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»Sich für die Werke anderer zu begeistern …« Bettina Uppenkamp 99 Schmutzige Witze: Über den Humor von Werner Büttner

1 Werner Büttner, »Prägende Verehrung«, in: Last Lecture Show, S. 54. 2 Ebd. 3 Vgl. etwa Irit Rogoff, »Er selbst – Konfigurationen von Männlichkeit und Autorität in der Deutschen Moderne«, in: Blick-Wechsel. Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte, hg. von Ines Lindener, Sigrid Schade, Silke Wenk und Gabriele Werner, Berlin 1989, S. 21–40. »Sich für die Werke anderer zu begeistern, ist ein Akt existenzieller Klugheit«, schreibt Werner Büttner einleitend zu dem Ausstellungskapitel »Prägende Verehrung«, in dem er seinen künstlerischen Dialogpartnern aus der Vergangenheit Referenz erweist.1 Der zweite, sich anschließende Satz orientiert auf Ruhm, wenn es da heißt: »Der eigenen Apotheose Vorschub zu leisten, ist ein Akt künstlerischer Weitsicht.« 2 Das eine hängt mit dem anderen zusammen, denn bekanntlich stellen Referenzen auf eine anerkannte künstlerische Tradition nicht nur eine Verbeugung vor den Leistungen der, kanonisierten, anderen dar, sondern der gezielte Verweis auf Vorbilder dient auch einer strategischen Positionierung und Autorisierung des eigenen künstlerischen Werkes.3 In Büttners Abteilung der prägenden Verehrung wird etwa ein Dank an Frankreich entrichtet ( Danke Frankreich (für Monsieur Monet und Höhle Lascaux), 2017, Abb. S. 62), wo im Tal der Vézère die Begegnung mit der Frühgeschichte der europäischen Malerei in der Höhle von Lascaux und anderen Grotten möglich ist (Felsmalerei in der Höhle von Lascaux, Abb. A) – die Geschichte der Malerei ist mit der Menschheitsgeschichte tief verbunden. Und dort in Frankreich haben die impressionistischen Maler*innen im 19. Jahrhundert die Gips- und Zeichensäle der Akademien hinter sich gelassen, um sich den Eindrücken der Außenwelt, der Landschaft und der Stadt, dem Licht und dem Wetter, den Heuhaufen, den Kathedralen und dem Qualm aus den Schloten und Lokomotiven zu stellen. James Ensor erhält einen entomologisch maskierten Ehrenerweis, Picassos Ziege wird ein Bewunderer gegönnt (Hommage an James Ensor, 2020, Abb. S. 69, Ziege mit Bewunderer, 2004, Abb. S. 61). Besondere Würdigung erfährt René Magritte, nicht nur für seine Bildfindungen, sondern vor allem auch für seine bitterbösen, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gedichteten Flugschriften, die sich einer zynisch-derben, auf »Scheiß-«Verhältnisse gemünzten Sprache bedienen. Skatologisches adressiert Büttner auch zu Ehren von François Rabelais, ein Bild allerdings, welches eine plaisanterie rabelaisienne in einer überraschend disziplinierten, nahezu abstrakten Formensprache dissimuliert (Dr. Rabelais zu Ehren, 1994, Abb. B).

Zu den Verehrten, mit denen sich auseinanderzusetzen und die zu plündern sich lohne, zählt auch Francisco de Goya, und Goya ist einer der toten Künstler, der, wie Büttner in einem Gespräch mit Werner Hofmann bekannt hat,4 neben El Greco in besonderer Weise sein Herz zu berühren vermochte. Das klingt emotional, nicht vordringlich nach Ruhmesvorsorge, sondern nach Wahlverwandtschaft. Die Würdigung Goyas besteht in einer Originellen Kopie (Originelle Kopie (Frauenraub nach Goya), 2018, Abb. S. 66/67). Das Original Goyas gehört zu einer Serie von Grafiken, der Technik nach Radierung und Aquatinta, die unter unterschiedlichen Bezeichnungen firmiert (El caballo raptor: Das Pferd als Frauenräuber, aus dem Zyklus Disparates, um 1810 bis 1815, Abb. C). Erstmals veröffentlicht wurden 18 Radierungen 1864, über dreißig Jahre nach Goyas Tod, von der Real Academia de Bellas Artes de San Fernando unter dem Titel Proverbios (Sprichwörter), vier weitere Blätter erschienen 1877 in Paris.5 Der Versuch, die einzelnen Motive jeweils mit einem bestimmten spanischen Sprichwort in Verbindung und damit dem Sinn nach auf den Punkt zu bringen, hat sich jedoch als unergiebig erwiesen.6 Alternativ lautet die Bezeichnung für die Serie Disparates, was auf Deutsch so viel wie Blödsinniges, Quatsch, Torheiten heißt. Dieser Titel hat den Vorzug der Offenheit, des Mehrsinnigen oder des Unsinns, was der teils verstörenden und düsteren Rätselhaftigkeit der Bilderfindungen angemessener erscheint als deren Festlegung auf sprachlich sedimentierte Lebensweisheiten von in der Regel normativem Charakter. Die Benennung der gesamten Serie als Disparates beruft sich darauf, dass die von Goya selbst überlieferten Titel für einzelne Bilder in der überwiegenden Zahl der Fälle das Wort »Disparate« enthalten. Die Titel lauten zum Beispiel Disparate Feminino (Weibliche Torheit): Sechs junge Frauen haben ein Laken zwischen sich aufgespannt, von dem aus sie

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4 »›Hinter jedem Bild versteckt sich ein anderes.‹ Werner Hofmann und Werner Büttner im Gespräch«, in: Werner Büttner. Gemeine Wahrheiten, Ausst.-Kat. ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe und Weserburg Museum für moderne Kunst, Bremen, hg. von Peter Weibel und Andreas Beitin, Ostfildern 2013, S. 325–332. Ensor, Goya, El Greco und Rabelais werden von Werner Büttner auch in einem Interview mit Andrew Renton als jene unter den Toten hervorgehoben, mit denen die Diskussion fruchtbar sei. Vgl. »Fruitful discussions with the dead«, in: Werner Büttner: My Looting Eye, hg. von Andrew Renton und Philip Wright, London 2016, S. 139. 5 Goya arbeitete an dieser Serie vermutlich von 1815 bis 1824, jenem Jahr, in dem er sich zur Übersiedlung nach Bordeaux entschloss, um den restaurativen Verhältnissen in Spanien zu entkommen. Die Kupferplatten hat er offenbar mitgenommen, zurück nach Spanien und in den Besitz der Königlichen Akademie sind sie 1862 gelangt. Ungewiss ist, ob Goya die Arbeit an der Serie für abgeschlossen hielt oder ob über die heute bekannten Blätter hinaus weitere vorgesehen waren; ungewiss ist auch, in welcher Reihenfolge sie einander zugeordnet sein sollten. Goya selbst hat sich offenbar nicht entschließen können, die Blätter zu veröffentlichen. Dies mag mit Furcht vor der Inquisition zu tun gehabt haben, mit der er wegen der Majas bereits in Konflikt geraten war. Zu seinen Lebzeiten wurden ausschließlich Probedrucke angefertigt. Die meisten Blätter, so die Meinung der Goya-Forschung, dürften parallel zu den Pinturas negras, den schwarzen Bildern, entstanden sein, die Goya an die Wände der Quinta del Sordo gemalt hat, seinen ländlichen Rückzugsort, den er 1819 erworben hatte. Vgl. Werner Hofmann: Goya. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, München 2003, S. 246. 6 Versucht hatte dieses etwa Tomás Harris: Goya. Engravings and Lithographs, 2 Bde., Oxford 1964, hier Bd. I, S. 193–194; vgl. auch Werner Hofmann: Goya. Traum, Wahnsinn, Vernunft, München 1981, S. 180 sowie Hofmann (2003), S. 246–247. 7 Hofmann (1981), S. 180. 8 Siehe dazu in diesem Katalog, Larissa Kikol, »In meinen Gedanken rauchten wir zusammen«, S. 106. 9 Die Maße für Goyas Grafik, die denen der anderen Blätter derselben Serie gleichen, beziehen sich auf die bedruckte Fläche, mithin die Größe der Druckplatte, nicht auf das bedruckte Papier, dessen Größe sich je nach Ausgabe voneinander unterscheidet. zwei Hampelmänner in die Luft schnellen lassen; irritierenderweise liegt ein toter Esel in dem Tuch. Oder Disparate Pobre (Arme Torheit): Eine junge Frau flüchtet vor zwei furienhaft ihr nachstellenden Verfolgern, um hinter einer Häuserwand von einer Gruppe zwielichtig wirkender Alter erwartet zu werden; die junge Frau hat zwei Köpfe, als sei dies ganz selbstverständlich. Laut Überlieferung durch den Künstler und Sammler Valentín Carderera, einem der besten Kenner der Kunst Goyas im 19. Jahrhundert, habe Goya selbst im Hinblick auf diese Serie auch von sueños, also von Träumen gesprochen, was das Irrationale und Beängstigende, das fast allen Szenen eigentümlich ist, noch einmal unterstreichen würde.7 Und einer Sequenz aus einem Albtraum ähnelt auch das Vorbild der Originellen Kopie Büttners. Es trägt die Unterschrift El caballo raptor (Das Pferd als Frauenräuber), in manchen Ausgaben auch als Disparate Desenfrenado (Ungezügelte Torheit) bezeichnet. Im Zentrum der Darstellung steht ein sich aufbäumendes Pferd, das sich mit seinem Maul eine Frau geschnappt hat. Die starke Torsion des mächtigen Tierkörpers, die aufgerissenen Augen des Pferdes und seine in der Dunkelheit des Himmels verwehende Mähne unterstreichen das Gewaltvolle der Szene, deren Dramatik auch in den hochgeworfenen Armen der geraubten Frau, ihrem nach hinten und wie ins Leere taumelnden Kopf und ihren in der Luft strampelnden Beinen anschaulich wird. Der bestialische Frauenraub scheint sich auf einem schmalen Ufersaum neben einem Gewässer abzuspielen, an dessen Rändern zwei auf eine unheimliche Art träge wirkende Monster hausen, die aussehen, als sei es gelungen, Nilpferde mit Schakalen zu kreuzen. Ganz deutlich hat Goya die räumliche Situation nicht werden lassen. Eines der monströsen Wesen steht im Begriff, eine menschliche Figur zu verschlingen. So wie die örtliche Beschaffenheit uneindeutig bleibt, ist auch die Tageszeit nicht sicher auszumachen. Während über dem tiefen Horizont der Hintergrund weiß geblieben ist, verdunkelt er sich nach oben zunehmend bis hin zu einem tiefen Schwarz. Das von Goya verwendete und seit seiner Arbeit an den Caprichos kultivierte Flächenätzverfahren ermöglicht nuancierte Übergänge und malerische Effekte, die hier eine jähe Verfinsterung suggerieren, als sei ein Unwetter aufgezogen, dessen Spannung den ganzen Bildraum erfasst hat. Die beiden Ungeheuer tauchen in dem von Büttner nach Goya gemalten raptus nicht auf. Er konzentriert sich ganz auf die Hauptszene: das Raubpferd und seine Beute, gefasst in ein quadratisches Format und gemalt mit einer Farbpalette von Braun für das Pferd, einem etwas erdigen Grün für die Bodenzone und einem leicht faden Gelb für den Hintergrund. Von diesen etwas trüben Farben hebt sich die Frauenfigur mit ihrem weißen Gewand und ihrer rosa Haut hell ab. Aus Goyas in ihrer Wirkung auf die Abstufungen zwischen Schwarz und Weiß gegründeten Grafik ist bei Büttner ein farbiges Gemälde geworden. Paradoxerweise wirkt das Gemälde dennoch »grafisch«, die Formen sind mit Konturlinien, die eine holzschnittartige oder auch fast comichafte Attitüde haben, gefasst und spärlich gegliedert; die Malerei in den Flächen ist etwas fleckig, »fadenscheinig«, wie Büttner selbst sich ausdrücken würde.8 Damit einhergehend ist das Bild über jedes gängige Format einer Druckgrafik hinausgewachsen. Misst Goyas Druck 24,4 mal 35,3 cm, hat Büttners Gemälde die Ausmaße von immerhin 190 mal 190 cm.9 Nicht nur Medium und Format sind einer Transformation unterzogen. Wirkt das räuberische Pferd bei Goya ungeheuerlich und mit seinen geweiteten Augen und Nüstern gleichermaßen von Gier wie von Entsetzen und Angst getrieben – es hat seinen Schwanz zwischen den Hinterbacken eingeklemmt –, scheint Büttners Pferd putzmunter wie ein Karussellpferd, sein Schweif beschreibt einen Bilderbuchbogen. Pferde gehören zu den Tieren, deren Domestikation, trotz ihrer dem Menschen überlegenen Schnelligkeit und Kraft, schon in der Frühgeschichte der Menschheit stattgefunden haben muss. Als eines der ältesten Nutztiere hat das Pferd einen entscheidenden Anteil an historischen Prozessen und Entwicklungen. Zunächst eine Jagdbeute,

erlangte es gezähmt vor allem als Transportmittel für Menschen und andere Lasten in der Landwirtschaft und im Krieg Bedeutung. Aus der zentralen Rolle, die Pferde in der Geschichte der Menschheit eingenommen haben, resultiert auch, was Ulrich Raulff als ihr »metaphorische[s] Vermögen« in der symbolischen Ordnung bezeichnet hat. Das Pferd ist wie kaum ein anderes Tier ein »Bilder- und Bedeutungstier«. So ist zum Beispiel die »Verbindung von Pferd und Reiter […] eines der ältesten und stärksten Symbole der Herrschaft«.10 Der fest im Sattel sitzende und die Zügel in der Hand haltende Reiter verkörpert von Marc Aurel über Kaiser Karl V., Philipp IV. und den Sonnenkönig Ludwig XIV. bis zu Napoleon politische Kompetenz zur Macht. Diese Herrschaftssymbolik hat eine ihr notwendige Kehrseite: das wilde, das ungebändigte Pferd als Inkarnation der entfesselten Instinkte und ausbrechenden Leidenschaft, der kreatürlichen Triebnatur. Die Sinnbildlichkeit von Macht und Disziplin auf der einen und zügellosem Chaos auf der anderen Seite ließe sich vom Feld des Politischen auch in den Bereich des Psychologischen übertragen. In diesem Sinne sucht etwa ein blindwütig wirkendes Gespensterpferd das Nachtlager einer schönen Schlafenden in Johann Heinrich Füsslis schwarzromantischem Gemälde Der Nachtmahr von 1781 heim. Zu den scharfsichtigen Beobachtungen Raulffs gehört, dass nicht die »Potenz seiner Physis« das Pferd zu einem machtvollen Symbol werden lässt, sondern die Tatsache, dass es »ein einzigartig expressives Subjekt der Angst war. Das Pferd konnte Schrecken verbreiten, […] weil es, selbst vom Schrecken durchdrungen, diesen wie kein anderes Wesen zum Ausdruck brachte.« 11 Und es ist diese Expressivität als Amalgam von Aggression und Angst, die Goya als »räuberische Torheit« hat anschaulich werden lassen. Dem korrespondiert der zweideutige Gesichtsausdruck der geraubten Frau in seiner Radierung, ein Ausdruck, der verschiedentlich als Angstlust gedeutet worden ist.12 Ihre Gestik, die in das tradierte Repertoire der religiösen wie auch der erotischen Ergriffenheit gehört,13 oszilliert zwischen Entsetzen und Hingabe an das Ungeheuerliche. In der Originellen Kopie Büttners wirken diese von Goya albtraumhaft zugespitzten Spannungen zurückgenommen. In der Abbreviatur einiger Pinselstriche als Chiffren für Augen, Mund und Nase wird die Mimik des Opfers unleserlich im Hinblick auf seine Gemütsverfassung. Der Titel Originelle Kopie ist – selbstredend – eine contradictio in adiecto, spielt mit dem Paradox. Zeichnet die Kopie sich nach landläufiger Meinung ihrem Wesen nach doch gerade dadurch aus, dass sie nicht originell ist. In Opposition zum Original stehend, ist ihr Ruf wenig glänzend, was sich in moralisch und hierarchisch konnotierten Gegensatzpaaren wie tot versus lebendig, abhängig versus frei, gestohlen versus erfunden ausdrückt. Originell kann eigentlich nur das Original sein, mit dem das Wort seine Herkunft aus dem lateinischen origo, Ursprung, teilt. Das Originelle ist also das Ursprüngliche in der Kunst, das in einem einmaligen Gestaltungsvorgang dem eigenen individuellen Geist und den Händen des Künstlers oder der Künstlerin Entsprungene. Ein Bewusstsein von der Originalität künstlerischer Leistung, im modernen Sinn einer auszeichnenden Qualität, entstand in Europa im 16. Jahrhundert und mündete in den Geniekult des späten 18. und des 19. Jahrhunderts, dessen Prägekraft bis in die Moderne reicht.14 Die Klassifizierung eines Werkes als Original ist auf dem Kunstmarkt wie für Museen und das Fach Kunstgeschichte ein zentrales Bewertungskriterium, trotz der Herausforderungen, denen der Begriff durch die technisch basierten Medien Fotografie, Film, Video und die digital erzeugten Bilder ausgesetzt wurde.15 Die Geltung von Originalität als einer auszeichnenden Qualität konnte auch durch die Strategien der kritischen Imitation und Aneignung, wie sie in der sogenannten Appropriation Art seit den späten 1970er Jahren als Angriff auf den Mythos von der »Originalität der Avantgarde« 16 – als Dekonstruktion autoritärer Konzepte von Autorschaft und als Unterhöhlung der Hierarchie zwischen hoher und populärer Kultur inklusive der damit jeweils verknüpften Anerkennungs-

C Francisco de Goya, El caballo raptor: Das Pferd als Frauenräuber, aus dem Zyklus Disparates, um 1810 bis 1815, Radierung Aquatinta, 24,4 × 35,3 cm, Wien, Albertina D Francisco de Goya, Der Hund, aus dem Zyklus Pinturas negras, um 1820, Mischtechnik, Wandbild auf Leinwand übertragen, 131 × 79 cm, Madrid, Museo Nacional del Prado

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10 Vgl. Ulrich Raulff: Das letzte Jahrhundert der Pferde, München 2015, S. 247–249. 11 Raulff (2015), S. 275. 12 Hofmann (1981), S. 184; Robert Hughes: Goya, London 2003, Bd. I, S. 63. 13 Zur Sprache der Gesten bei Goya vgl. Martin Warnke, »Goyas Gesten«, in: Werner Hofmann, Edith Helmann, Martin Warnke: Goya, Frankfurt am Main 1987, S. 115–177. Warnke zeigt am Beispiel von Goyas Gemälde Die Erschießung der Aufständischen am 5. Mai 1808, dass diese Geste von Goya auch zu einer Geste der Rebellion umgedeutet werden konnte. 14 Vgl. Wolfgang Augustyn und Ulrich Söding, »Original – Kopie – Zitat. Versuch einer begrifflichen Annäherung«, in: Original – Kopie – Zitat. Kunstwerke des Mittelalters und der Frühen Neuzeit: Wege der Aneignung – Formen der Überlieferung, hg. von Wolfgang Augustyn und Ulrich Söding, Passau 2010, S. 1–3. 15 Darauf hat früh und im Hinblick auf das Nachdenken über das Original nachhaltig Walter Benjamin in seinem Aufsatz über »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.« hingewiesen. Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (erste deutsche Fassung, 1935), in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. I, Werkausgabe Bd. 2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1980. 16 Rosalind Krauss: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, hg. von Herta Wolf, Amsterdam/Dresden 2000. 17 »[…] l’animo si diletta d’ogni copia e varietà« lautet die Formulierung im italienischen Original. Leon Battista Alberti, »Della pittura«, in: Opere volgare, hg. von Cecil Grayson, Bari 1973, S. 68. 18 Zur »treuen Kopie« vgl. Nichts Neues schaffen. Perspektiven auf die treue Kopie 1300–1900, hg. von Antonia Putzger, Marion Heiterberg und Susanne Müller-Bechtel, Berlin/Boston 2018. 19 Asger Jorn, »Zweckentfremdete Malerei« (1959), in: Asger Jorn: Heringe in Acryl. Heftige Gedanken zu Kunst und Gesellschaft, Hamburg 1987, S. 48–49. und Marktmechanismen – erfolgte, nicht aus der Welt geschafft werden. Dies gilt auch für das eher schlechte Image der Kopie. Der Begriff Kopie leitet sich aus dem Lateinischen copia ab, was so viel heißt wie Fülle und Reichtum. In diesem Sinne verwendet ihn Leon Battista Alberti in seinem Malereitraktat von 1435, wenn er meint, dass die Seele sich an der Fülle und Vielfalt erfreue.17 Die heutige Vorstellung von Kopie als dem Original nachgeordnete Reproduktion eines Artefakts leitet sich nicht aus dieser Sinndimension ab, sondern aus der Rechtspraxis des Mittelalters, wo juristisch verbindliche Abschriften von Schriftstücken als Kopien bezeichnet wurden. Was im Bereich der Kunst unter den Begriff fallen kann, umfasst jedoch eine Fülle von Möglichkeiten. Die treue Kopie eines Werkes zu seiner Vervielfältigung für den Markt, sei es mit der Absicht des Fälschens verbunden oder auch nicht, ist nur ein Sonderfall.18 Systematiker unterscheiden zwischen exakten und freien Kopien. Das Kopieren nach Musterbüchern oder nach als vorbildlich anerkannten oder individuell bewunderten Werken zur Aneignung von technischen Fertigkeiten und Bildideen war bis weit in das 19. Jahrhundert hinein in Ausbildungssituationen eine Selbstverständlichkeit. Und wenn Asger Jorn formuliert, dass »die Lieblingsnahrung der Malerei die Malerei ist«,19 spricht er aus, dass die imitierende Aneignung fremder Bildlichkeiten und Manieren zu den grundlegenden Verfahren künstlerischer Produktivität gehört, allerdings auch verdaut werden sollte. Die imitierende und anverwandelnde Auseinandersetzung mit fremden Werken ist nicht nur Baustein eines lebendigen kulturellen Bildgedächtnisses über Epochen hinweg, sie kann eine Form des Verstehens, der Kritik, der Parodie, des Wettstreits und des Dialogs sein und damit nicht nur Wiederholung des schon Gewesenen. Gerade in der Inszenierung der Differenz zwischen Vorbild und »Nachbild« kann, wenn aus Ähnlichkeit Trennschärfe wird, etwas Neues, Originelles entstehen. Dass Büttners Originelle Kopie nach Goya keine exakte, keine treue Kopie ist, ist eine triviale Feststellung. Er verkehrt etwa, werden die Größenverhältnisse und das Medium mit in Betracht gezogen, sogar mit einer gewissen Übertreibung, das traditionelle Verhältnis zwischen

Malerei und Grafik als Mittel zur Reproduktion von Gemälden. Wichtiger ist aber vielleicht ein anderer Punkt: die Abstinenz im Hinblick auf das Pathos und die Intensität psychologischer Komplexität, wofür Goya in der Regel bis heute zu Recht bewundert wird. Mit dieser Überlegung soll nicht unterstellt werden, dass Büttner für diese Qualität Goyas unempfindlich wäre. Im Gegenteil, wer sich unter seinen Bildern umschaut, meint immer wieder die mehr oder weniger deutlichen Spuren einer tiefen Auseinandersetzung mit Goya zu sehen. Dies gilt etwa für das vom Krankenbett aus grüßende Selbstbildnis (Vom Krankenbett aus grüße ich alle ehrlichen Menschen (1988, Abb. S. 30)) oder für einige der geplagten Parallelkreaturen – etwa das Bärenwesen in Arktis Negativ (2019, Abb. S. 135) –, deren hoffungsvolle Hilflosigkeit an den kleinen einsamen Hund erinnert, dessen Bild Goyas Zyklus der Pinturas negras abschließt (Der Hund, um 1820, Abb. D) und von dem niemand weiß oder je wissen wird, ob er einem Ziel zustrebt oder tapfer strebend im Treibsand untergehen wird. Auch die überaus sorgfältige, lakonische Diktion, in der Büttner seine Bildtitel verfasst, lässt immer wieder an die ebenso genauen wie zugleich doppelbödigen Texte denken, die Goya seinen Grafiken beigegeben hat. Fast wie ein Motto könnte auch über dieser Ausstellung stehen, was Goya am 6. Februar 1799 in seinem Ankündigungstext für die Caprichos im Diario de Madrid veröffentlicht hat: »Weil der Autor überzeugt ist, dass die Kritik menschlicher Irrtümer und Laster […] auch Gegenstand der Malerei sein kann, hat er als angemessene Themen für seine Arbeit aus der Vielzahl der Extravaganzen und Torheiten […] jene ausgewählt, die er für besonders geeignet hielt […].« 20 Deutlich werden auch in den Schrecken der Demokratie Goyas Schrecken des Krieges aufgerufen.21 Aber natürlich weiß Werner Büttner, dass die Schrecken der Demokratie nicht dieselben sind, und auch nicht so schrecklich, wie die unvorstellbaren Grausamkeiten und das Leid, die Goya in seinen Desastres della Guerra ebenso eindringlich wie auch mit einer gewissen Kälte und Unerschrockenheit schildert. Ganz anders als etwa die Brüder Jake und Dinos Chapman, die gerade die quälendsten Bilder aus Goyas Kriegszyklus in lebensgroße Skulpturen übersetzt und seine Grafikzyklen, sowohl die Desastres als auch die Caprichos, »reworked and improved« haben,22 um sie mit ihrer Bildsprache zu aktualisieren und durch Obszönität zu verstärken, hat sich Büttner mit seiner Originellen Kopie zwar Goyas Motiv angeeignet, es aber gerade nicht ausgeraubt in dem Versuch, Goya zu verbessern oder gar zu verstärken. In seinem Frauenraub nach Goya wird in der Ähnlichkeit zum Original vielmehr eine subtile Distanz artikuliert, die im Vergleich von Original und Kopie ein Licht auf die Intensität bei Goya fallen lässt – vielleicht ein wenig ironisch, eine Distanz, die Raum gibt … zum Nachdenken zum Beispiel. »Goyas großes Verdienst«, so hat Charles Baudelaire gemeint, »liegt darin, das Monströse glaubhaft zu machen. […] Keiner hat sich mehr als er in Richtung des möglichen Absurden gewagt.« 23 Ein Karussellpferd, das sich eine Frau schnappt, ist absurd und monströs. Hier liegt meines Erachtens die Wahlverwandtschaft Büttners und der Grund seiner herzlichen Verehrung für Goya begründet, denn: Der Weg der Weisheit ist schlecht beleuchtet.24

20 Zit. nach Werner Hofmann, »Goyas negative Morphologie«, in: Hofmann, Helmann, Warnke (1987), S. 17. 21 Werner Büttner: Schrecken der Demokratie, Köln 1983. 22 Vgl. z. B. Remastered. Die Kunst der Aneignung/The Art of Appropriation, Ausst.Kat. Kunsthalle Krems, hg. von Florian Steininger und Verena Camper, Köln 2017, S. 36–41. 23 Charles Baudelaire: »Quelques caricaturistes étrangers« (1868), in: Œuvres complètes de Charles Baudelaire, Bd. II, Paris 1923–1966, S. 430. 24 Siehe dazu: Werner Büttner, Schlecht beleuchteter Weg zur Weisheit (2011), Abb. S. 138.

1 Lewis Hyde: Trickster makes this world: mischief, myth and art, New York 1998, S. 184. 2 Milan Kundera: Das Buch vom Lachen und Vergessen, übersetzt von Susanna Roth, Frankfurt am Main 2014, S. 90. In dem 1980 erschienenen experimentellen Roman Das Buch vom Lachen und Vergessen des tschechischen Schriftstellers Milan Kundera gibt es eine Szene während eines Gastmahls, die mir in Erinnerung geblieben ist. Der Teufel und ein Engel sitzen am Tisch und lachen: Der Teufel lacht als erster – darüber, dass die Welt in Unordnung ist –, und der Engel, der nichts zu entgegnen weiß und sich außerdem bewusst ist, dass das Lachen des Teufels gegen Gott gerichtet ist, beginnt ebenfalls zu lachen – darüber, dass die Welt so schön und sinnerfüllt ist. Die beiden geben das gleiche Geräusch von sich, aber der Teufel findet das Lachen des Engels lächerlich, da es nur eine schlechte Imitation ist. Der Teufel lacht also noch lauter. »Wer den Teufel als Vertreter Des Bösen und den Engel als Kämpfer für Das Gute betrachtet, übernimmt die Demagogie der Engel«, schreibt Kundera. »Die Sache ist selbstverständlich komplizierter.« 2 Die Sache ist selbstverständlich komplizierter. An diese Passage musste ich denken, als ich das erste Mal vor Werner Büttners Bildern stand. Der deutsche Maler scheint eine heftige Abneigung gegen allzu starke Vereinfachung zu hegen, ganz zu schweigen von den Regeln, die vorgeben, was ein gutes Gemälde ausmacht. In seinen Bildern ist beides stets fein austariert enthalten. Mit dynamischen Pinselstrichen, die ebenso präzise wie draufgängerisch und dabei so nonchalant und treffend sind wie die Pointen eines gutes Witzes, nimmt Büttner die Höhen und Tiefen der Welt in den Schwitzkasten, als handele es sich um eine Prügelei unter Rauflustigen. Es ist ein prägnanter Malduktus, der im Laufe der jahrzehntelangen künstlerischen Praxis Büttners, das heißt von den 1970er Jahren bis heute, noch anspruchsvoller geworden ist. Büttner vollzieht seine malerischen Entscheidungen mit einer an Hemingway erinnernden Prägnanz – es findet eine starke Verknappung statt und es wird sich nicht im Schönen ergangen, auch wenn dionysische Genüsse durchaus Thema sind. Die Sujets dieser hintersinnigen Lehrstücke heben sich von einem ruhigeren Umfeld ab, Buntglasfenstern nicht unähnlich, aber mit einer Palette von gedämpften Farben: ländlich anmutende Farbtöne, Blau ohne Weiß-

anteile und beunruhigendes Grün. Der Künstler hat seine Methode zu einer einzigartigen Bildsprache verfeinert, bei der die Sujets seiner fast schon ikonoklastischen Gemälde ikonischen Charakter entwickeln. Ein 2019 entstandenes Gemälde zeigt beispielsweise einen Papagei, der an einen kleinen Pflock im Boden gekettet ist (2019, Abb. S. 152/153). Es ist ein eindrückliches Bild, das vielleicht sogar erschüttern würde, wenn es nicht durch seine reine Symbolik (es gibt kein Narrativ, welches das Bild trübt) etwas Mythisches bekommen würde, und es wäre vielleicht weniger komisch, würde das Spruchband mit den roten Lettern darüber nicht unmissverständlich verkünden: ENTERTAINMENT (Unterhaltung). Doch sollte ich lieber am Anfang beginnen und über ein Bild sprechen, das 2003 entstanden ist. Auf dem ungewöhnlichen Selbstporträt stellt sich der Künstler als Baby dar, das recht hilflos in einer dreckigen Spüle sitzt; in einer Art zeitgenössischem Chiaroscuro hebt sich der kleine Cherub in der grünen Seifenlauge deutlich von dem dunklen Hintergrund ab. In Quel début! (2003, Abb. S. 31) (eine weitere Kontinuität bei Büttner ist, dass die Titel Zeichen setzen und wie bei René Magritte untrennbarer Bestandteil der Werke sind) blickt das Baby den Betrachtenden perplex an: Es ist der Welt hilflos ausgeliefert, der Mama und all diesen Umständen, in denen es sich wiederfindet, und vor allem diesem schmutzigen Spülwasser. Vermutlich spielt sich die in Quel début! dargestellte Szene in einer Spüle in Jena ab, der Stadt in Thüringen in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, in der Büttner aufgewachsen ist. Andere Bilder mit biografischem Hintergrund wie die neuere Arbeit Von Geworfenheit und Verstrickung (2017, Abb. S. 46/47) werden noch deutlicher: Der kleine Büttner sitzt hier auf einem Pony und reitet aus seiner Geburtsstadt heraus (auch in diesem Fall schaut der Junge etwas perplex). Der Künstler hat einmal selbst gesagt, dass seine Mutter ihn,

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3 »It all began with a one-night stand: An interview with Werner Büttner by Hans Ulrich Obrist.«, in: Plenty of Room for All Sorts of Happiness. Marlborough Gallery, New York 2018; https://issuu.com/marlboroughfineart/ docs/buettner_london_buch_final_middle, [zuletzt April 2021]. 4 Vgl. Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, 2. Auflage, Frankfurt am Main 2010. 5 Anthony Burgess: A Clockwork Orange, Erstausgabe, London 1962. 6 Werner Büttner: Schrecken der Demokratie, Köln 1983. als er sieben Jahre alt war, entführt habe.3 Er sei in den Westen gebracht worden, um dort wieder mit dem Vater vereint zu werden, der bereits geflüchtet war und die Familie zurückgelassen hatte. Ist das lustig? Sicher, Büttner scherzt, doch sein Witz lotet Tiefen jenseits des bloß Absurden aus. Vielmehr wendet er eine Methode der Entlarvung an, also der Offenlegung jenes komisch wirkenden Moments, in dem etwas oder jemand bloßgestellt wird.4 Einem guten Komiker gelingt dies, indem er sich über andere lustig macht und sie bloßstellt. Wohingegen ein besserer Komiker dieselbe Wirkung eher dadurch erreicht, dass er sich selbst entblößt – und dabei zeigt, dass man selbst sich kaum von ihm unterscheidet. Bei Quel début! erzeugt Büttner dieses entlarvende Moment, indem er sich einem unspektakulären Sujet widmet; so gelingt es ihm, uns sein Leben zu offenbaren und uns gleichzeitig dazu anzuregen, über unser eigenes Leben nachzudenken. Ampel in Jena (Abb. S. 44) ist eine 1988, also wesentlich früher entstandene Arbeit, die ebenfalls in seiner alten Heimat verortet ist – hier wird ein fahler Himmel von Stromleitungen durchschnitten, an denen eine Ampel hängt, die zugleich Rot und Grün anzeigt. Diese herrlich banale Szene bringt den Betrachtenden dazu, sich zu fragen: Was denn nun? 5 Die dargestellte paradoxe Situation, die den Fahrer zum Innehalten zwingt, kann einen zum Lachen bringen, ähnlich wie das Baby im Spülwasser und das Kind, das sich in den Westen davonmacht. Die Arbeiten sind gleichermaßen moralisch wie tragikomisch – sie konfrontieren uns mit dem Umstand, dass auch wir in dieser Welt nur wenig Kontrolle über unser Schicksal haben. Dieses Ziel hat Büttner einige Jahrzehnte zuvor, nämlich 1983, in Schrecken der Demokratie mit etwas anderen Worten formuliert: »Und so kann man zufrieden sein, wenn von seinen Bildern wie eine jauchzende Offenbarung der Satz emporsteigt: Ich bin ein Arschloch, aber ihr seid auch Arschlöcher.« 6 Dieser Gedanke wird durch kein anderes Bild sinnfälliger veranschaulicht als in dem zum Schreien komischen Selbstbildnis im Kino onanierend (1981, Abb. A) (der Titel sagt alles), das Büttner in Hamburg in der Blüte seines Lebens mit etwa 27 Jahren gemalt hat. Hier gelingt ihm die Bloßstellung im doppelten Sinn. Wir sehen den Künstler, wie er sich und seine Würde willentlich preisgibt. Aber da ist auch der Betrachtende, der auf hintersinnige Weise zum Hinschauen verleitet wird und den Blick gar nicht mehr von dem vulgären Sujet abzuwenden vermag, bis ihm allmählich dämmert, was hier eigentlich vor sich geht. Eine derartig gewiefte Selbstherabsetzung ist ein wahrer Triumph. Büttner, durch Ostdeutschland geprägt, aber niemals wirklich Teil davon, kam als junger »Schmierer« – als der er sich mir gegenüber einmal beschrieb – in den Westen und traf dort in einer schicksalhaften Begegnung mit Albert Oehlen, Martin Kippenberger, Günther Förg und Georg Herold zusammen. Diese Gruppe, die sogenannten Jungen Wilden, erschlossen eine neue und ehrfurchtslose Form des Kunstmachens. Schwerpunkte ihrer Herangehensweise waren Provokation und die Ablehnung jeglicher künstlerischen Regeln, wie sie die Generationen vor ihnen angewandt hatten. Ihre Haltung war enthusiastisch und respektlos. Sie sangen bei Vernissagen. Sie versuchten, sich gegenseitig mit künstlerischen Heldentaten zu übertrumpfen. Man denke nur an die Samenbank für DDR-Flüchtlinge, die Büttner 1980 gemeinsam mit Albert Oehlen und Georg Herold gründete. Während es auf den ersten Blick wie ein schmuddeliger Witz wirkt (was genau ist hier eigentlich gefordert!?), birgt das absurde Angebot aber auch Untertöne eines schicksalsschweren Kummers. Wenn man jedoch von den Kapriolen der Jungen Wilden absieht und die einzelnen Werke betrachtet, die in dieser Phase entstanden sind, zeichnet sich Büttners künstlerische Praxis durch bestimmte Interessen aus: Fabel, Schicksal, Philosophie, aber auch Mythologie und religiöse Inhalte beeinflussen die sich entspinnende schwarze Komödie, dieses gemalte Theater. Die religiöse Malerei hat schon früh eine wesentliche Rolle bei Büttners Erkundungen der

Realität gespielt. A und E (1985, Abb. S. 44), ein kleines Gemälde von 1985, ist eine ungewöhnliche Darstellung von Adam und Eva – zwei grob ausgeführte, wie aus Lehm geformte Figuren treten nicht etwa vor einem bukolischen Garten in Erscheinung, sondern aus einer grauen Materie hervor. Religiöse Motive wie dieses tauchen im Laufe der Jahrzehnte immer wieder auf. Ein neueres, 2017 entstandenes Bild zeigt eine vollbusige Maria Magdalena, die ihren Kopf, über den ein Pappkarton gestülpt ist, beschämt gesenkt hält. Er erspart ihr die abgedroschene Bestrafung, immer wieder aufs Neue abgebildet zu werden – aber nicht ganz. In Christus versucht Besuch (2019, Abb. S. 209) schwebt ein leuchtender Jesus vor einem modernen Haus. Die Fenster sind geschlossen. Der Witz dieser Bilder besteht in der Demontage der vermeintlichen Unfehlbarkeit des religiösen Experiments – ein zeitloses Vergnügen. Außerdem korrespondieren die Bilder mit der Kunstgeschichte der vergangenen Jahrhunderte – über die letzten hundert Jahre der Kunst der Moderne hinaus. Mit diesen frühen Arbeiten wie Kain und Abel oder A und E kehrt Büttner immer wieder zu den westlichen Kanons zurück, allerdings nur, um ihnen den Nimbus zu nehmen. Der Kunstkritiker Lewis Hyde erörtert die Mythologie des metaphorischen Drecks in seinem Buch über den Archetypus des »Tricksters«, der sich in ebendiesem Dreck wälzt – Trickster schleppen Dreck ein, »Materie, die fehl am Platze ist«.7 Es hat eine destabilisierende Wirkung, diese äußere Welt – welche die Gegebenheiten unterhöhlt und verkompliziert – ins Innere zu bringen. »Kunst um der Kunst willen hat mich nie interessiert«, hat Büttner einmal zu mir gesagt. »Kunst muss etwas mit der Realität zu tun haben, mit dem, was auf diesem Planeten passiert. Tut sie das nicht, ist sie langweilig.« 8 Wo findet man mehr Dreck als in der Realität? Dreck, so schreibt Hyde, ist »immer ein Nebenprodukt des Herstellens einer Ordnung. Wo Dreck ist, gibt es immer irgendein System, das durch Regeln, die den Dreck betreffen, erhalten werden soll.« 9 Täuschungen verändern die Kulturgeschichte, und die Kulturgeschichte der Täuschung entstammt jenem Moment, in dem »das Karnevaleske – mit allen seinen derben Umkehrungen – den Marktplatz verließ und in der Kunst Einzug hielt«.10 Grenzüberschreitung durch das Über-denHaufen-Werfen von Hierarchien und das Aufzeigen von Tabus hat die gesellschaftliche Ordnung destabilisiert. Dies alles fand selbstverständlich auf dem Marktplatz und vor dem Kirchentor statt. Ich sehe in Büttners Humor eine gesellschaftspolitische Tätigkeit inmitten dieses teuflischen Chaos: im Dreck herumstöbern und schauen, was dabei herauskommt. Der folgende Satz Hydes könnte auf den rhetorischen Gehalt von Büttners Bildern gemünzt sein: »Der ungezwungene Umgang mit Dreck ermöglicht es dem Trickster, dort zu wirken, wo die anspruchsvollen hohen Götter es nicht können; so finden Fruchtbarkeit und Fülle des Himmels Eingang in diese Welt.« 11 Welche Bedeutung hat dieses Herumwühlen im alltäglichen Dreck für Künstler*innen beim Erschaffen ihrer Werke? Es gehört zu ihren grundlegenden Aufgaben, und manche können es besser als andere. Büttners Auswahl von Bildinhalten hat etwas Zufälliges; für Vorstudien greift er häufig zur Collage – vielleicht aus dem Bedürfnis heraus, sich selbst zu überraschen. Das entbehrt bei einem Künstler, der auf diese sardonische Weise das Schicksal, die Geworfenheit, eine dem Mensch unterworfene Natur und teilnahmslose Sterne malt, nicht einer gewissen Ironie. Doch es beinhaltet auch den Glauben – oder vielleicht eine Hoffnung – dass etwas Überirdisches und Erlösendes in diesem Leben passieren könnte, und dass somit auch in der Malerei immer wieder Neues möglich ist.

7 Hyde 1998, S. 176. 8 Werner Büttner, »The Disturbing Paintings of Werner Büttner, Forgotten Bad Boy of German Art, Are Starting to Look Alarmingly Good. The Market Has Noticed«, Interview von Kate Brown, 9. Juni, 2020, Audiodatei 1:10, https://news.artnet.com/ art-world/werner-buttner-1761153 [zuletzt April 2021]. 9 Hyde 1998, S. 176. 10 Ebd., S. 187. 11 Ebd., S. 190.

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