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Nicht stolpern beim Mysterium Bild
1 Zwischen 1957 und 1962 stellte Asger Jorn Modifications (Übermalungen) her, indem er gefundene Gemälde von Amateur*innen mit graffitihaften Übermalungen versah, die einerseits die Institution Malerei selbst parodieren und sie zugleich relativieren und erneuern sollten. 2 Détournement bezeichnet eine Technik, die subversive Taktiken einsetzt, um eine mögliche Einvernahme künstlerischer Produktion durch kapitalistische Waren- und Medienzusammenhänge abzuwenden und zu bekämpfen. Mit der ungefähren Übersetzung des Begriffs als »Umlenkung« oder »Kapern« lässt sich Détournement als Umdeutungsstrategie verstehen, die anhand eines bestehenden kulturellen Artefakts eine Variation dessen entwirft und es damit oppositionell markiert und als unethisch vorführt. – Siehe Karen Kurczynski, »Expression as vandalism: Asger Jorn’s ›Modifications‹«, in: Res: Anthropology and Aesthetics 53/54 (2008), S. 293–313. 3 Siehe beispielsweise »La frontière situationniste«, in: Internationale situationniste 5 (1960), S. 7 und »L’avant-garde de la présence«, in: Internationale situationniste 8 (1963), S. 20. 4 Rekuperation bezeichnet durch den Mainstream bereits appropriierte Werke, die vormals als subversive und radikale Werke und Ideen galten. 5 Die S.I. urteilte alle Künstler*innen ab, die nicht anerkannten, dass ihre Werke durch die Mächte der Kulturindustrie neutralisiert würden oder dies nur ungenügend in ihrer Arbeit thematisierten. Ab 1961 schloss die S.I. sogar kategorisch alle Künstler*innen aus ihrer Bewegung aus und deklarierte jegliche Kunst als antisituationistisch. 6 Siehe hierzu den retrospektiv kontrovers geführten Diskurs zur Ausdeutung des nordamerikanischen Abstrakten Expressionismus und europäischen Informel der Nachkriegszeit, etwa in Serge Guilbaut: Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat. Abstrakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg, Dresden 1997; Nancy Jachec: The Philosophy and Politics of Abstract Expressionism, Cambridge 2000; Roger M. Buergel, Stefanie-Vera Kockot (Hg.), Abstrakter Expressionismus: Konstruktionen ästhetischer Bei Werner Büttners Bild Die Avantgarde von hinten (2009, Abb. A) kann man nicht umhin, sich an Asger Jorns L’avantgarde se rend pas (Die Avantgarde ergibt sich nicht, 1962, Abb. B) zu erinnern. Zum einen, weil in beiden Titeln die Avantgarde als diskursive Figur aufgerufen wird, als auch zum anderen, weil Jorn, so wie Büttner, für Übermalungen auf gefundenen Gemälden bekannt ist.1 Jorns Modifications werden in der Literatur als Teil der situationistischen Strategie des Détournement 2 besprochen, einer Taktik, die sich spezifisch als Gegenentwurf zur Institutionalisierung der Avantgarden ausrichtete.Die Situationistische Internationale (S.I.) machte ab den späten 1950er Jahren klar, dass jede Form avantgardistischer Opposition rekuperiert werden würde, sobald sie mit institutioneller Dokumentation in Berührung käme.3 Détournement und Rekuperation 4 sollen im Sinne der S.I. in dieser spezifischen Relation zueinander als Gelenk zwischen Subversion und Autorität verstanden werden. Macht (verstanden als Unabhängigkeit von der Einvernahme durch institutionelle Strukturen) sei demnach als dialektisch, niemals als statisch zu betrachten, und nur durch unaufhörliches Ringen zu erlangen und zu halten. Während sich die S.I. im Verlauf ihrer ideologischen Entwicklung mehr und mehr von der Kunst als Handlungsfeld löste,5 fand Jorn neben anderen Konzepten auch in den Modifications Lösungen, die nicht ausschließlich auf Negation setzten, sondern im Gegenteil Möglichkeiten der Reinterpretation und Aneignungstaktiken von Malerei als populäres Medium eröffneten. Seine Übermalungen sind demnach nicht als Angriff auf die Malerei selbst zu lesen, sondern vielmehr als Kommentar zu einer Idee von moderner Malerei, die sich als »neue Avantgarde« stilisierte und zudem »neue« Diskurse ins Spiel brachte.6 Jorn schlug, seiner Taktik der Modifications folgend, den Museen sogar vor, alle Gemälde ihrer Sammlungen für sie gerne zu »überarbeiten«.7 Er hielt sein Betätigungsfeld sehr offen und beweglich, misstraute niemals der Praxis des Kunstmachens, verfasste ästhetische Theorien, produzierte Künstlerbücher 8 und war (Mit-) Gründer diverser Vereinigungen.9 Selbst nach seinem Austritt 1961 aus der S.I. unterstütze Jorn weiterhin finanziell vereinzelt deren Projekte, während die S.I. eine immer rigider formulierte Ideologie des Misstrau-
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ens gegen jegliche künstlerische Praxis entwickelte, da sie ihrer Auffassung nach unweigerlich mit den Mechanismen des Marktes, des »Spektakels«, verschmelzen müsse, sobald man sie berühre. Künstler*innen wurden regelmäßig beschuldigt, Warenfetische schlicht in Kunstweltfetische zu transformieren und so die Autonomie der Kunst mit Füßen zu treten.10 Dem Begriff und Sinn der künstlerischen Avantgarde wurde eine Absage erteilt, sie wurde als unwiederbringlich deklariert. Auch Jorn verwendete den Begriff fortan nicht mehr und ersetzte ihn durch »Experimentelle Kunst«.11 Seine Modifications begriff er jedoch weiterhin als Taktik, die sich in den strategischen Anfängen der Bewegung begründete. Er führte sie im heiter vandalisierenden Stil weiter und unterschied sich grundsätzlich von der S.I.-Ideologie insofern, als dass er jeglichen künstlerischen Prozess als zyklisch und temporär begriff, wenn er die Flohmarktkunstwerke aus der Mitte der Gesellschaft, also die Themen und Motive der anonymen »Amateure« mit graffitihaften Übermalungen und Schriftzügen »weiterarbeitete«. So wird bei Jorns L’avantgarde se rend pas ironisch und wahrscheinlich doppeldeutig über beide Enden der Theoriediskurse geschmunzelt,12 wenn er die Malerei an sich umarmt und für sich nutzbar machen kann. Denn Indifferenz gegenüber kreativen Prozessen und die Rede von einem »bedeutungslosen und vergessenen Original«,13 wie es in den Texten der S.I. über Détournement vorgeschlagen wurde, war für Jorn keine Option. 1959 schrieb er: »Sämtliche Werke der Kunst sind Objekte und sollten zwangsläufig als solche behandelt werden, aber diese Objekte sind nicht Selbstzweck an sich: Sie sind Instrumente, mit denen man auf die Betrachtenden einwirken kann. Das künstlerische Objekt, trotz seines offensichtlich objektiven Charakters, tritt demnach wie eine Verknüpfung zwischen zwei Subjekten auf, dem Schöpfer-Subjekt und Provokateur, und dem Betrachter-Subjekt. Der Letztere nimmt das Kunstwerk nicht als bloßes Objekt wahr, sondern als Zeichen einer menschlichen Präsenz. Es ist nicht das Problem des Künstlers, zu wissen, ob das Kunstwerk als Subjekt oder Objekt beurteilt werden sollte, da die beiden in eins fallen. Sein Problem zeigt sich darin, die erwünschte Spannung im Werk zwischen der Erscheinung und dem Zeichen zu
Erfahrung, Dresden 2000; Peter Johannes Schneemann: Von der Apologie zur Theorienbildung: Die Geschichtsschreibung des Abstrakten Expressionismus, Berlin 2003. 7 »Seien Sie modern, Sammler, Museen. Wenn Sie alte Gemälde besitzen, verzweifeln Sie nicht. Bewahren Sie ihre Erinnerungen, aber lenken Sie sie um, sodass sie mit der Ihrigen Zeit korrespondieren. Warum das Alte verwerfen, wenn man es mit ein paar Pinselstrichen modernisieren kann? Das wirft etwas Aktualität auf Ihre alte Kultur. Gehen Sie mit der Zeit, und seien Sie distinguiert zugleich. Die Malerei ist am Ende. Man kann ihr ebenso gleich den Gnadenstoß geben. Lenken Sie sie um. Hoch lebe die Malerei!« [Übers. d. Verf.] In: Asger Jorn, Peinture détournée, Ausst.-Kat. Galerie Rive Gauche, Paris 1959, o. S. 8 Siehe beispielsweise Asger Jorn: Held & hasard – dolk & guitar, Kopenhagen 1952; Asger Jorn, Guy Debord: Fin de Copenhague, Villars-sur-Ollon 1957; Asger Jorn, Guy Debord: Mémoires, Paris 1958; Asger Jorn: Pour la forme. Ebauche d’une méthodologie des arts, Paris 1958; Asger Jorn: Naturens orden. De divisione naturae, Kopenhagen 1962; Asger Jorn: Værdi og økonomi. Kritik af den økonomiske politik og udbytningen af det enestående, Kopenhagen 1962. Siehe für eine vollständige Liste der schriftlichen Produktion Asger Jorns: Per Hoffman Hansen: A Bibliography of Asger Jorn’s Writings, Silkeborg 1988. 9 COBRA (1948–1951); Mouvement Internationale pour un Bauhaus Imaginiste (1955–1957); L’Internationale Situationniste (1957–1972); Skandinavisk institut for sammenlignende vandalisme (gegr. 1962). 10 Siehe Kurczynski (2008), S. 305. 11 Vgl. Asger Jorn: Alfa og Omega. Second to None, Kopenhagen 1963, S. 151. 12 Die Referenz zu Marcel Duchamps L.H.O.O.Q. Elle es chaud au cul (1919), einer Ikone des Dadaismus, der letzten »echten« Avantgarde, scheint unabwendbar. Ebenso zu sehen sind Pére Ubu von Alfred Jarry als Skelett, Asger Jorns Le Canard inquiétant (1959), sowie, wenn man schon so ins informierte Betrachten übergegangen ist, könnte man noch zusätzlich in den dezenten bunten Flecken auf dem Hintergrund Bezüge zu Jackson Pollock erkennen.
13 Vgl. »Définitions«, in: Internationale situationniste 1 (1958), S. 13 und »Le détournement comme négation et prélude«, in: Internationale situationniste 3 (1959), S. 78–79. 14 [Übers. d. Verf.] Vgl. Asger Jorn, Peinture détournée, in: Ausst.-Kat. Galerie Rive Gauche (1959), o. S. 15 Vgl. »Ein Interview mit Werner Büttner von Roberto Ohrt«, in: Texte zur Kunst 4 (1991), S. 93–94. 16 Siehe Werner Büttner, »Aus dem Sanatorium meiner Hände«, in: Last Lecture Show, Hamburg 2021, S. 191. Jedoch sollte man nicht den Fehler begehen, diese Beschreibungen als reine Ironie einzuordnen. Hierzu Werner Büttner 1986: »Es gibt keine Scherze in unserer Arbeit. Es gibt keine Ironie oder Satire in unserer Arbeit. Das hassen wir. Das bekämpfen wir in unserer Arbeit. Das ist eine unangemessene Art, den Leuten etwas mitzuteilen. Das ist eine schäbige Sicht auf die Welt. Wenn Du Ironie in unserer Arbeit zu erkennen glaubst, so ist das falsch. Sie soll wahr sein.« [Übers. d. Verf.] Vgl. Werner Büttner/Georg Herold/Albert Oehlen, »Können wir vielleicht mal unsere Mutter wiederhaben!«, Ausst.-Kat. Kunstverein in Hamburg, Institute for Contemporary Arts London, Hamburg/London, 1986/87, S. 11. 17 Vgl. »Ein Interview mit Werner Büttner von Roberto Ohrt«, in: Texte zur Kunst 4 (1991), S. 96. 18 Auch zu sehen in Club Niemals (2001), wenn Büttner aus dem über die Tribüne hängenden Transparent, auf dem ursprünglich Club Nîmois (einen Stierkampf-Verein bezeichnend) stand, Club Niemals macht. Oder wenn er wie »nebenbei« die Menge auf den oberen Rängen der Tribüne mit braunen Tupfern und Schlieren »ausradiert«. Siehe Werner Büttner, Club Niemals (2001), Abb. S. 185. 19 Vgl. »Ein Interview mit Werner Büttner von Roberto Ohrt«, in: Texte zur Kunst 4 (1991), S. 101. 20 Vgl. Helmut Draxler, »Grundmythos mit Kausalzusammenhang«, in: Malen ist Wahlen. Büttner. Kippenberger. Oehlen, Ausst.-Kat. Kunstverein München, München 1992, S. 7. 21 Siehe »Ein Interview mit Werner Büttner von Roberto Ohrt«, in: Texte zur Kunst 4 (1991), S. 97. 22 Siehe Kurczynski (2008), S. 296. erfassen und zu formulieren.« 14 Daraus lässt sich schließen, dass es für Jorn in der Kunst eher darum ginge, eine Art Aufruhr oder zumindest eine Verschiebung zu vollziehen, als ihre »Autonomie« zu bewahren. Die Übermalungen spekulierten vielmehr mit den Sehgewohnheiten der Betrachtenden, die entweder Sympathie oder Antipathie, eine Vorstellung oder Unverständnis entwickelten. Jorn war egal, welches von beiden – das Spiel wurde mit jedem aufgenommen. In einem Interview angesprochen auf die S.I. und deren Einfluss auf ihn, sagt Werner Büttner, dass es ihn ob der simplen Drastik, deren Pathos und der Hilflosigkeit am Herzen rühren würde. Und weiter, schärfer: »Vorbehalte sind abzulehnen, sind feige und arschlöchig, da behält sich jemand vor, im Rechthaben zu sein, statt seine Rechthaberei ins Feuer anständiger, kognitiver Prügeleien zu führen. Damals [gemeint ist die S.I.] war man nicht anti-künstlerisch, man nahm Kunst gar nicht zur Kenntnis.« 15 Seine Avantgarde von hinten ist also zum Abschuss in den Rücken freigegeben. Oder warte, haben wir Mitleid mit ihnen, so ahnungslos, wie sie davonreiten? Jedenfalls bezeichnet er seine Übermalungen gefundener Amateurmalereien als »Verbesserungen«, »Heilungen«.16 Hier verbindet ihn mit Jorn die Hinwendung zu den Menschen, die sich malend mit einer jahrhundertelangen Wiederholung klischeehafter Malereigenres und der »gedankenlosen« Abbildung des Anblicks der Welt beschäftigen. Er sieht in ihnen etwas »als wahr [an], weil dem angemessen, was ich beim Waten durch den Phänomenbrei des Planeten erfahren habe«.17 Beide schöpfen hieraus recht froh von einem Standpunkt professioneller Repräsentanz aus Anlässe für Verschiebungen und Erweiterungen, die alles – die Kunst, die Welt und ihre Entfremdungszusammenhänge – mitnehmen. Anders als bei Jorn, dessen Einsätze eine viel deutlichere metaphorische oder symbolische Zeichenqualität besitzen, bringen Büttners Übermalungen diese »wahren Momente« durch deckende Übermalungen großer Bereiche eher aus dem Bild selbst hervor, er »verbindet« sich malend mit ihnen. Das ist irgendwie liebevoll.18 Andererseits wieder auch verhöhnend, wenn er sie mit scharfer Sprache, die sich über alles stellt, kontextualisiert. Die Bilder in Widersprüche verwickelnd, mit spermaartigen Flecken überspritzend, verunreinigt er die Szenerie, bringt aber auch, malerisch gesehen, das »Beste« aus ihr hervor. Landläufig würde das wahrscheinlich als Provokation eingeordnet werden, und überfliegt man die Literatur der 1980er Jahre, war dies auch so. Büttner weiter: »Eine Gesellschaft mit dieser Menge Widersprüche produziert eine Kunst mit dergleichen Menge Widersprüche. Ich kann da beim besten Willen keinen Widerspruch entdecken, und das dreckige Grinsen des Künstlers beim Signieren ist ewig irrelevant.« 19 Büttner scheint mit den Ideologien über Autonomieverlust der Kunst nicht mehr allzu sehr beschäftigt zu sein, auch nicht mit dem Kunstmarkt oder den internen Problemen der Kunstdiskurse. Zumindest werden die »Ganzheits- und Perfektionsphantasten« mit Verachtung bedacht,20 man will sich lieber inmitten der Kodes aufhalten. Theoretische Diskurse über Kunst werden jedoch teilweise schlecht akzeptiert oder abgeschmettert,21 vergleichbar mit der S.I., die mehr und mehr dazu überging, sich von jeglicher akademischen Diskussion über Kunst abzuwenden und sie ihrem Konzept der Rekuperation unterzuordnen.22 Es scheint aber gerade jedoch bei den Übermalungen Büttners deutlich zu werden, dass es kein Insistieren auf eine vollkommene Negation der vorzuführenden »Wahrheiten« über die Welt und ihre Systeme gibt. Vielmehr scheint hier einer Art doppelten Wegführung Vorschub geleistet zu werden, wenn in einer positiv belegten Auffassung davon, die Welt könne die Malerei verbessern, aber in einem gleichzeitig geführten Umkehrschluss, dass die Malerei nicht die Welt verbessern könne, festgehalten wird, dass die Welt sich an sich nicht schließt, und alle irgendwie damit ringen.23 Die kunsthistorischen Konzepte und Taktiken, die natürlich trotz alledem in dieser Malerei aufscheinen, werden schön zurück unter den Tisch gedrückt und verschleiert, obwohl nicht von der Hand zu weisen ist, dass sie von anderen künstlerischen Diskursen und Konzepten
informiert ist. Auch das mit einem doppelten Grinsen im Gesicht, sodass der Eindruck entsteht, es würde zur Malerei und besonders zur Sprache, die in und mit ihr verwoben in den Titeln angeführt ist, ein besonders intrinsisches Verhältnis gepflegt werden. Dort, so scheint es, ist in gewisser Weise die »Restwürde«,24 von der Werner Büttner spricht, gelagert, und in diesem Raum wird sichergestellt, dass man sich nicht zu sehr am Spektakel beteiligt. Im Kultivieren von Indifferenz der künstlerischen Inszenierung von Ironie liegt jedoch ein bestimmtes traditionelles kritisches Potenzial, an der sich Strategien künstlerischen Handelns, auch historisch, beschreiben lassen, denn »sie potenziert […] die Uneindeutigkeitsfunktion des Ästhetischen. Das kann zweifellos kritisch gemeint sein, hebt aber gleichzeitig die Aussagefunktion und Selbstbehauptung des Kritischen, ihre ›Tugend‹ angesichts widriger Umstände, auf.« 25 Für eine auf solche Weise negierte Negation ist die Abgrenzung von einer formalistischen Avantgarde konstitutiv. So sind Übermalungen eine künstlerische Strategie, die »das Zeichen einer menschlicher Präsenz«, von dem Jorn spricht,26 sowie das Spannungsverhältnis von der inneren und äußeren Bestimmung von Kunst gleichermaßen verhandelt. Die Avantgarde von hinten zu sehen bedeutet, ständige Überschreitungen zu vollziehen, die sich immerwährend von Bezugnahmen im Zaum halten lassen. Denn die Welt ist außerhalb nicht rein, sie ist aber auch nicht rein innerhalb.
23 Eine schöne Geschichte erzählt hierzu Fritz W. Kramer, der als Ethnologe zwischen 1989 und 2007 Kunsttheorie an der Hochschule für bildende Künste Hamburg lehrte: »Meine erste Lektion über das Wirkungspotenzial von Büttners Bildern lernte ich an unserem Stammtisch im Vienna, neben dem ein kleines Bild Büttners hing; es zeigt einen so trostlosen wie unheilvollen Adler, der eine angewelkte Pfefferoni gekrallt hat. Als ›moderne Kunst‹ erkennbar, weder gewöhnlich wie Wandmalereien in Pizzerien noch gediegen wie Gemälde in Edelrestaurants, wird es dort das Anspruchsvolle der Küche wie das noch Unetablierte der Klientel signalisiert haben. Die Einsicht, dass der Adler nicht (nur) Spott auf ein Hoheitszeichen des Staats war, das traurige Gemüse nicht (nur) ein ironisches Understatement, verdanke ich einer jungen Floristin, die eines Tages an den Stammtisch trat, um das Bild zu kaufen; sie kannte den Preis, gehörte aber offensichtlich weder zu den Begüterten noch zu den Fans der Kunstwelt; sie sei lange arbeitslos und niedergeschlagen gewesen und in dieser Zeit oft ins Vienna gegangen, allein um Büttners Bild anzuschauen; schließlich habe sie Tritt gefasst, einen Blumenladen eröffnet und so viel gespart, dass sie es nun kaufen könne. Was sie in dem Bild gesehen hatte, bleibt ihr Geheimnis; ich vermute aber, dass es für sie ein Spiegel ihrer scheinbaren Ausweglosigkeit war, ein taugliches Medium der Selbstreflexion und eine Mahnung, Distanz zu ihrer Misere und zu sich selbst zu nehmen (ohne Titel).« Vgl. Fritz W. Kramer: Unter Künstlern. Erkundungen im Lerchenfeld, Hamburg 2020, S. 84/85. 24 »Entschlüsseln heißt ja, den Schlüssel wegnehmen, heißt entsorgen und entwaffnen und ist Teil des Jobs, […]. Form, Titel und Kontext ergeben Inhalt und einen kleinen, nicht rationalisierbaren Rest, das ist das ganze Geheimnis. Und vermutlich steckt nur in diesem kleinen, nicht rationalisierbaren Rest die Würde des Künstlers.« Vgl. »Ein Interview mit Werner Büttner von Roberto Ohrt«, in: Texte zur Kunst 4 (1991), S. 96. 25 Vgl. Helmut Draxler: Gefährliche Substanzen. Zum Verhältnis von Kritik und Kunst, Berlin 2007, S. 147. 26 Siehe Anmerkung 12.