chilli – das Freiburger Stadtmagazin

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Ausgabe Juni 18. Jahrgang / #167

olafur eliasson

»Life« bis Juli 2021 Fondation Beyeler

DROGENSUMPF IM KNAST

Insider über ein Netzwerk, in das auch Beamte verwickelt sind

KONTROVERS

Immer wieder Streit am Gedenkbrunnen

GEFAKED

Polizei und LKA über falsche Impfpässe

ENTSPANNT So funktioniert Waldbaden

mit T h emen b u c h cultur.zeit



Chilli Editorial

DROGENHANDEL HINTER GEFÄNGNISMAUERN

NACH DER VERURTEILUNG EINER BEAMTIN BERICHTEN INSIDER ERSTAUNLICHES

so langsam erwacht das Land aus der Lethargie, immer mehr zarte Stückchen Freiheit wollen erobert werden, immer mehr Branchen dürfen wieder öffnen, Menschen sitzen in Biergärten, verreisen, besuchen Veranstaltungen, es soll sogar schon wieder Umarmungen gegeben haben. Mit der Juli-Ausgabe wird auch unser schmerzlich vermisster Kalender wieder seinen Stammplatz im Herzen des chilli zurückbekommen. Hoffentlich ist dies die letzte Nummer, die in der nunmehr 18-jährigen Geschichte des Freiburger Stadtmagazins ohne Kalenderseiten erscheint. Dafür aber randvoll mit unverwechselbaren Redaktionsinhalten. Für unsere Titelgeschichte etwa haben wir in einer Garage mit einem Informanten ordnerweise Akten gewälzt. Haben mit anderen ehemaligen Häftlingen gesprochen. Mit dem Justizministerium, der Staatsanwaltschaft, der JVA. Anfang April hatte das Freiburger Landgericht einen Häftling aus dem Freiburger Gefängnis zu weiteren zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Wegen Bestechung und Drogenhandel hinter den Mauern. Aber auch eine Beamtin zu zwei Jahren und drei Monaten. Weil diese zumindest zwei Mal nachweislich selber Drogen in den Knast geschmuggelt und daran gut verdient hatte. Das ist nur die Spitze des Eisbergs, erzählt uns ein Ex-Gefangener. Er hält den Knast für den größten Drogenumschlagplatz in Freiburg. Und es sei beileibe nicht nur diese eine Beamtin, die in den Drogenhandel verwickelt ist. „Es gibt immer was, die Frage ist nur, wie du es bezahlen kannst“, sagt uns ein anderer.

Foto: © ns

Liebe Leserin & lieber Leser,

Das sogenannte Café Fünfeck: Insider berichten von einem gut geölten Beschaffungssystem.

Immer wieder Streit gibt es am Platz der Alten Synagoge. Zuletzt Mitte Mai, als die Vereinigung „Palästina spricht“ demonstrierte, derweil die israelitische Gemeinde ein Friedensgebet abhielt. In unserer Reihe KONTROvers beziehen Michael Moos, Vorsitzender der Gemeinderatsfraktion „Eine Stadt für Alle“, und Sylvia Schliebe vom Vorstand Egalitäre Jüdische Chawurah Gescher Freiburg Position. Der nächste Streit scheint nicht weit. Bei so viel Konfliktivem dachte sich Till Neumann, er geht mal in den Wald zum Baden. Angeleitet von einem Coach. Er umarmte dabei einen Baum. Das war komisch. Aber auch herrlich entspannend. Wir wünschen anregende Lektüre. Bleiben Sie, bleibt uns gewogen.

Herzlichst, Ihr Lars Bargmann, Chefredakteur & die chillisten

Juni 2021 CHILLI 3



CHILLI inhalt

Foto: © tln

Foto: © Steve Przybilla

HEFT NR. 4/21 11. JAHRGANG

> 10-12 Im Herzen der JVA: Wo Drogen

> 20-21 Eingetaucht: chilli-Redakteur

OPEN AIR IM PARK BAD KROZINGEN

auch von Beamten reingeschmuggelt werden

Till Neumann badet meditativ im Wald.

20. JULI – 6. AUGUST 2021 23. Juli um 20.30 Uhr ABBA 99

IN EIGENER SACHE

3

Editorial

GASTKOLUMNE Florian Schroeder mehr kolumnen

Szene Eins mit dem Baum

Selbstversuch: Waldbaden

7 21, 45

Traum tiny house

22

Stadtjubiläum

23

20-jähriges Paar baut Mini-Zuhause Finale im Stadion geplatzt: Jetzt kommt das Kultur-Los!-Festival

Titel Drogendealer im Knast

Ex-Häftlinge berichten über den BTM-Alltag in der JVA

10-12

Gute NErven gefragt

24

Doch kein Hund

25

Viel Hektik auf dem Recyclinghof

Gefälschter Piks

14

Reise

Teure Impfzentren

15

Perfektes Wochenende

Impfpass leicht kopierbar Ärzte und FWTM verdienen gut

26-28

Ein Trip in die goldene Stadt Prag

Wirtschaft

Kontrovers

Streit am Gedenkbrunnen 16-17

Pro & Contra: Wer soll was auf dem Platz der Alten Synagoge dürfen

Einigung an QuäkerstraSSe

Genossen und OB finden Kompromiss im Stillstand 60 Millionen Euro

Sport

30 32

Intuitive Surgical investiert im IG Nord

Corona & Budgets

18-19

So planen Freiburgs Bundesligisten

Impressum chilli – Das Freiburger Stadtmagazin chilli Freiburg GmbH Paul-Ehrlich-Straße 13, 79106 Freiburg

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E-Mail für Online- / Printredaktion redaktion@chilli-freiburg.de

Geschäftsführerin (V.i.S.d.P.) Michaela Moser (mos): moser@chilli-freiburg.de

Chefredaktion Lars Bargmann (bar): bargmann@chilli-freiburg.de

Achterbahnfahrt

Europa-Park wieder geöffnet

Redaktion

Till Neumann (tln): neumann@chilli-freiburg.de Philip Thomas (pt): philip.thomas@chilli-freiburg.de Tanja Senn (tas): senn@chilli-freiburg.de Liliane Herzberg (herz): herzberg@chilli-freiburg.de

Kulturredaktion

Michaela Moser (mos): moser@chilli-freiburg.de Erika Weisser (ewei): weisser@chilli-freiburg.de

33

FEMALE-RAP-DUO: PALAS SIND „BOSSY“

> 37-50 cultur.zeit: News aus Freiburg zu Musik, Literatur, Theater & Museen

Ausbildung: Zur Lehrstelle per Handy-App / Eine Stadt, viele Chancen

cultur.zeit Freizeit

38-41

Musik

42-45

Literatur

46-47

Kultur

48-50

Da geht wieder was!

Neuer CD-Store / Female-Rap-Duo Palas / 3 Fragen an Britta Allies Volles Programm im Literaturhaus / Bücher-Tipps

Fondation Beyeler / Open Air im Park / Museum und Theater

© Kur und Bäder GmbH Bad Krozingen/ Marcella Merk

Bildagenturen iStock, pixabay, pexels Anzeigenannahme per E-Mail anzeigen@chilli-freiburg.de

Anzeigenberatung

Vertrieb

Lektorat Beate Vogt Grafik Miriam Hinze (Leitung),

Druckunterlagenschluss

34-36

Hier gibt’s Arbeit

cultur.zeit Titel

Gastkolumnisten

Julia Rumbach, Tatjana Kipf

Neues Gift

TOTGESAGTE KLINGEN LÄNGER

lation view: Fondation Beyeler, Riehen/ Basel, 2021, Courtesy of the artist; neugerriemschneider, Berlin; Tanya Bonakdar Gallery, New York / Los Angeles, © 2021 Olafur Eliasson, Photo: Mark Niedermann

Christoph Winter (Leitung), Jennifer Patrias, Giuliano Siegel, Fredrik Frisch

Florian Schroeder, Ralf Welteroth

Neuer Plattenladen

RE-OPENING: 7 HÄUSER, 7 KÖPFE

Titel Olafur Eliasson, «Life», 2021, Instal-

Christian Engel, Michael Moos, Sylvia Schliebe

Autoren

Neue Hoffnung

Jobstarter

Tierheim befürchtet Rückgabewelle

HIntergrund

fon / Redaktion fon / Anzeigen fon / Vertrieb www.chilli-freiburg.de

20-21

Druck & Belichtung

Hofmann Druck, Emmendingen

Themenheft dieser Ausgabe

Jobstarter

Nächster Erscheinungstermin 14. Juli 2021

Ein Unternehmen der Die im Magazin enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts­ gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigung und Einspeicherung in elektro­ nische Systeme. Gleiches gilt für den Nachdruck von uns entworfener Bilder u. Anzeigen.

Fredrik Frisch, frisch@chilli-freiburg.de Jeweils am 28. des Vormonats. Es gilt die Preisliste Nr. 11

Juni 2021 CHILLI 5


SCHWARZES BRETT

»ES WAR MEIN ERSTER FLUG« Ende Mai hat das Buntmardergehege des Mundenhofs den Oscar der deutschen Zoo-Branche erhalten. 2019 wurde das 400.000 Euro teure Zuhause der putzigen Tierchen eröffnet. Seitdem leben dort Valerian und Manja. Der Marder-­Mann kommt aus Israel, die Reise in sein neues Zuhause war beschwerlich – das hat er dem chilli bei einer Plauderei erzählt. Und dass er mit seiner Freundin große Pläne hat. „Mein Zuhause ist anders, als ich es gewohnt bin, aber hier gefällt’s mir sehr gut. Ich hab viel SchatFoto: © Mundenhof ten und Spielmöglichkeiten. Momentan lieg ich eigentlich den ganzen Tag auf meiner Pritsche. Die ist schön weit oben, da kann ich alles beobachten, die Besucher und Tierpfleger. Wenn man mich sehen will, dann morgens früh oder abends, wenn es abkühlt. Dann gehe ich raus und erkunde mein Gehege. Das macht mir Spaß. Es gibt ganz viel zu entdecken, weil viele Tiere rauskommen, wenn die Besucher weg sind. Wenn’s jetzt warm wird, ist das Gehege grün und bunt. Ich hab vorne meinen Bachlauf und den Teich, da kann ich viel sehen und Kröten jagen. Ich gehe gerne mit meiner Freundin auf Entdeckungstour. Seit anderthalb Jahren sind wir in Freiburg zusammen. Das war ein Glücksfall, sonst hätten wir uns wohl nie getroffen. Ich habe eine lange Reise hinter mir. Davor war ich in Israel in einem Zoo, bin da quasi um die ganze Welt gereist und dann in den Mundenhof gekommen. Die Manja, meine Freundin, kommt aus Berlin. Meine Reise war anstrengend und extrem nervig. Ich habe nix gesehen, weil ich ja den ganzen Tag in einer Kiste

saß. Es war mein erster Flug, der hat mir keinen Spaß gemacht, obwohl ich nicht viel mitbekommen habe. Es war ja dunkel in meiner Kiste. Hier ist es aber mindestens genauso toll wie in Israel, es ist auch nicht dauerhaft so warm. Ich mag das ja, weil ich komme eigentlich aus Sibirien. Ich bin halt in Israel geboren. Vielleicht würde ich gerne mal in Sibirien Urlaub machen, aber bleiben will ich lieber hier, sonst muss ich mich ja um alles selber kümmern. Hier hab ich meine Tierpfleger, die alles machen. Die sind sehr nett und lassen sich immer viel einfallen. Sie verstecken das Futter, basteln Spielzeug. Ich finde das lustig, je mehr ich kaputt mache und je mehr ich dreckig mache, desto mehr kommen sie, um sauberzumachen. Manchmal foppe ich sie damit. Die meisten Besuchenden mag ich auch. Manche werfen Müll in mein Gehege oder versuchen, mich beim Schlafen zu stören, weil ich ans Gitter kommen soll. Das mag ich nicht. Als wir den Preis verliehen bekommen haben, war ich ein bisschen schüchtern. Das war mir zu viel am Anfang, weil da ganz viele und anscheinend wichtige Leute waren, die wollten, dass ich mich für die Kameras zeige. Erst als ich leckeres Essen bekommen habe, ging es. Jetzt bin ich im Gespräch mit Manja, eigentlich fehlt uns nur noch der Nachwuchs. Aber das wird bestimmt kommen, wir sind ja beide noch jung. So zwei bis vier Kinder wären toll. Dann können wir mit der Familie das Gehege erkunden.“

Aufgezeichnet von Liliane Herzberg

BESCHDE LEHRKRÄFTE GESUCHT Wer macht den besten Unterricht in Freiburg? Das will das Jugendmagazin f79 gemeinsam mit dem Radiosender baden.fm herausfinden. Schülerinnen und Schüler sind ab sofort wieder gefragt: Wer macht für euch den besten Unterricht? Sie können ihre Vor6 CHILLI JUNI 2021

schläge per Mail an redaktion@f79. de schicken. Am besten mit einer ausführlichen Begründung. Für die Gruppe, deren Lieblingslehrer·in gewinnt, gibt’s 1000 Euro in die Klassenkasse. Mehr Infos dazu auf beschdelehrer. blogspot.com. tln


SCHWARZES BRETT

KEIMZELLE?

NACHGEWÜRZT! DAS KINDERIMPFEN

Für viele Eltern stellt sich jetzt die Frage: Kinder impfen lassen, ja oder nein? Antwort: Ja klar, aber erst mal, um zu verhindern, dass sie fünfzehnmal den Film „Minions 2“ sehen wollen. Halt nicht unbedingt gegen Corona. Andere sagen: Kinder impfen lassen – ja womit denn, mit Spielzeug-Spritzen? Fürs Impfen sind Kinder doch gar nicht ausgebildet! Die Impfstoffzulassung für Kinder ist ungefähr so wie eine Lottogewinnzulassung für Tipper – dass man eine hat, heißt noch nicht, dass man auch etwas abkriegt. Denn die Datenlage, was die Impfung von Kindern angeht, ist noch dünner als das Nervenkostüm von Mitarbeiter·innen von Hausarztpraxen. Viele können am Telefon schon drei verschiedene Besetztzeichen imitieren. Das Problem meiner Nachbarn in Prenzlauer Berg ist ein anderes: Die wissen kaum noch, wohin mit dem coronabedingt gesparten Geld und wollen möglichst bald mit geimpften Kindern auf Urlaub in spannende Risikogebiete fahren. Indien etwa soll spannend sein – und da ist auch gar nicht viel los, haben mir meine Nachbarn Timo und Sarah erzählt. Ich habe denen gesagt, dass dann die Priorisierung beim Kinder-Impfen angepasst werden muss: Zuerst werden die mit Handy UND TikTok UND Instagram-Account geimpft, dann die mit Handy ODER Insta ODER TikTok, dann die ohne Handy. Erst wenn auch die geimpft sind, überlegt Jens Spahn, auch Super Mario, Spongebob und Pokemons ein Impfangebot zu machen. Die Umsetzung bleibt aber wieder Ländersache, bei Kinderimpfungen sind das Phantasia-, Taka-Tuka- und Lummerland. Kinderbuchverlage planen schon Angebote wie „Bibi Biontech – Urlaub unterm Impfgipfel“ oder „Pumuckel und die versteckten Impftermine“, „Die drei ???“ planen mit der Besetzung von Spahn, Helge Braun und Armin Laschet als Fragezeichen. Spahn lässt zudem mit „Vakzini, dem Impf-Wuslon“ ein Maskottchen entwerfen. Im Prenzlauer Berg heißt es häufiger: Ach, wer braucht schon so einen Impfstoff? Timo und Sarah, die ihre Kinder in eine Waldorfschule schicken, haben noch gar nichts mitbekommen von Corona, weil sie noch Plakate kleben für die nächste Demo gegen die Masern-Impfung. Und die hat ja sogar Vorteile für Kinder, habe ich neulich von Nachbarn gehört: Die Masern können nämlich aus einem schüchternen Kind ein selbstbewusstes Kind machen. Was dann erst dieses Corona bewirken kann: Das macht aus einem lebenden vielleicht ein seliges Kind.

Falsche Zahlen, flüchtige Abstriche: Corona-­ Testzentren sind in Verruf geraten. Auch in Freiburg häufen sich Berichte über unsauber durchgeführte Corona-Kontrollen. „Mit Medizin habe ich nichts zu tun. Um diesen Job zu machen, habe ich einen Online-Kurs belegt“, berichtet ein Mitarbeiter in einem Freiburger Testzentrum, der das Stäbchen aber gewissenhaft und tief in die Nase drehte. Ob es sich bei diesem Kabuff im Stadtteil Haslach auch tatsächlich um ein solches Testzentrum handelt, konnten auch wilde Klopfzeichen nicht klären. pt

Besser spät als nie: Das chilli gibt’s jetzt auch auf Instagram. Handgemachter Journalismus mit spannenden Beiträgen, Hintergrundinformationen und investigativen Recherchen. Wir freuen uns, wenn Sie uns folgen, ein Herz schenken oder mit Verlinkungen auf neue Ideen bringen. Zeigen Sie uns, an welcher Stelle es sich lohnt, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Sie finden uns unter: chilli_freiburg herz

Florian Schroeder, Kabarettist, studierte in Freiburg, lebt in Berlin und vergibt die chilli-Schote am goldenen Band.

Foto: © Privat

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JUNI 2021 CHILLI 7




Titel Kriminalität

DROGENSUMPF IM KNAST Insider über ein Netzwerk, in das auch Beamte verwickelt sind

A

m 9. April verurteilte das Freiburger Landgericht eine Beamtin der Justizvollzugsanstalt Freiburg (JVA) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten. Wegen Beihilfe zum Drogenhandel. Wegen Bestechlichkeit. Ein 33-jähriger mitangeklagter Häftling bekam zweieinhalb Jahre. „Das ist nur die Spitze des Eisbergs, in den Drogenhandel sind mehrere Dutzend Bedienstete verwickelt“, behauptet der ehemalige Häftling Gero*. Für das baden-württembergische Justizministerium ist der Drogenhandel hinter Mauern „eine der wesentlichen Herausforderungen des Justizvollzugs“. Laut JVA-Leiter Michael Völkel lässt es sich „nicht vollständig vermeiden, dass Drogen eingebracht werden“. Die Freiburger Staatsanwaltschaft ermittelt auch nach dem Prozess weiter. Da diese Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind, kann die Erste Staatsanwältin Martina Wilke „nähere Informationen momentan nicht mitteilen“. Verfahren gegen weitere Bedienstete der JVA seien aber derzeit nicht anhängig. Die Drogen kommen auf vielen Wegen ins Gefängnis: Auf dem Postweg, durch Besucher oder Externe, im Lieferverkehr oder auch durch Mauerüberwürfe, listet Anstaltsleiter Völkel auf. Aber immer wieder eben auch durch eigene Bedienstete.

10 CHILLI JuNI 2021

2011 stand ein 45-jähriger JVA-Beamter vor dem Freiburger Landgericht, weil er für 1000 Euro einen Sicherheitsverwahrten im Dezember 2008 mit 26 Gramm Marihuana und 30 Subutex-Tabletten beliefert hatte. Die Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten wurde in zweiter Instanz um zehn Monate verkürzt und zur Bewährung ausgesetzt. Im Juni 2012 wurde ein Beamter wegen Beihilfe zum Drogenhandel und Bestechlichkeit verurteilt. Zwischen April 2006 und August 2007 hatte sich ein bis über beide Ohren verschuldeter Beamter mehrfach von Häftlingen bestechen lassen, die Insassen mit Tabak, Alkohol, Bargeld und Drogen versorgt – für 800 Euro Darlehen und 900 Euro in bar. Die jetzt verurteilte Beamtin bekam mindestens 2500 Euro. Bei ihr zogen die Ermittler 4000 Euro ein. Die verhältnismäßig geringen Summen, mit denen sich einige JVA-Mitarbeiter kaufen ließen, verwundern. Im mittleren Vollzugsdienst verdienen langjährige Beamte monatlich 4750 Euro brutto im Monat. „Es ist immer was da, du musst entweder Beziehungen nach draußen oder was zum Tauschen haben, Kaffee, Tabak oder Schokolade“, erzählt der Ex-Gefangene Berri* dem chilli. „Manche haben den ganzen Schrank voll damit“, sagt er. Das Monopol auf Zigaretten werde von den russischen Insassen

Fotos: © iStock.com/menonsstocks, Ralf Geithe, Neithard Schleier

Von Philip Thomas & Lars Bargmann


gehalten. Der Drogenhandel ist wohl fest in türkischer Hand. Auch die ­verurteilte Beamtin habe ­einen türkischen Hintergrund. Das Landgericht konnte der 36-Jährigen nachweisen, dass sie 2018 und 2019 mehrere hundert Tabletten, 580 Gramm Marihuana und auch Handys reingeschmuggelt hatte. In Raviolidosen, Milchtüten oder Schokoladeverpackungen. Am frühen Sonntagmorgen des 8. September 2019 wurde sie in flagranti erwischt. Die Handschellen klickten. Auch ein hochrangiges Mitglied der Hells Angels aus Lahr, erzählt Gero, sei 2019 maßgeblich in den schwunghaften Handel involviert gewesen. Der Mann sei bei einem Autounfall schwer verletzt worden, der am Unfallort eintreffenden Polizei lag ein internationaler Haftbefehl vor. So kam er nach Freiburg, auf die Krankenstation. Dort soll – nach 16 Uhr – auch der Chef der Türken, dem ein „Ehrenmord“ nachgesagt wird, regelmäßig gewesen sein – „in Begleitung einer Person mit Schlüssel“, wie es in einem Brief

eines weiteren Häftlings, Caspar*, an den Sicherheitsdienst heißt. Caspar schrieb viele Briefe, an die Staatsanwaltschaft, ans Justizministerium, an den Sicherheitsdienst, an die Leitung. Sie liegen dem chilli vor. Darin nennt Caspar namentlich zentrale Köpfe des Drogenrings, Zellennummern, die als Kommunikationszentrale dienen, zuweilen sogar das Datum, an dem die nächste Lieferung reinkommen wird. Ein Zugriff von sechs Einsatzkräften an einem Morgen im August 2019, als ein Inhaftierter mit einem illegalen Handy mit seinem Dealer telefonierte, geht wohl auch aufs Konto eines Mitgefangenen. Gefangene, die eine exponierte Position haben, haben stets völlig reine Zellen. Sie nutzen die von Mitgefangenen zum Telefonieren, Organisieren, Dealen. Eingeschmuggelte Handys kosten mehr als 1000 Euro. Zur Bezahlung werde ein spezielles Bankkonto genutzt. Meldet der Kontoinhaber draußen den Erhalt des Betrags, wechseln drinnen Drogen, Medikamente und Mobiltelefone den Besitzer. Es gibt zwar täglich unangekündigte Zellenkontrollen, aber auch Tipps. „Das Zeug wird dann einfach eine Zelle weiter gelagert oder dem Nachbarn in die Hand gedrückt“, erzählt Gero.  Aktuell 550 Inhaftierte: Café-Fünfeck heißt das Gefängnis im Volksmund.


Titel Kriminalität

Fotos: © Neithard Schleier, tas, iStock.com/Inkanya Anankitrojana



„Für die Erhellung subkultureller Strukturen und zur Identifizierung insbesondere auch von Betäubungsmittelgeschehen sind Hinweise aus den Reihen der Gefangenen ein wichtiger Baustein“, sagt Ministeriumssprecher Robin Schray. Die nähere Prüfung und das Einschalten von Ermittlungsbehörden erfolge durch die Anstaltsleitung und den Sicherheitsdienst. Dieses System hat offenbar Lücken. Ein Gramm Hasch kostet hinter den Mauern 50, 60 Euro. Damit der Joint nicht riechbar ist, werden Ableger geraucht. Dabei wird eine Haschkugel außen an eine Zigarette geklebt und sobald sie brennt durch einen Strohhalm direkt inhaliert. Begehrt sind auch Subutex-Pillen, ein sehr starkes Schmerzmittel, das auch Leute nehmen, die heroinsüchtig sind. Subutex sei ein tägliches Thema, sagt Berri. Wenn der Arzt Gefangene aus dem Methadon-Programm nimmt, „dann müssen die sich das Zeug anders besorgen“. Eine Packung werde für 200 Euro gehandelt. Gerichtsbekannt wurde zuletzt, dass 38 Insassen von Oktober 2012 bis September 2013 in den Handel verstrickt waren. Allein in diesem Jahr sollen über Kontaktpersonen Tabletten im Wert von 20.000 Euro bestellt worden sein. Manche Gefangene verkaufen sogar Fentanyl-Pflaster weiter, die der Doc ihnen auf die Haut geklebt hat.

Laut Gero gelangen die meisten Drogen durch die Beamten der JVA in das Gefängnis. „Die haben die Taschen voll“, betont er, „und untereinander kontrollieren die sich nicht.“ Die Hauptaufgabe einer JVA besteht darin, dafür zu sorgen, dass es hinter dem Stacheldraht ruhig läuft: „Und durch diese Mittel läuft es ruhig.“ So werde der Drogenkonsum von einigen Beamten billigend in Kauf genommen: „Viele gucken in die andere Richtung.“ Tatsächlich werden die 317 Staatsdiener, die derzeit in der JVA sowie den Außenstellen Lörrach

Besuche nur am Glastisch und Emmendingen arbeiten, beim täglichen Dienstantritt nicht durchsucht, heißt es aus dem Ministerium. Auch Besuche bieten Gelegenheit, unerlaubte Dinge in den Knast zu bringen. „Die ersten drei Besuche werden komplett überwacht, da steht ein Beamter einen Meter neben dir und hört zu. Da sitzt du mit deinem Besucher an einem Glastisch. Wenn es da keine Probleme gibt, wird’s danach gelockert. Später überwacht nur eine Kamera“, erzählt Berri.

JVA-Leiter Michael Völkel: Lücken im System.

Der Intensität von Personendurchsuchungen seien auch gesetzliche Grenzen gesetzt, so Völkel. Teilweise erfolgten sie stichprobenartig, aber Ehrenamtliche, Rechtsanwälte oder auch Bauarbeiter würden nicht bei jedem Anstaltszutritt vollständig durchsucht. Über die konkreten internen Sicherheitsmaßnahmen kann Völkel „aus Sicherheitsgründen grundsätzlich keine Informationen an externe Personen weitergeben“. Seit vergangenem Dezember arbeitet der auf Drogen trainierte Schäferhund-Rüde Dexx an der Leine des JVA-Beamten Boris Wieczorek in der JVA. Er kann 13 verschiedene Drogen schnüffeln – auch wenn sie etwa im Kaffeepulver versteckt sind. „Jeder Drogenkonsum hat negative Auswirkungen auf das Sozialverhalten der Gefangenen. Das gilt insbesondere bei der Arbeit oder beim Schulbesuch“, so Völkel. Auch eine positive Sozialprognose nach der Entlassung oder die Verlegung in den offenen Vollzug werde durch Drogenkonsum erschwert oder unmöglich. Wie viele der 550 Häftlinge im geschlossenen Vollzug der JVA drogenabhängig sind, weiß Völkel nicht: „Ein Großteil der Gefangenen bringt aber Betäubungsmittelerfahrungen in den Justizvollzug mit.“ Die Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht geht davon aus, dass fast jeder dritte Häftling in Deutschland drogenabhängig ist, nahezu jeder zweite (44 Prozent) trete seine Strafe mit Suchtproblemen an. Das wären in Freiburg rund 240. *richtiger Name der Redaktion bekannt

Im Herzen der Anstalt: Der Intensität von Personendurchsuchungen sind auch gesetzliche Grenzen gesetzt.

12 CHILLI JuNI 2021



CORONA HINTERGRUND

SCHUMMELN STATT STECHEN IMPFPÄSSE LEICHT FÄLSCHBAR, DIGITALER NACHWEIS LÄUFT AN

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Fotos: © pt; pexels.com/Nataliya

in Flugzeug besteigen, essen gehen, die Haare schneiden lassen: Gefälschte Corona-Impfpässe eröffnen Zugang zu Aktivitäten, die aktuell nur tatsächlich Geimpfte, Genesene oder Getestete genießen. Oft sind die illegalen Dokumente nur ein paar Klicks entfernt – wie der Fall ­einer Impfskeptikerin zeigt. Die Freiburger Polizei schließt Betrug aus. Beim LKA liegen aber erste Hinweise auf Anbieter gefälschter Pässe vor. Ein weißes DIN-A4-Papier mit dem Namen der geimpften Person, zwei Klebezettel mit der Chargennummer und ein Stempelabdruck einer offiziellen Impf-Stelle reichen derzeit, um schneller als andere die Grundrechte wiederzuerlangen. Maria Berger (Name von der Redaktion geändert) hat so ein Papier. Das hat sie vom Original einer anderen Person kopiert, den Namen retuschiert und ausgetauscht – mehr brauchte es nicht. „Ich habe den Impfpass noch nie benutzt, das traue ich mich nicht“, sagt Berger. „Aber ich will mich nicht impfen lassen, deshalb habe ich es als Absicherung bei mir.“ Damit ist sie nicht alleine. Einschlägige Gruppen in der Telegram-App etwa haben Mitgliederzahlen von bis zu 46.839 Personen. Die Kosten liegen hier bei bis zu 250 Euro. Einzelne Hinweise auf Anbieter gefälschter Impfnachweise liegen den Ermittlungsbehörden in Baden-­ Württemberg auch schon vor, sagt Jürgen Glodek, Pressesprecher des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg. 14 CHILLI JUNI 2021

Dabei ist die Fälschung von Corona­ virus-Impf- oder Testdokumenten seit dem ersten Juni durch das zweite Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes explizit verboten. Mit einer Freiheitsstrafe von ein bis zwei Jahren oder einer Geldstrafe muss rechnen, wer die Fälschung ausstellt. Mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe, wer sie nutzt.

BEI ZWEIFEL KEIN ZERTIFIKAT Seit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes dürfen neben Ärzten auch Apothekerinnen die Papierform ins Digitale übertragen und Impfzertifikate ausstellen, etwa, wenn jemand am Tag der Impfung das gelbe Büchlein nicht zur Hand hatte. „Ein Impfpass kann nachträglich im Regelfall nur in räumlicher Nähe zum Ort der Impfung ausgestellt werden“, erklärt Parissa Hajebi, Pressesprecherin des Bundesgesundheitsministeriums. Wenn Ärzte oder Apotheker an der Echtheit eines Impfpasses oder den Angaben darin zweifeln, seien sie gehalten, kein Zertifikat auszustellen. Seit dem 14. Juni könne sie freiwillig an der Maßnahme teilnehmen,

sagt Marianne Nägele, Inhaberin der Zähringer Apotheke in Freiburg. „Kunden müssen den Impf- und Personal­ ausweis sowie wenn möglich das Smart­phone mitbringen.“ Der QR-Code kann in die Corona-Warn-App oder die CovPass-App übernommen werden. Wer kein Handy hat, bekomme einen Ausdruck. 18 Euro gibt’s pro Eintrag für die Apotheken. Wie sie gefälschte Impfpässe erkennen solle, weiß die Apothekerin nicht. Sie wünscht sich dazu klare Vorschriften. „Bei Rezepten haben wir Tricks, aber bei Impfpässen weiß ich es nicht. Vielleicht ist die Papierart anders.“ Das ZIZ erstellt keine digitalen Nachweise von Impfungen, die vor dem 14. Juni gepikst wurden. Wie fälschungssicher die Übertragung in den digitalen Impfpass ist, bleibt offen. Bisher seien ihm keine Ermittlungsverfahren im Großraum Freiburg bekannt, bei denen es um gefälschte Impfpässe gehe, sagt ­Michael Schorr, Pressesprecher der Polizei Freiburg. Stempel oder Chargennummern wurden auch nicht entwendet, weiß Daniel Strowitzki, Geschäftsführer der Freiburg Wirtschaft Touristik und Messe GmbH (FWTM), die mit dem Uniklinikum für das ZIZ verantwortlich ist. „Sie sind genauso gut wie die Impfstoffe selbst gesichert.“ Liliane Herzberg


CORONA HINTERGRUND

»WIR SCHAFFEN ES NICHT

OHNE DIE IMPFZENTREN«

ZIZ MINDESTENS BIS 15. AUGUST OFFEN / 175.000 EURO FÜR FWTM

P

ro Stunde 130 Euro verdienen Ärztinnen und Ärzte in Baden-­ Württembergs Impfzentren. Medi­ z iner·innen sowie ihr Personal in Haus- und Facharztpraxen erhalten 20 Euro pro Impfung. Trotz hoher Kosten braucht Deutschland die Impfzentren weiter dringend. Haus­ä rztinnen und -ärzte operieren an ihrer Belastungsgrenze. Bis zu 1,5 Millionen Euro monatlich sowie einmalig 300.000 Euro werden den neun zentralen Impfzentren (ZIZ) in Baden-Württemberg vom Land bereitgestellt. Die 50 Kreisimpfzentren (KIZ) kosten das Land bis zu 755.000 Euro pro Monat und einmal 150.000 Euro. Obendrauf kommt noch die IT-Ausstattung. Die Mediziner werden mit 130 Euro am besten entlohnt, medizinische Fachangestellte erhalten pro Stunde bis zu 50 Euro, alle weiteren Mitarbeitenden bis zu 27,60 Euro. „Noch laufen die Impfzentren offiziell bis 30. Juni, eine Verlängerung bis 15. August ist innerhalb der Landesregierung jedoch bereits beschlossen“, verrät Florian Mader, Pressereferent des Landesgesundheitsministeriums. Ziel sei es, ab Herbst, wenn voraussichtlich alle einmal durchgeimpft sind, die Impfungen dort anzusiedeln, wo sie hingehören: in die Hausarztpraxen. Der Unmut mancher Mediziner·innen sei bekannt. „Beim Vergleich mit den Impfzentren liegt hier allerdings ein Missverständnis vor: Die Ärztinnen und Ärzte in den Impfzentren erhalten einen Stundenlohn. Daher lässt sich die Entlohnung nicht eins zu eins vergleichen“, betont Mader. In Baden-Württemberg bieten bereits mehr als 6000 Praxen Impfungen an, rund 1,3 Millionen Impfdosen wurden dort bis Ende Mai verabreicht, in Frei-

burg waren es 44.463. Haus- und Fachmediziner·innen erhalten dabei 20 Euro pro Impfung vom Bund. Darin enthalten sind alle Kosten, etwa fürs Personal und die Miete. „Die Praxen sind augenblicklich extrem belastet. Der Aufwand, den sie für die Impfungen betreiben müssen, ist hoch“, sagt Kai Sonntag, Leiter der Pressestelle der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-­ Württemberg (KV). Die Impfstofflieferungen seien zu unzuverlässig, als dass sie eine gute Planung zulassen würden: „Das wiederum führt bei den Praxen und den Patienten zu viel Unmut.“ Ähnliches schildert auch der Freiburger Hausarzt Pascal Seith: „Für die Vor- und Nachbereitungs- sowie Dokumentationsarbeit sind 20 Euro dürftig. Wünschenswert wären mindestens 30 Euro.“ Rund 60 Impfungen wöchentlich verabreiche er in seiner Praxis. „Wir können alle zehn Minuten eine Impfung verabreichen, dann kommen wir auch auf 120 Euro pro Stunde, das ist aber nur die Zeit, in der aktiv geimpft wird.“ Aber er müsse ja auch alle anderen Patienten versorgen. Der 44-Jährige wolle dennoch keine Neiddebatte führen: „Wir schaffen es ohne die Impfzentren aktuell nicht, wir sind als Praxen jetzt schon zum Teil an unserer Belastungsgrenze.“ Klar ist für Seith, dass mit der anfänglichen Konzentration auf Impfzentren der Geschwindigkeit Vorrang vor der Wirtschaftlichkeit gewährt wurde. Das sei aber auch sinnvoll gewesen, weil der Impfstoff knapp war und ist: „Die sozialen Unruhen hätten deutlich zugenommen, wenn die wenigen Dosen auf spezielle Hausärzte aufgeteilt worden wären.“ Insgesamt arbeiten im ZIZ aktuell rund 900 Mitarbeitende sieben Tage die Woche im Drei-Schicht-Betrieb. 3500

Impfdosen pro Tag werden verabreicht, aber das sei nicht die volle Auslastung ihrer Kapazitäten, sagt Daniel Strowitzki, Geschäftsführer der Freiburg Wirtschaft Touristik und Messe GmbH (FWTM), die zusammen mit dem Uniklinikum fürs ZIZ verantwortlich ist. Der Impfstoff sei weiterhin knapp. Er verstehe deshalb auch nicht, wieso die Priorisierung komplett aufgehoben werde und somit eine noch höhere Nachfarge erzeugt wird. „Das läuft doch konträr zueinander.“ Die FWTM stellt dem Land für die Nutzung der Messehallen übrigens monatlich 175.000 Euro in Rechnung. Liliane Herzberg

Foto: © jr

Ist zuständig für das ZIZ: FWTM-Geschäftsführer Daniel Strowitzki.

Foto: © Louisa Stark

Wünscht sich bessere Entlohnung: Freiburger Hausarzt Pascal Seith.

JUNI 2021 CHILLI 15


KONTOVERS PLATZ DER ALTEN SYNAGOGE

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KONTROVERS

m den Platz der Alten Synagoge gibt es in Freiburg immer wieder Streit. Zuletzt Mitte Mai nach einer Demo der Gruppe „Palästina spricht“. Irina Katz, Vorsitzende der Israelitischen Gemeinde Freiburg, forderte hernach, den ganzen Platz zur Gedenkstätte zu erklären, womit keinerlei Kundgebungen mehr erlaubt wären. Das geht anderen viel zu weit. In unserer Rubrik „KONTROvers“ argumentieren jeweils Protagonisten für und wider.

»KRITIK MUSS MÖGLICH SEIN« WARUM STADTRAT MICHAEL MOOS GEGEN EINE EINGESCHRÄNKTE NUTZUNG AUF DEM PLATZ DER ALTEN SYNAGOGE IST

Foto: © Felix Groteloh

„Bürgermeister Ulrich von Kirchbach hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Stadt die Möglichkeit, den gesamten Platz als Gedenkstätte zu deklarieren, nicht hat und dass man damit auch nicht auf dem gesamten Platz das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aushebeln könnte. Das wäre für Freiburg auch nicht wünschenswert: Freiburg feiert auf diesem Platz beispielsweise das Fest der interkulturellen Vielfalt. Dieses könnte dort nicht stattfinden, ebenso wie un­

Michael Moos: Stadtrat und Vorsitzender der Fraktion „Eine Stadt für Alle“ im Gemeinderat

16 CHILLI JUNI 2021

zählig viele andere politische, gewerkschaftliche und kulturelle Veranstal­ tungen unterschiedlichster Art und Posi­tionierung. Eine solche Einschränkung kann niemand wollen. Auch israelkritische Positionen können die Grundrechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Anspruch nehmen. Das bestreitet auch niemand. Die Stadt kann einem Veranstalter auch nicht einfach einen Ort ‚zuweisen‘. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit beinhaltet auch das Recht des Veranstalters, den Ort für die Versammlung zu bestimmen. Dies ist für viele ganz unterschiedliche Veranstalter der Platz der Alten Synagoge geworden, weil er in Freiburgs Innenstadt gute Möglichkeiten bietet, eine Versammlung durchzuführen und dabei auch von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Auch rechtlich wäre dies nicht durchsetzbar. Das Versammlungsgesetz sieht in § 15 die Möglichkeit vor, dass eine Versammlung verboten werden kann, wenn sie an einem Ort stattfinden soll, der als Gedenkstätte von historisch her-

ausragender, überregionaler Bedeutung an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erinnern soll (Holocaust Mahnmal Berlin) oder wenn konkrete Umstände vorliegen, die besorgen lassen, dass die Würde der Opfer beeinträchtigt wird. Ohne Frage könnte eine Versammlung in unmittelbarer Nähe zum Gedenkbrunnen verboten werden, weil sie die Würde der Opfer beeinträchtigt – aber eben nicht auf dem ganzen Platz. Möglich und notwendig bleibt, dass alle Veranstalter einen Abstand von mindestens 30 Metern zum Gedenkbrunnen einzuhalten haben. Für antisemitische Hetzparolen darf es kein Pardon geben. Gehen diese von einer Versammlung aus, hat die Polizei Strafverfahren einzuleiten und die Versammlung aufzulösen. Dies gilt für den Platz der Alten Synagoge ebenso wie für jeden anderen Platz. Israelkritische Positionen zu äußern und Partei für die Sache der Palästinenser zu ergreifen, muss aber möglich sein, auch auf dem Platz der Alten Synagoge.“ Michael Moos


KONTOVERS PLATZ DER ALTEN SYNAGOGE

Im Herzen der Stadt: Um die Nutzungen rund um den Gedenkbrunnen gibt es immer wieder Streit.

»MISSBRAUCH VERHINDERN« „Am Platz der Alten Synagoge (PdAS) stand die Freiburger Synagoge bis zu ihrer Zerstörung 1938. Die Zerstörung der Synagogen in Deutschland markierte den Übergang von der Entrechtung, Diskriminierung und Verfolgung jüdischer Deutscher ab 1933 hin zur Deportation und zur Shoa, der planmäßigen Ermordung aller jüdischen Menschen in Europa. Dies ist ein Faktum, das keine/r leugnen kann, und immerhin mehrheitlich noch auch gar leugnen nicht will, sagt die Statistik. Diese Tatsache manifestiert sich am PdAS und insbesondere beim Gedenkbrunnen. Für Überlebende und deren Nachfahren ist genau dies der Platz, von dem sie sicher wussten, dass ihre Familien sich dort zum letzten Mal zum Gebet und zu Feiertagen getroffen haben. Oft verliert sich die Spur danach. Damit erhält dieser Platz eine weitere Manifestation der letzten Erinnerung. Wir erhalten in der Gemeinde regelmäßig Anfragen von Nachkommen jüdischer Freiburger Familien, die dort in Stille ihrer Lieben gedenken möchten.

Zudem bedeutet der PdAS auch die Erinnerung daran, dass es vielfältiges jüdisches Leben vor der Shoa auch in Freiburg gab. Noch immer ist vieles nicht aufgearbeitet. Wie wir alle inzwischen wissen, greift die rechtliche Stellung des Platzes als Erinnerungsort aber nicht, um Missbrauch in vielfältiger Weise zu verhindern. Zuletzt in der Debatte um die Möglichkeit für ‚Palestine speaks‘ genau dort und nur dort sogenannte ‚Gedenkveranstaltungen‘ abzuhalten, die sich allerdings dann eher als Propagandaevents herausgestellt haben. Diese Gruppe spricht sich in ihrer Internetpräsenz unmissverständlich für ein Ende des Staates Israel aus. Eine Zweistaatenlösung ist nicht vorgesehen, und tatsächlich auch keine lebenden Juden in der Region. Diese Forderungen ausgerechnet auf dem PdAS zu artikulieren, darf durchaus als eine Provokation verstanden werden. Wir hatten lange gehofft, der Platz könnte sich mit seiner Geschichte in die Stadtgesellschaft integrieren. Hier benötigt aber auch ein legitimes Freizeitverhalten am Platz das Bewusstsein dafür, wo man sich gerade befindet. Viele, auch

wieder aktuelle Bilder zeigen leider genau das Gegenteil. Trotz der guten Maßnahmen der Stadt war es wohl eine Illusion, zu denken, es würde sich grundlegend etwas ändern. Da wir anerkennen, dass der Platz eine zentrale Bedeutung im Stadtleben hat, regen wir an, wenigstens ein Drittel des Platzes, von der Seite des Erinnerungsbrunnes aus, rechtlich neu zu bewerten und als Gedenk­ort mit dem entsprechenden Schutz zu versehen.“ Sylvia Schliebe

Foto: © privat

Foto: © Andreas Schwarzkopf/ Wikimedia Commons

WARUM SYLVIA SCHLIEBE VOM VORSTAND DER LIBERALEN JÜDISCHEN GEMEINDE FÜR EINE EINGESCHRÄNKTE NUTZUNG IST

Sylvia Schliebe: Vorstand Egalitäre Jüdische Chawurah Gescher Freiburg

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SPORT FINANZEN

MIT KOMPENSATION, CROWDFUNDING UND QUARANTÄNE SO SIND FREIBURGS VEREINE BISHER DURCH DIE KRISE GEKOMMEN

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otstift reichte nicht. Ohne staatliche Hilfe hätten viele Freiburger Bundesligisten die Pandemie gar nicht überstanden. Ihre Manager·innen berichten von leeren Hallen, halbierten Etats und geplatzten Transfers. Und von den Problemen, halbwegs verlässliche Etats für die kommende Saison aufzustellen. Philip Thomas

Basketball

Eisvögel-Manager Uwe Stasch musste den Etat halbieren „Vor Corona waren wir weiter, den siebten Platz nehmen wir hin“, sagt Uwe Stasch, Manager der USC Eisvögel, über die abgelaufene Saison des Basketball-­ Bundesligisten. Das jüngste Team der Liga blieb zwar von Corona-Infektionen verschont, finanziell hat das Virus den Verein aber fest im Griff. In der Clubkasse fehlen laut Stasch 100.000 bis 150.000 Euro. Der Etat habe praktisch halbiert

Bis vor zwei Jahren spielte eine Pandemie in den Plänen des EHC Freiburg keine Rolle. Umso zufriedener ist Vorstandsmitglied Marc Esslinger mit dem Krisenmanagement des Eishockey-Zweitligisten. „Alle Investitionen, die nicht Priorität eins hatten, haben wir eingefroren. Die Saison 2020/2021 wird sicherlich als die Saison „Alle versuchen, die Mannschaft zusammenzuhalten“: SC-Sportdirektor Klemens Hartenbach

Fußball

„Das Saisonfazit? Gut. Wir haben über dieses wirklich sehr lange Jahr hinweg gute Spiele gezeigt und viele Tore geschossen. Das ist nicht selbstverständlich. Ich bin extrem zufrieden mit der Entwicklung der einzelnen Spieler und freue mich einfach, dass wir so eine gute Mannschaft beisammenhaben“, sagt SC-Cheftrainer Christian Streich. 18 CHILLI JUNI 2021

Stasch bemerkt, dass der Breitensport in der Stadt wieder Fahrt aufnimmt. Der Profibereich sei wichtig, letztendlich lebe Freiburg aber vom Amateursport. „Die beschissene Pandemie hat uns den genommen“, sagt er. Die sinkenden Infektionszahlen machten sich beim Universitätssportklub bereits bemerkbar: „Uns laufen sie die Bude ein. Da hat sich einiges angestaut.“

des Sparens in unsere Vereinsgeschichte eingehen“, sagt er. Staatliche Fördergelder haben den Verein über Wasser gehalten: „Ohne diese Hilfen hätte der EHC – wie so viele andere Vereine – diese Saison finanziell nicht überstehen können.“ Wölfe-Präsident Michael Müller berichtete dem chilli vergangenes Jahr, die abgebrochene Saison 19/20 habe den Verein sechsstellig gekostet. Heute sagt Esslinger: „Wir können sagen, dass wir mit einem blauen Auge davongekommen sind, werden

aber in der kommenden Saison – wie alle anderen auch – etwas kleinere Brötchen backen müssen.“ Mit knapp 100 Sponsoren sei der Verein derzeit im Austausch. „Unsere Ausgaben werden wir definitiv etwas kürzen müssen. Wir gehen jedoch davon aus, dass wir in dieser Hinsicht nicht allein sind“, so Esslinger. Nach dem Abgang von Erfolgscoach Peter Russell soll nun Ex-EHC-Profi Robert Hoffmann Impulse setzen. „Uns ist vor der Saison 2021/2022 keinesfalls bange.“

Geht es nach Sportdirektor Klemens Hartenbach, soll dieses Team auch in der kommenden Saison zusammen Fußball spielen: „Es wird keinen Umbruch geben, das ist auch mal schön. Um den Konkurrenzkampf hochzuhalten, wollen wir schauen, ob sich personell auf ein oder zwei Positionen etwas realisieren lässt. Noch ruht der Markt aber. Alle versuchen erst mal, die eigene Mannschaft zusammenzuhalten.“ Über das dazu nötige Kleingeld spricht man beim SC Freiburg nur ungern. Der Deutschen Fußball-Liga (DFL) meldete

der Bundesligist aber erfreuliche Zahlen für das noch bis zum 30. Juni laufende Geschäftsjahr 2020. Zwar sanken die Umsätze darin im Vergleich zum Vorjahr um knapp sieben Millionen Euro, unterm Strich steht beim Sport-Club aber ein Plus von 95.000 Euro. Und: In diesen Zahlen fehlen noch die Abgänge von Ale­ xander Schwolow (Hertha Berlin), Luca Waldschmidt (Benfica Lissabon) sowie Robin Koch (Leeds United). Alle drei zusammen dürften auf dem Transfermarkt mindestens 25 Millionen Euro eingespielt haben.

Fotos: © USC Eisvögel Freiburg; BZ Medien; SC Freiburg; HSG Red Sparrows Freiburg; FT Freiburg

Eishockey

Plant die Quadratur des Eises: 2. EHC-Vorstand Marc Esslinger

werden müssen. „Eine Katastrophe“, kommentiert der 43-Jährige. Die außergewöhnliche Situation erforder te eine außergewöhnliche Maßnahme: In ihrer 20. Bundesligasaison starteten die Eisvögel eine Crowdfunding-Kampagne. 5000 Euro hatte sich der Verein gewünscht, gespendet wurden schließlich 12.000 Euro. „Das war sensationell“, sagt Stasch, der betont, dass es sich dabei nicht um eine Notfall-Aktion handelte. Das Geld solle vor allem in die Jugend fließen: „Wir planen eine Academy.“


Jeden Euro umgedreht: Gisela Schoritz, Sportliche Leiterin bei der HSG

Handball

In der zweiten Bundesliga waren Freiburgs beste Handballerinnen chancenlos. „Der Abstieg ist für uns kein Beinbruch“, erklärt Gisela Schoritz, sportliche Leiterin der HSG Red Sparrows. Auswirkungen habe das Virus trotzdem: Summen möchte Schoritz nicht nennen, insgesamt sei der Etat aber um ein Drittel geschrumpft. „Das ist hart“, kommentiert die 58-Jährige. Um die Betriebskosten in der zweithöchsten Spielklasse zu decken, för-

Gleich sechs Corona-Infizierte verzeich­ nete die Volleyballmannschaft der Frei­burger Turnerschaft (FT) seit März 2020. Andere Vereine in der zweiten Bundesliga seien besser durchgekommen, mussten ihre Spieler nicht bis zu 17 Tage in Quarantäne schicken. Auch neben dem Feld hat Corona Spuren hinterlassen: Der Mann-

gen. „Der Spirit hat immer gestimmt“, lobt Schoritz. Der Verein steht vor einem Umbruch: Nach 16 Jahren an der Seitenlinie ist für Erfolgscoach Ralf Wiggenhauser Schluss. Sein Nachfolger Igor Bojic soll Zeit bekommen: „Es gibt keine Vorgabe für den Wiederaufstieg.“ Neue Spielerinnen konnte die HSG zum Redaktionsschluss noch nicht präsentieren: Kandidatinnen aus der Schweiz haben abgesagt, ihnen sei der Grenz­ übertritt wegen der Corona-Verordnung zu heikel.

schaft mit dem höchsten Zuschauer­ schnitt der zweiten Liga fehlen außerdem die Erlöse von durchschnittlich 620 verkauften Tickets – pro Heimspiel. „Das ist weggebrochen“, sagt Teammanager Florian Schneider. Immerhin 80 Prozent der Hinrunden-Einnahmen des Vorjahres habe der Verein über die „Coronahilfe Profisport 2021“ des Bundes zurückbekommen. Fast 40 Millionen Euro aus 267 Anträgen wurden zum Redaktionsschluss bundes-

weit aus dem insgesamt 200 Millionen Euro tiefen Topf bewilligt. Die Rückrundeneinnahmen fehlen der FT noch. Angesichts der Umstände ist Schneider mit dem neunten Platz in der abgelaufenen Saison nicht unzufrieden. Für die Zukunft ist er optimistisch: Mit einer Mischung aus Routiniers und Jugendspielern soll sich die „Affen­ bande“ mittelfristig unter den Top 5 der Liga etablieren.

Volleyball

Sechs Spieler in Quarantäne: FT-Teammanager Florian Schneider

derte das Freiburger Rathaus den Verein mit 50.000 Euro, auf Reserven habe die HSG aber nicht zurückgreifen können: „In Liga 2 waren wir die Mannschaft mit dem geringsten Budget und mussten jeden Euro zweimal umdrehen.“ Auch den Sparrows fehlt ein Großsponsor, die meisten Werbepartner konnten aber gehalten werden. In Liga 3 fallen nun Kosten weg. „Wir sind nur noch in Süddeutschland unterwegs“, erklärt Schoritz. An der dänischen Grenze vor leeren Rängen zu spielen habe mehr geschmerzt als das Verletzungspech und die 23 Niederla-

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Szene REPORTAGE

Meditativ: Till Neumann lauscht der Natur. Coach Olaf Lemnitz (unten) ist per Smartphone dabei.

Eins mit dem Baum

Was hinter dem Naturtrend Waldbaden steckt

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Fotos: © tln, freepik

ntspannen im Wald. Das kennt jeder. Und darin baden? Manche tun Waldbaden als esoterischen Quatsch ab, andere sehen es als besondere Meditation. chilli-Redakteur Till Neumann wollte es genauer wissen: Er hat sich mit einem Coach in den Freiburger Wald begeben und dabei barfuß einen Baum umarmt. Eine Studie aus Baden-Württemberg untersucht erstmals, was hinter dem Trend steckt. Es regnet leicht an diesem schwül-warmen Sonntagmorgen. Eine willkommene Abkühlung nach heißen Tagen. Heute gehe ich zum ersten Mal im Wald baden. Ein Coach begleitet mich – von Kreta aus mit dem Smartphone. Ob das klappt? Olaf Lemnitz ist ausgebildeter Leiter von Waldbadekursen. Der 49-Jährige ist bei den Seminaren in Freiburg eigentlich persönlich dabei. Doch zu Corona-Zeiten hat es ihn nach Kreta verschlagen. Von dort aus bietet er digitale Seminare an. Verabredet sind wir per Videocall an einer Grillhütte oberhalb des Waldsees. Lemnitz sitzt in kurzer Hose auf seiner Terrasse und begrüßt mich freundlich. Ich habe eine Regenjacke an und hoffe, dass es einigermaßen trocken bleibt.

„Wichtig ist, dich auf den Wald einzulassen“, sagt Lemnitz. Hören, fühlen, riechen. „Lass den Atem fließen.“ Zum Start gehe ich einen leicht ansteigenden Weg entlang. Das Smartphone steckt jetzt in der Tasche. So kann ich mich auf die Natur konzentrieren. Ich soll langsam gehen, mein eigenes Tempo finden. Ruhig auch mal stehenbleiben und etwas genauer anschauen. Als ich rechts einen majestätischen Baum entdecke, halte ich an – und betrachte ihn näher. Beeindruckend. Regentropfen prasseln auf die Blätter. Etwas weiter oben geht’s an die erste Meditation. „Suche dir einen Punkt im Wald und konzentriere dich darauf“, sagt Lemnitz. Ich soll zudem leicht in die Knie gehen und die Schultern lockern. Wir lassen einen imaginären Punkt durch meinen Körper wandern. Die Augen sind geschlossen. Was ich dabei fühle? Wärme, sage ich. Langsam werde ich eins mit der Umgebung. Dann soll ich die Schuhe ausziehen, barfuß über einen schmalen Weg laufen. „Eine kostenlose Fußreflexzonenmassage“, sagt Lemnitz. Frisch ist es, aber nicht kalt. Erde, Steine und kleine Äste sind zu spüren.Wenn ich langsam laufe, ist das angenehm.

MEINE SORGEN Majestätsbeleidigung

Es ist still geworden um König Fußball. Zwar regiert der stolze Souverän die Sportwelt weiter mit goldenem Zepter, Purpur-Trikot und eiserner Fernsehgeld-Faust, doch immer mehr Untertarnen wenden sich ab: Leere Tempel, Streitigkeiten bei den DFB-Rittern der Schwafelrunde, misslungenes Marketing, Nations-League, Helene Fischer und eine Tor-Hymne von Oliver Pocher haben einen tiefen Burggraben hinterlassen. Oder freut sich jemand im Jahre 2021 auf die „Euro 2020“? 20 CHILLI JuNI 2021

Mit dem maladen Monarchen mag man fast Mitleid haben: Hinter hohen Mauern wird der König von seinen Kardinälen ausgenommen. Sie errichten ihm Schlösser aus blutigem Sand, proben den Staatsstreich und putschen gegen seine Königsklasse. Das Volk kann nur kostenpflichtig zuschauen. Dass Spieler, des Königs gesalbte Recken, teure Kutschen mit vielen Pferdchen fahren, hat die Menge verkraftet, doch das königliche Karussell dreht sich ihr längst

zu schnell. Helden von heute sind die Hofnarren von morgen, für sie bricht niemand mehr eine Lanze. „Fußball ist unser Leben, König Fußball regiert die Welt“, schmetterten Beckenbauer, Netzer und Müller im Sommer 1974 zu Ehren seiner Majestät. Solche Fanfaren sind verstummt, Hummels, Kroos und Müller treffen nächste Woche hoffentlich trotzdem das Tor und damit auch den Ton. Der König ist tot, lang lebe der König. Philip Thomas


SZENE Kolumnen

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Bäder

Die Badesaison hat begonnen. Nachdem Strandbad, Freibad St. Georgen und auch Lorettobad schon wieder Gäste begrüßen, will das Keidel seine Pforten am 19. Juni wieder öffnen. „Wir nehmen viel Geld in die Hand“, betont Freiburgs Sport- und Finanzbürgermeister Stefan Breiter. Im Pandemiebetrieb kosten Keidel, Strandbad und Freibad in St. Georgen laut Betreiber jeden Monat zusätzlich 400.000 Euro (wir berichteten). Geplantscht werden darf – Sieben-Tage-Inzidenz unter 35 sei Dank – ohne Test, dafür aber mit Anmeldung unter: www.badeninfreiburg.de Foto: © Pixabay/Markus Piske

Als „Forest Potentials“ bietet Olaf Lemnitz Waldbadekurse an. Bis zu sechs Personen können teilnehmen. Das kostet 32 Euro pro Nase für vier Stunden. 2018/2019 hat Lemnitz beim Netzwerk Deutsche Akademie für Waldbaden eine Ausbildung zum Kursleiter gemacht. Rund 50 Touren hat der Theaterregisseur bisher geleitet. Waldbaden kommt aus Japan. „Shinrin Yoku“ heißt das Konzept dort. Wichtig dabei ist Achtsamkeit. Also das bewusste Wahrnehmen der Natur. Eine Studie aus Baden-Württemberg hat 2020 erstmals die Wirkungen untersucht. Eine Erkenntnis: Mischwald wirkt eher entspannend, Nadelwald dafür stressreduzierend. Mehr zur Studie: bit.ly/waldbaden_studie

Schirm, Stiefel, Regenhose - die Mode war im Frühling vom Wetter geprägt. Angesichts der Wassermassen hat sich chilli-Trendchecker Philip Thomas nur knapp gegen die Anschaffung einer Arche entschieden. Im Taucheranzug berichtet er, wo Freiburger·innen ganz offiziell baden gehen und welchen Sportler·innen ebenfalls die Luft wegbleibt.

OUT

Barrieren

In der Pandemie zieht es viele Freiburger·innen in die Natur. Im Schatten der Bäume geht es leider nicht immer besinnlich zu. Im Stadtwald sorgen gefährliche Hindernisse auf Mountainbike-Pisten für großen Ärger: An schwer einsehbaren Streckenstellen haben Unbekannte Barrieren aus Ästen errichtet und einen Draht gespannt, am Hirzberg wurde ein Brett mit Nägeln gefunden und zur Anzeige gebracht. „Das Entsetzen bei uns ist groß“, betont Mirjam Milad, Geschäftsführerin des Freiburger Mountainbike-Vereins. „So etwas ist für uns nicht nachvollziehbar. Im schlimmsten Falle können diese Fallen tödlich enden.“ Foto: © Arne Grammer

shinrin yoku

IN & OUT

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Ich erzähle vom Moos am Boden, das hier überall ist. „Fass es ruhig an, erzähl’ mir, wie sich das anfühlt“, sagt Lemnitz. „Erstaunlich rau, vollgesogen mit Wasser“, antworte ich. Dann soll ich mich auf einen Baumstumpf am Wegesrand setzen, die Augen schließen. Minutenlang. Bis ein Gong ertönt. Ich mache es mir gemütlich. Lausche dem Wald. Dabei fällt mir ein Baum auf, der einige Meter vor mir steht. Seine Äste sind wie Stockwerke. Das erzähle ich Lemnitz, als nach ein paar Minuten der Gong ertönt. „Geh ruhig zu dem Baum, wir machen ein Wald-Solo“, sagt Lemnitz. Ich soll den Holzriesen umarmen, mein Ohr an seine Rinde legen. Was ich höre? „Ein Rauschen“, sage ich. Mächtig fühlt sich der Stamm an, aber auch sanft. Dann gehen wir weiter, zurück zur Grillhütte. „Such dir vier Stöcke vom Boden“, sagt Lemnitz. Damit soll ich ein Viereck legen und darin mit Dingen vom Waldboden ein Bild malen, das mein Erlebnis beschreibt. Ich lege ein Auge. Für den Durchblick, den so eine Meditation bringt. Zum Abschluss gibt mir Lemnitz einen Tipp mit auf den Weg: Wenn ich mich nach der Runde gut fühle, soll ich das auch anderen zeigen. Einfach anlächeln. Das wirke manchmal Wunder.


Szene Alternatives Wohnen

Selbst gebautes Traumhaus: Maya Prinz (oben r.) und Jonathan Zwiener haben für ihr Tiny House auf Rädern selbst Hand angelegt.

Mit 20 das erste Eigenheim Warum sich Maya Prinz und Jonathan Zwiener ein Tiny House gebaut haben

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Fotos: © privat

aya Prinz und Jonathan Zwiener sind in vielerlei Hinsicht ein ganz normales Paar: Sie lernen sich während eines Sommercamps kennen, flirten, kommen zusammen, machen kurz darauf Abitur und fahren dann mit den Fahrrädern durch halb Europa. Nun sind sie im Studium respektive in einer Ausbildung. Etwas außergewöhnlicher ist, dass die beiden bereits im Endteeniealter Pläne für ein gemeinsames Haus schmieden, da sind sie gerade mal ein Jahr zusammen. Deutlich außergewöhnlicher ist, dass sie es tatsächlich selbst bauen. Und richtig außergewöhnlich ist, dass sie – ohne geerbt, im Lotto gewonnen oder eine Bank ausgeraubt zu haben – ihr Eigenheim eigenfinanziert und bereits abgezahlt haben. Welche 20-Jährigen können das schon von sich behaupten? Wie machen sie das? Zum einen hat die Radreise durch Polen, Norwegen, Spanien und Co. das junge Paar aus Freiburg und Chemnitz noch näher zusammengebracht, es darin bestätigt, nicht nur vom Eigenheim zu träumen, sondern auch im realen Leben tatsächlich zusammenleben zu wollen. Die zweite geheime Zutat ist die Bauweise des Hauses. Prinz und Zwiener haben nicht für teuer Geld ein überteuertes Grundstück erworben, das sie anschließend mit Mauern, 22 CHILLI Juni 2021

Fenstern und Dachziegeln verzieren ließen. Nein, sie haben kostensparend auf einem fahrbaren Bauwagenuntersatz gebaut: ein Tiny House. Der berühmteste Tiny-House-Besitzer hierzulande ist wohl Peter Lustig beziehungsweise Fritz Fuchs, sein Nachmieter. Die Hauptfiguren aus der Kindersendung „Löwenzahn“ leben schon seit den 80ern in einem umgebauten Bauwagen, darin alles, was sie zum Leben brauchen. Reduktion aufs Wesentliche und Minimierung des Wohnraums sind zwei Kernargumente von Tiny-House-Bewohnern; gerne mit fahrbarem Untersatz, um im Urlaub das eigene Ferienhaus dabei zu haben. Ach ja: Und Geld ist natürlich auch ein Argument. In Tübingen hat Prinz vergangenen Sommer ihr Studium in Geowissenschaften begonnen, Zwiener in einem Vorort seine Ausbildung zum Zimmermann. Als sie zuvor nach einer Wohnung geschaut hatten, waren sie von den Mietpreisen der Universitätsstadt erschlagen worden: 700 Euro kalt für eine kleine Zweizimmerwohnung – für zwei junge Menschen mit geringem Einkommen zu viel. Mal grob hochgerechnet kommen so für ein Masterstudium rund 54.000 Euro an Mietkosten zusammen. Da ist ein Tiny House deutlich günstiger. Als Prinz und Zwiener im vergangenen Frühjahr ihre Europareise coronabedingt abbrechen müssen und an-

schließend – auch wegen Corona – keine Jobs zur Überbrückung finden, nutzen sie die freie Zeit und fangen an zu planen und zu bauen. Sie zeichnen ihr Haus selbst, dürfen die Maschinen seiner Ausbildungsstätte nutzen, sägen und schrauben, kaufen zwischendurch Fenster auf Ebay-Kleinanzeigen, bauen aus und richten ein. Auf knapp 22 Quadratmetern Wohnfläche haben sie ein Bad, eine Küche, ein Schlafzimmer, einen Aufenthaltsraum mit Schreibtisch – alles eher klein, aber großartig. „Wir sind extrem stolz auf unser Haus“, erzählt Prinz. „Und bisher ist es uns auch nicht zu eng.“ Die ehemalige Schülerin des St. Ursula-Gymnasiums hat mal hochgerechnet: Gemeinsam haben sie 1000 Stunden Arbeit in das Tiny House gesteckt – und 15.000 Euro. Sie hatten ihre Ersparnisse zusammengelegt. Momentan zahlen sie 300 Euro Miete für einen Stellplatz auf einem Tübinger Campingplatz. „Da werden wir uns noch was Günstigeres suchen“, sagt Prinz. Aber noch seien die Infrastrukturen für Minihäuser in Deutschland ausbaufähig. „Das Schöne ist“, sagt sie, „dass wir jederzeit umziehen können.“ Das Haus kommt dabei einfach mit. Christian Engel

Lesen Sie auch Tiny Houses in der Regio unter: bit.ly/34ClcUH


SZENE Stadtjubiläum

Kein Finale im Stadion Stadtjubiläum wird von „Kultur – Los! Festival Freiburg“ abgelöst

Durchaus spektakulär: Die Pan.Optikum-Produktion FieberHaft wird auf dem Platz der Alten Synagoge live zu sehen sein. Fürs Freiluft-Festival vom 5. bis 16. August können sich Künster unter kulturlos@ig-subkultur.de ab sofort bewerben.

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Foto: © Jennifer Rohrbacher

as 900-Jahre-Stadtjubiläum schleppt sich in Freiburg ins Ziel, das „Kultur – Los! Festival Freiburg“ aber wird von der Kulturstiftung des Bundes mit bis zu einer halben Million Euro gefördert und soll in diesem Sommer einen kräftigen Impuls für Kulturschaffende und Kulturhungrige setzen. Nur ein paar Tage vor der Absage des zentralen Festwochenendes aus dem Rathaus hatte Holger Thiemann, Projektleiter des Stadtjubiläums, noch gehofft, dass das große Finale im Schwarzwaldstadion stattfinden könnte. Oberbürgermeister Martin Horn und Erster Bürgermeister Ulrich von Kirchbach hatten am 17. Mai dann plötzlich mitgeteilt, dass „die abschließende Festwoche nicht wie ursprünglich geplant stattfinden kann“. Kein Wort dazu, dass hinter den Kulissen zuvor intensiv mit dem Sportclub verhandelt worden war. Das wäre ein stimmungsvoller Schlussakkord gewesen. „Soweit ich weiß, wollte der SC deutlich über 100.000 Euro für einen neuen Rasen“, zeigt sich Thiemann enttäuscht. Die Pressestelle des SC reagiert auf chilli-Anfrage verwundert auf die Kritik: „Die Absage der Stadt kam für uns überraschend und unerwartet, da wir ihnen aus unserer Sicht in allen Punkten maximal entgegengekommen sind.“ So habe der SC etwa auf Mietkosten fürs Stadion bewusst verzichtet. Das Rathaus wollte die Festwoche vom 8. bis 14. Juli steigen lassen. Der SC bot die Woche vom 15. bis 21. Juli an, da die Profis dann im Trainingslager sind. Da in der Dritten Liga – die zweite Mannschaft des SC ist soeben dorthin aufgestiegen – die neue Saison bereits am 23. Juli beginnt, hatte der SC sich zudem an den DFB mit dem Wunsch gewandt, dass die Bundesliga-Reserve mit einem Auswärtsspiel startet. Dann hätte man neun Tage für einen neuen Rasen gehabt. Der DFB habe das aber nicht garantieren können. So blieb ein Restrisiko,„das wir dennoch bereit gewesen sind zu tragen.“ Es war am Ende der OB, dem das finanzielle Risiko, dem Vernehmen nach waren es für die Festwoche rund 400.000 Euro, zu groß gewesen ist. Seltsam mutet an, dass der Gemeinderat aus dem Stadtjubiläumstopf erst die Verlängerung ins Jahr 2021 beschlossen (wir berichteten), dann aber 85.000 Euro für andere Zwecke abgezwackt hatte. Nun fließen weitere bis zu 100.000 Euro aus diesem Topf ins vom Bund mit bis zu einer halben Million Euro geförderte „Kultur –Los!

Festival Freiburg“. Das wird vom städtischen Kulturamt organisiert und kostet Stand heute 657.000 Euro. 32.500 Euro schultert das Kulturamt selbst, der Rest soll durch die Eintrittsgelder erwirtschaftet werden. Gemeinsam mit Freiburg Live, der IG Subkultur Freiburg und der Initiative Kultur-Rettung Freiburg sollen vom 5. bis 16. August der Eschholzpark, der Stühlinger Kirchplatz und der Alte Messplatz bespielt werden. Das von der Pandemie so geschundene Stadtjubiläum läuft derweil trotz aller Hindernisse weiter und wird am 16. und 17. Juli auf dem Platz der Alten Synagoge (siehe Seiten 16/17) mit einem Programm des für spektakuläre Shows bekannten Aktionstheaters Pan.Optikum ein Highlight feiern. Der als Cheforganisator nicht zu beneidende Thiemann wird im September indes seine berufliche Laufbahn beenden. Ihm wäre ein komplettes Highlight-Stadtjubiläum zu wünschen gewesen. Lars Bargmann AnzeigeN

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Szene Recycling

Pöbeleien? »Jeden Tag!«

Wie der Recyclinghof St. Gabriel den Corona-Ansturm meistert

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Fotos: © tln

underte wollen gleichzeitig rein. Vielerorts erleben Recyclinghöfe zu Pandemiezeiten ein Riesengedrängel. Wie kommt das Team von Freiburgs größtem Abfallsortier-Platz damit klar? chilli-Redakteur Till Neumann hat sich das auf dem Recylinghof St. Gabriel angeschaut. Er hat Männer getroffen, die trotz Verbalattacken ruhig bleiben. Die Polizei rufen sie nur, wenn es handgreiflich wird. Freitagmorgen, 9 Uhr. Rund 15 Autos stehen Schlange vor St. Gabriel. Für das Team von Hans-Michael Ganter ist das der normale Wahnsinn. „Gute Nerven sind hier gefragt“, sagt der Chef der drei Freiburger Recyclinghöfe in seinem Büro. Das Headset im Ohr, die Lage im Blick. Vor der Tür geht’s zu wie im Ameisenhaufen: Über den Recyclinghof schwirren Menschen, die ihren Müll entsorgen wollen und oft erst mal verstehen müssen, was wo hinkommt. „3500 Leute schleifen wir pro Woche durch die drei Höfe“, sagt Ganter. Viel weniger waren es vor der Pandemie nicht. Aber die Autos seien voller geworden, der Stress größer. Wegen der Abstandsregeln dürfen weniger rein. Das sorgt für Wartezeiten und dicke Luft. Wie oft sie angepöbelt werden? „Jeden Tag, auf jeden Fall“, sagt Klaus Giesler. Er ist Vorarbeiter auf St. Gabriel. Beleidigungen wie „dummes Arschloch“ seien nicht selten, erzählt er. Erst vor ein paar Tagen sei ihm ein verärgerter Besucher mit einem Transportwagen absichtlich über den Fuß gefahren. „Wir haben die Polizei geholt“, berichtet Giesler gelassen. Meistens schaffe er es jedoch, zu deeskalieren. „Bitte bleiben Sie ruhig“, beschwichtige er dann. Viele seien gereizt, wenn sie auf St. Gabriel kommen, berichtet Giesler. Das habe in der Pandemie zugenommen. Lange Wartezeiten am Eingang seien ein Grund. Die Preise für die Entsorgung ein weiterer. Altkleider, CDs oder Metallteile sind umsonst. Bauschutt, Autoreifen oder Restmüll dafür kostenpflichtig. Viele Besucher·innen seien freundlich: „Der größte Teil der Leute ist super“, sagt Giesler. Seit 13 Jahren ist er auf St. Gabriel. Er mag die Abwechslung dort. Die „Stammgäste“

fördern das nicht: „Manche Leute kommen täglich, einige sogar zwei, drei Mal am Tag“, berichtet er. Nebenbei erklärt Giesler einem Besucher, wo er seinen Rigips entsorgen kann. Der ist begeistert: „Riesenkompliment: Ihr seid konsequent, habt Geduld und Ruhe – Respekt!“ Ein weiteres Problem auf St. Gabriel: Wer einmal drin ist, lässt sich oft Zeit: „Manche hängen am Handy, andere kommen nicht gut vorbereitet“, sagt Ganter. Das Exempel: Ein älterer Herr sortiert gemütlich seine alte CD-Sammlung. Die Silberlinge müssen von den Hüllen getrennt werden. Das sollte man vor dem Besuch erledigen, sagt Ganter. Das Telefon des schwungvollen Mannes klingelt oft. Viele wollen wissen, wann die Wartezeit am kürzesten ist. Er antwortet dann: „Kommen Sie im September“ und lacht. Wer trotzdem kommen wolle, könne es um halb 8 versuchen. Dann komme man vielleicht mit dem ersten Rutsch um 8 Uhr rein. Der Geheimtipp: Wer zu Fuß oder mit dem Rad anreist, kann über eine Extrawarteschlange direkt auf den Hof. Ein Dorn im Auge sind Ganter die „Abfangjäger“ vor dem Hof. Menschen, die mit Nachdruck um Elektrogeräte bitten, bevor sie entsorgt werden. „Arme Kerle“ seien das, findet Ganter. „In der Kette ganz unten.“ Das Netzwerk der Schatten-Elektro-Händler sei verzweigt. „Der Handel mit EDV ist so groß und schlimm wie der mit Waffen“, sagt Ganter. Damit auf dem Hof alles geordnet läuft, geben seine Mitarbeiter Vollgas. Mittlerweile regnet es, als Unterschlupf haben sie einen Sonnenschirm aufgespannt. Giesler macht gerade „fliegende Pause“ mit einem Kaffeebecher in der Hand. Wirklich zur Ruhe kommt auch sein Kollege Albert Cakoli nicht. Mit Baseball-Cap auf dem Kopf leitet er die Autos in die Parkbuchten und beantwortet viele Fragen. „Das bleibt den ganzen Tag so, gute Neven habe ich“, sagt der 31-Jährige. Zum Durchschnaufen kommt hier kaum einer auf dem Freiburger Ameisenhaufen des Abfalls. „Eine gewisse Gelassenheit ist wichtig“, betont Ganter. Im Büro hat er eine kleine Schachtel für Notfälle. Auch der Reporter bekommt einen Schokoriegel. Falls die Nerven mal blankliegen.

Brauchen gute Nerven: Recyclinghof-Chef Hans-Michael Ganter (links) und seine Mitarbeiter Albert Cakoli (Mitte) und Klaus Giesler (rechts).

24 CHILLI JuNI 2021


Szene Tiere

Begehrt: Hunde wie der im Freiburger Tierheim sind gefragt wie selten.

»Viele sind blauäugig«

Freiburger Tierheim warnt vor Käufen im Ausland Sorgen vor Rückgabewelle

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Fotos: © tln, Picabay/Joshua Willson

ie Anfragen sind explodiert. Doch viele Familien, die sich in Coronazeiten einen Hund zulegen wollten, musste das Tierheim abweisen. Dann einen Vierbeiner aus dem Ausland zu bestellen, ist riskant, warnt Tierheimleiterin Tina Majdecki. Sie hat derzeit mit leeren Kassen und einer drohenden Rückgabewelle zu kämpfen. Rund 25 Hunde sind aktuell da, berichtet Majdecki. Die Nachfrage sei in Corona-Zeiten enorm. Familien, die schreiben: Wir haben schon immer einen Hund gewollt, jetzt haben wir die Zeit dafür. Doch die meisten muss das Tierheim ablehnen. Der Grund: „Wir haben hier eher Problem-Hunde“, sagt die 41-Jährige. Schwer zu vermitteln, lange da. Früher hat der Tierschutzverein Freiburg etwa zwei Anfragen pro Woche bekommen. In Corona-Zeiten seien es zehn am Tag. „Das ist um 300 bis 400 Prozent gestiegen“, berichtet Majdecki. So oft abzusagen, sei frustrierend: „Die Leute holen sich dann einen Hund aus dem Ausland.“ Dabei gebe es regelmäßig Schwierigkeiten. Ein Problem: Die Tiere sind nicht immer gegen Tollwut geimpft. Gerade erst hatte Majdecki so einen Fall. Das Veterinäramt steckte den Vierbeiner sechs Wochen in Quarantäne. Die Kosten trägt die Freiburger Familie: 900 Euro. Eine weitere Hürde: Bei Tieren aus dem Ausland gebe es nicht immer Hilfe bei Problemen. „Wenn der Hund ein Kind schnappt, muss man schnell reagieren“, sagt Majdecki. Tiere aus ihrem Hause könne man sofort zurückbringen. Tierschutzvereine aus dem Ausland hätten manchmal nicht mal eine Ansprechpartnerin. „Viele sind da blauäugig“, sagt Majdecki. Sorgen macht ihr eine mögliche Rückgabewelle. Menschen, die raus aus der Kurzarbeit oder dem Home-Office sind und ihr Tier wieder loswerden möchten. „Die Welle wird kommen, aber zeitverzögert“, vermutet Majdecki. Viele könne sie nicht aufnehmen. Für etwa zehn Hunde sei noch Platz. Majdeckis Tipp für Menschen, die ihr Corona-Tier doch wieder abgeben wollen: Sei die Zeit knapp, solle man ihm besser ein neues Zuhause suchen. Gehe es um Erziehungsfragen, rate sie zum Besuch einer Hundeschule.

Auch die Kassenlage ist schwierig: Durch die Pandemie sind Spendenaktionen weggebrochen. Vom Bund gibt es daher für Tierschutzvereine 7500 Euro Corona-Förderung. Auch das Freiburger Tierheim hat sie beantragt. Allein durch den Wegfall des Sommerfestes mit Tombola fehlten knapp 10.000 Euro. Doch der Verein hat auch Solidarität erlebt: Nach einem Facebook-Aufruf seien Geld und Tierfutter gespendet worden. Till Neumann Anzeige

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Das perfekte Wochen ende in ...

Prag

nfang Sep te mber 20 20: Die be völkerungs reic hste Stadt de R epublik, in die in no r Tschec hischen rmalen Jahren weit über fünf Millionen ist nic ht gähnend, ab Tourist en kommen, er so gut wie le er. In di es en Ta ge n gib t es zwar keine R eise am Tag unse re r A breise aber erklär warnung, t die Bunde sregie ru R isikoge bie t. Wir hö ng die „Goldene Sta ren die Nachric ht au dt “ zum f de m Weg in die H eimat.

Fotos: © iStock.com/cos

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oka82, zodebala

So viel Freiraum au f der weltbekannten Karlsbrücke haben Abermillionen Gäste nicht gehabt: Kein Gedränge und Geschiebe, eher ein majestätis ch es Schreiten über die 516 Meter, die die Moldau übers pa nnen. Die aus Stein gehauene Bogenbrücke – eine de r ältesten in Europa – mit ihren 30 zumeist barocken Sä ulenheiligen und Patronen, verbind et die Altstadt mit de m Stadtteil Kleinseite. Man schrie b das Jahr 1357 als Ka ise r Karl IV. den Grundstein für den Bau legte, gegen En de des Dreißigjährigen Krieges 1648 war die Brücke Schauplatz heftiger Kämpfe, als die schwedischen Trupp en vom Westufer der Moldau aus Prag belagerten. Heut e liegt sie in der Nachmittagssonn omische Uhr von 1410. e und genießt den Sta rottet worden: Die astron tus des naWäre beinah mal versch tionalen Kulturdenk mals. Nur eine Hand voll fliegender Händler, Porträtmale r, Souvenirhändler un – es misst von Hauswa d Heimatfond zu Hauswand 50 tografen wartet unau Zentimeter. fgeregt auf Kundsch Ein e Fußgängerampel af t. Ein soll verhindern, dass e Frau schleppt ihr Cello he die Menran, auf dem Fluss un schen in der Mitte üb ten fahren ein ereinander kraxeln paar verlorene Passa mü sse n oder gierboote. sich dichter als erwün scht kommen. In eines steigen wi r ein und schippern Unter der Regentsch dann durch af t des allgegenwär kleine Kanäle rund um tigen Karl die Moldauinsel Kamp IV. wurde die Golde ne a, Stadt zu einem ku ltu we nngleich „Klein Venedig rel len und “, was wir irgendwo politischen Zentrum gelesen hain Europa. Die Karls ben, sicher ein Euphem -U niversität ismus der besondere n Ar t ist. Auf wurde noch 109 Jah re vor der Freibu Kampa gibt es übrig rg er Al bert-Ludens das engste Gässc hen der Stadt wigs-Universität (1457) gegr ündet un d ist die älteste in M itteleuropa. Da „Klein Venedig“: Von s alte Zentrum Prag der Moldau aus können s ist Touristen kleine vo n der Bootstouren in Seiten UN ES CO als eine der 14 W kanäle buchen. elterbestät ten Tschec hie ns anerkan nt. Prag ist auch die Sta dt Franz Kafkas, de ssen kubistischer Grabstein au f dem Neuen Jüdisc he n Friedhof steht. Am 11. Juni 192 4 wurde er beigesetzt – ohne einen einzigen Repräsentan ten aus Politik, Wirt schaf t oder Gesellschaf t. Wer mö chte, der kann einen ga nzen Tag lang Kafkas Wohno rte und Arbeitsstätte n besuchen, allein an der Zeltnerg asse (heute: Celetná ) hatte die Familie vier unterschied liche Adressen. Für da s Museum des bedeutenden Schr iftstellers wurde in de r 1,3-Millionen-Einwohner-Stad t nahe der Karlsbrüc ke am Moldau-­ Ufer eine Ziegelei um gebaut.

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Reise Goldene Stadt

Die Moldau : An ziehungspunkt im Herzen der Sta dt.

Wir radeln weiter zu m Rathausplatz, wo vo r der berühmten Rathausuhr an de r Südfassade nur ein e kleine Touristengruppe steht un d die Gästeführerin üb er die reiche Geschichte der astro nomischen Uhr aus dem Jahr 1410 erzählt – ein Meisterw erk gotischer Wissen schaft, ein nationales Kulturdenkma l. Oberhalb des Ziffer nblatts sind zwei kleine Fenster, in denen die 12 Apos tel erscheinen. Man schrieb das Jah r 1787, als die Uhr in ein em so beklagenswerten Zustand war, dass der Prager Ma gis trat sie als Altmetall-Schrott verka ufen wollte. Der Uni-P rof essor Antonín Strnad redete so dann so lange auf die Po litiker ein, bis diese unter dessen Leitung die Sanierung beschlossen. Wir fahren auf den Hr adschin, wo wir vor dem größten, geschlossenen Burga real der Welt stehen. Die Prager Burg wu rde im 9. Jahrhunde rt gegründet und ist heute Resid enz des Präsidenten der Tschechischen Republik, Milo š Zeman. Wir lösen Eintrittskarten und verlieren un s dann für drei Stund en auf dem staunenswerten Area l mit Burghöfen, Ve its dom samt Königsgruft, Königsp alast, Lusthaus von Kö nigin Anna, Basilika, dem Mrákotí ner Monolith zum Ge denken an die Opfer im Ersten Weltkrieg und dem Go lde nen Gässchen (Zlatá ulička) mit seinen farbenfroh en Hä uschen aus Gotik und Rena issance. Im Haus m it der Nummer 22 lebte 1917 vorüberge hend auch Kafka. Zw ei Millionen Menschen besuchen die Anlagen jedes Jah r, davon ist bei unserer Stippvisite nichts zu merken. Di e Wachablösung im Ehrenhof m acht aber auch ohne gro ßes Publikum den festen Eindr uck des Erhabenen. Hinter der ersten Br ücke südlich der Ka rlsbrücke liegt ein weiteres Inselche n mit dem Sophienpa lais, das eine Konzer thalle beherb erg t und pit toreske Magnolienbäume. Hinter der nä chsten Brücke (Jirasku Most) liegen am Westufer die Ta nzenden Türme, ein Bürokomplex aus der Feder der Ar chitekten Vlado Milu nič und Frank

Gehry, der 1996 eröffn et wurde und in de m heute vor allem internationale Konzerne unter einem Restaurant im obersten Stock res idieren. Geplant wa r es zunächst als Kulturzentrum, all ein, es fehlte ein Inves tor. Noch weiter südlich liegen am Westufer zu Restaurants oder Cocktailbars um genutzte Schif fe. Au f so einem Kahn ein Glas zu tri nken, zählt zu den wü ns chenswerten Ereignissen in Pra g. Ganz anders als es da s Münchner Abkommen 1938 war, das Schicksal de r Stadt und vor allem das seiner Zigtausenden jüdisc hen Einwohner tragisch veränderte. 78.000 ermordeten die Nazis, nach Kriegsende wurden die meisten Deutsch en aus Prag vertrieben, viele int ernier t, etwa 5000 umgebracht. Prag geriet 1948 unter kommunistisches Re gime. 20 Jahre später wu rde die Bewegung Pra ge r Frühling durch die Waffengew alt der Warschauer-P ak t-Truppen niedergeschlagen, es dauerte noch einma l gut 20 J­ahre, bis die Goldene Stadt zum Schauplatz der Samtenen 

Das tanzende Haus: Die Prager nennen es auch Ginger und Fred.


Fotos: © iStock.com/Vla disl Illustration: © pixabay.com av Zolotov, bar /Elionas

Nationalmuseu

m am Ende des

Wenzelsplatzes. Das

Reiterstandb

ild ehrt den Heilig Revolution wurde un en Wenzel, den Patron von Böhm d das Ende des sozial en. ist isc hen Regimes in der Tschechosl einmal überw unden owakei einleitete. Dr we ehort war der rden mussten, für die sechs Fußballfelder gro viele Prager ihr Leben gelasse ße Wenzelsplatz (1848 n ha ben. na ch de m Heiligen Wenzel von Wer es beschauliche Böhmen benannt) im r mag, dem sei der gr Zentrum der Prager Neustadt. Der üne Petřín-Hügel in Kleinseite em 750 Meter lange Platz pfohlen. Auf der Sp wa r früher der Pferdema itze steht der rkt, die Gäule konngleichnamige Aussich tsturm, ein gut 63 Me ten dem zahlungsw ter hoher illigen PubliStahlfachwerkturm – die Bonsai-Ausgab kum auch im Galop e p vorgedes Pariser Eiffelturm führt werden. Von 188 s. Wer die obere Prag 5 bis 1890 Plattform mit einer wurde am südwestlic herrlichen hen Ende Aussicht auf Prag das Nationalmuseum erreicht, im Stil der hat nicht nur Anflü Neorenaissance errich ge von tet. Vor dem Höhenangst, sondern entzündete sich am auch 16. Januar 1969 299 Stufen auf einer der Student Jan Palac doppelläuh selbst und rannte figen Wendeltreppe dann brennend auf überwunden. den Wenzelsplatz – Da s Naherholungsgebiet so protestierte er unverge ist eine natürliche Oase mit vie ssen gegen den Nied len kulturell bedeutsa erschlag des Prager Frühlings. me n Gebäuden, es gibt eine Sta Unterhalb der Wenzel ndseilbahn, runter so -Statue erinnert ein Denkmal an llte man auf jeden Fall zu Fuß ge Palach. hen. Wieder an die Mo Während einer Mas lda u und die Ka rlsbrücke, an der sich senkundgebung am ein goldener Abend in 24. November 1989 sprache de r Goldenen Stadt genießen läs n Václav Havel und st. AleLars Bargmann xander Dubček auf dem Balkon des Ha uses 56 am Wenzelsplatz und forderten die po litische Umgestaltung des Landes – mit Er fol g. Der Wenzelsplatz wa r erst am 20. Mai wi eder Schauplatz einer De monstration, auf de r mehrere Tausend Mensch en den Rücktritt von Justizministerin Marie Benešová forderten, die den Rücktritt des im Volk geschätzten ob ersten Staatsanwalts Pa vel Zeman erzwung en habe. Die Proteste ric hten sich aber auch ge gen den immer mehr umstrittenen Staats ­ präsidenten Miloš Ze man, nicht nur wegen dessen pro-r ussischer Haltung. Europäisch ori entierte Denker befürchten einen Rückfall des Landes in Verhältnis se, die schon

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Auf dem Petřín-Hügel: Die kleine Kapelle steht unweit des Eiffelturm-Nachbaus.



Wirtschaft Stadtentwicklung

Das Ende der Querelen um die QuäkererstraSSe Familienheim und OB einigen sich auf Moratorium in der Wiehre

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ach bemerkenswert öffentlichen S ­treitereien zwischen Oberbürgermeister Martin Horn und dem Vorstand der Baugenossenschaft Familienheim Freiburg über die Entwicklung des Quartiers zwischen den beiden Wiehre-Bahnhöfen, haben sich die Parteien nun zu einer Vereinbarung durchgerungen und diese vor Journalisten präsentiert. „Ich freue mich überaus, dass wir gemeinsam eine faire und zukunftsorientierte Lösung gefunden haben“, formulierte Horn.

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Einstürzende Altbauten? An diesem Gebäuderiegel (rote Markierung) entzündete sich der Streit im Quartier.

„Wir werden das Quartier nun fünf Jahre ruhen lassen und haben unsere Kapazitäten woanders gebunden“, sagte Dziolloß. Ein wirtschaftlicher Schaden sei der Baugenossenschaft nicht entstanden, so Ehrlacher. Von 2026 bis 2029 soll mit dem Rathaus, Mietern und Genossen ein Entwicklungskonzept erarbeitet werden. Bis dahin wird in dem Bestand aus den 30er- und 50er-Jahren nur das gesetzlich Vorgeschriebene, das Nötigste gemacht. Laut Haag müsse das neue Konzept auf der einen Seite Nachverdichtungspotenziale aufzeigen, auf der anderen aber auch Bestände sichern. Horn sprach ebenfalls von „zusätzlichem Wohnraum“. Über die Vereinbarung entscheidet am 29. Juni der Gemeinderat. Der Streit zwischen Stadtspitze und der Genossenschaft ist zwar beigelegt. Einer der Verlierer auf dem Spielfeld ist die jährliche Statistik, in der die Stadt die Baugenehmigungen für neue Wohnungen auflistet. Hätte nicht die Familienheim, sondern ein renditefokussierter Bauträger das Quartier in der Hand, würden die Mieter tief in der Gewinnerhälfte stehen. So bleibt einfach nur alles beim buchstäblich Alten. Lars Bargmann

Zum Streit in der Wiehre lesen Sie auch: bit.ly/2RUkLSV

Foto: © 2021 AeroWest, GeoBasis-DE, GeoContent, Maxer Technologie Kartendaten © 2021

Die Genossenschaft wollte die in die Jahre gekommenen Häuser an der Quäkerstraße 1 bis 9 abreißen und neuen Wohnraum schaffen. Im Herbst 2017 hatten Anja Dziolloß und Alexander Ehrlacher den Bauantrag abgegeben. Danach geriet das Projekt in den OB-Wahlkampf (wir berichteten), die Initiative „Wiehre für alle“ gründete sich, die Debatte war fortan eher politisch denn sachlich dominiert. Nachkriegsgebäude mit schlechter Bausubstanz waren in jüngerer Zeit in anderen Stadtteilen – etwa durch die Freiburger Stadtbau GmbH oder auch den Bauverein Breisgau – deutlich geräuschloser durch nachhaltigere ersetzt worden. Die Vereinbarung sieht nun vor, dass – bis 2029 so gut wie gar nichts passiert. Es wird in diesen acht Jahren auf der Fläche mit den geräumigen grünen Innenhöfen nicht eine neue Wohnung gebaut. Das ist in Freiburg kein Grund zum Feiern. Auf der anderen Seite verschwinden die vom Rathaus angedrohten sozialen und städtebaulichen Erhaltungssatzungen in der Schublade. „Die Ziele und Zwecke der Satzungen sollen nun auf andere Weise bei der Entwicklung berücksichtigt werden“, sagte Baubürgermeister Martin Haag. „Wir müssen dieses Quartier mit bezahlbarem Wohnraum weiterentwickeln und ich bin sehr dankbar für diese Vereinbarung, weil diese genau das ermöglicht“, kommentierte Sabine Recker, die das städtische Referat für bezahlbares Wohnen leitet. „Der Berg kreißte und gebar eine Maus“, schrieb indes einst der römische Satiriker und Dichter Horaz. Acht Jahre Stillstand bedeuten aber auch acht Jahre keinen Abriss. Das wäre durchaus ein Grund zum Feiern für „Wiehre für alle“. Aber dort regt sich stattdessen Kritik an „nicht nachprüfbaren Absichtserklärungen“. In der Vereinbarung müsse der dauerhafte Erhalt der Gebäude als wesentliches Ziel aufgenommen werden. Andernfalls bleibe bei den Bewohnern die Angst, im hohen Alter ausziehen zu müssen. Auch maximale Mietpreissteigerungen müssten genannt werden. Derzeit hat die Familienheim in dem Viertel rund 300 Wohnungen.



wirtschaft Unternehmen

»Weltklasse« für Freiburg

»Weltweit« gröSSte PV-Anlage 2,3 MW aufm dach

Intuitive investiert 60 Millionen Euro im IG Nord

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Die neue, immer noch namenlose Arena des SC Freiburg wird eine 15.000 Quadratmeter große Solaranlage aufs Dach bekommen, die mit 2,3 Megawatt die „weltweit“ größte PV-Anlage auf einem Fußballstadion wäre, so der Badenova-Vorstandsvorsitzende Thorsten Radensleben und Oberbürgermeister Martin Horn. Das Investitionsvolumen bezifferte Klaus Preiser, Geschäftsführer der Badenova-Tochter Wärmeplus, auf bis zu 1,8 Millionen Euro. In zehn Jahren soll sich das amortisiert haben. Die Dachflächen hat der SC an den Energieversorger verpachtet. Die neue Arena wird zudem mit der Abwärme aus der Cerdia GmbH beheizt und sei unterm Strich Co2-neutral. Rechnerisch. Die Anlage kann etwa 1000 Haushalte versorgen. Die Fans werden sich vielleicht noch mehr über die Information freuen, dass BadenIT für schnelles Internet sorgen wird. SC-Finanzvorstand Oliver Leki hofft, bald auch einen Vertrag mit einem Namenssponsor abschließen zu können. Ansonsten sei das neue Rund „ausvermarktet“. Wann die Bauarbeiten final erledigt sind, konnte Leki nicht sagen. Es habe einige „sehr schwierige Phasen“ gegeben, derzeit gehe es noch um technische Gewerke, etwa die IT. Beim Namen ist die Fan-Initiative „Stadion in Freiburg“ schon weiter: „Das neue Stadion wird Mooswaldstadion genannt“, heißt es in einer Pressemitteilung. Leki findet’s gut. Aber der Club brauche das Geld. bar

Über den Kaufpreis wurden keine Angaben gemacht. Der aktuelle Bodenrichtwert liegt bei 180 Euro. Wenn das Grundstück dafür über den Tisch gegangen ist, hat es 5,4 Millionen Euro gekostet. Intuitive, ein weltweiter Technologieführer in der roboter-assistierten minimalinvasiven Chirurgie, ist in Freiburg bereits am Flugplatz mit einem Standort vertreten, ein zweiter liegt in Emmendingen. Beide sollen geschlossen werden, der Emmendinger frühestens Ende 2025, erklärte Harald Haigis, Geschäftsführer der Intuitive Optics GmbH. Der Konzern ist auf starkem Wachstumskurs, er plant auf dem neuen Grundstück rund 22.000 Quadratmeter Nutzfläche für bis zu 600 Beschäftigte. Die FWI, eine gemeinsame Tochter der Sparkasse Freiburg und der Freiburg Wirtschaft Touristik und Messe GmbH (FWTM), hatte von der Cerdia Produktions GmbH (früher: Rhodia) im vergangenen Jahr insgesamt 16 Hektar erworben (wir berichteten). Für FWTM-Chefin Hanna Böhme könnte der Startschuss für die Vermarktung der Fläche „nicht besser passen“. Das Industriegebiet Nord habe sich als „Green Industry Park“ zu einem nachhaltigen, energie- und ressourceneffizienten Gewerbegebiet mit bundesweitem Mo-

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Foto: © SC Freiburg

dellcharakter entwickelt. Mit der Ansiedlung von Intuitive werde die lokale Gesundheitswirtschaft weiter gestärkt – mit 34.500 Beschäftigten jetzt schon die mit Abstand größte Wirtschaftsbranche in Freiburg. „Unsere Expansion wird es unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ermöglichen, an einem einzigen Campus in Freiburg zusammenzuarbeiten, wo bereits seit 2019 unser deutscher Hauptsitz ist“, sagte Dirk Barten, Geschäftsführer von Intuitive Deutschland. Von hier aus sollen die Geschäfte für die Region Mittel- und Osteuropa gesteuert, ein Schulungszentrum, Forschung, Entwicklung und Produktion zusammengefasst werden. „In Freiburg soll ein Weltklasse-Medizintechnikzentrum aufgebaut werden, das Maßstäbe setzt“, so Haigis offensiv. Für Horn ist die Ansiedlung „ein wirklich bedeutender Wurf für Freiburg als attraktiver Standort für Forschung und Entwicklung in der Medizintechnik“. Mit dem Bau soll bereits im kommenden Jahr begonnen werden. bar

Haben guten Grund zum Lächeln: Martin Horn (l.), Dirk Barten und Hanna Böhme vor intuitivem Instrumentarium.

Foto: © FWTM/Michael Spiegelhalter

Leki und Thorsten Radensleben (v.l.).

Klimaschutz am Ball: Martin Horn, Oliver

as US-amerikanische Medizintechnikunternehmen ­Intuitive Surgical hat von der FreiburgS-Wirtschaftsimmobilien GmbH (FWI) eine rund drei Hektar große Fläche auf dem Cerdia-Areal erworben. Und will dort 60 Millionen Euro in drei neue Gebäude investieren. „Das ist die größte private Einzelinvestition der vergangenen Jahrzehnte“, sagte Oberbürgermeister Martin Horn bei einer virtuellen Pressekonferenz.


Wirtschaft Freizeit

Achterbahnfahrt Europa-Park hat wieder geöffnet

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ehr als sechs Monate lang waren die Tore des Europa-Parks geschlossen – seit Mai fahren die Achterbahnen nun wieder. Doch der Lockdown hat die Betreiberfamilie hart getroffen. Lichter und Kugeln, Tannenbäume und Kunstschnee – für die vergangene Wintersaison hatte sich der Park bereits gerüstet. Dann hieß es von einem auf den anderen Tag: Türen zu. „Das hat mich schon runtergezogen“, sagt Geschäftsführer Roland Mack. „Da waren leichte depressive Ansätze zu spüren.“ 200.000 bis 300.000 Euro seien trotz der Schließung jeden Tag angefallen, mehrere tausend Mitarbeiter waren in Kurzarbeit. Die staatlichen Hilfen hätten 2020 knapp 40 Prozent des Schadens aufgefangen. Doch den Umsatz, der ihnen entgangen sei, beziffert Mack auf mehr als 300 Millionen Euro. „Das hat schon wehgetan“, sagt er rückblickend. Dass die Achterbahnen nun als Modellprojekt wieder öffnen durften, ist zumindest ein Hoffnungsschimmer. „Wir kommen mit dem Kopf aus dem Wasser“, sagt Mack,„aber der Park ist nun einmal nicht für zehntausend Besucher konzipiert.“ Schließlich strömen an Spitzentagen bis zu 50.000 Menschen nach Rust. Zunächst ist die Zahl der Besucher jedoch begrenzt und beide Anlagen sind nur für geimpfte, genesene oder getestete Personen geöffnet. Die dürfen sich trotz Krise auf ein paar Neuheiten freuen wie etwa einen riesigen Wasserspielplatz in Rulantica. tas Gewinnspiel: Wir verlosen 2 x 2 Eintrittskarten. Schicken Sie eine Mail mit dem Betreff „Europa-Park“ sowie vollständigem Namen und Adresse an gewinnspiel@chilli-freiburg.de

Foto: © Europa-Park

Gewinnspiel

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Jobstarter Ausbildung

Per App ins Handwerk  Mit „Berufechecker“ und „Lehrstellen-Radar“ zum Traumjob

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er einfachste Weg zum passenden Ausbildungsplatz im Handwerk? Das Handy. Es bietet viele Möglichkeiten, sich über Ausbildungsberufe, Praktika und freie Stellen zu informieren. Gerade in Corona-Zeiten kommen Interessierte so unkompliziert an die wichtigsten Infos und können die besten Ausbildungsangebote checken. Das Handwerk bietet beispielsweise mit dem „Berufechecker“ die Möglichkeit, in fünf Schritten alle Berufe zu finden, die genau zu den angegebenen Vorlieben und Kenntnissen passen. Die Auswahl ist groß: Rund 130 handwerkliche Ausbildungsberufe bieten Karrierechancen – vom Anlagenmechaniker SHK bis zum Zweiradmechaniker. Der „Berufechecker“ funktioniert über diverse Messenger-Dienste. Alle Infos dazu gibt’s auf www. handwerk.de/berufechecker Wer seine Favoriten bereits kennt, kann mit der App „Lehrstellen-Radar“ direkt mit der Suche nach einem Ausbildungsplatz starten. Übersichtliche Listen oder Kartendarstellungen vereinfachen die Navigation und führen schnell zum Ergebnis. Anzeige

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Foto: © Pixabay.com

Karrierekompass: Die Suche nach dem Traumjob geht per Handy.

Bei 15.600 Handwerksbetrieben allein in Südbaden gilt: Das nächste Ausbildungsangebot ist vermutlich gleich um die Ecke. Komfortabel ist auch der persönliche Push-Service, der automatisch mit den gespeicherten Suchen angelegt werden kann. Er informiert tagesaktuell über neue, passende Angebote. tln Mehr Infos dazu gibt’s auf www.lehrstellen-radar.de


Jobstarter Karriere

Eine Stadt, viele Chancen  Zwei Azubis berichten von ihrer Ausbildung im Rathaus Freiburg

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ehr als 30 Ausbildungsberufe und knapp 4000 Beschäftigte. Die Stadtverwaltung Freiburg ist die zweitgrößte Arbeitgeberin der Region. Auch Benjamin Paukstadt und Johannes Bopp haben im Herbst dort angeheuert. Nach Umwegen sagen beide Azubis: Nun haben wir das Richtige gefunden. Benjamin Paukstadt ging es wie vielen jungen Menschen: „Ich wusste lange nicht, was ich machen wollte.“ Nach seinem Realschulabschluss und sechs Jahren Bundeswehr hat der 23-Jährige seine Berufung gefunden. Seit September macht Benjamin eine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten bei der Stadtverwaltung Freiburg. „Ich fühle mich hier wirklich wohl“, sagt er. Im Amt für Migration und Integration hat der Azubi sein Organisationstalent bereits unter Beweis gestellt: „Um den Überblick zu behalten, ist es unerlässlich, zuverlässig, strukturiert und ordentlich zu arbeiten.“ Auch Kommunikationsfähigkeit wird in der Ausländerbehörde großgeschrieben. „Im Umgang mit Menschen ist es wichtig, ruhig zu bleiben und den Ausdruck zu wahren“, betont er. Nicht nur die Rückmeldung seiner Ausbilderin sei positiv: Unter den bis zu 30 Briefen und Mails, die bei der Behörde jeden Tag eingehen, befand sich eines Tages auch ein Dankesschreiben eines Geflüchteten. „Da weiß man, wofür man den Job macht“, sagt Benjamin. Nebenbei drückt der Azubi die Schulbank im Freiburger Walter-Eucken-Gymnasium. Dort stehen unter anderem 

Juni 2021 CHILLI 35


 Öffentliches Recht, Rechnungswesen und Finanzkunde auf dem Stundenplan. „Die Rechtslehre macht mir besonders viel Spaß, ich fühle mich nun sicherer, verstehe viele Zusammenhänge und kann vieles davon in mein Privatleben mitnehmen“, erzählt Benjamin. In der Schule soll sein Bildungsweg nicht enden: „Ich möchte später noch den Verwaltungsfachwirt dranhängen.“ Auch Johannes Bopp hat umgesattelt und im Herbst eine Ausbildung bei der Stadt begonnen. „Ich habe vorher als Tischler gearbeitet, dann aber gemerkt, dass ich unbedingt etwas Soziales machen möchte“, erzählt der angehende Erzieher. Der Bewerbungsprozess über das Portal der Stadt sei reibungslos verlaufen. „Ich habe vorher nur ein sechswöchiges Praktikum gebraucht“, erzählt er. In der Kita Flohkiste in Waltershofen hat sich der 24-Jährige direkt wohlgefühlt. „Ich wurde dort super aufgenommen. Wenn Kinder mit selbst gemalten Bildern zu mir kommen, macht mich das stolz“, sagt er. Dass die Arbeit mit Kindern auch anstrengend sein kann, AnzeigeN

36 CHILLI Juni 2021

Fotos: © pt

Jobstarter Karriere

Behält den Überblick: Benjamin Paukstadt

„Ich wollte unbedingt etwas Soziales

hat im September eine Ausbildung als

machen“: Erzieher-Azubi Johannes Bopp

Verwaltungsfachangestellter begonnen.

arbeitet in der Kita Flohkiste.

sei Johannes klar gewesen: „Eine gewisse Belastbarkeit habe ich mitgebracht. Bei schlechtem Wetter kann es drinnen schon mal wild werden.“ Neben einem hohen Maß an Empathie und Flexibilität komme es dann darauf an, klare Regeln vorzugeben, Dinge aber auch mal geschehen zu lassen. Um nicht nur praktische Erfahrung zu sammeln, verbringt Johannes zwei Arbeitstage in der Schule. „Die Theorie ist super mit der Praxis verknüpft“, sagt er. Spiele, Gedichte, Projekte: Neues Wis-

sen könne der Azubi schon einen Tag später im Bewegungs- und Bauzimmer der Kita umsetzen. „Es ist ein richtig cooler Beruf, ich bin auf jeden Fall zufrieden.“ Auch für Johannes ist sein Abschluss im Jahr 2023 nicht das Ende der Fahnenstange: „Ich mache gerade Fachabitur und spiele mit dem Gedanken, nach meiner Ausbildung noch ein Studium dranzuhängen.“

Info

Philip Thomas

www.wirliebenfreiburg.de




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