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Carsten Krause
JOLIE ROUGE LESEPROBE
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Carsten Krause Jg. 1976, gründete nach seinem Studium die KinderKunstSchuleSauerland (KiKuSS) und arbeitet als Musik-, Theater- u. Schreibpädagoge. Seit 2006 verlegt er Kin der- und Jugendbücher im Casimir-Verlag und leitet unter anderem Casimirs-Geschich tenerfinder-Werkstatt, ein Schreibkurs zum Kreativen Schreiben für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Weitere Bücher: „Mocca & Jay- Erdbeersommer“ Band 1 Pferdebuchserie für Kinder ab 8 Jahren, „Marcella“ Roman für Erwachsene
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JOLIE ROUGE f端rchtet weder Tod noch Teufel F端r meinen Henrischatz! Liebe Dir!!
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Kapitel 1 Der Strand, überzogen mit einer Kruste aus Feenkristallen, glitzerte in allen Farben des Regenbogens. Unter ihren Fußsohlen knirschte es, wenn sie den gefrorenen Boden betraten. Schritt für Schritt ging es bis zum kalten Spülsaum. Die Gischt brannte sich in ihr rot gefrorenes Gesicht. Mit ihren blaugelben Augen sah Jolie den Horizont, kristallklar und blau, keine Wolke, die den Blick trüben könnte. Wer bin ich?, dachte sie und warf gefrorene kleine Muscheln, die wie rohe Diamanten aus dem Sand ragten in die heranschwappenden Wellen, welche kurz vor ihren Füßen brachen. Heute an diesem eisigen Aprilmorgen war auf dem offenen Meer kein Schiff zu erkennen. Jolie war durch einen Traum früh erwacht und mit Egna ihrem Hund zum Strand gegangen. Sie fror, drehte sich um und ging den Weg zurück bis zum Leuchtturm. Ein krächzender Schrei durchschnitt die magische Stille des morgendlichen Strandes. Jolie drehte sich um und sah am Horizont einen schwarzen Punkt, der sich langsam nä5
herte. „Ra, ra“, das heisere krächzen kam immer schneller auf sie zugeflogen. Sie konnte noch nicht erkennen, was dort auf sie zuflog. Eine Möwe war es sicherlich nicht, auch keine Wildgans dachte sie. Sie sah wie der schwarze Punkt an Größe zunahm und erkannte mit blinzelnden Augen etwas rotschimmerndes, das wie ein Rubin in der Morgensonne leuchtete. Was war das für ein Tier? „Ra,ra...“ War es überhaupt ein Tier? Nur noch wenige hundert Meter trennten sie. Jolie lief los, denn sie spürte, dass dieses schwarze Geschöpf ihr nicht wohlgesonnen war. Noch nie hatte sie in ihrem Leben Angst verspürt, noch nie war sie vor etwas davongelaufen. Sie rannte zur schützenden Düne. Egna folgte ihr, denn bei ihrer letzten Begegnung mit einem Seevogel vor einigen Jahren hatte ihr Hund ein Auge verloren und trug seitdem eine schwarze Augenklappe, damit niemand die leere unheimliche Augenhöhle sehen konnte. Das Geschöpf war fast über ihnen. Jolie keuchte, denn ihre Lunge konnte die kalte Atemluft nicht mehr wärmen. Sie stol6
perte und fiel in den harten gefrorenen Sand unterhalb der Düne und versuchte sich mit den Armen über dem Kopf zu schützen. Es wurde schwarz über ihrem Körper. Der Schatten des schwarzen Geschöpfes kreiste nun genau über Jolies Kopf. Jolie wagte kaum zu atmen, ihr Körper war steif vor Angst. Ein dumpfer Schmerz durchzuckte ihre Beine. Hatte das Geschöpf versucht sie anzugreifen? Jolie nahm ihren ganzen Mut zusammen und schrie so laut sie konnte und wedelte mit ihren Armen durch die eiskalte Morgenluft. Nichts geschah. Sie öffnete ihre sandverkrusteten Augen und sah in den Himmel, nichts war zu sehen. Sie schaute nach rechts, sie schaute nach links, nichts, gar nichts. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Nein, denn ihre Beine schmerzten. Sie sah auf den Boden und fühlte über die kleine Beule unterhalb ihres Knies. Während sie versuchte langsam aufzustehen, entdeckte Jolie eine rotgefärbte Flasche mit versiegeltem Korken neben sich im Sand. ´Rot wie Blut` dachte sie. Oh dieses Mistvieh von einem schwarzen Werauchimmer hätte sie fast mit einer fallenge7
lassenen Flasche am Kopf getroffen. Die Zornesröte stieg ihr ins Gesicht. Sie schaute sich noch einmal um, ob dieses schwarze Etwas noch in ihrer Nähe war, bevor sie die Flasche vorsichtig aus dem Sand hob. Sie war eisigkalt. Etwas kullerte von innen gegen das rote Glas als sie die Flasche in die Hand nahm. Sie war schwerer als sie dachte und der Korken fest versiegelt. ´Soll ich sie mitnehmen oder gleich zurück ins Meer werfen?`, überlegte Jolie. Sie entschloss sich die Flasche gleich zurück ins Meer zu werfen, denn außer Algen, Sand und Schlamm würde sicherlich nichts kostbares in ihr verborgen sein. Sie ging zurück zum Spülsaum und holte zum Wurf aus... ´Ra, Ra...` und das schwarze Geschöpf flog direkt über ihren Kopf und streifte sie mit den Flügeln. Jolie ließ vor Schreck die Flasche fallen. Jetzt konnte sie erkennen, dass das schwarze Geschöpf ein Rabe sein musste, ein sehr großer Rabe mit schwarzsilber glänzendem Gefieder. Er flog dem Horizont entgegen aufs offene Meer hinaus in die Morgenröte. „Okay, du schwarzes Scheusal, dann nehm´ ich die Flasche halt mit.“ Neben der Flasche lag eine schwarze Feder. 8
„Die hast du wohl verloren du flaschenwerfendes Ungeheuer, was?“ Jolie betrachtete die Feder ganz genau, sie war groß und lang mit dickem weißen Federkiel. Sie steckte die schwarze Feder wie eine Trophäe in ihr kupferrotes lockiges Haar. Ich gehe jetzt besser nach Hause, dachte Jolie nach all der morgendlichen Aufregung, vielleicht kann ich die Flasche mit Opas altem Werkzeug öffnen ohne sie zu zerstören, denn so eine schöne rote Glasflasche eignet sich sicherlich noch als Tropfkerze für alte Kerzenstumpen, wenn ich sie vom Meerschlamm gereinigt habe. Jolie nahm die Flasche aus dem klebrigen Spülsaum bevor erneut eine Welle über diese hinwegschnappte. Komisch der Korken schien eben noch ganz rot und jetzt ist er von salzigem Wasser abgewaschen, dachte Jolie. Ein rotes Rinnsal, wie eine Blutspur floss ins Meer. Sie schaute sich den Korken genau an und entdeckte einen Schriftzug mit keilförmig gedruckten Buchstaben:
Wir Fürchten weder Tod noch Teufel 9
Wer ist wir? Was ist das für eine komische Schrift? Woher und von wem kommt diese Nach-richt und an wen ist sie gerichtet? Jolie ging nachdenklich den Weg zurück durch die Düne über die Holzplanken zum Leuchtturm von Opa Paul, Edna folgte ihr schwanzwedelnd und forderte sie auf dem Rückweg immer wieder zum Spielen auf. Wir fürchten weder Tod noch Teufel. Wer ist wir? Während sie darüber nachdachte und zurück zu ihrem warmen Bett schlich entfernte sich der schwarzsilberne Rabe. Was sie nicht sah waren die glutroten toten Augen des Raben, die in der Morgensonne funkelten. Der Strand färbte sich unheilvoll in ein blutiges rubinrot, auch das Meer schien blutrot bis der Rabe in den Weiten des Horizontes verschwand.
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Kapitel 2 „Jolieeee ... Aufstehen!!“ Jolie blinzelte leicht durch ihre schlafverkrusteten Augen und sah verschlafen in das Gesicht von Herrn Schmietz. Seit wann können Kater reden?, dachte Jolie und streichelte über sein zotteliges Fell, was mit genüsslichem Schnurren beantwortet wurde. „Früüüühstück ist fertig, Du kommst zu spät in die Schule.“ Mit einem Ruck öffnete Jolie beide Augen und riss sich dabei zwei mit Schlafsand verklebte Wimpern aus. „Aua!“ Nein, das war nicht Herr Schmietz gewesen, der mit ihr sprach. Sie schaute sich um. Herr Schmietz lag schnurrend auf ihrer Brust. Vom Hochbett aus hatte sie einen genauen Überblick über ihr kleines Reich. Ein Schädelknochen mit gekreuzten Beinknochen, schauten sie von der Decke aus mit rotglühenden Augenhöhlen grimmig an. Die Tür ging auf: 11
„Also, wenn Du dich jetzt nicht sofort anziehst verpasst du die Schulkut-sche!“ Sie hatte nicht geträumt, die Befehle des Käptn´s waren echt. Er stand unter ihrem Bett und schaute durch die Reling zu ihr herauf. „Morgen Sommeromi, ich hatte schon geglaubt Herr Schmietz könnte sprechen.“ was Herr Schmietz mit einem wohligen Miauen zustimmend zu bestätigen schien. Jolie riss ihre blutrote Bettdecke beiseite und beugte sich über die hölzerne Bettenreling. Ihr Hochbett sah aus wie ein Piratenschiff. Sie hatte es von Opa Paul zu ihrem 10. Geburtstag bekommen. Es bestand aus einem einem Masten mit Ausguck und roten Segeln, einer Galionsfigur, die aussah wie eine Meerjungfrau, ein schwarzes Steuerrad und einer echten vergoldeten Wasserkanone gegen feindliche morgendliche Wecküberfälle. Jolie schmiss die Strickleiter über Bord und kletterte barfuß hinab, um ihrer Sommeromi einen dicken Guten-Morgen-Schmatz auf die Wange zu drücken. „Wo wart Du denn? Deine Füße sind voller Sand?“ 12
Jolie schaute erstaunt auf ihr nackten Füße. Da fiel ihr der frühmorgendliche Spaziergang mit Edna ein und …, Jolie erschrak, wo war die Flaschenpost des unheimlichen Raben? „Äh, Omi ich komme sofort runter und ziehe mich an.“ Sie schob ihre Oma aus der Zimmertür und atmete tief durch. Jolie sprang auf die Strickleiter und durchwühlte ihr Schiffsbett, aber von einer Flaschenpost war nichts zu sehen. Wo hatte sie die Flasche bloß hingestellt und versteckt? Herr Schmietz maute auf der Fensterbank und räkelte sich im Sonnenlicht. Da blickte Jolie auf den Fahnenmast und entdeckte die Flasche im Korb des Mastens. Ich muss sie unbedingt jetzt gleich öffnen und das Papierstück lesen. Vielleicht kann mir Delphine dabei helfen? Sie nahm die Flasche aus dem Mastkorb und kletterte wieder hinab. Eilig sprang sie in ihre schwarze halblange Hose, zog sich ein Matrosenshirt über den Kopf und wickelte sich vor dem Kristallspiegel ihrer Urgroßmutter ein rotschwarzes Tuch um ihre rotgelockten Haare. Jolie hatte keine Lust heute in die Schule zu gehen. Ihre Schultasche lag neben Herrn 13
Schmietz. Sie steckte die Flasche neben ihre Bücher und ging die Treppe hinab in die Küche. Sommeromi drückte ihr eine Dose mit den Pausenbroten in die Hand und schob sie aus der Haustür heraus in den Garten. „Jetzt trödel nicht so, die Kutsche wartet nicht ewig auf kleine Piratenmädchen.“ Sie lächelte verschmitzt und streichelte Jolie liebevoll durch ihre wilden strubbeligen roten Locken und drückte ihrer Enkelin ein Honigtoast in die noch freie linke Hand. „Hier noch ein bisschen Wegzehrung“ Jolie wusste, dass es jetzt keine Widerrede geben konnte und ging murrend über den Rasenweg entlang bis zum Weidenzaun. Die Schulkutsche bog gerade um die Ecke des Nachbarhauses, als sie einen stechenden Schmerz im Nacken verspürte. „Aua“, schrie sie und drehte sich um, doch sie sah niemanden. „Autsch, was soll das??“, wieder durchzuckte sie ein stechender Schmerz an ihrem Hals. Es raschelte in der Hecke neben dem Weidenzaun zu Omas Garten und Jolie wich erschrocken zurück. Aus dem Gestrüpp erschien eine schmutzige 14
Hand, dann ein dreckiger Fuß und plötzlich stand ein braungebrannter Pirat grinsend und schmatzend vor ihr. Totenkopf T-Shirt mit Piratenkappe und einem Säbel zwischen den schneeweißen Zähnen. „Hey, was machst du da in der Hecke meiner Oma?“, fragte Jolie neugierig. Der schmuddelige Piratenjunge mit den verfilzten langen Haaren schwieg, nahm eine Kirsche aus einer Papiertüte, kaute kräftig, zielte und spuckte den Stein über Jolies Kof hinweg. „Spinnst Du? Wer bist Du?“ Jolie blieb jedoch keine Zeit mehr seine Antwort abzuwarten. Die Schulkutsche hielt bereits vor dem Kirschbaum am Gartenzaun und Ahearn der Kutscher rief: „Hey Jolie, trödel nicht herum, wir sind heute morgen schon spät dran.“ Während Jolie auf die Kutsche zu den anderen Kindern der Nachbarschaft stieg, drehte sie sich noch einmal um, aber der schmuddelige Piratenjunge war verschwunden... „Moin Jolie, alles klar meine Piratenbraut?“ Malo klopfte ihr fest auf die Schulter. „Aua, lass das“, Jolie versetzte ihm einen kräftigen Schlag auf die Schulter, dass Malo fast von der Kutsche gefallen wäre! 15
„Du machst ein so entsetztes Gesicht, bist ganz blass ... etwa seekrank?“ Alle Kinder lachten sofort los, doch Jolie setzte sich auf einen leeren Platz neben Youna und schwieg. Was machte ein kirschsteinespuckender Pirat in der Hecke ihrer Oma? Sie blickte sich noch einmal um, während der Kirschbaum immer kleiner wurde und durch die schaukelnde Bewegung der Kutsche hin- und hergeschaukelt wurde. Sicherlich hatte sie nur geträumt und der Pirat war nur ein Trugbild ihrer morgendlichen Müdigkeit. Wie sehr sie damit irrte konnte sie jetzt noch nicht ahnen. Die Schulkutsche nahm Geschwindigkeit auf und Jule und Silas die beiden alten Kaltblüter liefen die Dorfstraße entlang über die Pflastersteine, die seit Jahrzehnten ihr morgendlicher Dienstweg zur Inselschule waren. Die alte Inselschule lag außerhalb des Dorfes auf einer kleinen Sanddüne mit Blick aufs offene Meer. Die Holzbalken der Schule waren schon sehr alt und von Wind, Sonne und der salzigen Luft über die Jahre ausgeblichen. 16
Schon ihre Sommeromi musste früher jeden morgen mit der Kutsche in die Schule dachte Jolie. Sie erreichten das große Portal und die vielen kleinen Türmchen schienen nur darauf zu warten auf sie herab zu stürzen. Die alte Inselschule war ein unheimlicher Ort für die Bewohner der Insel. Sie soll auf der Stelle erbaut worden sein, an der vor vielen Jahrzehnten zehn Schiffbrüchige eines Geisterschiffes bei stürmischer Vollmondnacht strandeten. Es war die Nacht des Blutmondes, der von jeher Unheil und Tod verkündete, das jedenfalls behauptete ihr Opa der alte Leuchtturmwärter Paul immer, wenn er Jolie bei Gebäck und Tee seine düsteren Seeräubergeschichten erzählte. Die zehn Schiffbrüchigen neun Männer und eine Frau wurden von den Dorfbewohnern seit ihrer Ankunft auf der Insel gemieden. Man munkelte sie seien die Geister eines Piratenschiffes, welches ihre unruhigen Seelen an Land getrieben hatte. Jeder im Dorf hatte Angst vor ihnen, selbst die Hunde des Dorfes machten einen großen Bogen um die Behausung der Schiffbrüchigen. Die Frauen warnten ihre Kinder nicht zu nah an das Schiffswrack der Schiffbrüchigen zu gehen. 17
Einmal im Jahr ertönten bei Vollmondnacht seltsame Geräusche im Dorf, dass selbst die sauren Heringe eine Gänsehaut bekamen. Die Fischer des Dorfes hatten seit Strandung der zehn Schiffbrüchigen kein Erbarmen mit ihnen. Ihre Fischfänge wurden immer kleiner, so dass sie beschlossen die Schiffbrüchigen von der Insel zu vertreiben. Eines Nachts brannte ihr Schiffswrack vollständig ab. Das Feuer hatte sie im Schlaf überrascht und niemand überlebte. von ihnen. Jahrzehnte später baute ein alter Fischer an der Stelle der heutigen Schule eine Hütte, um besser zu seinen Fängen zu gelangen und wieder Jahre später als die Schiffbrüchigen längst vergessen waren wurde an Stelle der Hütte die heutige Inselschule gebaut. Jolie hing während der rasanten Kutschfahrt ihren Tagträumen nach. Sie dachte an Meerjungfrauen, spukende Schiffsklabautermänner, grimmige Strandgutschmuggler und Seegraselfen, die in den unzähligen Geschichten ihres Opas auftauchten und immer wieder dachte sie an den Piratenjungen in Omas Hecke. Besonders an die frech grinsenden blauen Augen. „Hey, fang!“ 18
Jolie wurde abrupt aus ihren Gedanken gerissen. Sie sah im letzten Augenblick ihre Schultasche über ihren Kopf fliegen, die unsanft neben der Kutsche im Dünensand landete. „Anhalten, sofort!“, befehlte Jolie dem Kutscher. Der fuhr erschrocken herum und sah wie Jolie auf dem Holzrand der Kutsche stand und plötzlich noch vor dem Halt der Kutsche sprang. Alle Augen starrten ungläubig auf die im weichen Sand gelandete Jolie, die bei voller Fahrt abgesprungen war. ´Wir fürchten weder Tod noch Teufel`, ging es Jolie durch den Kopf. Ganz schön mutiger Absprung für eine 12jährige Piratin, dachte Jolie und klopfte den Sand von ihrer Kleidung und aus ihren Haaren. Ihr rotes Kopftuch war verrutscht Sie rannte den Weg zurück bis zu ihrer Tasche und sah der Schulkutsche hinterher. Malo winkte ihr spöttisch grinsend zu! Niemand lachte außer ihm. Sie hasste diesen Jungen, den Anführer der Schwarzbärte, zutiefst für seine Gemeinheit ihre Tasche aus der Kutsche zu werfen. Jolie erhob drohend ihre geballte Faust und schwor Rache. 19
Seitdem dieser Schwachkopf ihre Klasse betreten hatte waren sie verfeindet. Jolie befehligte ihre Mannschaft, die Strandpiratinnen, und Malo gründete eine eigene Crew von Piratenschwachköpfen namens Schwarzbärte. Die Kutsch hielt an. „Alles in Ordnung Jolie“, schrie Ahearn der Kutscher. „Ja alles Roger! Danke!“ Die Pferde schnaubten, weil eine Möwe über ihren Köpfen kreiste. „Ich kann die Pferde nicht so lange ruhig halten, schaffst du es heute allein zur Schule?“ „Ja klar, fahrt ruhig ohne mich weiter!“ Der feine Sandstaub, den die Schulkutsche aufwirbelte sah aus wie Küstennebel. Ihre Freundin Delphine winkte Jolie zu. Jolie winkte zurück. „Ich warte auf dich am Schultor“, rief sie Jolie zu. Was für ein merkwürdiger Morgen, dachte Jolie und ging nicht den Pfad zur Inselschule entlang, sondern bog ab durch die Dünen hinunter zum Schmugglerstrand. Ob sie nun pünktlich zur ersten Stunde erscheinen würde war fraglich, aber sie musste 20
nachdenken und das konnte Jolie am besten am Strand, den auch schon ihre Vorfahren vor Jahrzehnten nutzten. Jolie beeilte sich zum Aussichtspunkt der Düne zu gelangen. Von dort hatte man einen grandiosen Ausblick über die gesamte Insel und das Meer. Die Aussichtsdüne, oder auch Strandräuberdüne genannt, war an dieser Stelle höher als der Leuchtturm von Opa Paul und wurde seit Jahrhunderten als Schmuggler- und Strandräuberausguck benutzt. Die Strandräuber entzündeten in stürmischen Nächten ihre Öllampe und lockten mit dem Schein des Feuers Schiffe zur Insel, die oft an den Sandbänken strandeten und dann von den Strandräubern ausgeraubt wurden. Die Schmuggler entzündeten ihre Lichter für Boote die vor der Küste vor allem mit Zigaretten und Alkohol auf sie warteten. Doch heute morgen war weder ein Strandräuber noch ein Schmuggler dort oben zu sehen. Jolie hörte das Rauschen der Wellen und schmeckte die salzige Luft. Sie nahm einen tiefen befreienden Atemzug in ihre Lungen. Sie fühlte sich frei, frei und einsam zugleich. Irgendwo da draußen auf dem Meer waren ihre Mutter und ihr Vater. Eine Träne rollte an 21
ihrem Gesicht entlang und hinterließ eine Spur in ihrem sandverkrusteten Gesicht. Verschleiert nahm sie ihre Umgebung wahr, bis ihr Blick auf den Boden fiel, Zigarettenstumpen und abgebrannte Streichhölzer lagen dort überall verstreut. Sie wischte sich über ihre Augen um besser sehen zu können. Es roch nach Alkohol und Petroleum. Merkwürdig, sonst ist es hier oben doch immer ordentlich und sauber für die Touristen. Jolie bückte sich. Ein zerknicktes angebranntes und löchriges Foto lag umgedreht neben einer ausgedrückten Zigarette. Sie drehte es um und erschrak. Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. Ihre Nackenmuskeln verspannten sich und sie bekam Gänsehaut. Auf dem Foto blickte sie in das Gesicht eines rotgelockten Mädchens: ihr eigenes Gesicht.
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Kapitel 3 Wie kam das Foto von Jolie hier hinauf zur Aussichtsdüne? Jolie betrachtete ungläubig ihr eigenes Gesicht im Alter von vielleicht zwei Jahren, wie sie auf dem Arm ihrer Mutter in die Kamera lächelte. Kurz nach dieser Aufnahme mussten ihre Eltern verschwunden sein, dachte Jolie. In ihrem Kopf schwirrten die Fragen wie in einem Bienenschwarm umher. Sie musste unbedingt mit Delphine reden, vielleicht hatte die eine Idee was ihr Foto hier oben auf der Aussichtsdüne verloren hatte. Soweit sie wusste gab es nicht sehr viele Fotos aus der Zeit mit ihren Eltern. Nur in Omas und Opas Wohnzimmer hingen alte Bilder mit ihren Eltern. Wer hatte versucht dieses Foto hier oben zu verbrennen? Jolie durchströmte eine innere Unruhe. Sie musste hier weg und zwar schnell. Sie stopfte das Foto in ihre Schultasche und rannte die Plattform hinunter, dabei wäre sie fast in die Arme eines Mannes gelaufen der rauchend am 23
Eingang der Dünenplattform zu warten schien. „Moin!“ Jolie taumelte aus dem Gleichgewicht geraten von einem Bein zum anderen. „Warum denn so eilig junge Dame?“ Der bärtige Mann roch nach Alkohol und grinste Jolie frech an. An irgendjemanden erinnerte sie dieses Grinsen. Jolie stammelte nur ein kurzes: „Morgen!“ und wollte ihren Weg zum Kutschpfad fortsetzen als eine kräftige Hand sie daran hinderte weiter zu gehen. „Was macht eine so junge Göre wie du heute morgen hier oben und ist nicht in der Schule?“ „Ich habe meine Schultasche verloren.“ „Hier oben?“ „Nein jemand aus meiner Klasse hat sie aus der Kutsche geworfen.“ „Eine gute Ausrede für eine Schulschwänzerin findest du nicht.“ Der bärtige Mann erhöhte seinen Druck auf ihre Schulter. „Aua, sie tun mir weh, lassen sie mich bitte los!“ „Mach dass du in die Schule kommst aber schnell.“ 24
Er grinste wieder frech, aber diesmal lag etwas unheimliches in seinen Augen. Seine Augen leuchteten rot. Jolie riss sich los und rannte zur端ck zum Kutschenpfad ohne sich noch einmal umzudrehen.
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Kapitel 4 „Moin Opa Paul!“ Jolie stürmte am Ohrensessel Opa Pauls entlang, an dem er ihr als kleines Mädchen wilde Geschichten von Piraten und Strandräubern erzählt hatte, so wie es schon sein Opa mit ihm getan hatte als er ein kleiner Junge war und die Wintertage lang und schwarz, das Kaminfeuer prasselte immer warm an den den Ohren und Jolie kuschelte sich unter die Decke zu Opa Paul um seinen Seeabenteuergeschichten zu lauschen. Doch jetzt hatte sie dafür keine Zeit. „Moin Jolie“, erwiderte Opa Paul etwas verdutzt hinter zwei wehenden roten Zöpfen hinterherschauend. „Wo willst Du denn hin? Sommeromi wartet schon auf dich in der Küche mit selbstgebackenen Keksen und einer warmen Tasse schwarzen Tee.“ „Tut mir leid, aber ich habe kein Zeit.“ Das Feuer prasselte und zischte und Flammen züngelten über die heiße rote Glut. „Vielleicht später!“ Opa Paul war früher Pferdekutscher und 26
brachte die Post bei Ebbe von Hallig zu Hallig, bis er eines Tages im Watt feststecken bleib und eine Kufe ihm das Bein zerschmetterte. Seitdem humpelte er und zog von da in den alten Leuchtturm und malte. Seine kleines Leuchtturm-Atelier hieß: „Galerie Strandgut“. „Hast du dir auch die Schuhe ausgezogen? Du weißt, dass Frau Sommer keine Schafscheiße auf den Dielen mag. „Jaa Opaa“, sang Jolie während sie schon treppauf auf dem Weg in ihr Zimmer war. Jolies Eltern waren seit sie ein Kind war spurlos verschwunden, ihr Vater war Archäologe und ihre Mutter eine „Kräuterhexe“, wie sie selbst von sich behaup-tete. Sie waren von einer Ausgrabungsreise nach Nordfrankreich nie wieder zurückgekehrt. Seitdem wuchs Jolie bei ihrer Oma, der Mutter ihres Vaters und bei ihrem Opa, dem Vater ihrer Mutter auf. Eigentlich stritten sich Sommeroma und Opa Paul nur, denn sie konnten sich schon vor der Hochzeit ihrer beiden Kinder nicht leiden obwohl sie seit 75 Jahren Nachbarn waren. Jolie hatte keine Ahnung warum. Sie rissen sich nur zusammen, wenn Jolie in der Nähe war und das sie keine Erinnerung an ihre Eltern hatte, waren Opa Paul und Sommeromi immer wie 27
Eltern für sie gewesen. Sommeroma kam mit geflochtenen hochgesteckten Haaren aus der kleinen Küche von Opa Paul. Sie wohnte in einem kleinen blauen Holzhaus mit Reet gedeckt und Obstgarten, zwei Schafen, zwei Laufenten, zwei Kaninchen, zwei Hunden, zwei Katzen, zwei Goldfischen und zwei Schildkröten. Sommeromi las Bücher für ihr Leben gern, sie wäre gerne eine berühmte Schriftstellerin geworden, hatte aber nie Zeit sich abends nach der Arbeit vor eine Schreibmaschine zu setzen und jetzt in ihrem Alter wurden ihre Augen immer schwächer, so dass sie abends im Bett mit der Taschenlampe kaum noch lesen konnte. Jolie stürmte aus dem Zimmer mit ihrem roten Piratentuch, das fest um ihren Kopf gebunden war. „Du hast noch nichts gegessen Jolie, ohne Essen gehst du mir nicht aus dem Haus!“ „Ich habe keine Zeit Oma, ich muss wieder zurück zum Strand ich habe meinen Schal verloren.“ „Du hattest deinen Schal, als du heute morgen aus dem Haus gegangen bist doch gar nicht dabei gehabt. Joliiie... was hast du vor??“ 28
„Nix Omi, ehrlich, bis später!“ Sie küsste die Oma auf die Stirn und öffnete die Haustür. „Deine Hände sind ganz rot, hast du dich etwa verletzt?“ Doch da war Jolie schon aus dem Haus, den Kiesweg vom Leuchtturm in die Dünen entlang laufend Richtung Meer, verschwunden. Ich fürchte weder Tod noch Teufel, dachte Jolie und schaute zum Horizont, doch außer ein paar Möwen war nichts mehr am Himmel zu sehen. Eine kleine Möwe schrie über Jolies Kopf, sie erschrak kurz und um ein Haar verfehlte sie der Schiss. „Mist, immer wenn man sie braucht ist sie nicht da! Heute morgen der unheimlich Rabe mit der Flaschenpost, dann der neue komische Pirat hinter der Hecke, das Kinderfoto und der unfreundliche bärtige Mann auf der Dünenplattform, was mag wohl heute oder morgen noch auf mich warten, dabei sind die Ferien für Piratinnenabenteuer doch noch so weit entfernt?!“ Jolie wollte zu ihrer Freundin Delphine fahren und ihr über ihre Erlebnisse berichten. Sie lebte nicht weit weg vom Leuchtturm auf einem Ponyhof am Deich und war ebenfalls eine 29
Strandpiratin, wie Jolie. Jolie lief zum Bootshaus ihres Opas. Dort war der geheime Treffpunkt der Strandpiratinnen. Aus ihrer Hose zog sie einen verrosteten langen Schlüssel und öffnte die Tür. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatte starrte sie auf einen blutroten Fleck an der Wand. Ein Totenschädel mit gekreuzten Knochen starrte sie bedrohlich lächelnd an. Das Wappen der Strandpiratinnen: eine blutrote Piratenflagge, die Jolly Roger.
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Auszüge aus:
Carsten Krause
JOLIE ROUGE Copyright: © 2015 by Carsten Krause 1. Auflage: 2016 Verlag: Casimir-Verlag, Carsten Krause, 34388 Trendelburg Alle Rechte, auch die des auszugsweisen und fotomechanischen Nachdrucks, vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Einwilligung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsge staltung, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: © Sarah M. Schemske Lektorat, Satz & Layout: Carsten Krause Printed in Poland 2016
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