chilli cultur.zeit

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HEFT NR. 3/22 12. JAHRGANG

ZÖGERLICH

MUSIKZENTRUM KA52 IM PLANUNGSSTAU

PUNKIG

ALBUMDEBÜT DER BAND „HEDVIG”

SCHWUNGVOLL

BUCHHANDLUNG ZUM WETZSTEIN STARTET NEU


KULTUR

Fotos: © tln

Im Fokus: In der Tiefgarage an der Karlsruher Straße 52 (links) sollen Proberäume entstehen. Auch die Karlskaserne könnte dafür Platz bieten.

„Mulmiges Gefühl“

MUSIKLABOR KA52 KÖNNTE ZU TEUER WERDEN / ALTERNATIVE KARLSKASERNE

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ann kommt das Musikzentrum KA52? Kommt es überhaupt noch? Diese Fragen stehen aktuell im Raum. Um die auszubauende Tiefgarage an der Karlsruher Straße 52 ist es erstaunlich ruhig geworden. Das städtische Kulturamt glaubt weiter ans Projekt. Würde es scheitern, wäre das für Stadtrat Atai Keller „eine Katastrophe“. Als Alternative erscheint nun die Karlskaserne auf dem Planungstisch.

von Till Neumann Die Eröffnung war für Herbst 2021 geplant. 1,1 Millionen Euro hatte der Freiburger Gemeinderat dafür freigegeben. Doch es ist still geworden ums Musiklabor. Geplant sind dort Proberäume, ein Sharing-Studio, eine Minibühne und Platz für Workshops und Verwaltung. Doch eine Eröffnung scheint in weiter Ferne. „Wir haben noch keinen Kostenvoranschlag“, sagt Multicore-Chef Franck Mitaine. Mit 40 CHILLI CULTUR.ZEIT APRIL 2022

seinen Vereinskollegen möchte er KA52 betreiben. Im März 2021 hat er dem chilli die noch ziemlich nackten Räumlichkeiten gezeigt, seitdem habe sich dort nichts getan. Der Musikaktivist sagt: „Vielleicht wird KA52 nicht einmal gebaut.“

Aktivisten sind besorgt, die Verwaltung ist optimistisch Der Grund: Durch Faktoren wie die Pandemie und den Ukraine-Krieg sind die Baukosten explodiert. Übersteigen sie die 1,1 Millionen Euro, muss das Projekt wohl erneut in den Gemeinderat. Die Hoffnung hat auch Multicore-Vertreter Markus Schillberg nicht aufgegeben. Doch er sagt: „Wir haben alle ein mulmiges Gefühl.“ Vom Bauamt habe er die


Info, dass die Baukosten stark steigen könnten. Schillberg betont: „Das Schneckentempo bei der Planung ist anstrengend.“ Erst sollten die Zahlen Ende 2021 vorliegen, dann im Februar, der neue Stand sei April. Federführend im Rathaus ist der stell-v ertretende Kulturamtsleiter Udo Eichmeier. Er bestätigt Anfang April, dass die Kostenermittlung „in den kommenden Wochen“ vorliegen soll. Ob die Kosten für KA52 steigen könnten? „Es liegt noch keine abschließende Kostenermittlung vor“, schreibt Eichmeier. Eine Abweichung sei nicht auszuschließen. Von der Umsetzung ist er weiterhin überzeugt: „Die Kulturverwaltung geht nach wie vor davon aus, dass das

Fotos: © Multicore

Trommeln für mehr Kulturräume: Franck Mitaine (oben) und Markus Schillberg vom Verein Multicore.

Projekt realisiert wird.“ Das sagt auch der Popbeauftragte Tilo Buchholz. Das Vorhaben ist für ihn wichtig: „Es besitzt eine hohe Bedeutung für die Entwicklung der Bandszene in Freiburg. Auch weil es dank der Konzeption von Multicore mehr beinhaltet als nur das reine Zur-Verfügung-Stellen von Räumen.“ Die verzögerte Planung erklärt Eichmeier so: „Die Corona-Pandemie dauert immer noch an und hat den gesamten Planungsprozess einschließlich Baugenehmigungsverfahren und Kostenermittlung gestreckt.“

Höhere Miete könnte Betrieb erschweren Ein weiterer Knackpunkt ist der Betrieb von KA52: 40.000 Euro bekommt Multicore dafür im Jahr von der Stadtverwaltung. Mit der Verwaltung seien 3,50 Euro pro Quadratmeter angepeilt worden, sagt Schillberg. Nun stünde eine Staffelmiete im Raum, die bis auf fünf Euro pro Quadratmeter steigen könne. „Nach unserer Kalkulation wäre das für die 700 Quadratmeter nicht zu stemmen“, betont Schillberg. Eichmeier widerspricht: „Nach aktueller Prüfung des Kulturamtes ist der Betrieb mit dem Zuschuss von 40.000 Euro gedeckt.“ Fakt ist: Proberäume sind Mangelware in Freiburg. Zwölf würden durch KA52 hinzukommen. Da die Künstlerwerkstatt L6 2023 schließt, wird der Bedarf steigen. Auch Stadtrat Atai Keller (Kulturliste) hat in Sachen KA52 Bedenken: „Wenn das nicht gebaut wird, wäre es eine Katastrophe.“ Franck Mitaine hat lange für Proberäume gekämpft. Die große Lösung am Güterbahnhof unweit der Kaiserstuhlbrücke ist 2020 geplatzt. Dann kam die Karlsruher Straße als kleine Alternative, jetzt wackelt auch die. Eine weitere Option hat Mitaine im Kopf: die Karlskaserne am Europaplatz. Dort könnten ein kleiner Club und Proberäume rein. Auch der Lokalverein Innenstadt macht sich für Kulturflächen wie Proberäume an so prominenter Lage stark.

KULTURNOTIZEN Tanznetz Freiburg mit neuer Leitung Die in Freiburg geborene Dramaturgin und Tänzerin Mira Moschallski Norman und Tobias Steiner sind die neuen Geschäftsführer des Tanznetz Freiburg. Steiner war als Künstlerischer Gesamtprojektkoordinator für den TANZPAKT Dresden und am „Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste“ tätig. Mira Moschallski Norman kehrt nach freischaffender Tätigkeit in freien Szenen in Berlin und Großbritannien zurück an die Dreisam. Ergänzt wird das Duo durch Julia Klockow, die für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Die Tanznetz Freiburg gUG (haftungsbeschränkt) wurde im vergangenen Dezember durch die Gesellschafter bewegungs-art e.V. und E-WERK Freiburg e.V. gegründet und ist die Fortführung des Tanznetz Freiburg, welches durch den Tanzpakt I (2018–2021) erfolgreich als Plattform für die freie Tanzszene etabliert wurde. Es setzt sich für nachhaltige Strukturen und faire Arbeitsbedingungen in der Freien Tanzszene ein. Das Kulturamt der Stadt Freiburg, das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg sowie das Bundesministerium für Kultur und Medien fördern das dreijährige Programm. bar Mehr Info: www.tanznetz-freiburg.de

Britt Schilling gewinnt Berndt Koberstein Preis Der Berndt Koberstein Preis für Zusammenleben und Solidarität geht 2022 an die Freiburger Fotografin Britt Schilling. Die Jury würdigte damit die große künstlerische Qualität der Arbeiten Schillings, die „von tiefgreifendem Humanismus“ geprägt seien. Insbesondere die Fotografien aus Freiburgs Partnerstadt Wiwili und Menschen gleichen Berufs aus Freiburg, von ihrem Foto-Workshop in Hawassa/Äthiopien und von der Ausstellung „in gesellschaft. Freiburger frauen im blick“ hätten sie beeindruckt. Ebenso auch Schillings Gemeinschaftsprojekte mit der Filmemacherin Reinhild Dettmer-Finke, etwa mit Insassen der Freiburger JVA. „Britt Schilling gibt Menschen, die nicht im Rampenlicht stehen und eher im Verborgenen blühen, ein Gesicht“, so die Jury. Der Berndt Koberstein Preis für Zusammenleben und Solidarität erinnert an den im Jahr 1986 in Wiwili/Nicaragua ermordeten Freiburger Aufbauhelfer Berndt Koberstein. Er wird von der Guzzoni-Federer Stiftung jährlich vergeben und ist mit 10.000 Euro dotiert. bar


KINO

Wie eine Löwin

DIE GESCHICHTE EINES GUANTÁNAMO-HÄFTLINGS AUS DER PERSPEKTIVE SEINER KÄMPFERISCHEN MUTTER

Deutschland 2022 Regie: Andreas Dresen Mit: M.Kaptan, A.Scheer, N.Kürük, C. Hübner, Abdullah Ömre Öztürk u.a. Verleih: Pandora Laufzeit: 119 Minuten Start: 28. April 2022

V

or 20 Jahren geriet Murat Kurnaz als „Bremer Taliban“ in die Schlagzeilen. Der damals 19-jährige Sohn einer türkischen Einwanderer- und Arbeiterfamilie war im Herbst 2001 nach Karatschi gereist, um bei einer sunnitisch-orthodoxen Organisation den Koran zu studieren. Er wurde von der pakistanischen Polizei verhaftet und gegen ein Kopfgeld an die US-Streitkräfte in Afghanistan ausgeliefert. Unter dem Vorwurf, an den Anschlägen des 11. September 2001 beteiligt gewesen zu sein, wurde er als „feindlicher Kämpfer“ in das Gefangenenlager im US-Marinestützpunkt Guantánamo auf Kuba verlegt. Dort blieb er als Kriegsgefangener bis 2006. Andreas Dresens Spielfilm erzählt nun den langen Kampf seiner Mutter Rabiye um Murats Freilassung. Premiere feierte er bei der diesjährigen Berlinale – und wurde dort außer mit dem Gilde-Filmpreis der Jury auch mit zwei Silbernen Löwen ausgezeichnet: Laila Stieler für das beste Drehbuch und Maltem Kaptan als beste Hauptdarstellerin. Dieses Prädikat hat die 41-jährige Comedian mehr als verdient: Sie spielt die

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Rolle der Mutter, die wie eine Löwin um die Freiheit ihres Sohnes kämpft, höchst überzeugend – mit erfrischender Energie, mit gelegentlicher Verzagtheit, mit viel praktischem Humor und überraschender Leichtigkeit. Sie gibt dem düsteren Drama um einen ohne jede rechtliche Grundlage festgehaltenen und zudem gefolterten Häftling eine helle, sehr optimistische, zuweilen sogar heitere Note: Die einfache und ziemlich impulsive Frau lässt sich in ihrem unerschütterlichen Glauben an die Unschuld ihres Kindes – und damit an das Gute im Menschen – von nichts und niemandem aufhalten. Auch nicht vom damaligen US-Präsidenten George W. Bush, gegen den sie beim Supreme Court eine Klage einreicht, gemeinsam mit dem von Alexander Scheer bestens verkörperten Menschenrechtsanwalt Bernhard Docke. Die extrovertierte Hausfrau und der zurückhaltende Anwalt wachsen zu einem wunderbaren Team zusammen; sie reisen nach Washington, um gemeinsam mit Angehörigen anderer Guantánamo-Häftlinge gegen das Unrecht vorzugehen, für das sich niemand zuständig fühlt. Dabei geht es nicht einmal so sehr um Schuld oder Unschuld, sondern darum, dass das Menschenrecht auf gerechte Justizverfahren allen zusteht. Und das ist die eindeutige Botschaft des Films – auch wenn er sie in einer sehr gelungenen Mischung aus Drama und Komödie verpackt.

Fotos: © pandora Film

Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush

von Erika Weisser


KINO IN DEN BESTEN HÄNDEN

ODYSSEE

SUN CHILDREN

Foto: ©Alamode

Foto: © Grandfilm

Foto: © MFA

Frankreich 2021 Regie: Catherine Corsini Mit: Aissatou Diallo Sagna, M. Foïs u. a. Verleih: Alamode Laufzeit: 98 Minuten Start: 21. April 2022

Frankreich/Tschechien 2020 Regie: Florence Miailhe Mit: Hanna Schygulla als Sprecherin Verleih: Grandfilm Laufzeit: 84 Minuten Start: 28. April 2022

Iran 2020 Regie: Majid Majidi Mit: Rouhollah Zamani, Shamila Shirzad Verleih: MFA Laufzeit: 99 Minuten Start: 5. Mai 2022

Fels in hysterischer Brandung

Erschütternd aktuell

Kein Licht am Tunnelende

(ewei). Die selbstbezogene und streitsüchtige Comiczeichnerin Raf bricht sich nach einer wüsten Auseinandersetzung mit ihrer Lebensgefährtin Julie den Arm: Sie wollte Julie am endgültigen Auszug aus der gemeinsamen Wohnung hindern und stürzte dabei. Julie bringt sie zwar noch in die Notaufnahme der nächsten Klinik, will sich dann aber nicht weiter um sie kümmern. Angesichts der hoffnungslos überfüllten Station, der entsprechenden Anspannung des Personals und des hysterischen Gezeters der Freundin bleibt sie aber. Und wird Zeugin eines durch stetig eingelieferte Verletzte ausgelösten Chaos; diese rühren von den Zusammenstößen zwischen Gelbwesten-Demonstranten und der mit Schlagstöcken, Tränengas und Wasserwerfern ausgestatteten Polizei unweit der Klinik her. Dass die Situation nicht aus den Fugen gerät, ist Krankenschwester Kim zu verdanken, die, obwohl am Rand der Erschöpfung, die Ruhe bewahrt und für jeden ein freundliches Wort, eine mitfühlende Geste hat. Sogar für Raf.

(ewei). Die Geschwister Kyona und Adriel leben in einem kleinen, von friedlichen Wäldern umgebenen Dorf, das überall auf der Welt sein kann. Die beiden sind gern in diesen Wäldern unterwegs – auf Abenteuer- und Entdeckungstouren. Sie beobachten Tiere, erfinden Spiele und klettern um die Wette auf die höchsten Bäume. Von dort aus erblicken sie eines Tages Rauch über ihrem Dorf. Und als sie sich vorsichtig nähern, sehen sie, dass die Häuser angezündet wurden und Soldaten ihre Nachbarn gefangen nehmen. Sie finden ihre versteckten Eltern, fliehen gemeinsam mit ihnen, werden aber bald von ihnen getrennt. Die beiden setzten ihren Weg ins Ungewisse allein fort, schlagen sich irgendwie durch, eine Zeit lang in einer Kinderbande. Um zu überleben, müssen sie ihre Kindheit ganz schnell hinter sich lassen. In bewegenden und bewegten handgemalten Bildern in Öl auf Glas erzählt die Künstlerin Florence Miailhe eine eigentlich universelle, doch erschütternd aktuelle Kriegs-Fluchtgeschichte.

(ewei). Ali ist zwölf und weitgehend auf sich selbst gestellt: Sein Vater lebt nicht mehr und die Mutter befindet sich in einem Spital in Teheran. Als er sie ohne Erlaubnis besucht, findet er sie in unansprechbarem Zustand ans Bett gebunden vor. Er will sie so schnell wie möglich herausholen, hätte aber, da er für seinen eigenen Lebensunterhalt arbeiten muss, weder genug Zeit noch Geld, um für sie zu sorgen. Und schnelles Geld ist nicht in Aussicht, obwohl er mit seinen gleichfalls sich selbst überlassenen Freunden auch hin und wieder krumme Dinger dreht, die meistens ohnehin schiefgehen. Als ein Altkrimineller ihm von einem Schatz erzählt, der angeblich in irgendwelchen Katakomben unter der Sun School, einer privaten Schule für Straßenkinder und Kinderarbeiter, verborgen sein soll, melden sich die Jungs dort an. Und während sie von den Einsichten, die ihnen die ungewohnte Bildung eröffnet, überrascht sind, graben sie sich heimlich immer weiter durch einen endlosen Tunnel.


MUSIK

„Hey, wir machen ja Thrash Metal!“

FREIBURGER BAND HEDVIG VERÖFFENTLICHT DEBÜT OHNE SCHEUKLAPPEN

S

von Pascal Lienhard

chuld an allem ist der Vater. Schon im Kindesalter versorgte er Raffaello und Jacopo Dazzi mit Musik. Alben von Künstlern wie den Doors, Pink Floyd, Led Zeppelin und Deep Purple – ein ordentliches Starterpaket. Das hat Früchte getragen. Schon seit Jahren machen die Brüder Musik, mit Max Bonengel haben sie als „Hedvig“ jetzt ihre erste Platte veröffentlicht.

der Gitarre malträtiert Jacopo Dazzi auch die Stimmbänder. Raffaello Dazzi verdrischt die Drums, der Bass von Bonengel wummert ordentlich. Und natürlich darf auch das Gitarrensolo nicht fehlen. Ein starker Einstieg. Wer für das Trio eine musikalische Schublade sucht, wird es wohl in jene mit der Aufschrift „Thrash Metal“ stecken. Der Stil verbindet – aufs Wesentliche heruntergebrochen – eine harte Ins-

Die Brüder Dazzi ließen es musikalisch schon früh im elThrash Metal ohne Scheuklappen: Schnelligkeit, Härte und aggressiver terlichen Keller in Straßburg Max Bonengel, Raffaello und Jacopo krachen. Die Band „Hedvig“ Gesang – das ist Thrash Metal Dazzi (v. l. n. r.) sind „Hedvig“. gibt es seit 2019, in der heuFoto: © tyrellwellig tigen Besetzung mit Bonengel am Bass trumentierung mit einem aggressiv seit 2020. Beheimatet ist das Trio in vorgetragenen Gesangsstil. „Die hohe Freiburg. Seine Musik hat es in sich, wie Geschwindigkeit ist wahrscheinlich der das Debüt „Regain Control“ beweist. zentralste Aspekt“, erklärt der 19-jährige Nach einem kurzen Intro startet „Power Bonengel. „Als Referenz kann man sich to the People“. Vor dem inneren Auge die frühen Alben von Metallica anhöfliegen überlange Haarpracht und Bier- ren“, ergänzt Jacopo Dazzi. Zudem sind krüge durch die Luft, im Refrain recken im Thrash Metal oft Ansätze des Punks sich geballte Fäuste in die Höhe. Neben zu hören. 44 CHILLI CULTUR.ZEIT APRIL 2022


MUSIK MUSIK

Hyped nach Stillstand

Das gilt für „Hedvig“ in doppelter Hinsicht. Titel wie „Power to the People“ oder „Regain Control“ könnten problemlos von einer Punkband kommen, Zeilen wie „No longer shall you submit to survive, no longer shall you work, consume and die“ sind Gesellschaftskritik pur. „Politisch stehen wir ganz klar links“, sagt Jacopo Dazzi. Jedoch wolle man nicht nur die eigene Blase bedienen. Könnte da der Bandname helfen? Bei „Hedvig“ mag man zuerst an die Schneeeule von Zauberlehrling Harry Potter denken. „Damit hat das nichts zu tun“, stellt Raffaello Dazzi klar. Der Name ist einem Charakter aus dem Stück „Die Wildente“ des Norwegers Henrik Ibsen aus dem 19. Jahrhundert entnommen. Weltgewandtheit kann man dem Trio kaum absprechen. So ist es auch nicht nur klassischer Thrash Metal, der bedient wird. „Wir haben erst mit der Zeit gemerkt, dass wir Thrash Metal machen“, erklärt der 25-jährige Raffaello Dazzi. Auch andere Einflüsse kommen zum Tragen. „Pleasure is Pain“ etwa beginnt langsam, baut sich Stück für Stück auf, ehe es losrockt und sich zu einem Highlight der Platte mausert. Im Rausschmeißer „Schwarzwald Thrash“ wechselt Jacopo Dazzi ins Deutsche und besingt irre Gestalten, die nachts ums Feuer tanzen. „Da war ich von der Fastnacht beeinflusst“, sagt der 22-Jährige grinsend.

BAND TRIAZ VERÖFFENTLICHT IHR ZWEITES ALBUM Jazz, Pop und Klassik treffen bei Triaz aufeinander. Soeben hat die Freiburger Band ihr zweites Album „Silent Tears“ veröffentlicht. Für Sängerin Florine Puluj ist das auch das Ende einer Durststrecke. Mit der Platte brechen sie auch mal Konventionen. „Wir sind hyped“, sagt Florine Puluj. Ihr Album ist da, gerade haben sie ihr Releasekonzert im Jazzhaus gespielt. Ziemlich krasser Stillstand sei wegen Corona gewesen. Mit der Platte gehe es nun endlich weiter. Die ersten Singles „Shadows in Verdon“ und „Fly High“ unterstreichen, dass sie der Formel ihres Debütalbums „Bring me Everything“ (2019) treu bleiben: Eingängige Melodien treffen auf komplexe Arrangements. Fein produzierte, meist tiefenentspannte Beats bilden den Teppich, der die Sängerin schweben lässt. Ihre samtige Stimme ist das prägende Element der Kombo. Als Geschichtenerzählerin sieht sich die 28-Jährige. Ihre Hörer·innen möchte sie mit Gitarrist Thomas Schmeer, Christian Kube (Klavier), Bernd Heitzler (Kontrabass) und Julian Erhardt am Schlagzeug mit auf eine Reise nehmen. Wer in den Triaz-Zug einsteigt, sollte Zeit mitbringen: Der Album-Opener „Silent Tears“ geht 9.23 Minuten. Viel zu entdecken gibt es da dank raffinierter Wendungen. Gewagt sei die Länge, sagt Puluj. Aber: „Das ist die Musik, die wir sind.“ Kreativ und grenzenlos sei ihr Ansatz. Und das zeige sich gerade in „Silent Tears“. Im Song geht es um Flucht und Europa. „Das Thema ist super wichtig“, sagt Puluj. Daran komme man nicht vorbei. Die Skizze zum Lied ist schon einige Jahre alt. Erst jetzt hätten sie es geschafft, ihn umzusetzen. „Unser krassester Song bisher“, sagt Puluj. Advanced Pop nennen Triaz den Stilmix. Der Bandname steht für einen Dreiklang, die Einflüsse sind aber zahlreicher. Auch Rockiges ist rauszuhören. Das Booking ist schwieriger als noch 2019, berichtet Puluj. Gerne würden sie auch auf größeren Festivals und in renommierten Clubs spielen: „Die haben uns noch nicht so auf dem Schirm, aber wir sind sicher, das Niveau zu haben.“ Ihr Song „Undercover-Love“ lief im Deutschlandfunk in der Rotation. Ihre Stärke sehen sie aber vor allem live: „Wir können eine wahnsinnig krasse Stimmung aufbauen“, sagt Puluj. Etwas Vergleichbares gebe es nicht. Till Neumann

Wall of Death: Unsinn für die einen, Ehre für die anderen

Eingäng, aber komplex: der Sound von Florine Puluj und ihrer Band

Foto: © Amina Mosley

Ungefähr zwei Jahre arbeitete die Band an ihrem Album, die Drums wurden schon Anfang 2020 aufgenommen. „Wir sind große Prokrastinierer“, gesteht Raffaello Dazzi schmunzelnd. Zudem habe man mit Beruf und Studium zum Teil viel um die Ohren gehabt. Inzwischen arbeite man aber konsequenter. Aufgenommen wurde in Eigenproduktion in Kehl und Freiburg, für Mix und Mastering holte sich das Trio Christoph Brandes von Iguana Studios aus der March ins Boot. „Ihm haben wir viel zu verdanken“, sagt Jacopo Dazzi. „Wir wollen jetzt so viele Shows wie nur möglich spielen“, führt der Sänger aus, „wir spielen liebend gerne live.“ Dass die Band auf der Bühne ankommt, hat ihr Auftritt bei „Freiburg stimmt ein“ im vergangenen Jahr gezeigt. Der erste gemeinsame Gig war ein Erfolg – inklusive Wall of Death. Das Ritual wird vor allem in härteren Musikrichtungen gepflegt und wird für Uneingeweihte auf ewig ein Mysterium bleiben. Das Publikum teilt sich in zwei Blöcke, um auf ein Signal hin frontal aufeinanderzuzurasen. Über den Sinn werden sich die Geister noch lange streiten – für eine junge Band wie „Hedvig“ ist es aber eine echte Ehre. Die Musiker arbeiten bereits an Songs für eine zweite Platte. Das Debüt wurde inzwischen sogar schon aus den USA geordert. Ob das auch ohne die frühe Beschallung mit Led Zeppelin und Co. so gekommen wäre? Fans von Gitarrenmusik können dem Vater der Dazzis jedenfalls dankbar sei.


RED HOT CHILI PEPPERS

Balkan-Brass

Alternative-Rock

I WAY TO ÄL

UNLIMITED LOVE

te des M

Foto: © Paul Ambrusch / @xfinalchapterx

3 FRAGEN AN Darius Lohmüller In Freiburg haben sie sich gegründet und eine treue Fangemeinde erarbeitet. Gerade haben die Deadnotes Konzerte in England und Frankreich gespielt. Was dort alles passiert ist, erzählt der 26-jährige Sänger und Gitarrist Darius Lohmüller chilli-Volontär Pascal Lienhard. Herr Lohmüller, Ihre Tour war turbulent? Sie stand unter keinem guten Stern. Die ersten Gigs wurden kurzfristig, auch wegen Corona, abgesagt. Am vierten Tag wurde in unseren Van eingebrochen. Die Diebe haben drei Viertel des Equipments gestohlen, der Schaden beträgt rund 25.000 Euro. Unsere Versicherung kommt nur für die Hälfte auf. Das ist existenzbedrohend Wie haben Sie reagiert? Wir haben uns vorgenommen, die Tour fortzusetzen. Das Equipment haben wir uns jeden Abend geliehen. Auf dem Weg nach Frankreich wurden wir über Nacht viereinhalb Stunden aufgehalten. Die Zollbeamten wollten nicht glauben, dass wir mit so viel Zeug ins Land und mit so wenig zurückkommen. Schließlich haben wir Paris erreicht und erfahren, dass die Show wegen eines Wasserschadens abgeblasen wurde. Mit Unterstützung haben wir ein Akustik-Konzert organisiert. Wie geht es jetzt weiter? Wir realisieren langsam, was das alles für uns bedeutet. Man darf nicht unterschätzen, dass das psychisch enorm belastend ist. Da fragt man sich schon, wie lange man das noch machen will. Wir werden eine Lösung finden, auch wenn wir noch nicht wissen, wie die aussehen wird. 46 CHILLI CULTUR.ZEIT APRIL 2022

Geschenk an die Fans

Rückkehr der glorreichen Vier

(pl). Die Freiburger Balkan-Brass-Band Äl Jawala hat was zu feiern: Ganze 20 Jahre ist es her, dass mit „Urbanâtya“ die erste Platte in den Läden stand, zum ersten Mal gemeinsam musiziert hatte man schon 2000. Mit der Compilation „I Way to Äl“ schaut das Quintett nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch nach vorne. Die erste Erkenntnis nach 17 Songs auf fast 80 Minuten: Scheuklappen sind der Band fremd. Egal ob frühe Nummern wie „Freiheit“ oder Neues wie das euphorische „Sautez!“ – die Formation vermischt die unterschiedlichsten Stile. Mal fühlt man sich auf den Balkan versetzt, im nächsten Moment tauchen vor dem inneren Augen Szenen aus dem arabischen Kulturraum auf – und schon geht die Reise weiter. Der Bandname kommt aus dem Arabischen und steht für „Die Wanderer“ – passt! Auf „I Way to Äl“ gibt’s neben neuen Songs und Klassikern auch Liveaufnahmen. Der rote Faden, der sich durch alle Songs zieht: die Leidenschaft am gemeinsamen Musizieren. Das zeigen vor allem die Livemitschnitte, auf denen das Quintett Solos zelebriert als gäbe es kein morgen. Die Zusammenstellung ist eine super Gelegenheit, um sich mit Nummern wie „Schiller’s Banda“, „Wake up“ oder „Step into Jungle“ die Zeit bis zum nächsten Konzert zu verkürzen.

(pl). Die Musikwelt frohlockt: Die Red Hot Chili Peppers sind in ihrer bewährten Besetzung zurück. Seit 2019 ist der gefeierte Gitarrist John Frusciante wieder dabei. Jetzt steht mit „Unlimited Love“ die erste Platte in diesem Lineup seit 2006 in den Läden. Schon die erste Single „Black Summer“ macht Lust auf mehr. Die Alternative-Rocker enttäuschen nicht und lassen so manchen Ohrwurm auf die Fans los. Nummern wie „She’s a lover“ zeigen, wie gut das Quartett harmoniert. Das zurückgelehnte „Poster Boy“ bietet entspannten Funk-Rock, Sänger Anthony Kiedis wirft mit Verweisen von Billie Jean bis Ulysses Grant um sich. Mit „Not the One“ haut die Formation eine gekonnte Ballade raus, und den „One Way Traffic“ bekommt man so schnell nicht mehr aus dem Ohr. Ohne die erstklassige Rhythmus-Abteilung aus Drummer Chad Smith und Bassist Flea kann man sich die Band nicht vorstellen. Gerade Letzterer drückt der Gruppe einen Stempel auf. Wer meint, dass man mit dem Bass keine markanten Akzente setzen könne, höre sich nur mal den „Aquatic Mouth Dance“ an. Ob es wirklich 17 neue Songs und eine Spielzeit von 73 Minuten gebraucht hätte, sei dahingestellt – mit dem einen oder anderen Song weniger wäre das Album noch runder geworden. Aber das ist Meckern auf höchstem Niveau.

onats

Verlustreiche Tour

ÄL JAWALA

Pl a t

MUSIK


KOLUMNE 01099

MACHINE GUN KELLY

Hip-Hop/Rap

Pop-Punk

ALTBAU

MAINSTREAM SELLOUT

... zu Dschingis Khan Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacks­verbrechen in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth geschmack­lose Werke von Künstlern, die das geschmack­liche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Immer noch frisch

Ladehemmung

(mb). Beim neuen 01099-Album nimmt das Kopfnicken kein Ende. Die vier Rapper bleiben ihrem Stil treu und mischen entspannte Beats mit Texten, die – im Gegensatz zu anderen deutschen Hip-Hop Künstler·innen – ohne Angeberei und Sexismus auskommen. Und die Dresdner Jungs machen auch klar, welche Werte sie vertreten: „Warum so intolerant, du hast so Vieles, aber denkst nicht mal dran.“ Bekannt geworden durch Lieder wie „Frisch“ und „Durstlöscher“, verfolgen die Jungs denselben Stil wie zuvor: Der atmosphärische Mix aus Freundschaft, Trinken, Rauchen und eine Gute-Zeit-Haben machen den entspannten Vibe des Albums aus: Die Lust auf den Sommer und lange Nächte in der Stadt steigt. Dadurch, dass die Lieder teils ähnliche Stimmungen haben, wirkt das Album allerdings stellenweise eintönig. Trotz dieser Schwächen bietet die Gruppe auch einige Songs mit Ohrwurmpotenzial. „Altbau“ und „Dies & Das“ bleiben im Kopf und werden mit Sicherheit auf einigen Boomboxen gespielt. „Jacke zu“ ist das perfekte Gute-Laune-Lied zum Autofahren und laut Mitsingen. Genauso wie das absurde „Kecks“ mit Bibi BlocksbergSoundeffekten. Der Sommer wird, begleitet von 01099-Liedern, auf jeden Fall „Glücklich“ – so wie ihr Feelgood-Song mit Rapper CRO.

(pt). Gibt es etwas Schlimmeres als kommerziell erfolgreiche Punks? Colson Baker alias Machine Gun Kelly schickt sich an, das herauszufinden: Nach der platinierten Pop-Punk-Platte Tickets to my Downfall legt MGK nun mit Mainstream Sellout nach. Verkauft werden jedoch bloß die Hörer·innen. Auf 16 Tracks suhlt sich Baker in seinen Dämonen, Drogen sowie zum Scheitern verurteilten Beziehungen, und beschwört ein ums andere Mal seine eigene Rezeption. Über generisches Gitarren-Geschrammel, dumpfe Drums und eingestreute Streicher fühlt sich der Künstler nämlich zutiefst missverstanden: Ist er doch den „Limi­tationen“ des Sprechgesangs entstiegen: „Y'all said that I switched genres. I saw the limit and took it farther. I'm a genius, could've made Donda. But this song is to my dead father, uh“, rappt Baker, der nach wie vor bei Bad Boy Entertainment veröffentlicht, auf „paper cuts“. In welchen Sphären sich Kelly allem Widerstand zum Trotz bewegt, wird auf WW4 klar. „Your Teachers a full of shit. You dont need to go to school“, lautet die genretypische Weisheit. Der nach eigener Aussage „wegen seines engelsgleichen Gesichts“ dämonisierte Kelly macht mit Mainstream Sellout jedoch vor allem deutlich: Punk ist nicht, sich ständig zu fragen, was andere von einem halten.

„Dsching, Dsching, Dschingis Khan, hey Leute, ho Leute, hey Leute, immer weiter ...“ Kommt Ihnen das bekannt vor? Genau, Dschingis Khan, eine Musikgruppe gleichen Namens, die 1979 für Deutschland beim Grand Prix startete. Sie trugen lustige mongolische Trachten und lobpreisten die Taten des für seine Grausamkeiten bekannten Herrschers Dschingis K. Heute würde man sie sofort von der Bühne holen. Zu Recht. Aber leider nicht wegen der dürftigen musikalischen Darbietung oder des fragwürdigen Texts („und jedes Weib, das ihm gefiel, das nahm er sich in sein Zelt“), nein, weil sie sich diese Kultur angeeignet haben. „Moskau, Moskau wirf die Gläser an die Wand, Russland ist ein schönes Land, ho, ho, ho, ho, hey! Liebe schmeckt wie Kaviar, Mädchen sind zum Küssen da." Machen Sie selbst einen Reim darauf. Aber kulturelle Aneignung? Was ist dann mit „unserem“ Bier? Die Sumerer, nein, die Chinesen haben’s erfunden, also Finger weg. Blues sollte kein gutverdienender weißer Landesbeamter mehr hören dürfen. Ach ja, und die Dreadlocks? Bob Marley („No woman, no cry“) hat die Frisur auch nur von Lord Shiva, einer der Hauptgottheiten des Hinduismus, geklaut. Wenn man das zu Ende spinnt, dann dürften wir hier nur noch Schwarzbraun ist die Haselnuss singen und einen Seitenscheitel mit Hitlerbärtchen tragen, aber halt – das ist dann eigentlich auch nur Felix Aus­tria vorbehalten. Ganz schön kompliziert das Ganze. Obwohl – über Geschmack lassen wir auch zukünftig nicht mit uns diskutieren. Kulturell nicht gänzlich abgeneigt grüßt, Ralf Welteroth für Ihre GeschPo


LITERATUR

Ein Ort für Debattenkultur BUCHHANDLUNG ZUM WETZSTEIN STARTET MIT EINEM NEUEN KONZEPT

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von Erika Weisser

„Ich habe nie gesagt, dass der Wetzstein ganz verschwinden wird“, sagt Inhaberin Susanne Bader, die die Buchhandlung zusammen mit ihrem 2014 verstorbenen Mann Thomas Bader eröffnet hatte. 2019 habe sie zwar ans Aufhören gedacht, doch immer auch nach Lösungen für den Traditionsbetrieb gesucht, den der Autor Rainer Moritz nach seiner bibliophilen Reise durch den Kontinent in seinem 2010 erschienenen Buch zu den schönsten Buchhandlungen Europas zählte. Zunächst fand sie die Lösung mit der Stoffhandlung als Untermieterin. Deshalb schloss sie „den Wetzstein“ am Freitag, den 13. März 2020 auch nur für die Spanne der „umfassenden, sehr intensiven und sorgfältigen Renovierung“, die mehr Licht und Ursprünglichkeit in die Räume brachte. Danach zog sich Susanne Bader mit den Büchern in die zweite Reihe des Ladens zurück: in einen kleinen, bei den Renovierungsarbeiten erschlossenen Raum im ältesten, aus dem 12. Jahrhundert stammenden Teil des Hauses.

Fotos: © ewei

Der Wetzstein kehrt zurück: Susanne Bader freut sich, dass sie mit Pascal Mathéus (re.) und Florian Wernicke Nachfolger für die legendäre Buchhandlung ­gefunden hat.Vom 29. April bis 1. Mai wird gefeiert – mit vielen Gästen, Lesungen, WerkstattGesprächen, einer literarischmusikalischen Matinee und einer Zoom-Diskussion um die Zukunft des Buchhandels.

ie Stoffe gehen, der Lesestoff bleibt und wird neu sortiert. Und er wird umfangreicher: Nach dem Auszug des Stoffgeschäfts Étoffe & Tessuti übernimmt die Buchhandlung zum Wetzstein noch in den letzten Apriltagen die gesamte Fläche des 130 Quadratmeter großen Ladengeschäfts zurück. Damit spielen Bücher wieder die Hauptrolle im Erdgeschoss des Hauses zum Wetzstein in der Salzstraße 31.

48 CHILLI CULTUR.ZEIT APRIL 2022

Dort führte sie den Betrieb weiter – mit einem gut funktionierenden Online-Shop und mit zuverlässiger Belieferung, aber auch mit Öffnungszeiten und Kundenverkehr, der durch die pandemiebedingten unterschiedlichen Lockdown-Vorschriften für die beiden verschiedenen Branchen „natürlich sehr erschwert wurde“. Besonders stolz ist sie, dass sie „es durchgehalten“ hat, in all der wechselhaften Zeit den monatlichen Wetzstein-Brief regelmäßig herauszubringen. Seit mehr als einem Jahr geht ihr dabei Pascal Mathéus zur Hand. „Irgendwann ging ich in den Laden und fragte, ob ich mitarbeiten kann. Daraus ist eine sehr schöne und produktive Zusammenarbeit geworden“, erzählt der Althistoriker und Gründer des Literaturblogs aufklappen. com. Damit war die Lösung für die Zukunft des „Wetzstein“ eingeleitet. Inzwischen sind die beiden längst zu einem sich gegenseitig ergänzenden Team geworden. Mit dem Gerontologen Florian Wernicke haben sie noch einen Dritten im Bunde gefunden, um aus dem Wetzstein wieder eine große, die Stadtgesellschaft bereichernde Buchhandlung zu machen: einen offenen Ort für Austausch, für Veranstaltungen, für Debattenkultur, nicht nur über Literatur – ganz im Sinne ihres Gründers. Bader hat „ein gutes Gefühl“. Und sie freut sich auf die Zusammenarbeit, die auch auf neue literarische Wege führen wird. Und darauf, in die erste Reihe des Ladens zurückzukehren. Ganz besonders froh ist sie aber, dass sie Thomas Baders Lebenswerk fortführen und nun „nach und nach in gute Hände übergeben kann“. Dass die Buchhandlung nur wenige Tage nach Baders 80. Geburtstag am 18. April wieder ihre alte Größe zurückbekommt, sieht sie als Geschenk, als Hommage und als tiefe Verbeugung an ihn.

Info: Festprogramm: www.buch-wetzstein.de


FREZI

ZUKUNFTSMUSIK

von Katerina Poladjan Verlag: S. Fischer, 2022 192 Seiten, gebunden Preis: 22 Euro

NEVERMORE

DAS BLAUE ENDE DER ZEIT

von Cécile Wajsbrot Übersetzt von Anne Weber Verlag: Wallstein, 2021 230 Seiten, gebunden Preis: 22 Euro

von Victor Boden Verlag: p.machinerie, 2022 644 Seiten, broschiert Preis: 23,90 Euro

Klänge einer Zeitenwende

Alltägliche Horrorszenarien

Verfolgt in der Galaxie

(ewei). Es ist der Morgen des 11. März 1985. Während der Nachtschicht in einer „tausende Werst oder Meilen oder Kilometer östlich von Moskau“ gelegenen Glühbirnenfabrik scheppert Chopins Trauermarsch aus einem Transistorradio. „Ihr wisst, was das bedeutet“, warnt der Vorarbeiter die Belegschaft, zu der auch Janka gehört. Sie bewohnt zusammen mit ihrer kleinen Tochter Kroschka, ihrer Mutter Maria Nikolajewna und der Großmutter Warwara Michailowna ein Zimmer in einer ‚Kommunalka‘. Sechs Mietparteien leben in diesem großzügigen, längst zur Gemeinschaftswohnung umfunktionierten ehemaligen Bourgeoisie-Domizil mit Bad, Klo und Küche. Diese teilen sich vier Familien und zwei Einzelzimmerbewohner. Einer von ihnen ist Matwej Alexandrowitsch. Und er deutet die Musik aus seinem privaten Radio auch gleich richtig: „Da ist in Moskau wieder einer gestorben“, sagt er zu Maria Nikolajewna. Der dritte innerhalb von 28 Monaten – nach Breschnew und Andropow nun auch Tschernenko. Was die Bewohner der Kommunalka an diesem einzigen Tag des Romans nicht ahnen können: Die Ernennung von Michail Gorbatschow zum KPdSUGeneralsekretär leitet eine Zeitenwende ein. Der Trauermarsch wird zur Zukunftsmusik. Freilich eine trügerische – und nur für eine kurze Zeitspanne.

(ewei). Eine Übersetzerin lässt sich in Dresden nieder, um dort an einer neuen französischen Version von Virginia Woolfs Roman „To the Lighthouse“ zu arbeiten. Dabei setzt sie sich besonders mit dem Kapitel „Time passes“ auseinander, das, in einzelnen Passagen über die Erzählung verteilt, im Original mitzulesen ist. Bald wird deutlich, welch komplexes Unterfangen eine literarische Übersetzung ist: Die namenlose Frau will ganz nah am Originaltext bleiben und ihn anderssprachigen Lesern mit all seinen Besonderheiten zugänglich machen. Doch sie hat oft Mühe, sinnerhaltende Entsprechungen zu finden. Vorsichtig tastet sie sich an jeden Satz heran, erwägt verschiedene Varianten, verwirft sie wieder, sucht nach treffenderen Formulierungen. Ihre häufig ins Philosophische mündenden literarischen Selbstgespräche führt sie vorwiegend während nächtlicher Streifzüge durch die einst zerstörte und wiederaufgebaute Stadt. Dabei schweift sie ab, gerät beim Nachdenken über das Vergehen der Zeit unversehens in andere Zeiten, andere Räume, begegnet einer verstorbenen Freundin, findet sich in der verbotenen Zone um Tschernobyl wieder. Anne Weber hat Cécile Wajsbrots ungewöhnliches Buch ins Deutsche übersetzt – und erhielt dafür den Leipziger Buchpreis 2022.

(ewei). Ein Alptraum: Der Ich-Erzähler namens Brenner hat jegliches Zeitgefühl verloren. Er weiß nicht mehr, ob er „Stunden oder Tage in diesem Elend zubrachte“. In diesem geschlossenen und dämmrigen Raum mit der schmutzigen Betondecke, wo er sich nicht bewegen kann und ihm obendrein „beißende Luft die Atemwege zerkratzt“. Er kann keinen klaren Gedanken fassen, kann sich nicht erinnern, wie es dazu gekommen war, dass seine Papiere verschwunden waren. Ebenso wie seine Frau und die beiden Kinder. Wie sich sein ganzes bisheriges Leben „in Luft aufgelöst“ hatte. Klar ist ihm nur, dass er niemandem trauen kann, auch seiner Ärztin nicht, die ihm „glattweg eine Psychose einreden“ wollte. Und dass es ein Fehler war, die Polizei zu rufen, als er morgens in seiner über Nacht leergeräumten Wohnung aus seinem schrumpfenden Bett fiel. Nach dem Verhör wird er zu seiner Zelle gebracht – und springt durch ein sich öffnendes Loch in der Wand. Er landet in einer zerstörten Stadt, wo er den Auftrag erhält, die Erde zu vernichten Dabei ahnt er nicht, dass er „zu einer Schlüsselfigur einer kosmischen Krise mutiert und bereits die halbe Galaxie“ hinter ihm her ist. Mehr sei hier gar nicht verraten über diese spannende Sci-Fi-Geschichte des Freiburger Autors Victor Boden. APRIL 2022 CHILLI CULTUR.ZEIT 49


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