die Pflanzenjäger im 19. Jahrhundert nach England brachten und die dort von Gärtnern verbessert wurden. Vielleicht sollen wir uns den zukünftigen Garten wie das Gehege in einem Tierpark vorstellen, in dem wir fremde Wesen am Leben erhalten. Sie betrachten und studieren. Gestalten werden wir nur die Rahmen, Behälter und Umfriedungen. – 159
D I E S C H Ö N S T E O P E R S TA M M T A U S DER FEDER EINES ARCHITEKTEN. Brücken. Zur Vorbereitung empfehlen wir unsere hochwertige neue Broschüre „Architekturlandschaft Sachsen“. Infos unter www.sachsen-tourismus.de oder bei der Tourismus Marketing Gesellschaft Sachsen mbH, Bautzner Str. 45 – 47, 01099 Dresden, Tel. 0351 / 49 17 00.
Die Semperoper zählt zu den schönsten Opernhäusern der Welt – und ist nur eins von vielen beeindruckenden Bauwerken in Sachsen. Über 1000 Jahre herausragender Architekturgeschichte warten darauf, von Ihnen entdeckt zu werden: Schlösser, Burgen, Gärten, ARCHITEK TURL ANDSCHAF T SACHSEN Ü B E R E I N J A H R TA U S E N D H E R A U S R A G E N D E B A U K U N S T
Reise & Inspiration
W E T T E R S TAT I O N
Foto: Robertino Nikolic
Die gelben und blauen Dachfenster dienen– außer einem ästhetischen – keinem Zweck. Aber sie weisen schon darauf hin, dass man sich hier in einem besonderen Gebäude befindet – einem „Wolkenlabor“, wo die garstigen Sunblocker „gezüchtet“ und erforscht werden. In Leipzig werden aber noch ganz andere erstaunliche Sachen gemacht. Bitte umblättern.
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MEHR MUT zum Übermut text
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produk t ion
jan van rossem
fotos
robertino nikolic
Beten im Bauhaus Ein imposantes Beispiel der Neuen Sachlichkeit ist die Versöhnungskirche des Architekten Hans Heinrich Grotjahn, die 1932 im Stadtteil Neu-Gohlis eingeweiht wurde
Kann sein, dass in Leipzig manchmal der Maßstab ein wenig verrutscht. Vieles ist ein bisschen überdimensioniert. Macht aber nix. Groß zu denken hat auch seinen Reiz. Denn wo sonst werden Wolken im Labor gezüchtet und mit Wassertropfen Worte geschrieben?
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Hoch hinaus Viel Luft um nichts bietet die Halle der Cafeteria im Museum der bildenden Künste. Als reiche das nicht, hat der Künstler Ben Wilkens an der Decke das „Leipziger Firmament“ verewigt
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K i r c h e g a n z co o l Für manche Leipziger ist der Bau der St. Trinitatis Stein des Anstoßes. Auf jeden Fall ist der geometrische Backsteinkorpus ein starkes Statement des Büros Schulz und Schulz
Manche behaupten, Leipzig sei das „Better Berlin“. Dass sich das nur ja nicht rumspricht …
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inig sind sich fast alle, ob neu angekommen oder seit Generationen hier verwurzelt: Leipzig ist oft ’ne Nummer zu groß. Auf sympathische Weise. Kann man wohl sagen! Dieses Rathaus zum Beispiel. Wie eine mittelalterliche Burg. Mit einem „Wachturm“ der auch in Zeiten von Hochhäusern die Skyline dominiert. Und dann der Bahnhof! Einer der größten Kopfbahnhöfe der Welt (genau der zweitgrößte) mit gefühlten Ausmaßen des New Yorker Grand Central, aber nur vereinzelt auftauchenden Reisenden in der riesigen Halle. Außerdem gibt es einen modernen Flughafen, ausgelegt für eine reisefreudige Metropole. Die Anzahl von Starts und Landungen ist überschaubar. Na und? Größe kann nicht schaden. Es dauert ein paar Minuten, bis Julius Popp von seinem Atelier in der zweiten Etage runterkommt und am Eingang von Haus 18 der ehemaligen Leipziger Baumwollspinnerei erscheint, um die Besucher einzulassen. Klar, die Spinnerei ist kein wirklicher Geheimtipp – und Julius Popp eigentlich auch nicht. Aber er ist eine Sensation. Genauer: sein Werk. Nein, eigentlich beide … Auf dem Weg ins Atelier kommt er einem Interview-Einstieg lässig zuvor und antwortet ungefragt, ob sich das Kulturzentrum Spinnerei – mit dem Claim „from cotton to culture“ – verändert hat: „Hat es. Zum Guten und zum Schlechten.“ Gut ist, dass die ziemlich maroden Hallen von Investoren ordentlich instand gesetzt wurden. Schlecht ist, dass die Investoren, wie Investoren eben so sind, die Räumlichkeiten möglichst gewinnbringend vermieten. „Als ich hierher kam, hatte ich eine ganze Etage“, erzählt Julius („Wir sagen du, okay?“) auf dem Weg vom Treppenhaus zu seinem Atelier, und man versucht unweigerlich zu ermessen, wie viele Güterzüge hier wohl Platz hätten. „Dann wurde die Halle halbiert, irgendwann hatte ich nur noch die Hälfte von der Hälfte, und schließlich wurde noch mal geteilt.“ Im Atelier angekommen, überwältigt zuerst mal die übrig gebliebene Größe. Unvorstellbar, wie das früher im mehrfach verdoppelten Ausmaß war. „Heute ist unter mir ein Callcenter eingezogen. Ich darf nicht mal mehr fräsen. Zu laut.“
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Julius, 45, Charakterkopf (gut sichtbar, da glattrasiert), schlank, austrainiert, gebürtiger Nürnberger, ist Installationskünstler. Eines seiner Werke, sein wohl spektakulärstes, heißt „bit.fall“. Dabei handelt es sich, profan gesagt, um Worte aus Wasser. Worte in riesigen Lettern, die aus unzähligen Tropfen gebildet werden. Julius hat eine Maschine aus zahllosen Düsen entwickelt, die computerberechnet Tropfen fallen lassen, die wiederum von oben beleuchtet Buchstaben und Worte reflektieren. Zauberei. Zauberhaft. Worte, genauer Informationen und Kommunikation, sind sein Thema. Und deren Flüchtigkeit. Die Worte aus Tropfen bleiben jeweils nur eine knappe Sekunde sichtbar. Julius’ Idee, die Installation hinter einem Trecker herzuziehen und Worte auf die Straße zu spritzen, würde die jeweilige Message, je nach Sonnenintensität, gerade mal ein Viertelstündchen zeigen. Er plant eine Europa-Tour mit dem Trecker, um einende Botschaften zu hinterlassen. Auch seine Maschine, die Tischtennisbälle in Wortformation eine schiefe Ebene herunterrollen lässt, ist auf Kurzfristigkeit angelegt. Die Betrachter dieser Installation sammeln freiwillig die im Raum verstreuten Bälle ein, befüllen die Maschine wieder – um neue Worte zu erleben. Viele der Projekte sind finanziell riskant für den Künstler. „Ich weiß ja vorher meist nicht, wie aufwendig Werk, Transport und Aufbau werden“, sagt Julius und erzählt von technisch und wirt-
Scharf gestellt Die Brüder Benedikt (vorn) und Ansgar Schulz mischen ordentlich mit in Leipzig. Außer für die Kirche (l.) sind sie auch für ein Wolkenlabor verantwortlich (letzte Seite)
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INSIDER-TR IP I n Re i h u n d G l i e d Die Kongresshalle wurde 1900 als „Gesellschaftshaus am Zoo“ eröffnet. Der Große Saal ist ausgerichtet für 800 Plätze. Da fehlen für die nächste Veranstaltung noch einige Sitzgelegenheiten
Stiller Star Seit 2016 ist der Leipziger Zoo stolzer Gastgeber für den australischen Besucher Oobi-Ooobi. Die Ankunft des zweiten seiner Art 2018 hat er – typisch Koala – verschlafen
Heiliger Geist Zentraler geht’s nicht: Direkt neben dem Gewandhaus steht der Neubau der Universität für Auditorium und Haupthörsaal, den der niederländische Erick van Egeraat entwarf
We g w e i s e n d Leitsysteme sind ihr Metier. Das Designbüro von Katy Müller (Gourdin & Müller) hat damit schon in vielen öffentlichen Einrichtungen, wie hier der Kongresshalle, für Orientierung gesorgt
F e n s t e r a l s Ku n s t Bauhaus-Meister Josef Albers schuf die Fenster im Treppenhaus des Grassimuseums für Angewandte Kunst. Durchsehen kann man nicht – sich daran sattsehen aber auch kaum
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Blick nicht nur ins Glas Am Abend einen Drink in der Bar vom Motel One – das ist besonders reizvoll wegen der Aussicht: Zu Füßen liegt einem der Augustplatz mit Gewandhaus, Universität und Oper
Leipzig? Größenwahnsinnig. Aber sehr sympathisch
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Andock-Modul Auch einen Star-Architekten hat Leipzig zu bieten, allerdings posthum. Der Entwurf der Kugel, in der die Kantine der Kirow-Werke unterkommt, stammt von Oscar Niemeyer.
ein Teil der „Niemeyer Sphere“ soll noch verglast werden. Deutlich zu sehen ist die geodätische Gitterstruktur, ähnlich wie man sie von einem anderen Großmeister der Architektur, Buckminster Fuller, kennt. Nur dass diese ohne Verbindungsgelenke auskommt. Eine Innovation dank eines intelligenten Algorithmus. Das Werk eines Künstlers. Aber das wird hier nicht an die große Glocke gehängt. Zu den unverzagten Protagonisten der Kreativszene zählt Katy Müller, Mitgründerin des Büros Gourdin & Müller. Sie ist sogar äußerst wortgewaltig, beruflich gesehen im typografischen Sinne. Zeigt sie doch Besuchern von öffentlichen Einrichtungen, wo es langgeht. Ihre Wegeleitsysteme sind höchst begehrt und mehrfach ausgezeichnet. In Leipzig hat sie unter anderem die Kongresshalle am Zoo mit ihren Schriften ausgestattet. „Wir haben Informationscluster visualisiert“, erklärt sie die etwas unorthodox gesetzten Hinweise, die einen aber trotz lässiger Anordnung instinktiv erfassen lassen, welche Richtung man zum gesuchten Ort einschlagen sollte. Katy, nach Stationen in Leipzig, Berlin, Zürich und Sydney wieder in Leipzig gelandet, scheint hier alles und jeden zu kennen, weshalb sie sich auch als exzellente Tippgeberin für den erweist, der die Stadt und ihre Protagonisten erkunden will.
schaftlich kniffligen Situationen bei der Installation eines „bit.fall“ in Südkorea. „Ist halt nicht so wie bei Neo Rauch.“ Der Großmeister der Neuen Leipziger Schule hat sein Atelier ein Stockwerk höher. „Der braucht eine Leinwand und ein bisschen Farbe. Und wenn das Bild fertig ist, verkauft sein Galerist zu Höchstpreisen.“ Ku l t u r p a l a s t Hinter dem riesigen KunstaIn den 100 Jahren seines Bestehens hat das Kino UT Connewitz real am Ende der Spinnereistraße einiges über sich ergehen lassen. Positives Highlight: befindet sich das Firmengelände Es diente als Location für einen Film von Peter Greenaway des Kranherstellers Kirow Ardelt, laut Selbstauskunft die Nummer Zu Letzteren gehören auf jeden Fall zwei eins auf dem Weltmarkt für Eisenbahnkräne. Geschäftsführer Ludwig Koehne, ein großer Herr Brüder, die maßgeblich daran beteiligt sind, mittleren Alters, hat eine besondere Leidenschaft: Leipzig in die Zukunft zu führen. Sie haben das die Architektur des großen Brasilianers Oscar Architektur-Büro Schulz und Schulz gegründet. Niemeyer. Überzeugungskraft hat Koehne auch. Keine Anspielung auf das Detektiv-Duo aus „Tim Er machte sich eines Tages, kurz vor dem Tod des und Struppi“; die beiden heißen einfach Ansgar hochbetagten Stararchitekten, auf den Weg nach São und Benedikt Schulz, zugereist aus dem Ruhrpott, Paulo, um in dessen Büro einen kühnen Plan zu ergattern: eine weiße Kugel, die auf die Ecke eines Backsteinfabrikgebäudes gesetzt werden sollte. Die neue Kantine des Werks. Jetzt ist sie fast fertig; 168
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Wo r t e a u s Wa s s e r Pure Berechnung ist Basis für die Installation „bit.fall“, hier als Mini-Version im Atelier. Der Künstler Julius Popp lässt computergesteuert Buchstaben aus Düsen tropfen
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Hier spielt die Musik Kaffeepause mit Geigeneinlage. Peter Zimmermann (Kaffee) und David Lau (Geige) posieren mit ihren Wolfshunden. Ihre Zweibeiner (H체hner) sind vorsichtshalber nicht im Bild
Leipzig bietet immer noch sehr viel Freiraum f체r Kreativit채t und Individualit채t
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was trotz gut 20-jähriger Anwesenheit in Sachsen noch immer unüberhörbar ist. Für einen Wissenschaftspark haben sie ein Wolkenlabor entworfen, in dem „Wolken gezüchtet werden“. So versucht es der Wissenschaftler Dennis Niedermeier eher ästhetisch interessierten Besuchern zu erklären. Der Zweckbau besteht aus einem flachen Baukörper für Büro- und Forschungsräume, gruppiert um einen monströsen silbernen Zylinder, der gen Himmel zeigt. Niedermeier erzählt von aufwendigen, übereinandergestapelten Versuchsaufbauten (deshalb der hohe Zylinder), in denen Wasser und verschiedene Trägerpartikel wie Ruß, Staub, Bakterien vermischt werden. Nur so entstehen Wolken. Im Folgenden erstaunt er noch mit Größenvergleichen von Wolkentropfen („Stecknadelkopf“) und Regentropfen („Fußball“) sowie dem Energiegehalt einer Sommerwolke, der dem einer kleinen Atombombe entspreche. Ein aufregendes Haus.
Experimentierfeld Hier werden Wolken gezüchtet. Klingt skurril, ist aber eine wichtige Disziplin der Meteorologie. Obwohl die Aufzucht von Sonnenstrahlen vielleicht auch eine tolle Idee wäre
Mitten in der Stadt, gegenüber dem (natürlich sehr großzügigen) Rathaus, haben Schulz und Schulz die katholische Kirche St. Trinitatis errichtet, ein unübersehbares religiöses Statement in rotem Backstein und mit geometrischen Formen. Für eine katholische Kirche sehr reduziert verziert. „Die einen feiern sie“, sagt Ansgar, 53, der drei Jahre ältere Schulz, „die anderen arbeiten sich dran ab.“ „Ich gehöre zu Letzteren“, sagt Peter Zimmermann. Der Kommunikationsberater lebt mit seinem Mann David Lau, zwei tschechischen Wolfshunden, zehn Hühnern und demnächst Hunderten von Bienen in einer ehemaligen Ruine direkt am Beginn der Spinnereistraße. Das Haus haben sie mit viel Ei-
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Wo ’ s u m d i e Wu r s t g i n g Die Szene trifft sich in der „Fleischerei“, die früher wirklich mal eine war und offensichtlich so gut lief, dass sie sich einen prachtvollen Geschäftsraum leisten konnte
genleistung denkmalschutzgerecht instand gesetzt und mit viel Gefühl und Geschmack ausgestattet. „Dabei wollen wir eigentlich das zweite Haus auf dem Grundstück beziehen“, erklärt Peter. Das kann allerdings nur Mauern vorweisen. Kein Dach, keine Fenster, keine Türen. Trotzdem. Sie haben einen Zweijahresplan. David, 35, aufgewachsen auf einer Farm in Oregon, ist Bratschist am Gewandhaus, einer der bedeutendsten Kultureinrichtungen der Stadt. Das von Kaufleuten gegründete und ursprünglich finanzierte Konzerthaus ist international höchst angesehen. Einen Schönheitspreis gewinnt der DDR-Bau aus den 50ern allerdings nicht. David hat heute Abend eine Aufführung, weshalb er seine Bratsche fürs Foto nicht der frischen Frühlingsluft aussetzen will. Also nimmt er die Geige seiner Tante, „ein völlig anderes Instrument!“. Was man hier so alles lernt. Die wahren Stars der Szene aber trifft man direkt hinter der Kongresshalle. Auch sie sind Zugereiste, erst seit 2016 in der Stadt und verantwortlich für einen erhöhten Bedarf an Eukalyptus. Wohl dem Zoo, der solche Prachtexemplare wie die Koalas Oobi-Ooobi und Tinaroo zu bieten hat. –
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E-MOBILITÄT
Bienvenue dans LE FUTUR text
r alf eibl
Ein Luxuskokon, selbstfahrend und zu 100 Prozent elektrisch – Renaults neues Roboterkonzept „EZ-Ultimo“ bringt die Liebe zum Detail zurück. Vive la création!
Platz da! Auf gut zwölf Quadratmetern können sich hier drei Passagiere bequem ausbreiten. Rechts: Es wartet Ihr Shuttle zum Jupiter? Nein, nur das Premium-Taxi der Zukunft
ister Arthur Fellig, wir hätten da ein ideales Automobilchen für Sie! Der bekannteste und aufgrund seiner legendären Rücksichtslosigkeit auch berüchtigtste Polizei- und Pressefotograf mit dem Spitznamen „Weegee“ (Slang für Zauberbrett) hatte als einer der Ersten erkannt, dass Autos nicht nur zum Fahren da sind. Der aus einer bitterarmen österreichischen Einwandererfamilie stammende Einzelgänger von der East Side galt als erster Fotoreporter, der immer vor allen anderen am Tatort war. Dafür schlief er oft nächtelang in seinem Auto, in das er neben einem Polizeifunkgerät auch eine komplette Dunkelkammer installiert hatte. Und in dem er ein ganzes Sammelsurium an Verkleidungen aufbewahrte. So wurden
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seine Fotos bereits Zeitungsaufmacher, als noch niemand überhaupt Kenntnis vom Ereignis hatte, wenngleich seine Abzüge aufgrund der chaotischen Bedingungen im Weegee-Mobil gern etwas knittrig daherkamen. So war das im New York der 40er. Mister Fellig, Sie hätten es 80 Jahre später wesentlich bequemer haben können. So etwas Profanes wie Platznot wäre Ihnen in diesem Konzeptauto von Renault nicht mehr passiert. Der „EZ-Ultimo“ (Easy Ultimo ausgesprochen) ist ein selbstfahrendes, vernetztes und zu 100 Prozent elektrisches Roboterfahrzeug. Er wird als Luxuskokon präsentiert, in dem man die Außenwelt vorbeiziehen lassen kann, ohne von außen gesehen zu werden. Der Ultimo ist zwar nur 1,35 Meter hoch, aber endlose 5,7 Meter lang und
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2,2 Meter breit, der Radstand erstreckt sich auf unglaubliche 3,88 Meter. Zum Vergleich: Eine lange Mercedes-S-Klasse kommt nur auf rund 3,37 Meter. Damit bleibt man zwar in jeder italienischen Altstadt wie ein Rotweinkorken stecken, der partout nicht an die Luft will. Das Gewicht seines Monsterles gibt Renault
aber mit moderaten 1,8 Tonnen an, obwohl eine mutmaßlich schwere Batterie unbekannter Stärke an Bord sein muss. Ein Elektromotor treibt die Vorderräder an, lenken soll das Concept Car mit beiden Achsen. Im Innern hat der „Ultimo“ so viel Wohnraum zu bieten wie manche Pariser Einzimmerwohnung. 173
E-MOBILITÄT Auf 12,5 Quadratmetern Fläche können sich die Passagiere, von denen nur drei vorgesehen sind, auf einer großen Rückbank und einem Loungechair so richtig fläzen, Siesta halten oder einfach Purzelbäume schlagen. Und nebenbei durch das Panorama-Glasdach Wölkchen zählen. Renault meint dazu anlässlich seiner 120-jährigen Jubiläumsfeierlichkeiten: ein Konzeptauto, das seine DNA und seine Prinzipien des „French Design“ und „Easy Life“ verkörpert. Aha! Schließlich hatte der Vorstand seinen Entwicklern auf die Fahnen geschrieben, dass ein Roboter-Taxi von Renault bis zum Jahr 2022 Realität wird. Auch Mobilitätsexperten sind sich sicher: Die ersten autonom fahrenden Serienfahrzeuge werden Taxis oder Minibusse sein. Doch nirgends steht geschrieben, dass diese Robo-Cars alle streng funktional aussehen müssen. „Unser Boss sagte uns, dies werde ein großes Geschäft, und wollte, dass wir uns einen Löwenanteil davon sichern“, präzisiert Renault-Designchef Laurens van den Acker. „Aber wir konnten nicht widerstehen, auf eine etwas exotischere Karte zu setzen, denn jeder sagte uns, dass mit den Roboterfahrzeugen auch das Design sterbe. Ich wollte beweisen,
Um den Passagieren maximale Intimität und Geborgenheit zu gewähren, besteht die durchgehende Seitenund Heckverglasung aus zahlreichen Facetten im Rhombenmuster, wodurch Passanten sowie Insassen anderer Fahrzeuge der Blick nach innen verwehrt wird
„ES LEBE DAS DESIGN – AUCH BEI ROBOTERMOBILEN!“ l aurens van den acker
Experten sind sich sicher: Die ersten autonom fahrenden Serienfahrzeuge werden Taxis sein. Doch nirgends steht für den Renault-Designchef Laurens van den Acker (l.) geschrieben, dass diese RoboCars wie langweilige Schuhkartons aussehen müssen
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dass wir damit nicht einverstanden sind – und eben nicht alle Menschen in weißen Boxen von Roboterhand bewegt werden müssen. Wer wollte nicht in einem Auto wie dem ‚Ultimo‘ gefahren werden?“ Der im Sauseschritt einen Auftritt hinlegt, als wolle er mit einem Maybach oder einem Rolls-Royce ästhetisch um die Wette düsen. Renault sieht vor allem in Flughäfen, Kunstmessen und Fünfsternehotels logische Partner für seinen mobilen Luxus zum Teilen. Seinen Status signalisiert der „Ultimo“ bereits von außen. Bei der Formgebung ließ sich van den Acker von der Architektur der Pariser Boulevards aus dem 19. Jahrhundert inspirieren. Die prestigeträchtigen Blockbauten des Stadtplaners Haussmann prägen das Bild der Metropole bis heute, wobei
der kalkulierte Ursprungsgedanke der Haussmann-Architektur war, das mittelalterliche Straßenlabyrinth von Paris zu entflechten, um die Stadt im Ernstfall über Boulevards schnell militärisch beherrschbar zu machen. Aber egal: Sobald der „Ultimo“ zum Appell angetreten ist, öffnet sich automatisch die große Seitentür, während die verglaste obere Partie wie ein Schmetterlingsflügel aufschwingt. Es dreht sich der komfortable Schwenksessel in Richtung des Passagiers. Die Projektion des Schriftzugs „Bienvenue“ im Einstiegsbereich komplettiert die Honneurs zur Begrüßung. Um den Passagieren maximale Intimität und Geborgenheit zu gewähren, besteht die durchgehende Seiten- und Heckverglasung aus zahlreichen Facetten im Rhombenmuster, wodurch Passanten sowie Neugierigen aus anderen Fahrzeugen der Blick nach innen verwehrt wird. Umgekehrt steigert sich für die Passagiere je nach Stärke des Lichteinfalls die Transparenz nach außen. Der „Ultimo“ gibt an, alle Anforderungen für die vierte von fünf Stufen des autonomen Fahrens bereits zu erfüllen; er soll in der Lage sein, sowohl innerstädtisch als auch über Land eigenständig unterwegs zu sein. Er befinde sich damit auf einem höheren Niveau als die Mobile der Konkurrenz und nehme den nächsten Schritt der Automatisierung vorweg. Das Fahrzeug beschleunigt, bremst und steuert selbstständig, wechselt die Spur und überwacht permanent das Fahrumfeld. Im Falle einer Verkehrsstörung oder anderer unvorhergesehener Vorfälle in seinem unmittelbaren Vorfeld ist der „Ultimo“ angeblich in der Lage, rechtzeitig zu bremsen und in einer sicheren Position zum Stehen zu kommen. Überprüfen können wir das jedoch noch nicht. Der Geist von Mister Fellig und ich hätten jetzt doch ganz gern eine Probefahrt. Und zwar auf dem Boulevard Haussmann, dem kilometerlangen Straßenzug zwischen der Avenue de Friedland und dem Boulevard Montmartre. Dann entkorken wir noch ein paar Flaschen, auf dass unsere Selfies auch schön verwischt werden. Alles für und auf die Zukunft des Automobils. –
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Kennen Sie das Post-Brenner-Gefühl? Rüber über den Pass – und schon wird der Trip zur Italienischen Reise. Wer die Autobahn bei Bozen verlässt, schaltet automatisch einen Gang runter. Südtiroler Alpenkulisse, Apfelplantagen, Weinberge, und auf einmal liegt er da: der Lago di Caldaro. Ein Badesee. Einer der schönsten seiner Art. Man sieht gleich noch etwas: In einer Senke am Nordufer steht ein weißes Monument, wie ein Schiff liegt es dort vor Anker. Das Seehotel Ambach – mit Privatsteg und -liegewiese – wurde 1973 vom damaligen Südtiroler Stararchitekten Othmar Barth entworfen. Es gibt 30 Zimmer und zwei Suiten. Terrassen, Glasfenster bis zum Boden, weiße Loggien… Alles öffnet sich zum Wasser hin (1). Dass Barth eine Zeitlang bei Großmeister Pier Luigi Nervi, dem „Oscar Niemeyer Italiens“, lernte, wird offenbar – er benutzte die Formsprache der klassischen Moderne, wählte klare geometrische Konturen und Linien; sein offenes Treppenhaus (2) mit langen geraden Treppenläufen spricht für sich. Als Mauerwerk verwendete er Beton, den er dann weiß verputzen ließ. Viele fremdelten anfangs mit dem Bau – der Bürgermeister fand die Fassade gar so schrecklich, dass er zeitlebens seine Unterschrift zur Genehmigung als Gastbetrieb verweigerte. Besitzerin Anna Ambach, die unverbrüchlich zu ihrem
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Architekten hielt, öffnete dennoch für Besucher. Der Erfolg gab ihr recht: Neben Wirtschafts-Granden wie Alfred Herrhausen urlaubten bald auch hochrangige Politiker im Seehotel – und kamen immer wieder. Ist nachvollziehbar, wenn man so auf seinem Liegestuhl den Tag verdöst, dem See zublinzelt und sich von der Landschaft drumherum umarmen lässt. Gegen Nachmittag dann bei einem der örtlichen Winzer ein paar Traminer verkostet und sich dabei ganz italienisch fühlt. Anna Ambach änderte 40 Jahre nichts am Haus – und vererbte es schließlich ihrem Neffen. Er und seine Frau holten sich den Architekten Walter Angonese an die Seite und begannen 2014, behutsam zu sanieren. Haustechnik und Bäder wurden modernisiert, Teppiche, Stoffe, Polster in der originalen 70er-Farbwelt erneuert. Angonese ist bekennender Barth-Verehrer; von daher setzte er alles daran, die Seele des Hauses zu erhalten – nicht ohne dem Zeitgeist von einst seine eigene Handschrift hinzuzufügen. 2018 addierte er ein Badehaus mit Sauna und Dampfbad (3) sowie ein Freischwimmbad zum Hotelkörper und bewies, dass das Gestern das Heute beflügeln und ins Morgen mitnehmen kann. Der Charme der 70er ist zweifelsohne geblieben. Bunt möblierte Zimmer (4) und Lounge lassen an Schlaghosen und Abba denken. Ach ja, spätabends gibt es auch mal die Musik der Schweden im Foyer – natürlich von der Schallplatte. The Robert Kittel Winner Takes It All. DZ mit HP ca. 159 Euro pro Person (je nach Saison). seehotel-ambach.com
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Fotos: Luca Meneghel (2); Paolo Riolzi; Jürgen Eheim
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fig. 1
Neun von zehn Hummelköniginnen (fig. 1) überleben den Winter nicht. Und wenn sie es doch tun, dann werden im nächsten Sommer die Hofdamen ihres Hummelreichs rebellisch und hindern die Altkönigin daran, ihre Eier zu legen. Sie werfen selbst Brutstätten ab, aus denen männliche Sexdrohnen schlüpfen, deren einzige Aufgabe es ist, die Jungköniginnen im Flug zu begatten. Nach erfolgter Besamung hat die männliche Flugdrohne dann ihre maximale Schuldigkeit getan und darf final ins Hummel-Jenseits abstürzen. Es ist ein Generationen-Kreislauf, der sich jedes Jahr mit neuer Dramatik wiederholt. Auch mein Jahr fing heuer ziemlich hummelig an. Alles begann damit, dass ich mein sieben Monate altes Baby auf einem ostentativ kunstsinnigen Spaziergang stundenlang von Gemälde zu Gemälde im Lenbachhaus schleppte und meinem fragilen Gesamtkunstwerk dabei ein Leiden in Ischiasnervnähe zusetzte. Will heißen: Ich war irgendwie schon am Arsch, als ich in Münchens schönstem Museum vor der „Operation“ von Christian Schad (fig. 2) zum Stehen kam und dort lange vor der Darstellung einer Appendektomie, der Entfernung des Wurmfortsatzes am Blinddarm, verharrte. Es ist eine Szene großer Nüchternheit und Distanz, die Schad 1929 malte, nachdem er eine OP verfolgt hatte. In einer Bildlegende hielt er seine Eindrücke fest: „Als nach 14 Minuten die Operation beendet war und wir die weißen Mäntel auszogen, sagte der Chirurg: ,So, jetzt gehen wir tanzen.‘ Ich ging aber nicht mit. Ich ging sofort nach Hause und begann zu skizzieren. Es war das fast mathematisch exakte Ineinandergreifen von Handlung und Handgreifung, was mich fasziniert hatte.“ Und als hätten sich Handlung und Handgreifung miteinander verschworen, erfuhr ich zwei Tage später eine Nahtoderfahrung, die sich, um es in Neuer Sachlichkeit zu sagen, so abspielte: Nach Einnahme einer orthopädisch verordneten Schmerztablette (für die zahlreichen Mediziner, Pharmakologen und Körperforscher unter Ihnen: ein Etoricoxib) kam es zu einer schweren allergischen Reaktion, einer lebensbedrohlichen Anaphylaxie, die ohne das beherzte Eingreifen eines Notarztes, der die Adrenalinspritze wie in Quentin Tarantinos Meisterwerk „Pulp Fiction“ in meinen ohnmächtigen Körper rammte, an den „pearly gates“ seine
Fortsetzung erfahren hätte. Denn an den Himmelspforten wähnte ich mich bereits. Wobei es mit Nahtoderfahrungen so eine Sache ist: Bei den bereits Toten, die wissen, von was man da spricht, ist man noch nicht ganzheitlich aufgenommen, und unter den noch Lebenden äußern die meisten Menschen ein sagen wir doch etwas geheucheltes Interesse, wenn man darüber reden will, wie das denn jetzt so sei im Moment des Sterbens. Es ist in jedem Fall ein weiches wie warmes Gefühl. Wäre da nicht auch diese Unruhe darüber gewesen, dass ich meiner „nächsten Generation“ ein ziemlich ungeordnetes Chaos jahrzehntelanger Sammelwut hinterlassen hätte, genauer gesagt Tonnen an Kunst und Krempel, mit denen meine Töchter problemlos die Grabkammer des Ramses VI. (fig. 3) im Tal der Könige würden füllen können. Es mag für mich kommod sein, neben tausend Sitzgelegenheiten und Kleopatras Teetischchen auch noch das komplette Badezimmer aus Piero Fornasettis Villa am Comer See zu besitzen, für andere ist dieser Ballast nur der Tropfen, der jede Badewanne zum Überlaufen zwingt. Was wäre, wenn die Nachkommen mit genervtem Pflichtbewusstsein in die Storage-Rooms fahren, um meinen heiligen Plunder zu besuchen oder selbigen (Ramses behüte!) gar nur noch virtuell oder in von irgendwelchen Supercleveren errichteten Storage-Sharing-Welten betrachten? Neben der Notfallmedizin war es diese maximale Unruhe über dräuende Stillosigkeiten, die im Klinikum lebenserhaltend auf mich wirkte. Als ich von dort wieder entlassen wurde, meinte meine Frau an einem sonnigen nächsten Morgen, sie werde unseren Balkon dieses Jahr übrigens mit Mahonien begrünen. Weil der so betörend duftende Busch auch im Winter ein wichtiger Zufluchtsort für Hummeln sei. In diesem Moment musste ich sie einfach küssen. Auf das Leben!
RALF EIBL ist Editor-at-Large, Journalist, Autor mehrerer Bücher und Sammler. Er bekam unter anderem den Axel-Springer-Preis und lebt mit vier Frauen – auf vier wie zwei Beinen – und einem Pumuckl in München
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Illustrationen: André M. Wyst; Karin Kellner (Porträt)
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