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Ausgabe Februar 17. Jahrgang / #164
WÖLFE
Bald Rudel im Schwarzwald?
mit T H EM EN B U C H cultur.zeit
DAS IST KEINE VOLLBREMSUNG OB Martin Horn über Corona, den Haushalt und Eigentore
KONTROVERS
Polizeichef und Stadtrat über Videoüberwachung
UMKÄMPFT
Das Ringen um den Chefsessel im Land
UMSTRITTEN
Über Sinn und Unsinn von Tempo 30
CHILLI EDITORIAL
KOMPLEX & KONTROVERS VON WÖLFEN, VIREN UND VORSTÖSSEN
Liebe Leserin & lieber Leser, Modus zu lösen sind, sondern jeweils die vielen der Virologe Christian Drosten hatte ganz am Schattierungen aufzeigen sollen, die komplexe Anfang der Pandemie mal gesagt, die letzte Dinge in einer komplexen Welt nun mal haben. Welle der Pandemie werde in zwei Jahren ausWer hat Angst vorm wilden Wolf, fragte derlaufen. Im Sommer geriet das dann – menschweil unsere Volontärin Lili Herzberg mehrere lich, allzumenschlich – in Vergessenheit. Doch Experten. Auch das eine komplexe Frage. Die nun, nach der nächsten Verlängerung des Kenner der Materie gehen davon aus, dass Lockdowns, nach den ersten Mutationen, es im Schwarzwald bald sehen wir, dass uns die zur Rudelbildung komPandemie noch sehr lange men wird. Das brauche beschäftigen wird. aber niemandem Angst zu Im Titel-Interview mit dem machen, wichtig sei nur, frischgebackenen Dreifachdass ein gutes Miteinander Vater und Oberbürgermeisschnell arrangiert wird. ter Martin Horn sprachen Zurück aus der Elternzeit wir zwar in erster Linie ist Till Neumann. Er kümüber die Verabschiedung merte sich um zwei Thedes nächsten Doppelhausmen, die um eine opuhalts, aber auch dort spiellente Komplexität auch te die Corona-Krise natürnicht verlegen sind: die lich eine Hauptrolle. Horn Die neuen chilli-Rubrik startet mit Freiburger Innenstadt und fordert darin etwa, dass Polizeipräsident versus Stadtrat den Freiburger Vorstoß Bund und Länder bei den nach einer flächendeckenÖffnungsszenarien nicht den Tempo-30-Modellstadt. wieder so einen Flickenteppich auslegen wie Eher mit Tempo 30 läuft die Sanierung des Aubeim Lockdown. Erwartbar ist das nicht. gustinermuseums. Erika Weisser wollte mal In einem Flockdown befand sich unser Redakhinter die Baustellenzäune des mittlerweile auf teur Philip Thomas, der in NRW eingeschneit 85 Millionen Euro angewachsenen Projekts war und so mit mobilen Gerätschaften seine blicken. Das aber, so die Verantwortlichen im Geschichten für diese Ausgabe ins Haus lieRathaus, ginge derzeit nicht. Da war es wieder, ferte. Geliefert haben auch der Freiburger Podas Virus. Dennoch eröffnet die Geschichte lizeipräsident Franz Semling und JUPI-Stadtrat einen Blick hinter die Kulissen. Sergio Pax. Mit ihnen starten wir unsere neue Wir wünschen anregende Lektüre. Bleiben Rubrik „KONTROVers“, in der es fortan immer Sie, bleibt uns gewogen. Und gesund. Und um Streitthemen in der Stadt geht, die nicht zuversichtlich. im leider immer beliebteren Schwarz-Weiß-
KONTROVERS
Herzlichst, Ihr Lars Bargmann, Chefredakteur & die chillisten
FEBRUAR 2021 CHILLI 3
Foto: © Stadt Freiburg, Patrick Seeger
CHILLI INHALT
Foto: © tln
HEFT NR. 1/21 10. JAHRGANG
> 10-12 Interview: Oberbürgermeister
> 16-17 Kaum Platz: Student Lars
Martin Horn im Gespräch mit Lars Bargmann
Nungesser lebt in diesem Wohnmobil.
IN EIGENER SACHE
SZENE
EDITORIAL
MUSIK
3
GASTKOLUMNE VOLKMAR STAUB MEHR KOLUMNEN
7 24, 55, 58
Freiburgs OB Martin Horn im chilli-Interview
10-12
14-15
RÜCKKEHR DES RAUBTIERES 16-17
Der Wolf vor den Toren Freiburgs: Wilder Jäger oder Naturschützer?
18-19
Das Ringen um den Chefsessel in der Villa Reitzenstein TEMPO 30
20-21
Braucht Freiburg eine flächendeckende Geschwindigkeitsdrosselung?
IMPRESSUM chilli – Das Freiburger Stadtmagazin chilli Freiburg GmbH
Paul-Ehrlich-Straße 13, 79106 Freiburg fon / Redaktion 0761-76 99 83-0 fon / Anzeigen 0761-76 99 83-70 fon / Vertrieb 0761-76 99 83-83 www.chilli-freiburg.de
E-Mail für Online- / Printredaktion redaktion@chilli-freiburg.de
Geschäftsführerin (V.i.S.d.P.) Michaela Moser (mos): moser@chilli-freiburg.de
Chefredaktion
Lars Bargmann (bar): bargmann@chilli-freiburg.de
ROLLENDE RASER
24
ONLINE-SPORT ˇ
25
WENIG PLATZ, VIEL FREIHEIT
26
Neue Elektro-Scooter im Check
Student lebt seit zwei Jahren im Wohnmobil
27
Neues Bündnis Freiburg Live
Polizeichef und Stadtrat über Wohl und Wehe von Big Brother
LANDTAGSWAHL 2021
Reportage: Ein Tag im Freiburger Impfzentrum an der Messe
SUCHE NACH SUPPORT
FREIBURG VIDEOÜBERWACHUNG
22-23
KLEINER PIKS
Lachyoga in Zeiten von Corona
TITEL VERPASSTE CHANCEN
STIMMKÜNSTLER JOHANNES JÄCK GEWINNT LANDESPREIS
KOMMT DIE INSOLVENZWELLE?
28
LUFTVERKEHR
29
Zombiefirmen in Südbaden
Abstürzende Zahlen am Euroairport DRAMATISCHE LAGE
TEURE TÖCHTER
30-31
30 Millionen aus der Stadtkasse TRÜBES KLIMA
Düstere Wolken am Konjunkturhimmel
Redaktion
Till Neumann (tln): neumann@chilli-freiburg.de Philip Thomas (pt): philip.thomas@chilli-freiburg.de Tanja Senn (tas): senn@chilli-freiburg.de Liliane Herzberg (herz): herzberg@chilli-freiburg.de
Kulturredaktion
Literatur
Kunst
FRAKTIONEN KRITISIEREN RATHAUS
DAS LITERATURHAUS STARTET HYBRID INS JAHR
SEXTOYS ALS TABUBRECHER
> 41-57 cultur.zeit: News aus Freiburg zu Kultur, Musik und Literatur
JOBSTARTER AUSBILDUNG UND CO.
Karrierewege: Biolaboranten, Einzelhandel und Handwerk
cultur.zeit
BUSINESS
Freiburger Händler schlagen mit offenem Brief Alarm
Kultur
32 33
KULTUR
MUSIK & LITERATUR
Julia Rumbach, Tatjana Kipf
Titel iStock.com/Armelo Forte cultur.zeit Titel © Felix Groteloh Bildagenturen iStock, pixabay, freepik Anzeigenannahme per E-Mail
Autoren
Vertrieb
Anzeigenberatung
Christoph Winter (Leitung), Jennifer Patrias, Maria Schuchardt, Giuliano Siegel, Fredrik Frisch
Dominik Bloedner, Lars Nungesser, Franz Semling, Sergio Pax
Fredrik Frisch, frisch@chilli-freiburg.de
Gastkolumnisten
Jeweils am 28. des Vormonats. Es gilt die Preisliste Nr. 12
Volkmar Staub, Ralf Welteroth
52-57
Preis für Stimmkünstler Johannes Jäck, Beatbox-Hörspiel, das Literaturhaus 2021, CD- und Bücher-Tipps
Grafik Miriam Hinze (Leitung),
anzeigen@chilli-freiburg.de
42-51
Fraktionen kritisieren Haushaltsentwurf, das Sterben der CD-Händler, Tabus in der künstlerischen Fotografie, zu Besuch in der Musikzentrale, Handschlag ade, zähe Sanierung am Augustinermuseum
Lektorat Beate Vogt
Michaela Moser (mos): moser@chilli-freiburg.de Erika Weisser (ewei): weisser@chilli-freiburg.de Maria Schuchardt (mas): schuchardt@chilli-freiburg.de
34-40
Druck & Belichtung
Hofmann Druck, Emmendingen
Jobstarter-Themenspecial
in Zusammenarbeit mit „Jugend & Beruf“ der Badischen Zeitung
Nächster Erscheinungstermin
14. März 2021
Ein Unternehmen der
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Druckunterlagenschluss
FEBRUAR 2021 CHILLI 5
SCHWARZES BRETT
»MANCHMAL WIE BETÄUBT« Am Schreibtisch sitzen, Kommilitonen untersuchen, Klausuren kreuzen: Das sind die Dinge, die der Freiburger Medizinstudent Jonathan Vogt in den vergangenen sieben Semestern hauptsächlich getan hat. Daher wollte er endlich mal in die Praxis eintauchen, vor allem: hinaus aus seiner Komfortzone, hinein in die Arbeit mit Notleidenden. Mit „Medical Volunteers International“ flog der 23-Jährige für sechs Wochen nach Athen, behandelte Geflüchtete und Obdachlose – und lernte, was einen guten Arzt ausmacht.
Foto: © Christian Engel
„Für mich ist es ein Privileg, Medizin zu studieren und später Menschen helfen zu können. Ein cooler Teil des Studiums ist es, die Zeit zu haben, sich Hilfsorganisationen anzuschließen, in der Seenotrettung mitzuarbeiten oder in der medizinischen und humanitären Erstversorgung an Fluchtrouten. Über meine Schwester Amelie, die in der Flüchtlingshilfe in Leipzig aktiv ist, bin ich auf Medical Volunteers International gestoßen. Der Verein aus Hamburg leistet medizinische Versorgung für notleidende Menschen in verschiedenen Einsatzorten. Unter anderem in Athen. Da landete ich dann diesen Winter für sechs Wochen. In den Randgebieten der Stadt leben zahlreiche Menschen in Flüchtlingscamps. Nach dem Corona-Lockdown mit strengen Ausgangsbeschränkungen durften wir nicht mehr in die Camps hinein, also kamen die Menschen zu uns. Via Whatsapp nahmen Geflüchtete und Obdachlose Kontakt mit uns auf. Teilweise mussten wir als Ärzteteam mit Hilfe von Google-Translator herausfinden, welche Symptome sie hatten. Bei schweren Fällen konnten wir die Notleidenden in ein Krankenhaus überweisen. Bei akuten Fällen luden wir sie zur Sprechstunde ein.
6 CHILLI FEBRUAR 2021
STOFF DER HOFFNUNG Foto: © tln
Alle wollen den Impfstoff – wir chillisten haben ihn. Na ja, zumindest ein kleines Fläschchen von Biontech & Pfizer. Redakteur Philip Thomas hat es von seinem Besuch im Impfzentrum mitgebracht (siehe Seite 22). Ja, es ist fast
Unsere Klinik war ein Provisorium. Dort war nur ein Behandlungstisch, in einem Raum saßen die Patienten quasi an einem Ess tisch. Wir hatten nur die nötigsten Instrumente zur Verfügung, aber das hat in den meisten Fällen ausgereicht. Häufig kamen Menschen mit Hauterkrankungen zu uns, aufgrund schlechter Hygienebedingungen. Ansonsten die üblichen Beschwerden: leichte bis schwere Infekte, Schwindel, Darmerkrankungen. Wir verabreichten Medikamente, legten Verbände, ich übernahm irgendwann die Sehtests, wohl weil mir eine befreundete Optikerin 30 Brillen mitgegeben hatte. Die Patienten waren dankbar, aber zum Teil merkte man ihnen die Aussichtslosigkeit an. Jetzt hatte ihnen wieder jemand von einer NGO geholfen, aber an ihrer Gesamtsituation änderte sich nichts. Manchmal fühlte ich mich wie betäubt, hielt meine Tätigkeit für sinnlos, ein Minitropfen auf einen heißen Stein. Aber dennoch erkannte ich immer wieder, wie schnell man als Arzt zumindest ein körperliches Leiden lindern und für den Moment helfen kann. Und bis heute denke ich an einzelne Menschen und ihre zum Teil grausamen Schicksale von Krieg und Flucht – und hoffe, dass es für sie einen Ausweg aus den Lagern gibt. Sechs Wochen war ich dort – und ich glaube, ich habe in der Zeit mehr gelernt als in den dreieinhalb Jahren Studium. Vor allem, wie man sich als Arzt gegenüber Patienten verhält, wie man auf sie eingehen muss, ohne sich dabei emotional zu verlieren – und weiterhin professionell agiert. Ich würde sofort wieder in einem solchen Projekt mitarbeiten und werde es wieder tun. Aber erst mal muss ich für ein paar Semester zurück an den Schreibtisch: büffeln und kreuzen.“ Aufgezeichnet von Christian Engel
leer. Aber ja, es ist noch ein Tropfen drin. Auch wenn die Kühlkette längst futsch ist, das kleine bisschen Flüssigkeit gibt irgendwie Hoffnung. Hoffnung, dass wir noch erleben dürfen, wie die Welt wieder normal wird. tln
SCHWARZES BRETT
GRAU STATT GRÜN
NACHGEWÜRZT! I HAD A DREAM
Alles wird gut. Trump ist weg, die AfD zerfleischt sich selber zu Kalbitz- Gulasch und der SC Freiburg hat endlich mal gegen Dortmund gewonnen. Im angefangenen Jahr wird das Paradies ausbrechen. Ich hab‘s geträumt und wir Stadtindianer glauben ja, dass alle Träume wahr werden. Ich habe gesehen, wie Biden und Kamala die USA in ein antikapitalistisches, umwelt- und auch sonst freundliches Land verwandelten, die Impfstoffe waren plötzlich im Überfluss da, auch global, und wir alle kamen nochmal impflich davon. Ich hab’ mich im Schlaf umgedreht und wohlig geschnarcht, da hat sich Putin über den Fertigbau von Nord Stream 2 und über unsere Zulassung von seiner Sputnik-V-Brühe so gefreut, dass er Nawalny freiließ und die Krim zurückgab. Der Iran hat seine Industrie auf Safranproduktion umgestellt und sein Atomprogramm gestoppt, und Israel hat seinen Mossad aufgelöst. Die Islamisten haben weltweit dem Terror abgeschworen, unsere Kneipen haben aufgehört, das wegen SchluckDown nicht verkaufte Bier wegzuschütten und daraus hautpflegende Badewannenzusätze gemacht. Selbst die Finanzkonzerne haben ihre Bescheißereien eingestellt, und im Februar hat man die norddeutsche Eiseskälte genutzt, um bundesweit sämtliche Mieten einzufrieren. Sogar die allgegenwärtigen Dumpfbacken haben mit der Hetze im Netz aufgehört, Xavier Naidoo hat Q-Anon abgeschworen, und wir alle haben diskriminierendes Vokabular aus unserem Sprachschatz gestrichen, selbst „Mohr-Rübe“ wurde ein Tabu. Frauen und Ossies wurden über Nacht gleich bezahlt wie die männlichen Wessies, die Flieger blieben auch nach Corona am Boden, weil wir alle eingesehen haben, dass man auch mit dem Fahrrad ganz schön rumkommt. In Südamerika wurden die Rinderweiden wieder aufgeforstet, Fleischfabrikhöllen von Tönnies und Co. wurden geschlossen, die Tiere alle freigelassen. Ich hab’ sogar gesehen, wie Armin Laschet aus der CDU einen Karnevalsverein gemacht hat, wie Saskia Esken mit ihrer strengen Gesichtsmuskulatur die SPD wieder auf Erfolgskurs gebracht hat, und Anna-Lena wurde Bundeskanzlerin. Leider bin ich aufgewacht. Es wird so sein, wie es Ernst Jandl sinngemäß gesagt hat: Auf ein Scheißentag folgt ein weiterer Scheißentag, auf ein Scheißenjahr ein neues Scheißenjahr. Bleibt heiter.
Foto: © bar
Nanu? Alles im grünen Bereich beim Green City Tower? Oder fehlt der namensgebende „Green“-Teil auf der Fassade des 52 Meter hohen Turmhauses neuerdings nur zufällig? Projektentwickler Peter Unmüßig will mit dem 52 Meter hohen Turm umwelttechnisch doch eigentlich hoch hinaus: 50.000 immergrüne Pflanzen wie Lavendel, Rosmarin, Waldfarn und Salbei sollen die 4300 Quadratmeter große Fassade als Deutschlands größte vertikale Vegetationsfläche einmal zieren und dabei jährlich bis zu 40 Tonnen Co2 binden. Fertiggestellt werden soll das Hochhaus im Dezember, in den angrenzenden Komplex sollen die ersten Mieter im Sommer ziehen können. pt
TESTEN STATT TANZEN
Foto: © tln
Volkmar Staub, geboren in Lörrach, lebendig in Berlin, vergibt im chilli die Rote Schote am goldenen Band.
Foto: © privat
Kleines Ratespiel: Wo haben wir dieses Foto geschossen? Das Testzentrum an der Messe ist es nicht. Erster Hinweis: Die Traversen inklusive Scheinwerfer an der Decke könnten helfen. Normalerweise wird hier gefeiert, getanzt, gechillt. Und man bleibt die halbe Nacht. Jetzt dauert der Schnelltest nur ein paar Augenblicke und man ist froh, wieder rauszukommen. Kennerinnen und Kenner wissen es längst: Das ist das Waldsee. Umfunktioniert zum Corona-Testzentrum. So viel zum Thema Kultur in der Krise. tln
FEBRUAR 2021 CHILLI 7
TITEL INTERVIEW
»VERPASSTE CHANCEN IN DER KRISE« FREIBURGS OBERBÜRGERMEISTER MARTIN HORN IM INTERVIEW MIT CHILLI-CHEFREDAKTEUR LARS BARGMANN ÜBER CORONA, SCHULDEN UND EIGENTORE
TITEL INTERVIEW
chilli: Herr Horn, am 27. April soll der Gemeinderat den Doppelhaushalt (DHH) für 2021 und 2022 beschließen. Den Entwurf haben Sie mit Finanz bürgermeister Stefan Breiter Anfang Dezember vorgestellt. Bis zu 90 Millionen Euro neue Schulden „wollen“ Sie machen. Und noch 33,5 Millionen aus Rücklagen nehmen. Warum das? Horn: Von wollen kann überhaupt nicht die Rede sein. Wir müssen neue Schulden machen. Wie Hunderte andere Kommunen auch. Wir hatten ein historisches Krisenjahr 2020, das massive Auswirkungen auf die Folgejahre haben wird. Zudem haben wir im Haushalt strukturelle Herausforderungen, Corona wirkt da als Beschleuniger, denn wir haben mehr Ausgaben und weniger Einnahmen. Das bedeutet Kreditaufnahmen aus Verantwortung unserer Stadt gegenüber. Wir können nicht aufhören, zu investieren, denn das wäre nicht nur Stillstand, sondern Rückschritt.
Foto: © Stadt Freiburg, Patrick Seeger
chilli: Der Gemeinderat soll 17 bereits gefasste Investitionsbeschlüsse zurückziehen, glauben Sie wirklich, das wird er? Horn: Das hoffe ich sehr. Der Gemeinderat hat das Hoheitsrecht für den Haushalt. Aber wir haben 2020 schon 50 Millionen Euro neue Schulden gemacht und rechnen nun im Worst Case mit weiteren 90 Millionen bis Ende 2022. Und trotzdem können wir nicht so viele Schulen sanieren wie es nötig wäre, wir können noch nicht mal in allen Schulen WLAN aufbauen. Außerdem müssen wir geplante neue Stellen trotz zahlreicher Aufgaben und Projekte drastisch reduzieren. chilli: Die Freien Wähler kritisieren, dass die guten Jahre nicht genutzt wurden, um Reserven zu bilden ... Horn: Die strukturelle Herausforderung kam nicht mit mir, die gab es schon in den Jahren zuvor. Wie hätten wir da R eserven bilden sollen? chilli: Strukturelle Defizite gab es unter Böhmes Regentschaft, das ist doch lange vorbei. In den vergangenen Jahren lag der Ergebnishaushalt stets im Plus, das Geld wurde aber wieder in Investitionen gepackt.
Horn: Dann nennen wir es strukturelle Schieflage. Der finanzielle Spielraum wird für uns von Jahr zu Jahr enger. Deshalb werden wir gegensteuern und starten einen Reform- und Priorisierungsprozess ... chilli: ... der vor allem in Wohnen, Schulen und Kitas, Digitalisierung, Klimaschutz und nachhaltige Mobilität investieren soll. Welche Schwerpunkte kristallisieren sich beim Beteiligungshaushalt heraus? Horn: Vieles, was schon Thema bei unserer Bürgerumfrage war. Gemeinderat und Verwaltung sind offenbar sehr nah dran an dem, was die Bürgerschaft bewegt. Viele Vorschläge wollen etwa mehr Klimaschutz.
»DIE DEBATTE WIRD EMOTIONAL« chilli: Andere die Aussetzung der Übernachtungssteuer. Horn: Die Steuer ist vielseitig umstritten, das kann ich in der aktuellen Lage nachvollziehen. Aber im Kern verstehe ich die Kritik nicht. Denn die Gäste zahlen die Steuer, nicht die Hoteliers, und wegen ein paar Euro mehr kommt niemand nicht nach Freiburg. chilli: Grüne Jugend Freiburg, Jusos Freiburg und Junges Freiburg fordern, 500.000 Euro beim Vollzugsdienst einzusparen. Horn: Das wundert mich nicht. Ich glaube, dass die jungen Menschen sich damit ein Eigentor schießen. Der Dienst ermöglicht auch das Nachtleben, weil wir auf Ruhestörungen eingehen können, bevor härtere juristische Maßnahmen nötig wären. chilli: Ein Vorschlag ist, den Flugplatz zu schließen, um die Flächen höherwertig zu nutzen. Horn: Die Debatte wird emotional geführt werden. Aber wir halten uns an bis 2031 laufende Verträge. chilli: Die Stadthalle möge fürs Museum für Neue Kunst umgebaut werden, mit Platz für Galerien ...
Horn: Ich habe großes Verständnis für die Kultur, in der aktuellen Lage können wir uns aber keine weiteren Ausgaben leisten, vor allem nicht dort, wo hohe Nachfolgekosten entstehen. chilli: Beim Doppelhaushalt 2019/2020 hat der Gemeinderat kurz vor der Ziellinie noch ein „Feuerwerk“ an Mehrausgaben durchgesetzt. Rechnen Sie damit am 27. April erneut? Horn: Wer Ausgaben veranlasst, trägt auch die Verantwortung für die extrem große Herausforderung eines bestmöglichen Haushalts. Ich bin guter Dinge, dass eine weitere Belastung des Haushalts nicht exorbitant zunimmt. chilli: Als der Haushaltsentwurf aufgestellt wurde, war der zweite Lockdown noch nicht da, muss nachjustiert werden? Horn: Sie treffen voll ins Schwarze. Wir haben den Entwurf auf Annahmen aus dem Oktober aufgestellt. Nun haben wir einen Lockdown im Dezember, im Januar, mindestens bis Mitte Februar. Es kommen noch hinzu der Verzicht auf die KITA-Gebühren, 1,4 Millionen Euro allein für den Januar, die Reduzierung der erwarteten Vorauszahlungen auf die Übernachtungssteuer um einen Millionenbetrag sowie die verringerte Vergnügungssteuer, das sind wieder viele Millionen Verschlechterung. chilli: Noch siebenstellig? Horn: Noch ja, aber es kann schnell zu einem niedrigen achtstelligen Betrag werden. Es geht einfach darum, dass wir jetzt zwar eine starke Bremsung hinlegen, aber nur, um nicht beim nächsten DHH eine unkontrollierte Vollbremsung machen zu müssen. chilli: Verschwindet das Motiv generationengerechtes Handeln hinter den Auswirkungen der Pandemie? Horn: Generationsgerechtigkeit ist in diesen Zeiten noch wichtiger und das versuchen wir ja auch in unserem DHH auszudrücken. Wir haben nicht nur eine Corona-, sondern auch eine Klimakrise. Wir brauchen Investitionen in Kitas, Schulen, bezahlbares Wohnen. Klimaund Artenschutz haben auch mit Gerechtigkeit zu tun, das ist ohne neue Schulden nicht möglich. FEBRUAR 2021 CHILLI 11
chilli: Der Zuspruch fürs Pandemiemanagement der Bundesregierung im Volk schwindet. Auch Sie selbst teilen längst nicht alle Verordnungen, die da immer ein bisschen zu viel ad hoc und mit Flickenteppichen, ein bisschen zu wenig mit strategischer Weitsicht erlassen wurden. Was erwarten Sie von Berlin und Stuttgart 2021? Horn: Freiburg war im März 2020 ein Hotspot, wir haben als erste Stadt ein Betretungsverbot ausgesprochen und so selber zum Flickenteppich beigetragen. Dann übernahmen die Länder die Regelungen mit unterschiedlichsten, oft auch zu kurzfristigen Verschärfungen. Viele Menschen verstehen das einfach nicht mehr. Ich kann etwa über eine 15-Kilometer-Regelung nur den Kopf schütteln. Da entfernt sich Politik zu weit weg von der Lebensrealität der Menschen. chilli: Die Länderchefs haben sich profiliert und dafür ein großes Durcheinander akzeptiert. Horn: Die Einschätzung teile ich. Ich finde es jetzt sehr wichtig,ein Öffnungsszenario nicht auch wieder im Flickenteppich-Stil zu machen. Was passiert denn, wenn Freiburg bei der Inzidenz unter 50 rutscht. Können, müssen wir dann sofort etwas ändern? Müssen wir unsere Masken pflicht in der Innenstadt aufheben? Wie ist die Rechtslage? Es ist auf jeden Fall zu verhindern, dass der eine Landkreis das anders macht als der andere Stadtkreis. Wir brauchen klare Maßstäbe, wie lange halten wir an was fest oder eben nicht.
Foto: © Stadt Freiburg, Patrick Seeger
TITEL INTERVIEW
Martin Horn: „Über 15-Kilometer-Regelungen kann ich nur den Kopf schütteln“
aber überwiegend bei den Großen. Ob es alle schaffen, zurückzukommen, muss man sehen. Ich freue mich, dass wir noch vor dem Sommer einen Innenstadtkoordinator einstellen. Er oder sie soll für die Händler und Gewerbetreibenden, die zentrale Ansprechperson bei der Stadt sein und neue Akzente setzen. chilli: Die Verwaltung hat für die Absage eines neuen Eisstadions von vielen Seiten Kritik geerntet. Wie gehen Sie damit um? Horn: Wir haben in verschiedenste Richtungen alles ernsthaft geprüft und sagen nun ehrlich, dass das jetzt nicht geht. Wie wir jetzt noch einen zweistelligen Millionenbetrag im Kernhaushalt darstellen sollen, soll mir mal einer erklären. chilli: Das Rathaus ist doch geübt im Investieren außerhalb des Kernhaushalts … Horn: Natürlich hat auch ein Investorenoder ein anderes externes Modell hohe Folgekosten für die Stadt. Wir prüfen w eiter.
chilli: Die Leute sind pandemiemüde … Horn: In der jetzigen Phase nehme ich auch Resignation wahr, auch in meinem Bekanntenkreis. Wir müssen der Bevölkerung Mut zusprechen, brauchen positive Nachrichten. Wir hatten lange die landesweit niedrigsten Inzidenzen. Freiburg hat sich offenbar hervorragend verhalten. Und die Freiburger können sich auf die Stadtverwaltung verlassen.
chilli: Gibt es Angebote von Investoren? Horn: Zwei.
chilli: Werbung könnte auch die Innenstadt gebrauchen, dort wächst die Leerstandsquote. Horn: Wir können noch gar nicht abschätzen, wie stark und dauerhaft der Innenstadthandel geschädigt ist. Die Menschen haben jetzt ein Jahr fast nur online gekauft, auch bei lokalen Händlern,
chilli: Auf einem ebensolchen wandelt auch die EU. Die Union hat mit „Great“ Britain ein wichtiges Mitglied verloren, die Idee Europa mag für viele noch Strahlkraft haben, anderen scheint sie mehr und mehr zu einer Geber- und Nehmergesellschaft zu verkommen. Hat Europa ein gutes oder ein schlechtes Jahr hinter sich?
12 CHILLI FEBRUAR 2021
chilli: Glauben Sie, dass die DEL die schon gefühlt ewig nur mit einer Ausnahmegenehmigung lizenzierte Arena über 2024 hinaus zulässt? Horn: Das ist meine große Hoffnung. Wir sind an der Stelle auf dünnem Eis unterwegs.
Horn: Ich bedaure den Brexit, aber Europa ist auch ohne Großbritannien lebendig. Europa ist auf der einen Seite enger zusammengerückt, auf der anderen gibt es auch Kleinstaaterei. Natürlich müssen wir bei solchen Themen wie dem Impfstoff europäisch denken. Wir haben ganz enge Kontakte nach Frankreich und in die Schweiz. Ich bin ein junger, überzeugter Europäer, in Krisenzeiten mehr denn je. chilli: Die Regierungen in Polen und Ungarn halten nicht so viel von dem, was wir Rechtsstaatlichkeit nennen … Horn: Aktuell haben wir ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, ich hoffe, dass das künftig wieder mehr im Gleichschritt passiert. chilli: Was sind für Sie vor Ort die wichtigsten Weichenstellungen in 2021? Horn: Die Landtags- und Bundestagswahlen werden uns intensiv beschäftigen, ebenso das Thema weiterer Rettungspakete für Kommunen und die Schwerpunkte im Haushalt. Ich hoffe auf eine nachhaltige Eindämmung der Pandemie, damit wir uns wieder auf die eigentlichen Herausforderungen konzentrieren können und die Stadtgesellschaft wieder belebt wird. chilli: Worüber haben Sie sich am meisten geärgert? Horn: Die ganze Bürgermeisterbank ist enttäuscht, wie schlecht die Auszahlung der Hilfen für die notleidenden Unternehmen läuft. Zudem sehe ich verpasste Chancen in der Krise. Anstatt umzusteuern und neue, zukunftsorientierte Wege zu gehen, wurde der alte Zustand teilweise durch viel, viel Geld zementiert. chilli: Herr Horn, Danke für dieses Gespräch.
KONTOVERS VIDEOÜBERWACHUNG
D
KONTROVERS
ie Videoüberwachung des öffentlichen Raums ist immer ein Streitthema. Auch in Freiburg, wo nun schon seit einem Jahr 16 neue Kameras hängen. Die Ausweitung der Videoüberwachungszone umfasst die Bereiche des „Bermudadreiecks“ sowie die untere Bertoldstraße zwischen Theater und Stadtbahnbrücke. Geplant ist das – zwischen 22 und 6 Uhr – schon lange. Wegen Corona und nächtlichen Ausgangssperren fehlt derzeit aber die Rechtsgrundlage zum Scharfschalten. In unserer neuen Rubrik „KONTROvers“ argumentieren jeweils Protagonisten aus zwei Lagern.
»IRRATIONALE ÄNGSTE«
WARUM SERGIO PAX NOCH MEHR BIG BROTHER FALSCH FINDET
Foto: © Felix Groteloh
Wir als JUPI Fraktion im Freiburger Gemeinderat verurteilen die Anbringung der Überwachungskameras in der Freiburger Innenstadt. Für eine offene und freie Gesellschaft sind Bürgerrechte essenziell. Jede Bürgerin und jeder Bürger Freiburgs hat ein Recht auf Privatsphäre und dies gilt auch im öffentlichen Raum. Dieses Grundrecht wird durch die Überwachung in Teilen der Innenstadt nun zugunsten von einer vermeintlichen Sicherheitsutopie eingeschränkt. Ich sage bewusst vermeintlich, denn die Wirksamkeit von Überwachungskameras,
Sergio Pax, Stadtrat, stellvertretender Vorsitzender der JUPI-Fraktion im Rathaus
14 CHILLI FEBRUAR 2021
um schwere Straftaten zu verhindern, ist wissenschaftlich umstritten. Einzig sicher ist, dass die Aufklärung von solchen in Einzelfällen durch Videoüberwachung verbessert werden kann. Doch Strafverfolgung ist ein sensibles Thema, an diesem Punkt sehen wir den Eingriff in die individuellen Freiheitsrechte durch die Polizei nicht gedeckt von dem erhofften Effekt auf eine bessere Sicherheitslage. Freiburg ist statistisch gesehen eine sichere Stadt. Auch wenn jede Straftat eine zu viel ist, bleibt die Wahrscheinlichkeit, hier Opfer eines Verbrechens zu werden, sehr gering. Dieses Auseinanderklaffen von statistischen Zahlen und gefühlter Realität sollte wieder mehr im Fokus kommunalpolitischer Anstrengungen stehen. Denn eine Gesellschaft ohne Kriminalität ist eine konservative Utopie und ein gängiges populistisches Wahlversprechen. Wir würden uns hier von den selbsternannten Retter*innen des Rechtsstaates mehr Ehrlichkeit wünschen. Ein Blick in die Kriminalitätsstatistik zeigt, in den letzten zehn Jahren gab es immer wieder Jahre mit mehr und
auch mit weniger Straftaten. Zu einem Rechtsstaat gehört auch elementar die Unschuldsvermutung dazu. Mit einer flächendeckenden Überwachung wird erstmal jede*r, der sich in dem Sichtfeld der Kameras bewegt, als potenziell Verdächtigte*r geführt. Dies ist mit unserem Begriff eines liberalen Rechtsstaates nicht vereinbar. Gegen Ängste hilft nur Aufklärung. Diese Aufklärung erreicht der Staat allerdings nicht, wenn er kontinuierlich auf repressive Maßnahmen setzt. Denn so bestätigt er die oft irrationalen Ängste vieler unserer Mitbürger*innen, anstatt diese durch einen Abgleich mit der faktischen Realität zu zerstreuen. Eine verantwortungsbewusste Politik muss die Motive für kriminelles Handeln in den Fokus nehmen. Videoüberwachung ist teuer, die Gelder, die hier ausgegeben werden, wären in Maßnahmen, die nachhaltig kriminelle Karrieren verhindern können, wie Sozialarbeit, der Prävention von Armut und besserer Bildungsangebote, weitaus sinnvoller angelegt. Sergio Pax
KONTOVERS VIDEOÜBERWACHUNG
Schön in Hausfarbe: Wann die neuen Kameras mit den Aufzeichnungen anfangen, ist derzeit noch unklar.
Fotos: © Michael Bamberger
»BAUSTEIN GUTER ARBEIT«
WARUM POLIZEICHEF FRANZ SEMLING MEHR VIDEO SINNVOLL FINDET nicht so sicher ist, wie sich das die Bürgerinnen und Bürger und die Polizei wünschen. Zu bestimmten Zeiten schauen unsere Kolleginnen und Kollegen im Lagezentrum auf die Bildschirme und können sehen, wo sich Schlägereien anbahnen oder welche Menschen sich aggressiv verhalten. Sie können so die Einsatzkräfte dorthin lotsen, wo es gerade „brennt“. Videoüberwachung ist kein Instrument eines Überwachungsstaats, sondern ein Hilfsmittel der Polizei, um einen Bereich, in dem sie mit Einsatzkräften präsent ist, besser zu überblicken. Der Blick von „oben“ hilft uns, Gefahren besser zu erkennen und schneller bei den Menschen zu sein, die unsere Hilfe brauchen. Nur an Kriminalitätsbrennpunkten und nur zu den Zeiten, in denen es wirklich notwendig ist, brauchen wir die Videoüberwachung. Bei uns in Freiburg sind es das „Bermudadreieck“ und die „Untere Bertoldstraße“, die mit überproportional vielen Straftaten, insbesondere Gewalttaten, auffallen. An diesen beiden Orten und nur in den Brennpunktzeiten am Wochenende wollen wir Videoka-
meras einschalten, wenn die Pandemie den Gastronomiebetrieb wieder zulässt und damit erfahrungsgemäß auch die Straftaten zurückkehren. Es wäre den Menschen in dieser Stadt kaum vermittelbar, dass die Polizei auf moderne Technik verzichtet, die sie in ihrer Arbeit unterstützt. In dem von uns geplanten Umfang hat die Videoüberwachung nichts mit einer anonymen Kontrolle zu tun, sondern ist Bestandteil moderner Polizeiarbeit im Dienste der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger. Franz Semling
Foto: © PP Freiburg
Manches Pro beginnt mit einem Nein. Manchmal sogar mit drei Nein. Nein, die Videoüberwachung ist kein Allheilmittel der Kriminalitätsbekämpfung, sie ersetzt nicht die klassische Polizeiarbeit mit Präsenz und Ermittlungen. Nein, Videoüberwachung brauchen wir nicht in jeder Straße. Denn Freiburg ist eine sichere Stadt. Sie hat, wie andere Großstädte auch, eine höhere Kriminalitätsbelastung als andere Teile des Landes, aber viele registrierte Straftaten werden nicht im öffentlichen Raum verübt. Und nochmals nein, Videoüberwachung wird auch nicht dazu führen, dass sich jede Person von der Anwesenheit der Kameras abschrecken lässt und sich gesetzestreu verhält. Aber Videoüberwachung ist ein Baustein moderner Polizeiarbeit. Die Videotechnik hat sich qualitativ weiterentwickelt und liefert hochauflösende Bilder, die einen genauen Blick in die Straße ermöglichen. Vorbei sind die Zeiten grobkörniger Schwarzweißbilder, auf denen kaum etwas zu erkennen ist. Deshalb können wir mit der Videoüberwachung dorthin blicken, wo Freiburg eben noch
Franz Semling, seit 1. April 2019 Leiter des Freiburger Polizeipräsidiums
FEBRUAR 2021 CHILLI 15
HINTERGRUND NATURSCHUTZ
Foto: © NABU /Kathleen Gerber
WER HAT ANGST VORM WILDEN WOLF EXPERTEN RECHNEN MIT RUDELBILDUNG, HERDENSCHUTZ UNABDINGBAR
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er Wolf spaltet die Gemüter – und er kommt näher. Neun der unter Naturschutz stehenden Tiere sind in Baden-Württemberg bisher nachgewiesen, einer davon bei Merzhausen, zwei weitere Rüden haben sich im Schwarzwald niedergelassen. Ein Schäfer ist beunruhigt, ein Wissenschaftler erklärt aber, dass ein weitgehend friedliches Zusammenleben von Wolf, Mensch und Herdentier möglich ist. Zumindest, wenn jetzt gehandelt wird. Jürgen Seywald ist Schäfer seit er denken kann. Wie es für ihn und seine Herde weitergeht, ist momentan jedoch unsicher. Die Ansiedlung des Wolfes bereitet dem Freiberufler aus Ballrechten-Dottingen Sorgen und deutlich mehr Arbeit. „Den Schaden haben wir, der Arbeitsaufwand wird nicht gezahlt, wir kriegen zwar den Zaun, aber was ist, wenn der Druck durch mehr Wölfe größer wird?“ Für Seywald und andere Nutztierhaltende gibt das baden-württembergische Umweltministerium vor, dass die Herden durch Elektrozäune zu schützen sind. „Das ist halt auch ein hoher Arbeitsaufwand, wenn ich da jeden Tag vormähen, aufbauen, dokumentieren muss. So im Schnitt sagt man täglich zwei Stunden mehr“, klagt der Schäfer. 16 CHILLI FEBRUAR 2021
„Es gibt das Fördergebiet Wolfsprävention, das ist der ganze Schwarzwald. Auf diesen Flächen können großzügige Förderungen beantragt werden“, erklärt Micha Herdtfelder, Leiter des Arbeitsbereichs Luchs und Wolf der Forstlichen Versuchsanstalt Baden-Württemberg (FVA). Damit verbunden sei aber, dass alle, die Schafe, Ziegen und Gatterwild halten, innerhalb eines Jahres die Vorgaben, etwa Schutzzäune oder Herdenschutzhunde, umsetzen. Andernfalls gibt es im Schadensfall keine Ausgleichszahlung durch das Land. Er rechne außerdem damit, dass sich bereits in den nächsten Jahren Rudel bilden. Wurden die Wölfe anfangs nur im Schwarzwald gesichtet, hatte sich zuletzt im November
HINTERGRUND NATURSCHUTZ
ein durchstreifendes Tier der Stadt Freiburg genähert und in Merzhausen ein Schaf gerissen. Dass die Probleme, die der Wolf verursacht, ernst zu nehmen sind, er aber gleichzeitig auch helfen kann, erklärt Herdtfelder so: „Wölfe bevorzugen eher kranke und schwache Tiere. Das heißt, sie können in gewissem Maße dazu beitragen, dass ein Wildbestand gesünder ist.“
Fotos: © FVA, tln
GEJAGTE SIND NICHT SCHUTZLOS AUSGELIEFERT Der Wolf habe eine ökologische Funktion, schließlich fresse er zu 99 Prozent Wildtiere. Gerade die Interaktion zwischen Beutetieren und Beutegreifern sei eine wesentliche Triebfeder der Evolution. „Die Gejagten sind dem Wolf keinesfalls schutzlos ausgeliefert. Sie haben Feindvermeidungsstrategien, die dazu führen, dass die Zahl der Beutetiere von Wölfen in der Regel nur bedingt beeinflusst wird“, so der Experte. Von den beiden Schwarzwälder Wölfen mit den klangvollen Namen GW852m und GW1129m sind keine spürbaren Auswirkungen auf Wildbestände zu erwarten, erklärt der Sachkundige: „Selbst wenn wir im Schwarzwald flächendeckend Rudel hätten, ist trotzdem das, was sie an Nahrung brauchen, sehr viel weniger als das, was Jäger entnehmen oder auf den Straßen stirbt.“ Menschen gegenüber seien vor allem erwachsene Wölfe sehr zurückhaltend und mieden den Kontakt sowie Städte – in aller Regel. „Die Sorgen beispielsweise der Spazierenden sind dennoch ernst zu nehmen, auch wenn sie relativiert werden können", betont Herdtfelder. Aus fachlicher Sicht sind auch die Befürchtungen der Herdentierhaltenden relevant: „Nutztiere sind ohne Herdenschutz gefährdet, obwohl die Nahrung nur ein Prozent Nutztiere ausmacht.“ Eine Koexistenz sei also nur dann möglich, wenn Tierhaltende die Unterstützung kriegen, um die Herden zu schützen und die intelligenten Wölfe Grenzen zu lehren. Auch Nicolas Schoof und Albert Reif von der Professur für Standorts- und Vegetationskunde der Universität Freiburg forschen rund um den Wolf. Um die Beweidung der für den Naturschutz wichtigen Flächen durch Nutztiere zu sichern, schlagen sie die Jagd problematischer Einzeltiere vor. Für Herdt felder ist das nichts Neues: „Das ist Standard, das geht durch das Bundesnaturschutzgesetz, da gibt es Ausnahmeregeln.“ Die Voraussetzung sei, dass zuvor alle zumutbaren Maßnahmen wie beispielweise die Zäunung ergriffen wurden. Dass Wölfe Nutztiere fressen, bliebe aber eher die Ausnahme und nur, wenn einer gelernt habe, sachgerechten Schutz regelmäßig zu überwinden, könnte er „entnommen“ werden. „Um eine solche Entwicklung zu vermeiden, muss der Herdenschutz möglichst schnell umgesetzt werden.“ Schäfer Seywald hofft nun, dass er die nächsten paar Jahre mit dem Elektrozaun klarkommt. „Dann wird sich weisen, was passiert. Die Gesellschaft will den Wolf, wir wollen ihn nicht, und eigentlich kann noch keiner sagen, was da auf uns zukommt.“
Steht als Vermittler zwischen den Fronten: Micha Herdtfelder (o.) von der Forstlichen Versuchsanstalt Baden-Württemberg. ANZEIGE
Liliane Herzberg FEBRUAR 2021 CHILLI 17
LANDTAGSWAHL BADEN-WÜRTTEMBERG
KRETSCHMANN DEUTLICH VOR EISENMANN D
as deutsche S uperwahljahr 2021 startet am 14. März mit den Landtagswahlen in BadenWürttemberg und in Rheinland-Pfalz. Es startet mit freien Wahlen in einer liberalen Demokratie. Selbstverständlich. Könnte man denken. Aber die vergangenen Jahre haben gezeigt – nicht zuletzt in der größten und einer der ältesten Demokratien der Welt -, dass freie, faire Wahlen zunehmend etwas Besonderes und nichts Selbst verständliches sind. 70,4 Prozent der Wahlberechtigten, gut 5,4 Millionen, hatten am 13. März 2016 den 16. Landtag im Ländle gewählt. Es war die beste Beteiligung seit den 80er-Jahren. Ein gutes Zeichen. Mehr als 2,2 Millionen Bürger hatten diese Wahl aber auch nur mit einem Schulterzucken quittiert. Es steht zu hoffen, dass am 14. März deutlich weniger Menschen nicht an die Urne gehen. Nicht zuletzt, um das Besondere wertzuschätzen. 58 Jahre lang hatte in Baden-Württemberg die CDU den Ministerpräsidenten 18 CHILLI FEBRUAR 2021
gestellt, sich in den Chefsessel in der Villa Reitzenstein gesetzt. Der 27. März 2011 markierte – direkt nach der verheerenden Fukushima-Katastrophe – einen Wendepunkt. Seither ist der Grüne Winfried Kretschmann Landesvater, fünf Jahre lang regierte er mit der SPD, seit 2016 ist die CDU der Juniorpartner in der Koalition.
»RINGEN UM CHEFSESSEL IN DER VILLA« Das könnte auch so bleiben: Nach der repräsentativen Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen fürs Politbarometer vom 5. Februar behaupten die Grünen ihre Spitzenposition mit 34 Prozent vor der CDU mit 28 Prozent. Die AfD kommt auf 11, die SPD auf 10 die FDP auf 9 – und alle anderen zusammen auf 5 Prozent. Viel mehr als ein Stimmungsbild ist das nicht. Dass aber Kretschmann in der Gunst
der Bürgerschaft mit 70 Prozent fast eine Stadionrunde vor der CDU-Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann (13) liegt, ist mehr als das: Selbst unter den CDU-Wählern hat die Kultusministerin der Umfrage zufolge nur 22 Prozent Zuspruch. Am 13. März 2016 war erstmals auch die AfD in den Landtag eingezogen, hatte aus dem Stand mit 15,1 Prozent die SPD (12,7) rechts überholt. Am 14. März 2021 treten nun zum ersten Mal die Freien Wähler an, die in beiden Freiburger Wahlkreisen (siehe Infobox) den Fraktionsvorsitzenden und Rechtsanwalt Johannes Gröger in den Ring schicken. „Die Freien Wähler sitzen bereits in vielen Kommunalparlamenten. Es basierte auf alten Absprachen, vor allem mit der CDU, dass wir nicht für den Landtag kandidiert haben. Da wir aber nicht mehr restlos begeistert sind, wie die CDU die bürgerlichen Interessen vertritt, wollen wir nun selber rein“, begründet Gröger. Als wichtigste Themen nennt der 65-Jährige den Ausbau des Bildungs-
Foto: © iStock.com/no limit pictures
BEI DER WAHL ZUM 17. LANDTAG IN BW KÄMPFEN AUCH NEULINGE GEGEN ARRIVIERTE
LANDTAGSWAHL BADEN-WÜRTTEMBERG
standorts; einen – wie beim Müll – umlagefinanzierten ÖPNV; massiv größere Fördertöpfe für den sozialen Wohnungsbau; einen Bürokratieabbau, vor allem beim Bauen; einen Klimaschutz, der nicht verordnet, sondern durch die Förderung der Innovationskraft der Wirtschaft erreicht wird sowie eine Ausbildungs- und Imageoffensive für die berufliche Ausbildung. Ob die Freien Wähler aus dem Stand die Fünf-Prozent-Hürde nehmen könnten? Erstmals ein Stück vom Kuchen, den sich aktuell Grüne (47 Sitze), CDU (42), AfD (23), SPD (19) und die FDP (12) im Parlament teilen, wollen auch die Basisdemokratische Partei Deutschland (dieBasis), die – im vergangenen September in Freiburg gegründete – Klimaliste Baden-Württemberg, Volt und WIR2020 haben. Aus dem Freiburger Gemeinderat kandidiert auch Nadyne Saint-Cast (Grüne), im Landtag sitzt bereits seit zehn Jahren die einstige Freiburger Stadträtin Gaby Rolland (SPD), seit fünf Jahren auch der für die AfD erneut kandidierende Daniel Rottmann, der in Ulm lebt. Diese drei debattierten am 8. Februar zusammen mit dem CDU-Kan-
didaten Manuel Herder und Marianne Schäfer (FDP) über wirtschaftspolitische Ziele in einem neuen Landtag. Der Arbeitgeberverband Südwestmetall, die Handwerkskammer Freiburg und die Industrie- und Handelskammer Südlicher Oberrhein hatten eingeladen, BZ-Wirtschaftsredakteur Jörg Buteweg moderiert.
» WAHLKAMPF WANDERT INS INTERNET « Saint-Cast und Schäfer forderten dabei, dass die öffentliche Hand schnell eine bessere Infrastruktur (Breitband, 5G) zur Verfügung stellen müsse, Herder („die Unternehmen leiden fürchterlich“) und Schäfer plädierten für steuerliche Erleichterungen für die Firmen (Verlustrückträge), Rolland sieht das Land in der größten Wirtschaftskrise seit 2008 in der Pflicht, noch viel mehr zu helfen, was es problemlos könne. Rottmann fordert „so schnell wie möglich wieder zu öffnen“, dort, wo es taugliche Hygienekonzepte gebe. Das Schlagwort
„Bürokratieabbau“ führen alle im Munde, ohne jedoch etwas Konkretes dazu sagen zu können. Der politische Wettbewerb wandert in Pandemiezeiten vermehrt ins Internet. Neben dem Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung gibt es neuerdings auch einen WahlSwiper, der wie eine Dating-App funktioniert: Wischt man auf einem Smartphone nach links oder rechts, stimmt man einer der 33 Fragen zu oder lehnt ab. Danach kann man sehen, inwiefern die eigenen Antworten mit denen der Parteien übereinstimmen. Es gibt zusätzliche Erläuterungen und Erklärvideos. Ein Team um den Freiburger Politikwissenschaftler Uwe Wagschal hatte die Positionen und Parteiprogramme der kandidierenden Listen zuvor ausgewertet. Demnach liegen die Antworten von Linken und der AfD tatsächlich am weitesten auseinander, am ähnlichsten sind sich Grüne und SPD, aber auch im sogenannten bürgerlichen Lager gibt es große Überschneidungen zwischen der CDU und der FDP. Die Parteien der aktuellen Koalition haben inhaltlich übrigens keine besonderen Schnittmengen. Lars Bargmann
DAS SIND DIE FREIBURGER KANDIDIERENDEN PARTEI/INITIATIVE
C dieBasis
KlimalisteBW W2020
KANDIDATEN: WAHLKREIS 46
KANDIDATEN: WAHLKREIS 47
Daniela Evers
Nadyne Saint-Cast
Manuel Herder
Dr. Arndt Michael
Daniel Rottmann
Karl Schwarz
Jennifer Sühr
Gabriele Rolland
Marianne Schäfer
Marianne Schäfer
Pascal Blank
Imke Pirch
Peter Uhrmeister
Britta Kangas
Kai Koebel
Michael Kühn (Dita Whip)
Prof. Dr. Johannes Gröger
Prof. Dr. Johannes Gröger
Julius Erminas
Norbert Gießler
Wolfgang Daubenberger
Sabine Kropf
Alexander Grevel
Fabian Aisenbrey
Malte Wendt
Kay Michel
Lisa Weinfurtner
Franz-Josef Siegemund
Links: www.voteswiper.org/de/germany | www.landtagswahl-bw.de | www.wetalkfreiburg.de/live | www.wahl-o-mat.de FEBRUAR 2021 CHILLI 19
HINTERGRUND VERKEHR
Wirrwarr: Schilder so weit das Auge reicht stehen in Freiburg - auch hier an der B31. Experten sind sich einig: Das muss weniger werden.
KAMPF DEM SCHILDERWAHN SOLL FREIBURG TEMPO 30 ALS REGELGESCHWINDIGKEIT BEKOMMEN?
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Fotos: © tln, Kai-Uwe Wudtke, privat
nfang Dezember hatte sich Oberbürgermeister Martin Horn in einem Videostatement und einem Brief an Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer gewandt. Er bittet darum, Tempo 30 in Freiburg als neuen Standard zu testen. Freiburg wäre die erste Stadt Deutschlands für den Modellversuch. Viele Autofahrer reagierten erbost. Das chilli hat Experten gefragt: Wie sinnvoll ist so ein Versuch? „Für so nen Schwachsinn wurden Sie sicher nicht gewählt!!!“ So lautet einer von mehr als 1000 Kommentaren unter dem Facebook-Video des Oberbürgermeisters. Wenig angetan zeigt man sich auch beim ADAC Südbaden. „Eine ideologische Brechstange für Verkehrspolitik“ sei das, so Vorstandsmitglied Alfred Haas. Zudem „halbherzig vorgetragen“. Den gleichen Vorwurf macht er Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann, der Horns Vorstoß unterstützt. „Tempo 30 ist viel sicherer als Tempo 50“, ließ sich Hermann in einer Pressemitteilung des Rathauses zitieren. Haas stellt klar, dass der ADAC gegen einen zweijährigen Modellversuch für flächendeckendes Tempo 30 ist. Weder für die Sicherheit noch für die Umwelt oder den Verkehrsfluss sei das von Vorteil. Hauptgrund ist für ihn der Ausweichverkehr: „Vom ADAC untersuchte Modelle in Berlin haben gezeigt, dass sich insbesondere Ausweich- und Schleichverkehre durch sensible Wohn20 CHILLI FEBRUAR 2021
gebiete sehr negativ ausgewirkt haben.“ Auch der Ausstoß von Stickoxiden und CO2 sei bei Tempo 30 nicht geringer geworden. Horn hält dagegen: Die Regelung hätte „einen immensen Vorteil für uns alle“, erklärt er im Video. Weniger Straßenschilder würden auch Autofahrern zugutekommen. Er steht für sein Video in einer 30er-Zone, im Umkreis von 200 Metern gebe es dort vier verschiedene Temporegelungen: „Da blickt keiner mehr durch.“ Horn betont, dass es auch im Modellversuch Straßen mit 50, 70, 80 oder 100 Stundenkilometer-Limits gebe. Diese würden mit Schildern gekennzeichnet. Durch die Änderung könne man in Freiburg „wahrscheinlich über 1000 Schilder entfernen“. Beim Schilderwahn gibt ihm Alfred Haas vom ADAC recht. „Das ist ein wirkliches Durcheinander in der Stadt, es gibt viel zu viele Schilder.“ Dennoch würde er höchstens eine einheitliche Tempo-30-Regelung in Wohngebieten begrüßen. Auf großen Straßen müssten weiterhin „intelligente Lösungen“ her, Entscheidungen von Fall zu Fall. Für die Busse der Freiburger Verkehrs AG hätte Tempo 30 jedenfalls „keine wesentlichen Auswirkungen“, sagt Sprecher Andreas Hildebrandt. Und die Trams dürften auf separatem Gleiskörper auch schneller fahren. Begeistert ist die Freiburger Gruppe des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs ADFC. „Wir finden das super“, sagt Pres-
HINTERGRUND VERKEHR
sesprecher Frank Borsch. Zentrales Argument ist für ihn die Sicherheit: „Das ist ein ganz anderes Level für Radfahrer bei weniger Geschwindigkeit.“ Dass der Punkt umstritten ist, führt Borsch zu einer einfachen Antwort: „Dann müssen wir es testen.“ Schließlich sei so ein Versuch großflächig und langfristig nie gemacht worden. Borsch sieht viele weitere Vorteile: Zum einen sei der Modellversuch „spottbillig“. Zum anderen gewinne ganz Freiburg: „Alles, was nicht tonnenweise durch die Stadt fährt, nutzt der Lebensqualität.“ Auch Autofahrer würden profitieren. Schließlich sei jeder mal mit dem Rad oder zu Fuß unterwegs. Mit mehr Distanz schaut Peter Wagner auf die Debatte. Der Verkehrsforscher des DLR Instituts für Verkehrssystemtechnik (und der Technischen Universität Berlin) befasst sich mit Verkehrsflüssen. Den Ansatz, Schilder zu reduzieren, begrüßt er. „Komplexität rauszunehmen, ist sicher eine gute
MEHR ALS 1000 SCHILDER ABBAUEN Idee.“ Tempo 30 sei deswegen aber nicht zwingend gut. Wagner sieht Vor- und Nachteile: Die Fahrtdauer für Autos verlängere sich. Dafür sinke der Schadstoffausstoß. Auch die Schwere der Unfälle sinke. „Selbst Hardcore-Autofahrer müssen das zugeben“, sagt der 61-Jährige. Schwierig sei jedoch die Frage, ob es tatsächlich weniger Unfälle gäbe. Das zeigen auch die Gegensätze bei ADAC und Umweltbundesamt. Im Pround-Contra-Papier des Autoclubs heißt es: „Auf Hauptverkehrsstraßen haben vor allem die bauliche Gestaltung und signaltechnische Steuerung der Knotenpunkte entscheidenden Einfluss auf die Verkehrssicherheit.“ Das Umweltbundesamt wiederum schreibt zu Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen: „Unfallzahl und Unfallschwere nehmen schon wegen der physikalischen Zusammenhänge grundsätzlich mit steigenden Geschwindigkeiten zu.“ Reaktionsweg und Bremsweg seien die
entscheidenden Faktoren. Es gebe jedoch wenige empirische U ntersuchungen. Eine abschließende Beurteilung sei daraus noch nicht ableitbar. Auch in Sachen Ausweichverkehr widerspricht Verkehrsforscher Wagner dem ADAC: „Es wird passieren, aber ich denke, der Effekt ist nicht so groß. Durch das Rechts vor Links, parkende Autos und sonstige Hindernisse überlege man sich zweimal, ob man wirklich ins Wohngebiet ausweiche. Mit Blick auf alle Pros und Contras plädiert der Forscher für den Modellversuch. Für Autofahrer sei das zwar ungünstig, am Ende jedoch eine Interessensabwägung. „Ich würde sagen: Ja, probiert’s“, resümiert Wagner. „Wenn überhaupt, dann in Freiburg.“ Horn wartet indes auf Antwort vom Bundesverkehrsministerium. Dort hat man jedoch schon durchklingen lassen, dass ein Modellversuch schwierig sei. Nach derzeitigem Stand. Im Thema ist aber Bewegung. Nach Horns Vorstoß fordert die Linke in Leipzig denselben Versuch für ihre Stadt. Gleiches wollen die Grünen in München erreichen, was für Turbulenzen sorgt. Und in Niedersachsen wurde ein Vorhaben für Tempo-30-Test-Straßen gerade gestoppt. Der kuriose Grund: Die Gemeinden haben zu viele Vorschläge eingereicht. Auch für die Freien Wähler in Freiburg ist Horns Vorschlag ein Ärgernis. Schon im März hatte die Fraktion den OB wegen Tempo 40 angeschrieben. Sie wollten wissen, „ob die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Einführung einer in der gesamten Stadt geltenden Geschwindigkeitsvorgabe und Höchstgeschwindigkeit von 40 km/h bestehen“. Die Antwort sei „Nein“ gewesen. Und dann kam plötzlich der Tempo-30-Vorstoß des OB – ein „erneuter Alleingang des Oberbürgermeisters zu einem Thema mit weitreichender Bedeutung“. In Freiburg geht derweil die Drosselung weiter – auch ohne Modellversuch. Seit dem 18. Januar gilt auf einem Abschnitt der Lehener Straße ganztägig Tempo 30. Zuletzt sind zudem auch die B31, die Eschholzstraße und die Zähringer Straße zeitweise oder durchgehend limitiert worden. Das Pariser Rathaus will flächendeckendes Tempo schon in Kürze umsetzen. Brüssel hat es am 1. Januar bereits getan. In Frankfurt und Stuttgart
gelten mittlerweile großflächige Tempo40-Zonen. Auch der Deutsche Städtetag plädiert seit Jahren für Tempo 30. In puncto Verkehrssicherheit scheint das Limit sinnvoll. So hat das Bundesverkehrsministerium gerade auf eine Grünen-Anfrage verlauten lassen, dass Tempo-30-Zonen nachweislich Kinder schützen. 80 Prozent der Innerorts-Unfälle mit Kindern unter 14 Jahren seien 2019 in Straßen passiert, die mehr als Tempo 30 zulassen. Till Neumann
Fahrrad-Club-Sprecher: Frank Borsch
Verkehrsforscher: Peter Wagner
ADAC-Experte: Alfred Haas
FEBRUAR 2021 CHILLI 21
SZENE GESUNDHEIT
Viele leere Stühle: Im Freiburger Impfzentrum können viele Kapazitäten nicht genutzt werden.
FLASCHENHALS IMPFSTOFF WEGEN MANGELNDER VAKZINE LÄUFT DAS IMPFZENTRUM IN FREIBURG MIT ANGEZOGENER HANDBREMSE
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und 27.000 Nadeln wurden im Zentralen Impfzentrum Freiburg (ZIZ) gegen das Coronavirus bis zum Redaktionsschluss Mitte Februar gesetzt. Dazu kommen 15.000 Spritzen von mobilen Teams. Auf 6000 Quadratmetern könnte das ZIZ jeden Tag bis zu 2200 Menschen impfen, doch fehlende Impfstoffe bremsen die Arbeit der Ärzte. Viele Freiburger bemängeln derweil Chaos bei der Terminvergabe. „Mit 1850 Impfungen haben wir heute unseren Höchstwert aufgestellt“, sagt Frank Uekermann, Leiter des Freiburger Garten- und Tiefbauamts, im Januar. Mitte November wurde der Ingenieur von Oberbürgermeister Martin Horn mit dem Auftrag betraut, die Logistik für den Start des Zentrums am 27. Dezember zu übernehmen. Gerne würde der 46-Jährige mehr Impfungen an der Messe anbieten. „Aber der Flaschenhals ist der Impfstoff“, betont er. Täglich möglich wären im Freiburger Impfzentrum bis zu 2200 Nadelstiche. 22 Impfkabinen sind aktuell aufgebaut, besetzt sind nur 16. Eine halbe Stunde dauert der gesamte Durchlauf unter der hohen Decke. 15 Minuten davon verbringen Geimpfte zur Kontrolle nach dem Piks in einem großen Wartezimmer. „Der gesamte Prozess geht bei uns recht schnell. Nachdem wir alle Drucker zum Laufen bekommen haben, konnten wir einiges optimieren. Jetzt haben wir Routine“, sagt Uekermann im Eingangsbereich des Impfzentrums.
Vom Hausmeister bis zum Chefarzt sind darin 75 Kräfte im Einsatz. In der „Apotheke“, einem Séparée der Messehalle, werden gerade die Spritzen für ihren Einsatz vorbereitet. Eine medizinische Mitarbeiterin zieht die sechste Dose Impfstoff aus einem Fläschchen von Biontech und vermischt sie mit Kochsalzlösung. Geht dabei Flüssigkeit verloren? „Wir haben noch nie Impfstoff weggeschmissen“, sagt ein Arzt in der Apotheke. Thorsten Hammer, ärztlicher Leiter der Notfallmedizin und Katastrophenschutzbeauftragter der Freiburger Universitätsklinik, zeigt sich im Grunde zufrieden. „Wir hätten bloß gern mehr Impfstoff“, beklagt er. Die Vakzine selber bereiteten keine Probleme: „Milde Grippesymptome nach der ersten Impfung sind sehr selten.“ Nach dem zweiten Piks beklagten Geimpfte in 18 Prozent der Fälle Kopfschmerzen sowie einen leichten Temperaturanstieg. „Das entspricht den Studien“, so Hammer. Allergische Reaktionen auf einen Impfstoff gab es im ZIZ bisher nicht. Laut Daniel Strowitzki, Geschäftsführer der Freiburg Wirtschaft Touristik und Messe GmbH, die mit dem Uniklinikum für das ZIZ verantwortlich ist, habe es mit einer Ausnahme auch sonst keine Komplikationen gegeben: Trickbetrüger nahmen Senioren auf dem Messeparkplatz offenbar ihre Scheine für die zweite Impfung ab. Sonst sei alles ruhig geblieben. „Wir hatten bisher keine Querdenker, das habe ich anders eingeschätzt. Alle, die zu uns kommen, wollen auch geimpft werden“, so Uekermann. Die ersten zwei Tage nach der Eröffnung des Impfzentrums stand die Messe unter Polizeischutz, mittlerweile bewacht ein Sicher-
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Fotos: © pt
»BISHER KEINE QUERDENKER«
SZENE KOLUMNEN
IMPFTERMIN WIE EIN LOTTOGEWINN Andere mussten wegen mangelnder Impfstoffe noch länger ausharren. Vier Wochen lang habe die Freiburgerin Ursula Ewald versucht, einen Impftermin für ihre 88-jährige Schwiegermutter unter der bundesweiten Corona-Hotline 116-117 zu ergattern. „Ich bin ständig aus der Leitung geflogen. Noch lieber hätte ich nur mit Herrn Spahn telefoniert, um ihm die Meinung zu geigen“, schimpft sie. Der erste Impftermin im ZIZ sei dann fast wie ein Sechser im Lotto gewesen. Der zweite habe die Familie nochmals Nerven gekostet. Auch der Intensivpfleger Fabian Bülow weiß von einer holprigen Anmeldung über die Seite des Uniklinikums zu berichten. Dabei wollte sich dort längst nicht jeder impfen lassen: „Einige von uns hat es schwer getroffen, dadurch ist die Bereitschaft auf jeden Fall gestiegen.“ Für die Impfstoffe ist der 32-Jährige dankbar: „Das ist ein wichtiger Baustein zur Rückkehr in die Normalität.“ Philip Thomas
IN & OUT
Norddeutschland feierte den „Flockdown“ und versank mit Schal im Schnee, der Südwesten trug angesichts von Saharastaub aus Nordafrika kurzeitig bunte Beduinentücher. Auch die nächsten Moden gehen weit auseinander, weiß chilli-Trendchecker Philip Thomas. Er verrät, wie Wahlberechtigte bloß in Unterhose abstimmen können und wo zu viele Klamotten derzeit so gar nicht weiterhelfen.
IN
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BRIEFWAHL
Damit sich vor den Urnen am 14. März keine „Infektionsketten“ bilden, sollten möglichst viele der rund 157.000 Stimmberechtigten in Freiburg per Briefwahl abstimmen. Ihr Anteil nimmt seit Jahren zu, bei der Gemeinderatswahl 2019 lag er zuletzt bei 35 Prozent. Zur Landtagswahl rechnet die Stadtverwaltung mit einem Foto: © pixabay.com/Andreas Lischka Anstieg auf bis zu 60 Prozent. Bürgermeister Stefan Breiter appelliert daher: „Da wir dieses Mal einen Briefwahlanteil in Rekordhöhe erwarten, sollte man seinen Antrag frühzeitig stellen und den roten Wahlbrief möglichst zügig ans Wahlamt zurückschicken.“
OUT
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heitsdienst das Gelände rund um die Uhr. Die Impfstoffe werden über Nacht nicht in der Halle gelagert. Denn: Die Bundesregierung rechnet mit Angriffen auf Impfzentren, Impfstofftransporte oder Hersteller von Corona-Impfstoffen. Konkrete Hinweise dazu gebe es laut einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Grünen-Fraktion dazu zwar nicht, aber „aufgrund der großen medialen Präsenz sowie der hohen Dynamik und Emotionalität, die dem Themenkomplex innewohne“, geht das Ministerium derzeit von „einer abstrakten Gefährdung“ durch die Corona-Gegenspieler aus. Derzeit werden sie vom Impfstoff-Mangel ausgebremst. Im großen Wartesaal der Messe stehen zahlreiche Stühle leer. Der Freiburger Johann Pfaffner hat einen dieser Plätze ergattert und ist nach seiner ersten Impfung zufrieden: „Alles gut, nur ein Glas Wein hat gefehlt“, lacht der 83-Jährige unter seiner Maske. Auch eine 55-jährige Physiotherapeutin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, ist froh über den Piks. „Hat nicht wehgetan, in zehn Minuten war ich durch. Die Online-Anmeldung war allerdings nicht einfach. Die Lizenz zum Impfen sei über ihren Arbeitgeber gelaufen. „Wir hatten technische Schwierigkeiten“, berichtet sie. Tagelang habe die Seite nicht geladen.
SPENDIERHOSEN
Viele Freiburger verbringen den Lockdown damit, die eigenen vier Wände zu entrümpeln. Vergangenes Jahr verzeichneten Recylinghöfe im Frühjahr ungekannten Andrang, derzeit platzen die Altkleidercontainer in der Stadt aus allen Nähten. Nur: Die Nächstenliebe kommt derzeit gar nicht an, die Aufsteller können den Andrang Foto: © Malteser aufgrund aktuell geschlossener Sortierbetriebe nicht bewältigen. „Grundsätzlich freuen wir uns über jede Spende, doch im Moment ist Zurückhaltung der bessere Weg“, betont Sabine Würth, Bezirksgeschäftsführerin der Malteser in Freiburg.
Fixer Piks: Knapp drei Minuten verbringen Besucher in den Kabinen.
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SZENE MOBILITÄT
FIX, FLEXIBEL, VIELE VERBOTE DIE ERSTEN LEIH-ROLLER KURVEN DURCH FREIBURG
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Foto: © tln
n zahlreichen Metropolen gehören sie längst zum Stadtbild: E-Scooter. Seit Dezember fahren die flinken Flitzer auch durch Freiburg. chilli-Redakteur Philip Thomas ist Probe gefahren und hat sich ein Bußgeld erspart. Buchbar sind die Roller der Göttinger Firma Yoio per Smartphone. Weitere Anbieter stehen in den Startlöchern. Für Freiburgs neuestes Transportmittel benötigen Eilige keinen Führerschein, sondern ein Smartphone. Ein Benutzerkonto für die weißen Miet-Roller ist schnell eingerichtet und mit Kreditkarte oder Paypal verknüpft. Der Online-Bezahldienst bremst aber erst mal die Fahrfreude: Guthaben kann dort nur in Höhe von mindestens fünf Euro geladen werden. Das anschließende Entsperren geschieht via QR-Code-Scan und kostet einen Euro, pro Minute Fahrzeit werden 19 Cent fällig. Der Elektromotor dreht flugs bis maximal 20 Stundenkilometer. Schnell wird auch klar: Ein Ersatz für ein eigenes Fahrrad sind die Leih-Roller nicht – nach knapp zwölf Kilometern macht der Akku schlapp, viel Stauraum bietet das Trittbrett nicht. Für den Kurztrip zur nächsten Dönerbude oder Bushaltestelle sind die Scooter gemacht. Die rund zwölf Kilogramm liegen derweil ruhig auf der Straße und stabil in den Kurven. Ob die Federung auch das Kopfsteinpflaster der Kajo verkraftet? Der Härtetest muss allerdings ausbleiben: Gerollert werden darf laut ADAC nämlich nur auf Radwegen sowie Fahrradstraßen. Sind diese nicht vorhanden, kann auf die Fahrbahn ausgewichen werden. Auf dem Gehweg oder in Fußgängerzonen drohen nicht nur finstere Blicke, son-
dern auch Bußgeld von bis zu 30 Euro. Zurückgegeben werden darf der Roller im Stadtzentrum ebenfalls nicht: In Zonen um Seepark, Uniklinikum, Hauptfriedhof, Altstadt und entlang der Dreisam herrscht Parkverbot. Die Roller-Rückgabe an der Lokhalle funktioniert indes problemlos. Die Straße runter lehnt noch einer. „Die stehen jetzt überall“, moniert ein Passant. Autos auch. Derzeit sind 150 Miet-Scooter über das Stadtgebiet verteilt. „Wir hätten gerne mehr nach Freiburg gebracht“, so Boris Hillmann, Geschäftsführer von Yoio. Mehr habe die Kommune nicht erlaubt. Bald könnte die Zahl jedoch steigen. Die Anbieter Voi und Lime sehen in Freiburg großes Potenzial. Marktführer Tier hat bereits Verhandlungen mit der Stadtspitze aufgenommen.
Philip Thomas
MEINE SORGEN DER WAHLKRAMPF
Einige stehen Kopf, viele hängen durch, andere schmücken sich mit falschem Bart und aufgemalter Augenklappe. Aber alle grinsen sie mir mit seriösem Siegerlächeln mitten ins Gesicht: Wahlplakate. „Stimmen Sie für diese Nase“, rufen sie mir förmlich zu. Hand und Fuß haben die bunten Bildchen – nebst Inhalt – nämlich nicht. Dabei würden die Programme der meisten Parteien sogar auf eine 24 CHILLI FEBRUAR 2021
Pappe passen. Bloß Schlagworte verraten: Grün, gerecht, digital und natürlich sicher soll die Zukunft sein. An so viel Offline-Werbung bin ich nach einem Jahr Corona gar nicht mehr gewöhnt, die Plakate sind schließlich nicht personalisiert. Hier und da ist die Wahl-Reklame aber eindrucksvoll in Szene gesetzt: Der Ruf nach Digitalisierung ertönt vor derzeit leeren Schulen besonders laut, eine starke
Wirtschaft propagiert sich dieser Tage ausgezeichnet rund ums Arbeitsamt, und das Bekenntnis zu Umweltschutz bedarf in strategisch geschickter Nähe zur biblischen Dreisam-Sintflut keiner weiteren Erläuterungen. Auch die Höhe der Plakate am Laternenpfahl ist ein wichtiger Faktor. Grundsätzlich gilt: Begegnet mir der Kandidat nicht auf Augenhöhe, kann er mich mal. Kreuzweise. pt
SZENE SPORT
»EIN KLEINES BISSCHEN SÜCHTIG«
DIGITALER LACHYOGA-SPORTKURS IM CHILLI-CHECK
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portkurse sind wegen der Pandemie gestrichen. Zumindest analog. Das Onlineangebot hingegen blüht – auch in Freiburg. Um herauszufinden, ob die Kurse vorm Computer im eigenen Zuhause merkwürdig einsam sind oder ob auch hier hoch motivierte, schwitzende Menschen über die eigenen Grenzen hinauswachsen, hat sich c hilliVolontärin Liliane Herzberg in Sportklamotten geschmissen und digitales Lachyoga ausprobiert. So richtig in Fahrt kam sie dabei nicht. Montagabend, 18.40 Uhr. Ich nehme mir ein bisschen Zeit im Voraus, um den Zoom-Account einzurichten. Die Stunde beginnt um 19 Uhr. Zumindest für die, die den zuvor erhaltenen Link verstehen und das Meeting-Portal bedienen können. Ist bei mir trotz Puffer nicht der Fall. So betrete ich den Online-Sportraum gediegene zehn Minuten zu spät. Schnell ist klar, dass sich die Gruppe bereits länger kennt: „In unserem Kurs waren sonst nur Lachclub-Mitglieder, die konnten auch mit den einzelnen Namen der Übungen was anfangen“, bestätigt Kursleiterin Bärbel Hinz-Käfer die Vermutung. Eigentlich hatte sie nicht geplant, ihren Zoom-Kurs auch für Externe anzubieten, weil die Grundlagen und das Wissen über Lachyoga fehlen. „Aber der Bedarf ist mittlerweile so groß, dass ich ein wenig von meinen Prinzipien abgerückt bin.“ Dass es nicht leicht ist, als Anfängerin die digitale Sportstunde zu belegen, merke ich spätestens, als ich meine Arme wild schüttle, damit das Lachen aus meinen Ärmeln fällt. Ich komme mir komisch vor, bei mir will und will nichts rauspurzeln. Lachyoga besteht aus mehreren einzelnen Übungen, die aneinandergereiht sind, die meisten davon überfordern mich ein wenig. „Jetzt lachen wir ohne
Fotos: © Liliane Herzberg
Lachen, was das Zeug hält: Liliane Herzberg lässt sich vom Elan der anderen anstecken.
Stimme für schwierige Situationen“, höre ich die Kursleiterin und freue mich – immerhin das sollte ich hinkriegen. Ursprünglich wurde Lachyoga von dem indischen Arzt Madan Kataria ins Leben gerufen. „Das ging 1989 los, 2002 habe ich ihn kennengelernt auf einem Humorkongress in Stuttgart, und seitdem bin ich quasi dabei“, erinnert sich die Lach-Expertin. Die Übungen wirken befreiend, die Ergebnisse seien bereits spürbar, wenn man im Schnitt 15 Minuten gelacht hat. „Es ist Sport, die Muskeln werden aktiviert, die Atmung intensiviert, das Training der Lunge ist gerade in Corona-Zeiten wichtig.“ Der langfristige Effekt sei aber die Psyche, das erfahre sie auch bei ihren Behandlungen in Psychosomatischen Kliniken. „Die gute Stimmung hält mindestens ein bis zwei Tage an und man wird auch ein klein wenig süchtig.“ Lachclub-Mitglieder zahlen einen geringeren Kursbeitrag – 20 Euro
Motiviert: Kursleiterin Hinz-Käfer führt durch die Übungen.
im Monat statt 11,11 Euro pro Stunde – und treffen sich wöchentlich als Gruppe in einem geschlossenen Raum. Kichern, jubeln, strahlen, was das Zeug hält, weiter geht es mit der heutigen Einheit. „Eine Minute lachen“ lautet eine Übung. Dass es bei mir weiterhin nur ein kurzes Schmunzeln ist, stört niemanden: „Das ist auch okay und ich habe es gar nicht gemerkt“, beruhigt mich die 73-Jährige. Dass die Aufgaben dennoch ihren Zweck erfüllen, ist spürbar. Egal ob echt oder herbeigeführt, ich merke deutlich, wie die Last des vorhergehenden Alltags durch die Lacherei von meinen Schultern fällt. Mein Mitbewohner platzt in die Stunde, macht nichts, denk ich, ich bin entspannt, die anderen sind es auch. Für Hinz-Käfer lohnt sich der Kurs trotz Pandemie: „Es verändert sich eigentlich nichts. Wenn man sich kennt, ist es genauso persönlich und der Funke springt über.“ Für mich eignet sich der analoge Sport mehr. Keine Ablenkung, keine Zoom-Schwierigkeiten, stattdessen ein fester Termin in der Woche. Aber um lokale Sportdienstleister zu unterstützen, lohnt es sich allemal, die ungewohnten Rahmenbedingungen in Kauf zu nehmen. In meinem Fall nächstes Mal dann das gute alte Standard-Yoga. Liliane Herzberg FEBRUAR 2021 CHILLI 25
NOMADE IM BUS
WARUM EIN FREIBURGER STUDENT SEIT ZWEI JAHREN IM WOHNMOBIL LEBT
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Fotos: © tln
cht Quadratmeter. 75 Euro im Monat. Der Freiburger Stu dent Lars Nungesser lebt im Wohnmobil. Er ist überzeugt: Das ist nicht nur günstiger als eine WG, es bietet auch mehr Freiheiten. Ein bisschen fehlt ihm die Geselligkeit dann aber doch. Und die Polizei war bereits da. Ein Erlebnisbericht.
„Guten Tag, wo geht die Reise denn hin?“ Nach fast einem Jahr des Unterwegsseins sollte sie eigentlich vorerst in Freiburg enden, als ein Polizeibeamter kurz nach meiner Ankunft an meine Autotür klopft. „Wie lange haben Sie vor, zu bleiben? Wir haben hier leider oft Probleme mit Dauercampern.“ Spontan ändere ich meine Pläne und versichere, dass ich am selben Tag noch wegfahre. Das Gespräch ist freundlich, trotzdem wird klar: Ich bin hier nicht erwünscht. Dauercamper hin oder her – die Corona-Verordnung verbietet derzeit nicht nur touristische Übernachtungen in Hotels und auf Campingplätzen, sondern auch auf kostenfreien Stellplätzen. Kein Wunder, dass ich mit meinem ortsfremden Kennzeichen – mangels konventioneller Wohnung habe ich keine Meldeadresse mehr in Freiburg – das Interesse der Behörden geweckt habe. Dabei bin ich doch gar kein Tourist. Seit Herbst 2017 bin ich in Freiburg und seit knapp zwei Jahren lebe ich in einem alten, zum Wohnmobil ausgebauten Mercedes-Transporter. Warum? Ich möchte selbstbestimmt und so nachhaltig wie möglich wohnen. 26 CHILLI FEBRUAR 2021
In meiner alten WG durfte ich nichts an meinem vormöblierten Zimmer verändern. Neue Mitbewohnende hat unsere Vermieterin für uns ausgesucht. Wer neu nach Freiburg zieht, nimmt, was er kriegen kann. Im Bus gestalte ich mir meinen Wohnraum ganz nach meinen Vorstellungen. Meine laufenden Kosten von rund 75 Euro im Monat für Steuer, Vollkasko, Propangas und Internet sind auf dem Freiburger Wohnungsmarkt wohl nicht zu schlagen. Wie alle Eigenheimbesitzer habe ich aber auch mehr Verantwortung. In den letzten zwei Jahren habe ich viel Zeit, Geld und Energie in Reparaturen gesteckt. Gelernt habe ich dabei zwar jede Menge, leisten konnte ich mir das aber nur, weil ich mir die Miete gespart habe.
WENIG PLATZ, VIEL FREIHEIT Unterm Strich lohnt es sich für mich aber – nicht nur finanziell. Mein Lebensstil gibt mir Freiheit. Ich muss neben dem Studium weniger arbeiten, mache nur noch Nebenjobs, die ich sinnvoll finde und die mir Spaß machen. Im Corona-Sommer konnte ich dank Onlinevorlesungen inmitten der schwedischen Natur studieren. Insgesamt spielt sich ein größerer Teil meines Lebens an der frischen Luft ab, mein Ziel ist größtmögliche Autarkie. Momentan bin ich ab und zu noch auf Freunde angewiesen, was Duschen und Müllentsorgung betrifft. Mein Strom kommt aus dem Solarmodul, das reicht selbst an grauen Winter
Mann und Mercedes: Lars Nungesser und seine fahrbaren acht Quadratmeter
tagen für Licht und Smartphone. Die nächsten Schritte Richtung Nachhaltigkeit werden eine Trenntoilette und die Aufbereitung von altem Pflanzenöl als Dieselersatz. Das ist nicht nur CO2-neutral, sondern verbraucht – anders als Biodiesel – keine wertvollen Agrarflächen. Das Leben auf engem Raum zwingt mich außerdem, Ordnung zu halten. Ich verbringe weniger Zeit damit, Dinge zu suchen und überlege mir gut, was ich mit mir herumfahre. Minimalismus bedeutet mir aber mehr als Zen und stille Konsumverweigerung: Haben oder Sein ist für mich eine grundlegende, gesellschaftliche Frage. Wenig Platz kann aber auch nerven. Vor der Pandemie hätte ich gerne mal mehr als drei Freunde zu mir eingeladen. Das ist besonders im Winter nicht möglich. Mittelfristig möchte ich deshalb nicht allein, s ondern in Gemeinschaft leben. Raum dafür zu finden ist schwierig – Freiburg hat eine lange und konfliktreiche Geschichte in Sachen Wagenplätze. Diese Wohnform war unter Oberbürgermeister Dieter Salomon politisch schlicht nicht gewollt. Das neue „Gesamtkonzept bezahlbares Wohnen“ sieht seit November allerdings die „konzeptionelle Bereitstellung von ausreichenden Wagenstellplätzen“ vor. Eine Gruppe junger Menschen, die in Wagen wohnen, nennt sich „Radlager“. Sie setzen sich seit letztem Sommer für einen Wagenplatz ein und treiben nun gemeinsam mit der Stadtverwaltung die Suche voran. Der neue Ton lässt mich auf ein Umdenken hoffen. Lars Nungesser
SZENE KLUTUR
GEHÖR VERSCHAFFEN WAS DER INTERESSENVERBAND FREIBURG LIVE ERREICHEN WILL
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ehr Standing für die Kulturbranche. Das will „Freiburg Live“ erreichen. Der Interessen verband vertritt unter anderem das Sea You, das ZMF und das Freiburger Barockorchester. Presse sprecher Alexander Hässler erklärt das Vorhaben im Interview mit chilli-Redakteur Till Neumann. chilli: Herr Hässler, Freiburg Live verbindet viele große Akteure der Stadt. Wie wollen Sie die Livebranche retten? Hässler: Zunächst geht es uns darum, mit der Stadtspitze, mit den Ämtern, der FWTM und den Gemeinderatsfraktionen in einen Dialog zu treten. Dabei wollen wir über die für uns seit März 2020 hochdramatische wirtschaftliche Situation in Folge der Corona-Pandemie sprechen, zeitgleich aber auch mit allen Beteiligten neue Wege für die Zukunft ausloten. chilli: Fehlt es der Livekultur an Standing? Hässler: Ja. Im Rückblick auf die vergangenen Jahre und Jahrzehnte waren wir kaum auf die Hilfe vonseiten der Stadt, dem Land oder dem Bund angewiesen, da man immer unabhängig und auf eigenes Risiko arbeitete. Das Positive ist: Durch die Pandemie ist allen Akteur*innen bewusst geworden, dass es eines gemeinsamen Sprachrohres bedarf, um sich Gehör zu verschaffen und auf die wirtschaftliche Bedeutung unserer Arbeit hinzuweisen. chilli: Sie haben der Stadtspitze einen Maßnahmenkatalog geschickt. Was sind die wichtigsten Forderungen? Hässler: Der wichtigste Punkt ist die Aufnahme von Gesprächen mit der Stadtspitze und den Gemeinderatsfraktionen, die bereits anliefen. Konkret setzen wir auf mehr Personal im Bereich des Amts für öffentliche Ordnung, indem wir die Neustrukturierung der Stabsstelle Veranstaltungsmanagement in enger Verzahnung mit dem Bereich der Wirtschaftsförderung durch die FWTM anregen. Weiter benötigen wir neue öffentliche Plätze im Stadtgebiet abseits der Messe, um diese auch für kommerzielle Veranstaltungen nutzen zu können, was in anderen Städten in nächster Umgebung zu Freiburg gang und gäbe ist. Außerdem bedarf es behördlicher Unterstützung beim Neustart pandemiegerechter Veranstaltungen sowie indirekter Hilfen, um Arbeitsplätze zu sichern, bestehende Veranstaltungskonzepte zu retten oder innovaFoto: © Privat tive Projekte in Freiburg zu realisieren. Kulturkämpfer: Alexander Hässler tln FEBRUAR 2021 CHILLI 27
WIRTSCHAFT SÜDBADEN
NUR EINE HANDVOLL ZOMBIES KEIN KAMPF GEGEN KREDITAUSFÄLLE: FREIBURGS BANKBOSSE NOCH ENTSPANNT
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Als Zombies werden nach der jüngsten BIZ-Studie solche Unternehmen schon dann bezeichnet, wenn sie zwei Jahre in Folge aus ihren Gewinnen nicht einmal die Zinsen fürs Fremdkapital bezahlen können. Mitte der 80er-Jahre gab es demnach 4, heute schon 15 Prozent solcher Untoter an den weltweiten Börsen. Die, so wird unterstellt, entweder nur noch dahinleben, weil die Geldflut der EZB oder auch die Corona-Pakete der Politik den Schlusspfiff künstlich verzögern. Weil zudem die Antragspflicht für insolvenzbedrohte Unternehmen im Pandemiejahr 2020 bis Oktober ausgesetzt war – und für einige immer noch ist –, malen Wirtschaftsexperten das düstere Bild einer Armee von lebenden Leichen an die Wand. Und von einer Insolvenzflut im laufenden Jahr. „Wir hatten im vergangenen Jahr nicht mehr Kreditausfälle als sonst auch, wir rechnen zwar mit etwas mehr im laufenden, aber immer noch auf vergleichsweise niedrigem Niveau“, sagt Barth. Die Ausfälle seien zahlenmäßig im mittleren zweistelligen Bereich gewesen, bei mehr als 20.000 gewerblichen Kunden. Auch bei der Sparkasse war die „akute Risikosituation 2020 nicht nennenswert schlechter als 2019“, so Thimm. 28 CHILLI FEBRUAR 2021
Illustration: © Nuthawut Somsuk
ermehren sich Zombieunternehmen in der Corona-Krise still und heimlich und gefährden so die wirtschaftliche Stabilität? Wenn es nach der in Basel ansässigen Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) geht, sind Zombies weltweit auf dem Vormarsch. Die Vorstandsvorsitzenden von Volksbank und Sparkasse in Freiburg, Uwe Barth und Marcel Thimm, sehen in Südbaden dafür noch keine Anzeichen.
Zur Not Rettungsringe: Steht Südbaden vor einer Insolvenzwelle?
Es werde zwar nicht ganz ohne Blessuren gehen, aber nicht Zombies, sondern das Zinsumfeld bereitet Thimm Kopfzerbrechen: Wenn die Zinsen noch 20 Jahre so bleiben, habe keine Bank ein taugliches Geschäftsmodell mehr. Aktuell verweisen Thimm und Barth aber auf zuletzt viele gute Jahre, in denen die Unternehmen Eigenkapital angehäuft haben – und die Kreditinstitute auch. Selbst wenn es mehrere schlechte Jahre mit deutlich mehr Pleiten in der Kundschaft gäbe, sei das kein großes Problem: Die Schatzkammer mit den stillen Reserven ist gut gefüllt. Die Sparkasse, sagt Thimm auf Nachfrage, hatte 2019 exakt 202 Kreditausfälle, im vergangenen Jahr waren es 196. Wie Barth denkt auch Thimm am Jahresanfang eher in schlechteren Szenarien, die sich dann meist nicht bewahrheiten. Barth fordert aber, dass die Antragspflicht für alle Firmen so schnell wie möglich wieder verbindlich wird: „Insolvenzrecht ist Gläubigerschutz, wir können das nicht ewig aussetzen.“ Thimm hat in seiner Karriere fünf schwere Krisen erlebt: 1983, 1993, 2001, 2008 und die aktuelle. Die ersten drei hatten massive Auswirkungen auf die
Kreditwirtschaft, dann kam Basel II, strengere Eigenkapitalvorschriften, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass 2008 nicht alles zusammenbrach. Auch die Pandemie biete nun die Chance, sich noch krisensicherer zu machen. „Unsere Sorgen nach dem ersten Lockdown sind nicht eingetreten, wir haben unsere Ziele erreicht, ein paar Bremsspuren im Provisionsgeschäft“, sagt Barth mit einem ersten Blick auf die Bilanz. Viele Unternehmen werden aber, wenn die Pandemie ausläuft, „geschwächt“ sein. Kommen die gewohnten Umsätze zurück? Wie geht es in der Innenstadt weiter? Thimm schaut auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Das Bruttoinlandsprodukt ist um fünf Prozent gesunken: „Das ist dramatisch.“ Er kenne viele Kunden, die ihre Altersvorsorge in der jetzigen Krise ins Unternehmen gesteckt haben. Die müssen nun wieder von vorn anfangen. „Es gibt viele schlimme Einzelschicksale, auf unsere Bilanz schlagen diese aber nicht durch.“ Das Wort Zombies nahmen beide Banker beim Gespräch nicht in den Mund. Lars Bargmann
WIRTSCHAFT KURZ GEMELDET
PANDEMIE PULVERISIERT PASSAGIERZAHLEN EUROAIRPORT SCHAFFT TROTZDEM SCHWARZE NULL
Foto: © aériennes
Hallen der AMAC Aerospace Switzerland AG: 20 neue Arbeitsplätze im Krisenjahr
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er Euroairport Basel-Mulhouse-Freiburg (EAP) hat trotz dramatisch abgestürzter Passagierzahlen das Pandemie-Jahr 2020 wirtschaftlich mit nur einem blauen Auge überstanden. Das berichteten Direktor Matthias Suhr und Verwaltungschef Frédéric Velter in einer Videokonferenz mit Journalisten. 9,1 Millionen Fluggäste verzeichnete das regionale Drehkreuz im Jahr 2019, 2,6 Millionen waren es im vergangenen Jahr – ein Minus von 71 Prozent. „Das haben wir noch nie erlebt, nicht nach der Swissair-Krise, nicht nach der Weltfinanzkrise“, sagte Suhr. Der Umsatz halbierte sich auf 80 Millionen Euro, er speist sich zu 80 Prozent aus dem Passagierverkehr. „Beim Betriebsergebnis werden wir wohl eine schwarze Null haben“, sagte Velter auf Nachfrage. Nach Steuern und Abschreibungen könnten es bis zu 20 Millionen Euro Verlust sein. Fürs laufende Jahr hat Suhr drei Szenarien mit drei bis fünf Millionen Passagieren in den Wirtschaftsplan geschrieben: „Wir
haben noch ausreichend Liquidität, um auch 2021 gut zu meistern.“ Die Zahl der Flugbewegungen sackte von 99.000 in 2019 auf nun 51.000 ab, wobei die Privatflieger mehr flogen (die Landebahn war häufiger frei), die gewerblichen um 60 Prozent weniger. Die stärksten Destinationen wurden kräftig durcheinandergewirbelt: London verlor Platz 1 an Pristina (knapp 200.000 Passagiere), dahinter schob sich Istanbul (159.000). Berlin lag mit 110.000 Fluggästen auf Rang fünf. Easyjet beförderte 1,526 Millionen Passagiere und hatte damit einen Anteil von 58,7 Prozent. Der Frachtverkehr wuchs leicht auf 108.500 Tonnen, vor allem weil medizinische Geräte, Schutzkleidung oder Blut über Basel transportiert wurden – 100 Tonnen Blutplasma allein nach Shanghai. 20 der rund 400 eigenen Mitarbeiter verloren ihren Job, insgesamt gab die Zahl der Beschäftigten am EAP um 500 auf 6000 nach. Mit der Wechselstube gab es auch eine Insolvenz. Den wirtschaftlichen Herausforderungen begegneten Suhr und Velter mit einem Sparprogramm: Die geplanten Investitionen wurden um zwei Drittel auf 20 Millionen Euro gekürzt, die Erweiterung des Terminals wurde komplett gestoppt, viele Mitarbeiter waren in Kurzarbeit, aktuell gilt ein Einstellungsstopp. Der EAP will trotz aller Turbulenzen an seinem Ziel festhalten, den Fluglärm zwischen 23 und 24 Uhr weiter zu drosseln und bereits bis 2030 CO2-neutral zu sein. 90 Prozent der Wärme kommen mittlerweile aus einem Biomasse-Heizkraftwerk in Saint-Louis, zudem kauft der Airport grünen Strom ein, wie Velter erzählte. Lars Bargmann
GUTE NACHRICHTEN HANDWERKER HELFEN Mit einer breit angelegten GutscheinAktion „Handwerk hilft Handel“ wollen Handwerker im Raum Freiburg den Einzelhandel, aber auch Gastronomie, Dienstleister und Kultur unterstützen. Die Idee zu der Aktion hatte Kreishandwerksmeister Michael Rauber, der zunächst eine Handvoll Raumausstatter-Kollegen gewinnen konnte. Mittlerweile sind mehr als zwei Dutzend Handwerksbetriebe aus der ganzen Region dabei. „Es ist einfach das Gefühl, dass man jetzt solidarisch sein muss”, sagt etwa Hansjörg Stratz, Inhaber der Stratz-Kfz-Technik in Glottertal. Jeder Kunde, der einen Auftrag von mindestens 1500 Euro erteilt, erhält einen von Stratz zuvor gekauften 50-Euro-Einkaufsgutschein der Werbegemeinschaft Waldkirch oder der Wirtegemeinschaft Gastliches Glottertal. Koordiniert wird die Aktion von der Kreishandwerkerschaft. Auch bei 2-rad Mueller in Freiburg gibt es ab 1500 Auftrag einen 50-Euro-Gutschein der Händlergemeinschaft Z’Friburg. „Ich hoffe, dass das dem stationären Handel in der Innenstadt im Wettbewerb gegen die Onlinekonkurrenz hilft”, sagt Inhaber Michael Mueller. kreishandwerkerschaft-freiburg.de
TAIFUN KAUFT UND SPENDET Die Taifun-Tofu GmbH hat im Gewerbegebiet Hochdorf die rund 10.000 Quadratmeter große Fleischfabrik Ponnath gekauft. Zum Kaufpreis machte das auf vegetarische Lebensmittel spezialisierte Unternehmen keine Angaben. Taifun ist auf Wachstumskurs und setzte 2019 mit 270 Mitarbeitern 38 Millionen Euro um. Unlängst hat das 1985 gegründete Unternehmen 30.000 Euro an gemeinnützige Organisationen gespendet. Wie es für die 65 PonnnathBeschäftigten weitergeht, ist noch offen. bar FEBRUAR 2021 CHILLI 29
WIRTSCHAFT HANDWERK
HWK EHRT JUNGE MEISTER 17.500 EURO FÜR DEN NACHWUCHS
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nsgesamt 332 Handwerkerinnen und Handwerker haben im vergangenen Jahr den Meistertitel bei der Handwerkskammer Freiburg (HWK) erworben. Sieben wurden aufgrund ihrer hervorragenden Leistungen von Stiftern mit Förderpreisen ausgezeichnet. Und haben jeweils 2500 Euro bekommen. Der Annette-Ullrich-Förderpreis ging an Zahntechnikermeisterin Madeleine Müller aus Freiburg, den Förderpreis der AOK Baden-Württemberg gewann Metallbauermeister Adrian Hoch aus Denzlingen, den Energiewende-Förderpreis der Badenova ergatterte der Installateur- und Heizungsbauermeister Michael Schwörer aus Zell am Harmersbach. Die Konditormeisterin Madleen Kraus aus Maulburg gewann den Preis „Meisterin des Jahres 2020“ der IKK classic, der Feinwerkmechanikermeister Andreas Waßmer aus Zell im Wiesental holte sich den Förderpreis der Signal-Iduna-Gruppe. Der Förderpreis der Sparkasse Freiburg-Nördlicher Breisgau ging an Bäckermeister Stefan Zipfel aus March, den Preis der Volksbank Freiburg erhielt Zimmerermeister Andreas Kramer aus Freiburg, der sich direkt selbstständig machen will. HWK-Präsident Johannes Ullrich gratulierte allen Preisträgern und dankte auch den Preisstiftern. Mit den Preisen würden die individuellen Leistungen der Preisträger gewürdigt, aber auch die Wertschätzung für das gesamte Handwerk in der Region verdeutlicht. chilli 30 CHILLI FEBRUAR 2021
»DRAMATISCHE SITUATION« FREIBURGER HÄNDLER KÄMPFEN UMS ÜBERLEBEN
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ie Krise bedroht viele Händler in der Freiburger Innenstadt. Mit einem offenen Brief haben sie Anfang Februar Alarm geschlagen. Sie fordern das Rathaus zu mehr Unterstützung auf. Entscheidend sei, die Weichen jetzt für die Post-LockdownZeit zu stellen. Sie appellieren: „Wir brauchen dringend einen konkreten Plan, wie die Innenstadt nach dem Lockdown wieder Anziehungskraft entwickeln kann.“ Dafür schlagen sie vor, die Innenstadt besser erreichbar fürs Umland zu machen – durch attraktives P+R, ÖPNV-Angebote und gute freloAnbindungen. Außerdem fordern sie Kulturevents in der City, mehr Begrünung sowie eine Marketingkampagne. Die ersten Risse sind da: Am Bertoldsbrunnen hat das Modehaus Fabel geschlossen. Nicht weit davon steht seit 2017 das Gebäude der ehemaligen Sportarena leer. Auch die Boutique Courage in der Grünwälderstraße hat zu, will aber an anderer Stelle in der Stadt wieder öffnen. Ein Opfer des Lockdowns ist das CD-Geschäft Compact Disc Center bei der Schwarzwald City. Das ausgefallene Weihnachtsge-
schäft 2020 brachte den schon angeschlagenen Laden vollends zu Fall (siehe Seite 46). An der Rathausgasse gibt es mehrere verwaiste Schaufenster. Als „Brandbeschleuniger“ sieht Martin Lauby das Pandemie-Jahr. Das Vorstandsmitglied von z’Friburg in der Stadt ist Center Manager der Schwarzwald City. Wer schon vor Corona zu kämpfen hatte, habe es jetzt doppelt schwer. Für die Händler legt er die Hand ins Feuer: „Die kämpfen wie die Löwen.“ Eine „ganz brutale Lage“ sagt Lauby zur Situation vieler Betroffener. Schon im ersten Lockdown hätten einige die Altersvorsorge aufgelöst. „Das kann man nur einmal machen.“ Selbst wer noch offen habe, müsse mit wegfallenden Kunden kämpfen. In die Schwarzwald City kämen sonst 13.000 bis 15.000 Personen am Tag. Aktuell seien es nur 2000 bis 3000. Sogar der Aldi im Untergeschoss habe daran zu knabbern. Auch Big Player wie H&M, Kaufhof oder Lacoste lassen Federn. Der Textil- und Schuhbereich leide besonders. Grund sind die Rücksendungen im Onlinegeschäft. 50 bis 70 Prozent gebe es an Retouren, sagt Lauby. Er hofft, dass der offene Brief zu einer
WIRTSCHAFT INNENSTADT
KOMMENTAR
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Foto: © Nachweis
MUT ZUM WANDEL
So leer wie selten: Auch Konviktstraße (links) und Kajo zeigen das Vakuum.
Foto: © Nachweis
Bewusstseinswerdung führt. Auch weil da eine ganze Kette dranhänge: „Jeder Laden braucht auch einen Elektriker, Steuerberater und eine Putzkraft.“ Er ist sicher: „Wenn der Einzelhandel stirbt, stirbt noch viel mehr.“ Eile sei geboten, um vorbereitet zu sein, wenn der Lockdown vorbei ist. „Die Freiburger Innenstadt ist da und schön, sie hat ein Riesenpotenzial“, sagt Lauby. Seine Hoffnung ruht auch
HOFFEN AUF DEN KÜMMERER
k n: © freepi Illustratio
auf dem Innenstadtkoordinator (Stadtkümmerer), der im März in Vollzeit bei der Freiburg Wirtschaft Touristik und Messe GmbH (FWTM) anfängt. „Das fordern wir seit fünf, sechs Jahren“, sagt Lauby. Die Stadt zeige sich zwar stets gesprächsbereit, fehlende Wertschätzung stellt er dennoch fest. Das zeige sich auch bei den Diskussionen um den verkaufsoffenen Sonntag. „Es ist lächerlich, sich hier zu verkämpfen.“ Die Welt sei eben dynamisch, Amazon und Co. auf dem Vormarsch.
WE’RE
Auch Peter Spindler vom Handelsverband Südbaden bestätigt das. „Eine dramatische Situation“ sehe er bei vielen Händlern. Dabei seien Ladengeschäfte gar nicht aufgefallen bei der Infektionsverbreitung. Nicht wenige hätten die Hygienevorschriften sogar übererfüllt und seien mit der Schließung abgestraft worden. Er fragt sich, warum nicht auch Politiker sich solidarisch zeigen. Seine Idee: Als symbolischer Akt könnten sie den Händlern einen Teil der Diäten spenden. Auch die Stadtverwaltung müsse sich jetzt überlegen, was sie tun könne, um die City zu revitalisieren. Für Lauby ist es eine Grundsatzfrage: Wollen wir das Päckchen von Amazon oder den Metzger um die Ecke, der mit seinen Steuern auch die Kita finanziere? Wie man Energien bündeln kann, hat z’Friburg in der Stadt bereits gezeigt: Mit „Kauf Lokal“ hat der Verein in CoronaZeiten eine Plattform geschaffen, die Angebote Freiburger Händler bündelt. Wie das laufe? „Sehr erfolgreich.“ Bei Martin Horn und Hanna Böhme ist die Botschaft angekommen. Man sei sich der Lage bewusst und stehe für Gespräche bereit, sagt die FWTM-Chefin. Sie verweist auf erste Aktionen: Es gebe bereits unter anderem eine Radiokampagne, die FWTM habe die Kosten der Weihnachtsbeleuchtung getragen und die VAG habe 10.000 Freifahrtscheine zur Verfügung gestellt, um „Kauf Lokal“ zu unterstützen. Sie ist überzeugt: Gemeinsame Lösungsansätze können gefunden werden. Till Neumann
Es ist völlig verständlich, dass sich die Innenstadthändler wieder mal Gehör verschaffen wollen. Doch weder der OB noch die FWTM oder der Gemeinderat sind Adressen, die die Krise des stationären Einzelhandels großartig beeinflussen könnten. Ein bisschen mehr Marketing hier, ein bisschen Kultur dort, das sind nicht die großen Werkzeuge zur Krisenbewältigung. Mehr Steuern auf den Online-Handel, CO2-Abgaben auf die wahnwitzige Paketdienstflut hätten einen größeren Hebel. Den größten aber hat die Bürgerschaft in der Hand, respektive in den Füßen. Wer eine intakte und attraktive Innenstadt schätzt, muss auch dort einkaufen. Und nicht vom Sofa aus im Klicken einnicken. Egal wie viele Händler-Hilfen es noch geben wird, die Innenstädte werden sich wandeln. Viele kleine Händler werden aus den 1A-Lagen verschwinden. Wenn man die Innenstadt in die Zukunft denken will, muss man viel mehr Nutzungen denken: Handwerker, Seniorenwohnen oder Bürgerämter in großen Kaufhäusern, Co-WorkingSpaces, aber nicht nur für die Macbookmit-Chai-latte-Generation, sondern auch für Leute, die was mit den Händen machen, Kitas, Grundschulen, Reparatur-Cafés, eingehauste Wochenmärkte. Auch die Händler müssen sich neu erfinden, den Digitalisierungsstau auflösen. Das reine Anbieten von Waren reicht immer weniger aus, um die Füße der Kundschaft in Bewegung zu setzen. In Osnabrück hat das erfolgreiche Kaufhaus L&T ein Bad mit stehender Welle für Surfer auf seine Flächen gebaut. Die Kunden reisen auch mal eine Stunde lang an. Und schließlich müssten auch die Vermieter, oft Fonds oder Vermögensverwaltungen, etwas nachgeben, wenn ihnen die Innenstadt, ihre Mieter etwas wert sind. Andernfalls droht der Leerstand – und der ist ansteckend. Und das ist auch schlecht für künftige Mieten. bar
FEBRUAR 2021 CHILLI 31
WIRTSCHAFT KOMMUNEN
GENOSSEN GEBEN GAS
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er Bauverein Breisgau (BVB) hat im vergangenen Jahr 33 Millionen Euro in den Bau von neuen Wohnungen und die 5000 eigenen investiert. 1100 neue Konten wurden in der genossenschaftseigenen Spareinrichtung angelegt, die Spareinlagen liegen mittlerweile bei 114 Millionen Euro. Das Vorstandsduo um Marc Ullrich und Jörg Straub geht gestärkt ins laufende Jahr. „Wir schaffen für Generationen von Menschen Heimat und wollen noch mehr genossenschaftliche Wohnprojekte entwickeln. Dazu benötigen wir jedoch die Kommunen, die Wohnbaugrundstücke bereitstellen können“, sagt Ullrich. Die Kommunen Kirchzarten, Gundelfingen, Schallstadt, Gottenheim und Herbolzheim haben jüngst Wohnbau-Grundstücke an den BVB verkauft.„Die Entwicklung in Freiburg selbst beobachten wir intensiv und sind in regelmäßigen Gesprächen. Genossenschaftliches Wohnen braucht verlässliche Rahmenbedingungen, die sich vor allem auch wirtschaftlich darstellen lassen“, so Straub. Im vergangenen und laufenden Jahr wird die 1899 gegründete Genossenschaft insgesamt 146 Miet- und 18 Eigentumswohnungen übergeben. Zudem wurden zwei Kitas mit 170 Plätzen, eine Sozialstation, eine Begegnungsstätte sowie eine Wohngruppe für zwölf Menschen mit Einschränkung fertiggestellt. Moderate Mieten und lebenslange Nutzungsrechte – nach eigenen Angaben ein Alleinstellungsmerkmal – schützen und privilegieren die Mitglieder. bar 32 CHILLI FEBRUAR 2021
Foto: © bar
33 MILLIONEN EURO INVESTIERT
Noch immer im Bau: Die Stadiongesellschaft hat 2019 die ersten 27 Millionen Euro für die Arena ausgegeben.
TASCHENGELD: 30 MILLIONEN EURO STÄDTISCHE TÖCHTER BRAUCHEN FINANZSPRITZE AUS DEM RATHAUS
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ie städtischen Gesellschaften und Eigenbet riebe haben 2019 rund 13 Millionen Euro ins Rathaus gebracht – aber gleich auch wieder 43 Millionen mitgenommen. Das steht im neuen Beteiligungsbericht des Konzerns Stadt Freiburg. Das beste Ergebnis fuhr wie gewohnt die Badenova ein, die 17 Millionen Euro – ein knappes Drittel des Unternehmensgewinns – an die Stadtkasse überwies. Den größten Verlust machte – auch wie üblich – die Freiburger Verkehrs AG (VAG) mit gut 20 Millionen Euro. Die Freiburger Stadtbau GmbH (FSB) erwirtschaftete 13,9 Millionen, die Abfallwirtschaft 2,3 Millionen; die Freiburg Wirtschaft Touristik und Messe GmbH (FWTM) bilanzierte tiefrot mit 7,2 Millionen, wenn alles planmäßig läuft, werden es 2020 sogar rund 9,1 Millionen Euro sein. Alle Töchter setzten 2019 mit rund 3800 Beschäftigten fast 1,5 Milliarden Euro um und investierten rund 197 Millionen. Auch hier liegt die Badenova mit knapp 84 Millionen an der Spitze, gefolgt von der FSB mit gut 40 Millionen, der Stadion-Gesellschaft
(26,7 Millionen) und der VAG (23,3). Die Verkehrsbetriebe und die FWTM sind besonders hart von der Pandemie getroffen. Der Schuldenstand der fleißigen Töchter erhöhte sich Ende 2019 auf 925 Millionen Euro. Da die Mutter, das Rathaus, Ende 2022 selbst mit 348 Millionen in der Kreide stehen wird, steuert der Konzern Stadt Freiburg auf mehr als 1,5 Milliarden Euro Schulden zu. Klingt dramatisch, da das Anlagevermögen aber deutlich höher ist, besteht kein Grund zur Panik. Oberbürgermeister Martin Horn kündigte einen Strategietag für den Stadtwerkeverbund im Frühjahr an, „um unsere Töchter weiterhin zukunftsfähig aufzustellen.“ Laut Finanzbürgermeister Stefan Breiter hat die Corona-Krise gezeigt, „wie wichtig funktionierende Strukturen zur Aufrechterhaltung der systemkritischen Infrastrukturen und deren Leistungen sind“. Die Mama wird den Töchtern auch in den kommenden Jahren Taschengeld im XXL-Format geben. Lars Bargmann Beteiligungsbericht online: www.freiburg.de/beteiligungen
WIRTSCHAFT VERBÄNDE
TRÜBES KONJUNKTURKLIMA HWK UND WVIB PRÄSENTIEREN NEUE DATEN
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ndustrie und Handwerk in Südbaden sind in ihrem Geschäft unterschiedlich Corona-infiziert. Während die Handwerkskammer Freiburg (HWK) „düstere Aussichten“ meldet, sind die Industriebetriebe laut einer Umfrage der WVIB Schwarzwald AG „hart, aber nicht frontal“ getroffen. „Die Betriebe schauen äußerst skeptisch auf die nächsten Wochen und Monate“, sagt HWK-Präsident Johannes Ullrich mit Blick auf die jüngste Konjunkturumfrage: „Die Geschäftsaussichten sind auf Talfahrt.“ Der Konjunkturindikator, er wird aus der aktuellen Lage und den Erwartungen gebildet, liegt bei 6,1 Punkten und damit auf dem niedrigsten Wert seit mehr als zehn Jahren.
Die Umfrage des WVIB zeichnet ein anderes Bild: Demnach haben die Mitgliedsunternehmen (400 von 1000 haben Daten geliefert) für 2020 im Schnitt Umsatzeinbußen von 8,42 Prozent (Vorjahr: 0,12) gemeldet. Aber: 42 Prozent (2019: 26) der befragten Unternehmer erwarten in den nächsten sechs Monaten steigende Umsätze, 46 Prozent immerhin gleichbleibende. Im Handwerk gehen indes nur noch 11,1 Prozent der Betriebe (Vorjahr: 20,9) von einem besseren Geschäft aus, fast 40 Prozent von einem schlechteren. 2019 waren es nur 17 Prozent. „Der zweite Lockdown sorgt nun für massive Unsicherheit bei den Betrieben“, sagt Handirk von Ungern-Sternberg, Mitglied der Kammergeschäftsleitung. Zwar würden
sich Bauhaupt- und Ausbaugewerke weiterhin einigermaßen robust zeigen; bei den personenbezogenen Dienstleistungen, etwa Friseure oder Kosmetiker, sei die Stimmung aber am Nullpunkt. Die Zahl der Betriebe mit Umsatzrückgängen hat sich in 2020 auf 26,2 Prozent mehr als verdoppelt (Vorjahr: 11,8 Prozent), bessere Erlöse meldeten noch 28,7 Prozent der Betriebe. In den kommenden Monaten befürchtet gut die Hälfte der Betriebe (50,6 Prozent; Vorjahr 29,3 Prozent) sinkende Umsätze. Lediglich 12,4 Prozent (2019: 28,8) erwarten steigende. Die Politik, so Ullrich, müsse Verlässlichkeit bieten,„das gelingt mit dem aktuellen Ansatz einer schrittweisen Verlängerung des Lockdowns nicht – im Gegenteil.“ bar ANZEIGE
FEBRUAR 2021 CHILLI 33
JOBSTARTER AUSBILDUNG
BIOLOGIELABORANTEN BRAUCHEN FÜR
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ie wichtig medizinische Grundlagenforschung ist, haben wir während der Corona-Pandemie gelernt. Biologielaborant*innen leisten einen Beitrag dazu.
Ausgestattet mit Handschuhen und Laborkittel untersucht Kathrin Ganter eine Zellkultur unter dem Mikroskop. An ihrem Arbeitsplatz ist sie umgeben von Röhrchen, Proben, Glaskolben, Bechergläsern und Pipetten. Die 20-Jährige absolviert eine Ausbildung zur Biologielaborantin am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg (MPI-IE). Nach dem Abitur wollte sie vor allem praktisch arbeiten. Auch der Gedanke, endlich eigenes Geld zu verdienen, spielte eine Rolle bei der Entscheidung, eine Ausbildung zu beginnen. Mit ihrer Tätigkeit im Labor trägt Ganter zur biomedizinischen Grundlagenforschung bei. In der Immunbiologie geht es nämlich unter anderem darum, die Diagnose und Behandlung von entzündlichen Erkrankungen mittels Forschung zu verbessern. Die Epigenetik beschäftigt sich mit den Veränderungen, die von außen auf die Erbsubstanz einwirken (Ernährung, Verhalten, Umwelt), ohne sie jedoch zu verändern. Während der dreijährigen Ausbildung am MPI-IE gewinnen die angehenden Biologielaboranten Einblicke in die Arbeitsmethoden wissenschaftlicher Labore. Alle sechs Monate wechseln sie die Abteilungen und erleben in unterschiedlichen Forschungsgruppen, dass große Labore mit zwanzig oder mehr Forschenden aus aller Welt anders funktionieren als kleinere Nachwuchsgruppen. Je nach wissenschaftlicher Zielsetzung kümmert sich Ganter dann zum Beispiel um Polymerase-Ketten-Reaktionen (Vervielfältigung der Erbsubstanz) oder sie arbeitet mit Zellkulturen. 34 CHILLI FEBRUAR 2021
PRÄZISION MIT MIKROSKOP UND PIPETTE
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JOBSTARTER FORSCHUNG
IHRE ARBEIT GEDULD UND AUSDAUER Anfangs sei es schon gewöhnungsbedürftig gewesen, tiefgefrorene Organe von Mäusen in Scheiben zu schneiden und anzufärben, räumt sie ein. Doch am MPI-IE gehört die Arbeit mit Versuchstieren wie Zebrafischen und Fruchtfliegen dazu. Wird sie im Freundeskreis auf diesen Aspekt ihres Berufs angesprochen? „Eher selten“, sagt Ganter, „und wenn, dann schildere ich, wie sorgsam und den strengen behördlichen Auflagen entsprechend wir mit den Versuchstieren umgehen. Und ich erkläre, dass die Grundlagenforschung menschliches Leiden lindert.“ Verantwortungsbewusstsein und Sorgfalt sind nicht nur beim Umgang mit den Versuchstieren gefragt. Auch die Arbeit mit Mikroskop und Pipette verlangt Konzentration und Präzision. Herbert Holz, Max-Planck-Ausbildungsleiter für Laborberufe, legt zudem Wert auf ein ausgeprägtes Interesse für Naturwissenschaften – und auf ausgezeichnete Englischkenntnisse: „Das ist die Sprache der Wissenschaft.“ Des Weiteren wird Geduld und Ausdauer von den Azubis verlangt, denn es kann Tage oder Wochen dauern, bis Versuchsergebnisse vorliegen. Eine gewisse Offenheit für Technik, Computer und elektronische Datenverarbeitung ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Ausbildung. „Das Bedienen von Sequenzierrobotern oder Massenspektrometern kann Teil des Aufgabenspek trums sein“, erläutert Carsten Roller vom Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland (VBIO). Er verweist auf die guten Berufsaussichten nach der Ausbildung: Unternehmen und Forschungsinstituten sei daran gelegen, die für ihren Bedarf ausgebildeten Fachkräfte zu halten. Aber manchmal sei es nicht ganz einfach, einen Ausbildungsplatz wohnortnah zu finden. Katja Wallrafen (dpa/BZ) FEBRUAR 2021 CHILLI 35
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JOBSTARTER AUSBILDUNG
Von der Heizanlage bis zum Hausdach: Das Handwerkmit seinen vielen Fachrichtungen hat eine wichtige Position, wenn es um umwelt- und klimagerechtes Bauen undWohnen geht.
NACHHALTIGE PERSPEKTIVEN
VIELE AUSBILDUNGSBERUFE DIENEN MITTEL- UND UNMITTELBAR DEM UMWELT- UND KLIMASCHUTZ
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ie duale Berufsausbildung leistet einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für den Umwelt- und Klimaschutz. Das dabei angebotene Spektrum ist beachtlich. „Duale Berufsausbildung ist praktizierter Umwelt- und Klimaschutz sowie gelebte Nachhaltigkeit. Viele duale Ausbildungsberufe vermitteln auf unterschiedlichsten Gebieten ANZEIGE
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eine hohe Innovationskompetenz für neue Ressourcen, und das Thema ,Nachhaltigkeit’ hat in den letzten Jahren einen deutlich höheren Stellenwert erhalten“, erklärte Hubert Esser, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB). Und weiter: „Es gibt für junge Menschen vielfältige Möglichkeiten in der beruflichen Bildung im Bereich Umwelt- und Klimaschutz zu arbeiten und sich an der Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft nachhaltig zu beteiligen.“
JOBSTARTER UMWELT- & KLIMASCHUTZ ANZEIGEN
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Gerade weil in der Corona-Krise die Möglichkeiten der direkten Kontaktaufnahme zwischen Bewerbern und Unternehmen stark eingeschränkt waren, lohne es sich, auf Betriebe und Kammern zuzugehen und sich dort über das regionale Ausbildungsplatzangebot zu informieren. Berufe, die mittel- und unmittelbar für den Ausbau der erneuerbaren Energien eine große Bedeutung haben, seien nach Auffassung des BIBB zum Beispiel die Ausbildungsberufe Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungsund Klimatechnik, Elektroniker für Energie- und Gebäudetechnik, Informationselektroniker und Dachdecker. Sie alle leisteten mit moderner digitaler Technik einen unverzichtbaren Beitrag für mehr Energieeffizienz und Klimaschutz rund ums Haus.
Ohne Handwerk kein Klimaschutz: Dachdecker helfen, Energiesparkonzepte zu realisieren.
Im umwelttechnischen Bereich sorgen beispielsweise Fachkräfte für Wasserversorgungstechnik, für Abwassertechnik, für Rohr-, Kanal- und Industrieservice sowie für Kreislauf- und Abfallwirtschaft dafür, dass im öffentlichen und privaten Bereich stets alles funktioniert. Dabei kommen auch in diesen Berufen verstärkt digitale Technologien in modernen Lage- und Schaltzentren zum Einsatz, sodass auch in Notfällen eine effiziente Steuerung und Überwachung von Anlagen und Abläufen sichergestellt ist. Aber auch in vielen anderen Branchen und Bereichen, so zum Beispiel in den sogenannten „grünen Berufen“ der Land- und Forstwirtschaft, in der Verpackungs- und Chemieindustrie sowie in der Logistik werden Umwelt- und Klimaschutz großgeschrieben, setzen ausgebildete Fachkräfte wichtige Impulse und leisten aktive Beiträge für eine nachhaltige Gestaltung der Zukunft. BZ/Volker Huber
INFO Detaillierte Informationen zu diesen und vielen weiteren dualen Ausbildungsberufen im Themenbereich „Umwelt, Klima, Nachhaltigkeit“ gibt es im Internetangebot des BIBB auf der eigens hierfür eingerichteten Website „Mit dualen Ausbildungsberufen nachhaltig durchstarten“ unter www.bibb.de/de/123631.php. FEBRUAR 2021 CHILLI 37
JOBSTARTER ANLAGEPRODUKTE
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METHODE EICHHÖRNCHEN
MIT DEM AUSBILDUNGSBEGINN FLIESST AUCH DAS ERSTE SELBST VERDIENTE GELD – WAS TUN DAMIT?
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ndlich: Das erste Ausbildungsgehalt ist auf dem Konto. Jetzt erst einmal den lang gehegten Wunsch nach dem neuen Smartphone erfüllen? Oder das Geld lieber zurücklegen nach der Methode „Langsam nährt sich das Eichhörnchen“? Wie Auszubildende mehr aus ihrem Gehalt machen, legt Schwäbisch-Hall-Experte Stefan Speicher dar.
Schritt 1: Sich einen Überblick schaffen Nur wer seine finanzielle Lage kennt, kann sinnvolle Finanzentscheidungen treffen. Deshalb ist zuerst eine grundlegende Analyse angesagt. Dafür werden alle Einnahmen addiert, vorrangig die monatliche Ausbildungsvergütung, eventuell Urlaubs- oder Weihnachtsgeld. Anschließend werden alle fixen und variablen Kosten abgezogen, also eventuelle Ausgaben, die für Miete und Nebenkosten oder Fahrtkosten entstehen. Außerdem: Wie viel wird im Monat für Lebens- und Genussmittel, Konsum und Freizeit ausge38 CHILLI FEBRUAR 2021
geben? Stefan Speicher rät: „Wer sich einen Gesamtüberblick über die tatsächlichen Einnahmen und Ausgaben verschafft, bekommt ein Gefühl dafür, wo Geld zum Sparen übrig bleiben kann.“
Schritt 2:
Langfristige Ziele auflisten Nach der Analyse ist es Zeit für Fragen wie: Welche Versicherungen brauche ich künftig? Welche Spar- und Anlageprodukte will ich nutzen? Aber auch für Träume: Will ich mir ein Auto kaufen, die erste Wohnung einrichten oder später eine eigene Wohnung kaufen? Zudem sollten sich Auszubildende erkundigen, welche Förderungen für sie in Frage kommen. Besonders attraktiv können die vermögenswirksamen Leistungen (VL) sein. Viele Arbeitgeber zahlen VL zusätzlich zum Gehalt. Der Arbeitgeber überweist die Summe dabei direkt auf die Finanzanlage des Arbeitnehmers. Ob und in welcher Höhe VL fließen, ist vom jeweils geltenden Tarifvertrag abhängig. Pro Monat kann der Zuschuss zwischen 6 und 40 Euro betragen.
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Schritt 3: Förderungen beantragen Auch mit kleinen Beiträgen kommen Sparer an staatliche Förderungen. Diese Angebote sind für Berufseinsteiger attraktiv: Mit der Arbeitnehmer-Sparzulage fördert der Staat Einzahlungen aus vermögenswirksamen Leistungen beispielsweise auf Bausparverträge nochmals extra. Alleinstehende mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen bis 17.900 Euro können jährlich bis zu 43 Euro zusätzlich erhalten. Auch die Riester-Förderung kann sich für Berufsanfänger bezahlt machen. Alleinstehende Sparer erhalten eine Grundzulage von 175 Euro im Jahr. Berufsstarter unter 25 Jahren profitieren zusätzlich von einem einmaligen Berufseinsteigerbonus in Höhe von 200 Euro. Unter Umständen können Steuervorteile hinzukommen. Wer vier Prozent des rentenversicherungspflichtigen Einkommens aus dem Vorjahr einzahlt, erhält die volle staatliche Förderung. „Da Berufsstarter zuvor meistens kein Einkommen hatten, müssen sie im ersten Jahr nur den Mindestbeitrag von 60 Euro aufbringen“, erklärt Speicher. Mit der Wohnungsbau-Prämie (WoP) können Einzahlungen auf Bausparverträge in Höhe von bis zu 700 Euro geltend gemacht werden. Für die WoP gelten Einkommensgrenzen: Für Singles ab 16 Jahren liegt die Höchstgrenze für das zu versteuernde Jahreseinkommen bei 35.000 Euro. Das Bruttoeinkommen darf damit bei maximal 43.400 Euro liegen. „Alleinstehende können mit der Förderung jährlich bis zu 70 Euro extra herausholen“, sagt Speicher.
Schritt 4: Konsequent sparen Vermögensaufbau und das Erreichen von Sparzielen gelingt nur mit Disziplin. Sparverträge und Prämien können dabei helfen. „Durch die Förderungen und Leistungen kann im besten Fall ein jährliches Plus von bis zu 743 Euro für Berufsanfänger herausspringen – den einmaligen Riester-Berufseinsteigerbonus von 200 Euro nicht einberechnet“, fasst Speicher zusammen. Sein Tipp: „Berufseinsteiger sollten gut durchdenken, was für sie das passende Anlageprodukt ist und sich dafür professionell beraten lassen. Dann heißt es, handeln und wertvolle Förderungen für dieses Jahr nicht verschenken.“ BZ/Volker Huber ANZEIGEN
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JOBSTARTER HANDWERK
TROTZ CORONA
DIE AUSBILDUNGSZAHLEN BLEIBEN STABIL
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ie Handwerksbetriebe im Kammerbezirk Freiburg haben im vergangenen Jahr 2294 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen. Damit landen die Handwerker bei ihrer Ausbildungsleistung 2020 trotz Corona mit einem leichten Minus von 1 Prozent fast eine Punktlandung. Nach dem e rsten Lockdown lagen die Zahlen noch zweistellig im Minus. Insgesamt absolvieren damit aktuell 6099 junge Menschen eine handwerkliche Ausbildung in Südbaden. „Das südbadische Handwerk bleibt auch in der Krise verlässlicher Ausbildungspartner“, berichtet Johannes Ullrich, Präsident der Handwerkskammer Freiburg. Im Vergleich zu den Landes-, aber auch den Bundeszahlen schneidet das regionale Handwerk besser ab. „Trotz wochenlan-
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gem Stillstand im Frühjahr haben unsere Betriebe fast genauso viele neue Auszubildende eingestellt wie im Vorjahr.“ Dabei hätten die Unternehmen eine regelrechte Aufholjagd hingelegt. „Noch im April und Mai waren die Zahlen deutlich im Minus.“
Krise verstärkt bestehende Trends Trotz der stabilen Ausbildungsleistung gibt es im Kammerbezirk auch ganz unterschiedliche Entwicklungen bei den Ausbildungsverträgen. Die CoronaPandemie führte zu einer sinkenden Ausbildungsleistung einzelner Gewerke, die durch strukturelle Veränderungen schon vor dem Ausbruch der Pandemie unter Druck geraten waren. Das bedeutete
vor allem weniger neu abgeschlossene Ausbildungsverträge bei Feinwerk mechanikern und Kfz-Mechatronikern, die von den Entwicklungen in der Automobil- und Maschinenbaubranche direkt oder indirekt betroffen waren. Bei den Kfz-Betrieben wurden hier jedoch starke regionale Unterschiede sichtbar. Friseure sind besonders stark von den Geschäftsschließungen betroffen und verzeichnen daher weniger neue Ausbildungsverhältnisse als in den vergangenen Jahren. Zu den Gewinnern zählt unter anderem das Zimmerer-Handwerk, der Holzbau ist stark nachgefragt. Auch bei den Straßenbauern sind die Zahlen der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge gestiegen. Die Bauberufe sind insgesamt stabil und stark gefragt. chilli
CHILLI ASTROLOGIE
DAS »BIERERNSTE«
CHILLI-HOROSKOP
DIE CORONA-IST-VORBEI-EDITION VON HOBBY-ASTRONAUT PHILIP THOMAS
WIDDER 21.03. – 20.04. Nach dem Motto „Wenn zwei sich impfen, freut sich der Dritte“ wurde Corona endlich besiegt. Die Welt liegt sich an- und abstandslos in den Armen. Du machst direkt die nächste Tanzfläche unsicher. In der Stampede aus Partytieren starrst du allerdings nur aufs Handy. Da ist sie wieder: die Angst, Dinge zu verpassen.
STIER 21.04. – 21.05. Shoppen, Schnäppchen, Schlussverkauf. So ein Klick gibt dir eben nicht den Kick, wie es das Kreditkartenlesegerät eines Kaufhauses tut. Das hast du wirklich vermisst: Treppe rauf, angebrüllt werden, sich wegen ein paar Prozenten prügeln, Treppe runter und direkt ins nächste Gebäude. Jetzt weißt du auch, wie sich ein Paketbote im Lockdown gefühlt hat.
ZWILLING 22.05. – 21.06. Endlich wieder Fetisch-Partys! Ringelpiez mit Anfassen war im Oktober zu Unrecht in Verruf geraten, als die Berliner Polizei eine solche Sause mit 600 Gästen auflöste, weil dort nicht jeder Maskenpflicht und Abstandsregeln frönte. Über das Medienecho musstest du schmunzeln. Auf Fetisch-Partys lauern schließlich noch ganz andere Infektionskrankheiten.
KREBS 22.06. – 22.07. Weihnachten konntest du nicht zu den Schwiegereltern, Silvester musstest du deinen ängstlichen Hund nicht im Keller einschließen, in der Quarantäne hast du deine hübsche Mitbewohnerin näher kennengelernt, du durftest endlich von zu Hause arbeiten und das Fitnessstudio war auch dicht. Welche Tiere man außer Fledermäusen wohl noch roh essen kann?
LÖWE 23.07. – 23.08. Nachdem das Coronavirus ausgemerzt wurde, gehst du wieder unbeschwert in den Supermarkt: Ohne Maske beschlägt deine Brille nicht, ohne Einkaufswagen-Pflicht musst nicht jedes Gurkenglas spazieren fahren, an der Kühltheke gibt’s keine Schlange und vor allem: Die flirtwütigen Singles haben ihre Dates von der Kaffee-Abteilung zurück in die Cafés verlegt.
JUNGFRAU 24.08. – 23.09. Dein Urlaub war nicht gerade erholsam. Am All-Inklusive-Buffet hast du dich überfressen, die anderen Hotelgäste waren laut, im Pool lagen Blätter und das Bett war zu weich. Das nächste Mal gehst du zelten: Dosen-Ravioli, Stechmücken, ein steinharter Schlafplatz und keine Zahnbürste. Das Leben im Lockdown hat dich abgehärtet.
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WAAGE 24.09. – 23.10. Deine erste Geschäftsreise durch ganz Deutschland für ein halbstündiges Meeting zelebrierst du in vollen Zügen: Mitten ins Abteil geniest, den Leuten in der Warteschlange in die Hacken getreten, und der anschließende Handschlag mit dem Geschäftspartner lief auch wie geschmiert. Immerhin hast du das Händewaschen nach Corona ja auch wieder aufgegeben.
SKORPION 24.10. – 22.11. Dass Konzertsäle und Theater im Lockdown dichtgemacht haben, hast du gar nicht mitbekommen. Großveranstaltungen hast du vermisst! Kurz bevor die Stadien wieder aufgemacht haben, warst du sogar knapp davor, in deiner Nachbarschaft mit einer Kiste voll mit Bratwurst, Eiskonfekt und Getränken von Tür zu Tür zu tingeln.
SCHÜTZE 23.11. – 21.12. Corona war für dich vor allem eine Zeit finanzieller Entbehrung. Seitdem das Virus besiegt ist, der Lockdown beendet wurde und die Wirtschaft angezogen hat, hast du wieder viel mehr Geld im Portemonnaie. Aber nicht etwa, weil du nicht mehr in Kurzarbeit bist – du hast deine ganzen Streaming-Abos wieder gekündigt.
STEINBOCK 22.12. – 20.01. Das erste Fest nach Corona will gut geplant sein: Wenn die Bars wieder aufmachen, suchst du die ranzigste Raucherkneipe in ganz Südbaden. Dort angekommen, bestellst du dir ein kleines Bier und eine ganze Stange Zigaretten. Auf deine Lunge hast du jetzt schließlich ein ganzes Jahr lang irgendwie Rücksicht genommen?!
WASSERMANN 21.01. – 20.02. Einige haben eine ganze Pandemie gebraucht, um einfachste Hygiene-Maßnahmen zu lernen. Nach Corona benötigen viele Zeit, um diese Regeln wieder zu verlernen. Umarmungen müssen erst wieder geprobt, die Leber muss an Konzerte und Heimspiele langsam gewöhnt werden. Mit Maske am Bankschalter nach Geld zu fragen, machst du aber nur einmal.
FISCHE 21.02. – 20.03. Alle reden darüber, was sie Tolles tun, wenn diese blöde Pandemie endlich vorbei ist: Urlaub, Oma besuchen, ins Konzert gehen, sich im Stadion die Seele aus dem Leib brüllen, in einer vollen Bar über den Durst trinken, bis in die Morgenstunden feiern. Du wirst deine Masken erst mal drei Monate lang falsch herum tragen, damit deine Ohren wieder an ihre alte Position kommen.