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Katie Grosser
Rissa Filial und das Verm채chtnis der Fabelwelt Band 1
LESEPROBE
Casimir-Verlag 2
Katie Grosser wurde 1990 geboren und wuchs als Tochter eines Deut schen und einer Amerikanerin im Sauerland auf. Nach dem Abitur zog sie nach Münster, um an der West fälischen Wilhelms-Universität Kommunikationswissen schaft und Politikwissenschaft zu studieren. Dort promo viert sie aktuell zum Thema Vertrauen. Schon als Kind schrieb sie auf Englisch und Deutsch kleine Geschichten für ihre Freunde und ihre Familie. Aus Spaß wurde Lei denschaft und aus kleinen Geschichten wurden die ers ten Romane. Während ihres Studiums bekam sie die Idee für „Rissa Filial und das Vermächtnis der Fabelwelt“. Weitere Abenteuer um Rissa und ihre Freunde sind schon in Planung.
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Katie Grosser
Rissa Filial
und das Vermächtnis der Fabelwelt Kapitel 1 Sommer Rissa Filial liebte den Sommer. Wenn die Sonne sie morgens immer früher weckte und erst spät abends hinter den Baumwipfeln des Knisterwalds verschwand, dann schlug ihr Herz höher. Die Brise, die ihr um die Nase weh te, trug den Duft der weißen Gänseblümchen auf der Blumenwiese vor ihrem Haus. Rissa schloss mit einem Lächeln auf den Lippen die Augen. Ihr Haus. Das war überhaupt das Aller schönste am Sommer! Sechs ganze Wochen lang musste sie nicht im Internat sein, konnte ein fach nur bei Tante Augusta faulenzen, den gan
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zen Tag lang draußen spielen und sich um nichts mehr Sorgen machen. Wenn da nicht diese komischen Männer ge wesen wären. Das Lächeln verschwand von Rissas Lippen und sie runzelte die Stirn. Den ganzen Morgen schon liefen die Männer nun auf der Blumen wiese hin und her. Sie hatten riesige Geräte bei sich, die aussahen wie Kameras auf großen gel ben Stativen, und blieben immer mal wieder stehen, um sie aufzubauen. Außerdem trug jeder der fünf einen Anzug, mit Schlips und allem. Rissa konnte nur den Kopf schütteln. Sie selbst hatte dunkelblaue Shorts und eine ärmellose weiße Bluse an und trotzdem war ihr warm. Die langen, kastanienbraunen Locken hatte sie mühsam mit einem Haargummi gezähmt. Zum Glück hatte Tante Augusta sie noch nicht gesehen, sonst würde Rissa das Haargummi bestimmt noch einmal herausnehmen und sich die Haare kämmen müssen. Wenn sie eines wirklich hasste, dann, sich die Haare zu kämmen. Man hätte eher sagen müssen, gegen ihre Haare zu kämpfen. Es gab einfach keine Bürste, die es mit ihrer Lockenmähne aufnehmen konnte. 6
Im Moment verschwendete Rissa jedoch kei nen Gedanken an ihre Haare, sondern verfolgte stattdessen mit den Augen die unbekannten Männer. Geräte, Anzüge, das alles hätte sie ih nen noch verzeihen können, wenn sie nicht achtlos die Gänseblümchen platttreten würden. Rissa war erst vor zwei Tagen nach Hause ge kommen und hatte sich zuallererst einen klei nen Pfad durch das Blumenmeer geschaffen. Ir gendwie musste sie ja zum Knisterwald am Fuße des großen Donnerbergs kommen. Nirgendwo sonst konnte man so tolle Baumhäuser und Staudämme bauen, Tiere beobachten und Blumen sammeln. Rissa hatte sich bei jedem einzelnen Gänseblümchen, das im Weg war, entschuldigt, bevor sie es vorsichtig mit der Gartenschere abgeschnitten hatte. Sie hatte sie alle gesammelt und Tante Augusta zum Abendessen einen wunderschönen Strauß auf den Tisch gestellt. Die komischen Männer aber trampelten acht los auf den Blumen herum. Ihnen tat es nicht leid, das konnte Rissa so klar sehen, als hätte es jemand auf ein Schild geschrieben und hochge halten. Sie war vielleicht erst elf, aber sie war bestimmt nicht blöd. 7
„Clarissa Filial!“ Rissa zuckte zusammen, als Tante Augustas Stimme plötzlich hinter ihr ertönte. Sie blickte über ihre Schulter zurück und sah, wie Tante Augusta auf sie zuwatschelte. Tante Augusta konnte nur watscheln. Sie war nicht besonders groß, dafür aber rund wie ein Ball und deshalb auch nicht sehr schnell. In einer Hand hielt sie die verhasste Bürste und in der anderen den nicht weniger verhassten Sonnenhut. Obwohl Rissa den gan zen Sommer draußen verbrachte, wurde sie nie braun. Noch nicht einmal eine Sommersprosse auf der Nase bekam sie. Und wegen ihrer blas sen Hautfarbe reichte Sonnencreme laut Tante Augusta nicht aus – es musste auch ein Sonnen hut her. „Clarissa Filial, du kämmst dir jetzt sofort die Haare und setzt diesen Hut hier auf!“, don nerte Tante Augusta, die das, was ihr an Schnel ligkeit fehlte, üblicherweise durch Lautstärke wieder ausglich. Rissa tat das Einzige, was in solch einer Si tuation Sinn machte: Sie ergriff die Flucht. Wie ein Lichtstrahl schoss sie den gänse blümchenfreien Weg durch die Blumenwiese 8
herunter und lief so schnell ihre Beine sie tra gen konnten zum Knisterwald. Auch Rissa war nicht besonders groß, dafür aber war sie beson ders flink. Tante Augusta hatte keine Chance gegen sie. Rissa kicherte in sich hinein, auch wenn sie wusste, dass sie beim Mittagessen Är ger bekommen würde. Kaum zwei Minuten später hatte sie den Knisterwald erreicht und stieß einen zufriede nen kleinen Seufzer aus. Wie sie diesen Wald liebte. Der Wald, der Schloss Thronstein umgab, war zu Rissas großem Leidwesen, für die Schü ler verboten. Ihr Internat war eine riesige alte Burg, in der sowohl Schüler als auch Lehrer im Winter bitterlich froren und auch im Sommer nie richtig warm werden konnten. Rissa fühlte sich dort elendig. Die anderen Mädchen moch ten sie nicht und auch Rissa mochte ihre Mit schülerinnen nicht besonders. Zwar hänselte sie keiner und niemand spielte ihr böse Streiche, aber es verstand sie auch keiner, und das war das eigentliche Problem. „Bei euch fühle ich mich viel wohler“, teilte Rissa den beiden jungen Kastanienbäumen mit, bei denen sie gerade stand. 9
„Ihr versteht mich. Ihr seid meine Freunde.“ Im Internat hätten die anderen Mädchen nun angefangen zu tuscheln. Schau mal, Clarissa re det wieder mit sich selbst. Aber das stimmte gar nicht! Beim Gedanken an ihre Mitschülerinnen bekam Rissas blasses Gesicht doch Farbe, nämlich Rot. Vor Wut. Denn sie redete nicht mit sich selbst. Hier im Wald redete sie mit den Bäumen und den Tie ren, die schließlich ihre Freunde waren. Und auf Schloss Thronstein redete sie mit den Ge mälden an der Wand oder mit den paar Mäus chen, die sich aus dem Keller auf die oberen Flure verirrten. Und manchmal stellte sie sich vor, dass um sie herum kleine, unsichtbare Feen waren, und dann flüsterte sie ihnen ihre Gedan ken zu. Rissa legte sich zwischen die beiden Bäume und schaute empor. Durch das dichte Blätter werk konnte sie so gerade noch den blauen Himmel erspähen. Er war wolkenlos. Es war ein perfekter Sommertag. „Was machen die komischen Männer wohl hier?“, fragte Rissa die Kastanienbäume. „Den ganzen Morgen schon laufen sie hin und her 10
und zertrampeln all die schönen Gänseblüm chen.“ Mit gerümpfter Nase schüttelte sie den Kopf. „Ich glaube, die messen irgendetwas aus mit ihren komischen Kameras, machen Fotos und stellen dann schlaue Rechnungen an. Wenn sie messen würden, wie hoch der Donnerberg ist, das könnte ich ja noch verstehen. Der ist schließlich riesengroß, da könnte man fünf Männer für gebrauchen. Aber auf der Blumen wiese ist doch gar nichts, was man messen könnte.“ Es war alles sehr verwirrend. Vielleicht war Rissa doch noch zu klein, um alles zu verste hen. „Wobei ich das eigentlich nicht glaube“, ver traute sie den Kastanienbäumen an, die sich als sehr gute Zuhörer entpuppt hatten. „Ich glaube, dass die Männer irgendetwas im Schilde führen. Ich weiß nur noch nicht, was. Aber das heißt nicht, dass ich es nicht verstehe. Es heißt nur, dass ich es noch nicht herausge funden habe.“ Zufrieden legte sie die Arme hinter dem Kopf zusammen und schloss die Augen. Letzte Nacht hatte sie heimlich eine Taschenlampe in 11
ihr Zimmer geschmuggelt. Als Tante Augusta dann das Licht ausgemacht hatte, war Rissa aus dem Bett gehuscht, hatte ihr Buch geholt und dann einfach unter der Decke weitergelesen. Sie hatte im Zimmer ihrer Eltern ein wunderschö nes Buch über Feen gefunden und die ganze Nacht darin geschmökert. „Meine Eltern sind tot, wisst ihr“, murmelte sie, wieder an die Kastanien gerichtet. „Ich ken ne sie gar nicht. Tante Augusta ist wie meine Mama, auch wenn sie nicht meine Mama ist. Manchmal macht mich das sehr traurig. Aber sie sind gestorben, als ich noch ein Baby war. Vielleicht ist es leichter, weil ich mich nicht an sie erinnern kann.“ Aber Rissa wollte nicht an ihre Eltern den ken. Immer, wenn sie in deren altes Zimmer ging, bekam sie einen komischen Kloß im Hals und konnte nicht mehr schlucken. Tante Au gusta hatte ihr verboten, das Zimmer zu betre ten. Aber wenn Tante Augusta ihr Mittags schläfchen machte, dann konnte Rissa dem Drang manchmal einfach nicht widerstehen. Es war nicht wirklich das Zimmer ihrer Eltern. Ihr eigentliches Zimmer war in einem ganz ande ren Haus, das an einem ganz anderen Ort 12
stand. Aber als sie gestorben waren, hatte Tante Augusta alle ihre Sachen in große Truhen pa cken und in das freie Zimmer in ihrem eigenen Haus stellen lassen. „Das war damals, als sie mich zu sich geholt hat“, erklärte Rissa den jungen Kastanienbäu men. Die hatte es vor all den Jahren sicherlich noch nicht gegeben, also hatten sie das alles gar nicht mitbekommen. „Und Mamas und Pa pas Sachen hat sie dann einfach in das große Zimmer unterm Dach gepackt.“ Rissa seufzte, diesmal war es ein tiefes und trauriges Seufzen. Plötzlich war sie schrecklich müde. Tante Augusta warnte sie immer davor, dass sie tagsüber müde werden würde, wenn sie nachts lange wachblieb. Rissa fragte sich, wieso Tante Augusta dann jeden Tag ein Mit tagsschläfchen machen musste, wo sie doch stets um zehn Uhr ins Bett ging und die ganze Nacht durch schnarchte. Aber es gab wohl manche Geheimnisse, die sie nie würde lüften können. Oder vielleicht erst, wenn sie zwölf würde.
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Kapitel 2 Eine Sahnetorte Die Luft um sie herum wurde trotz der Schatten der Bäume schon stickig, als Rissa ei nige Zeit später die Augen aufschlug. Irgendet was, ein herabfallendes Blatt vielleicht, hatte sie im Gesicht gekitzelt und geweckt. Sie setzte sich auf. Ein Blick auf ihre Armbanduhr ließ sie zusammenschrecken. „Da bin ich aber gerade noch rechtzeitig wachgeworden“, sagte sie zu den Kastanien bäumen und rappelte sich auf. „Tante Augusta serviert immer pünktlich um ein Uhr das Mit tagessen, und wer zu spät kommt, der be kommt erst wieder zum Abendbrot etwas!“ Mit knurrendem Bauch rannte Rissa so flink sie konnte aus dem Knisterwald heraus wieder zur Blumenwiese, hastete den Weg durch die Gänseblümchen hoch und erreichte gerade in dem Moment das Haus, in dem die alte Wand uhr zur vollen Stunde schlug. Schnell überprüf te sie im Spiegel, ob ihre Haare noch immer halbwegs gebändigt aussahen, und ging dann ins Esszimmer. 14
In diesem Augenblick kam Tante Augusta mit einer großen Glasplatte in der Hand aus der Küche. Darauf war eine riesige Sahnetorte. Ris sa leckte sich über die Lippen. „Gibt es heute Sahnetorte zum Mittagessen, Tante Augusta?“, fragte sie mit hoffnungsvoll glänzenden Augen. Sahnetorte war wirklich mit Abstand ihr Lieblingsessen. Auf Schloss Thronstein gab es höchstens ein mal Marmorkuchen, und das auch nur sehr sel ten. Selbst dann war er trocken und bröselig und Sahne gab es natürlich auch keine. „Also wirklich, Rissa! Für freche Mädchen, die sich nicht die Haare bürsten und sich einen Sonnenbrand einfangen, gibt es keine Sahnetor te!“, schimpfte Tante Augusta und stellte die Glasplatte vorsichtig auf das eine Ende des Ti sches. „Aber Tante Augusta, ich kämme mir die Haare immer einmal nach dem Waschen und ich hab auch gar keinen Sonnenbrand!“, protes tierte Rissa und schlang ihre Arme um Tante Augustas großen Bauch. Sie schaute zu ihrer Tante hoch und machte ganz große Augen. 15
Erst blieben Tante Augustas Lippen in einer geraden Linie aufeinandergepresst, aber nach ein paar Sekunden musste sie laut lachen. Sie strich Rissa über den wirren Haarschopf. „Du bist wirklich kein bisschen rot im Gesicht, das muss ich dir lassen“, sagte sie. „Und wahr scheinlich bleibt die Bürste nur wieder in dei nen Locken stecken und ich muss ein Büschel abschneiden, um sie wieder herauszubekom men. Na gut, komm, setz dich an den Tisch. Sahnetorte zum Mittagessen, wo gibt’s denn so was? Einen schönen Salat habe ich uns gemacht und zum Nachtisch frische Erdbeeren aus dem Garten.“ Mit einem breiten Grinsen nahm Rissa auf ihrem üblichen Stuhl Platz, während Tante Au gusta in die Küche ging, um den Salat zu holen. Manchmal hatte sie eben Glück und Tante Au gusta hatte doch ein bisschen Humor. „Sie ist ja doch eine ganz Liebe“, flüsterte Rissa den Gän seblümchen zu, die in der Blumenvase standen und sie anschauten. „Man muss nur lieb sein und sie ab und zu einmal umarmen und ihr einen Kuss auf die Wange geben.“ Manchmal stellte Rissa sich vor, wie es wohl wäre, wenn ihre Eltern auch hier wohnen wür 16
den. Ihr Papa war in ihrer Vorstellung dann im mer ganz groß, fast wie ein Riese, und bären stark. Er trug Rissa auf den Schultern und machte mir ihr zusammen Wanderungen durch den Wald, spielte mit ihr im Bach und baute ihr große Baumhäuser. Ihre Mutter las ihr abends schöne Märchen vor und zählte mit ihr die Ster ne am Nachthimmel. Sie legten gemeinsam eine Decke auf der Blumenwiese aus und erzählten sich dort stundenlang Geschichten. Doch das waren nur Vorstellungen und in Wahrheit gab es außer ihr und ihrer Tante nie manden mehr in ihrer Familie. Tante Augusta war zu alt und zu langsam, um im Knisterwald oder auf dem Donnerberg mit ihr zu spielen und wegen ihrer schlechten Augen konnte sie auch nicht lange vorlesen, sonst bekam sie Kopfschmerzen. Gerade in den letzten beiden Tagen war Rissa aufgefallen, dass ihre Tante im mer häufiger eine Verschnaufpause einlegen oder einen Moment die Augen schließen muss te. Aber trotzdem liebte Rissa Tante Augusta über alles. „Rissa, du träumst ja schon wieder! Du hät test ruhig schon mal Gabeln für uns rausholen können“, sagte Tante Augusta und seufzte. Ris 17
sa zuckte zusammen. Sie hatte gar nicht ge merkt, dass sie wieder einmal taggeträumt hat te. Im Unterricht auf Schloss Thronstein gab das auch immer Ärger. Blitzschnell sprang Rissa auf und holte Be steck für sich und ihre Tante. Dann begannen sie zu essen. „Tante Augusta“, sagte Rissa, nachdem sie sich die erste Portion Salat in den Mund ge stopft hatte. „Wer waren die Männer, die heute auf der Blumenwiese mit ihren komischen Ge räten herumgelaufen sind?“ „Man spricht nicht mit vollem Mund“, war alles, was Tante Augusta dazu zu sagen hatte. Rissa verdrehte die Augen, kaute schneller und platzte dabei fast vor Neugierde. Dann schluckte sie und öffnete demonstrativ den nun leeren Mund. Tante Augusta schüttelte missbilligend den Kopf. „Die Männer sind von einer Baufirma. Die haben hier ein paar Sachen ausgemessen. Darum brauchst du dir aber keine Sorge zu ma chen, Liebes. Komm, iss lieber den Salat auf. Dann gibt es auch ein paar leckere Erdbeeren.“ „Für wen ist denn dann die Sahnetorte?“, fragte Rissa. 18
„Für die neuen Nachbarn.“ Mit einem Klirren ließ Rissa ihre Gabel zu rück auf den Teller fallen. „Neue Nachbarn?“, fragte sie mit großen Augen. Tante Augusta nickte seelenruhig. „In das Haus unten beim Knisterwald ist wieder jemand eingezogen. Das hat mir der Postbote gestern erzählt. Also habe ich heute Morgen eine Sahnetorte gebacken und wollte sie eigentlich gleich herüberbringen, aber mir tun die Beine wieder so weh, Kind. Deshalb wollte ich dich bitten, sie gleich nach dem Mit tagessen bei den neuen Nachbarn vorbeizubrin gen. Du musst aber ganz vorsichtig gehen, da mit die Torte nicht herunterfällt!“ Rissa nickte eifrig. „Klar mache ich das! Ich bin sehr vorsichtig. Ich werde ganz langsam gehen und viele liebe Grüße von dir bestellen, ja?“ „Das wäre sehr nett von dir“, sagte Tante Augusta und schloss die Augen. Sie rieb sich die Schläfen und seufzte. „Ist was, Tante Augusta?“, fragte Rissa be sorgt. „Nein, ich habe nur wieder ein bisschen Kopfschmerzen. In letzter Zeit wird das immer schlimmer. Ich sollte noch mal zum Arzt fahren 19
und mich untersuchen lassen, aber um das Haus herum und im Garten gibt es so viel zu tun, dass ich nicht dazu komme.“ „Möchtest du dich ein bisschen hinlegen?“, schlug Rissa vor. „Dann räume ich den Tisch ab und mache mir selber die Erdbeeren. Ich kann das, ich bin ja schon groß. Und dann laufe ich zu den neuen Nachbarn herunter. Ehm, ich gehe, meine ich natürlich.“ Dankend nickte Tante Augusta. „Das wäre wirklich lieb von dir, Rissa. Ich glaube, ich gehe mal besser hoch, nehme eine Kopfschmerzta blette und lege mich ins Bett. Wenn das noch schlimmer wird, werde ich bald den ganzen Tag lang schlafen. Dann musst du den Haushalt schmeißen – auch das Bügeln und das Wa schen!“ Sie zwinkerte und Rissa musste ki chern. Es war gar nicht schwer, die Teller in die Kü che zu tragen und in die Spülmaschine ein zuräumen. Auf Schloss Thronstein hatten sie schließlich auch regelmäßig Küchendienst, wenngleich Rissa dabei nicht so viel Spaß hatte, denn im Internat durfte man beim Abräumen nicht singen. Zu Hause aber summte sie leise ein Liedchen vor sich hin und aß die Erdbeeren 20
direkt aus der großen Schale. Sie brauchten noch nicht einmal Zucker – so süß waren sie. „So“, sagte Rissa zu den Gänseblümchen, als sie wieder im Esszimmer war. „Und jetzt werde ich ganz langsam zu diesen neuen Nachbarn herübergehen und ihnen die Sahnetorte brin gen. Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht schaffen würde.“ Vorsichtig hob sie die Glasplatte vom Tisch. Sie war viel schwerer, als Rissa gedacht hatte. Aber es würde machbar sein, da war sie sich si cher. Mit einem fröhlichen Pfeifen auf den Lip pen trug sie die Sahnetorte aus dem Haus her aus nach draußen in den Sonnenschein. Der Tag hatte seinen heißesten Punkt er reicht. Nicht ein Wölkchen war am Himmel zu sehen und die Sonne strahlte erbarmungslos auf Rissa und die Sahnetorte herab. Vielleicht sollte sie sich doch ein bisschen beeilen, sonst würde die leckere Torte womöglich noch schmelzen! Dann würde Tante Augusta ganz bestimmt schimpfen und davon würde sie dann noch schlimmere Kopfschmerzen bekommen. „Und das möchte ich bestimmt nicht!“, rief sie den Gänseblümchen auf der Blumenwiese zu. 21
Rissa machte sich nämlich wirklich ein we nig Sorgen um ihre Tante. Mit ihren stets or dentlich hochgesteckten silbernen Haaren und den steif gebügelten Röcken und Blusen sah Tante Augusta aus, als sei sie für die Ewigkeit gemacht worden. Wenn es ihr nicht gut ging – wie es in letzter Zeit häufiger der Fall gewesen war –, bekam Rissa ein flaues Gefühl im Magen. Ein Leben ohne Tante Augusta, das war einfach unvorstellbar. Also folgte sie mit eiligen Schritten dem Pfad durch das Blumenmeer bis hinunter zum Knis terwald und drehte dann rechts ab. Rissa lief unter den Wipfeln der äußersten Bäume ent lang und war mehrere Minuten unterwegs, in denen auch die Glasplatte gefährlich heiß in ih ren kleinen hellen Händen wurde, bis sie schließlich das alte Haus am Rande des Knister walds sah. Sie war erst ein paar Mal hier gewesen. Das Haus war nicht besonders groß und auch nicht besonders schön. Es sah ein bisschen aus wie ein Hexenhaus, mit seinen gelben Wänden, den roten Fensterbänken und Fensterläden und dem grünen Dach obendrauf. Die Eingangstür war, um das Ganze abzurunden, in einem 22
dunklen Blau angestrichen. Rissa spürte wieder den ihr wohlbekannten Stich der Neugierde im Magen und die Aufregung kochte in ihr hoch. In dem Moment stolperte sie über etwas und geriet ins Taumeln. Rissa schrie entsetzt auf und sah sich selbst samt Sahnetorte schon aus getreckt auf dem Boden liegen, doch im letzten Moment fand sie ihr Gleichgewicht wieder. Verwirrt schaute Rissa nach unten zwischen ihre Beine und blickte dann, um sich zu verge wissern, noch einmal nach hinten. Auf dem Weg war weit und breit kein Hindernis zu se hen. Keine Wurzel, kein Ast, noch nicht mal ein kleiner Kieselstein lag auf dem Boden. Aber wieso um alles in der Welt war sie dann gestol pert? So etwas passierte ihr doch sonst nie! Wenn Rissa eines nicht war, dann stolperanfäl lig. Tante Augusta lobt sie immer für ihre Gra zie – ein Wort, das Tante Augusta benutzte. Ris sa selbst hätte so ein Wort nie in den Mund ge nommen. Mit einem Achselzucken schüttelte Rissa den Kopf. Nach diesem kleinen Fast-Unfall war sie nun noch aufgeregter, ihre neuen Nachbarn kennenzulernen. Ob dort vielleicht ein kleines Mädchen wohnte, das genauso viel Fantasie 23
wie sie selbst hatte und genauso gerne draußen spielte? Rissa konnte sich nichts Schöneres vor stellen.
Auszüge aus: 24
Katie Grosser
Rissa Filial
das Vermächtnis der Fabelwelt Band 1 Copyright: © 2014 by Katie Grosser 1. Auflage: September 2014 Verlag: Casimir-Verlag, Carsten Krause, 34388 Trendelburg Alle Rechte, auch die des auszugsweisen und fotomechanischen Nachdrucks, vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Einwilligung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsge staltung, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung/Illustration: © Timo Firtina & Vivien
Stennulat Lektorat: Anne Stolpe & Carsten Krause Satz & Layout: Carsten Krause Printed in Germany 2014
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