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Ein hoffnungsmutiges Wagnis

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Kein Ende in Sicht

Kein Ende in Sicht

Der Junge Freiburger 8 Grad Verlag Hat Sich Besonderen B Chern Verschrieben

Derzeit haben die Mitarbeiter des vor zwei Jahren gegründeten kleinen Freiburger Verlags 8 Grad alle Hände voll zu tun: Sechs Bücher für das Herbstprogramm sollen im September erscheinen. Dazu kommen noch ein Adventskalender sowie der Kulturkalender Baden und Württemberg 2024. Der ist sogar schon ab dem 1. August zu haben.

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„Zehn bis zwölf Titel im Jahr zu verlegen“, sagt Verlagsgründer und -leiter Matthias Grüb, habe sich das Team aus drei fest angestellten und doppelt so vielen freien Mitarbeiter·innen zum Ziel gesetzt. Und bisher, fügt er hinzu, hätten sie dieses Ziel auch erreicht: Nach dem Startsortiment im Herbst 2022 mit zwei Sachbüchern, zwei Romanen, einer literarischen Landschaftsbetrachtung und den besagten Kalendern kamen im Frühjahr 2023 zwei weitere Sachbücher, ein Roman und eine anekdotenreiche Wertschätzung des „Schwabenmetropöleles“ Stuttgart sowie eine ausgesprochen buchkunstvoll aufgemachte Neuausgabe von

Wilhelm Hauffs Schwarzwälder Märchen „Das kalte Herz“ auf den Markt. Was die Produktionen des im Freiburger Stadtteil Herdern angesiedelten Verlags bei aller Unterschiedlichkeit verbindet: Sie alle haben einen Bezug zu der Region, durch die sich der achte Grad östlicher Länge zieht. Daher der zunächst rätselhaft anmutende und dann durchaus einleuchtende Name des kleinen Unternehmens, das der 51-jährige habilitierte Augenheilkundler zweitberuflich führt.

Der gebürtige Schwabe, der seit knapp 20 Jahren „aus Überzeugung“ in der Region Freiburg lebt und eine eigene Praxis betreibt, bringt so nicht nur seine persönliche Vergangenheit und Gegenwart zusammen. Er will zudem auch die Gemeinsamkeiten der beiden Bestandteile des von ihm so geschätzten Südweststaats deutlich machen.

Deshalb kommt nach Hauff nun eine ebenso bibliophile Version von Eduard Mörikes „Stuttgarter Hutzelmännlein“ in den Handel. Und deshalb folgt auf das vor einem Jahr unter dem Titel „Schreiben in Zeiten des Kriegs“ erschienene Porträt der sozialdemokratischen Stuttgarter Frauenrechtlerin Anna Haag nun eine Biografie der Freiburgerin Lotte Paepcke.

„Fremd im Wirtschaftswunderland“ heißt das Buch über die Autorin und Journalistin, die als Tochter einer jüdischen Familie die letzten Jahre der Nazizeit im Versteck im Kolleg in Stegen überlebte. Solche Bücher, findet Matthias Grüb, der „schon als Kind irrsinnig literaturliebend“ war, gerade in heutigen Zeiten „sehr wichtig“.

Auf die Frage, ob es nicht ein mutiger Schritt war, in eben diesen Zeiten einen solch speziellen Verlag aufzumachen, zitiert er Schiller: „Wer nichts waget, der darf nichts hoffen.“ Die Bilanz des ersten Jahres zeige, dass „die Geschichten, die wir sammeln und auf den Markt bringen, ihre Leser·innen durchaus finden“. Eine davon, Claudia Kowalds Roman „Menschenkette“, steht auf der Shortlist für den Anna-Haag-Literaturpreis für BadenWürttemberg. Mattias Grüb darf also hoffen.

102

Verlag: 8 grad verlag

160 Seiten, gebunden

Preis: 24 Euro

Menschenkette

Verlag: 8 grad verlag

296 Seiten, gebunden

Preis: 24 Euro

DIE KINDER VON BEAUVALLON MUTTERS STIMMBRUCH von Katharina

Mevissen

Verlag:

Wagenbach 2023

126 Seiten, Klappbroschur

Preis: 22 Euro

Zahnloses „Monschter“

(ewei). Einst beherrschte Mutter neun Sprachen. Eine Haus- und eine Garten-Sprache, zudem die in der eigenen Kindheit sowie die später für die eigenen Kinder erdachten Idiome, ebenso eine Körpersprache und Kommunikationsformen mit dem Ehemann und anderen Erwachsenen. Und natürlich auch die sogenannte Muttersprache.

Diese, schreibt Katharina Mevissen, habe sie „als letzte gelernt“: Zwanzig Kurse an der Volkshochschule musste sie nehmen, „bis niemand mehr fragte, woher sie denn käme“. Nie habe Mutter dieser Muttersprache verziehen, „dass sie so viel gekostet hat“. Dennoch vergaß sie sie als Erste wieder.

Doch inzwischen „redet sie mit niemandem mehr“. Außer manchmal mit der Heizung oder mit dem Radio. Denn Erstens lebt sie sehr allein im leeren Haus und Garten und Zweitens verliert sie allmählich die Zähne. Mit dem Ergebnis, dass ihre Stimme tief und die Aussprache undeutlich wird: Zwei Kinder, die sie nach dem Weg zur Eisdiele fragt, „glauben ihr aufs Wort“, als sie ihnen gebisslos nuschelnd versichert, dass sie ein „Monschter“ sei.

Mit diesem teils heiteren, teils tragischen Text ist der jungen, experimentierfreudigen Autorin eine poetisch-surreale und lange nachhallende Abhandlung über äußere und innere Alterungsprozesse gelungen.

Die Krume Brot

von Lukas Bärfuss

Verlag:

Rowohlt 2023

224 Seiten, gebunden

Preis: 22 Euro

Glück und Katastrophe

(ewei). Schon der erste Satz lässt ahnen, dass es wohl kein Entrinnen gibt: „Niemand weiß, wo Adelinas Unglück seinen Anfang nahm, aber vielleicht begann es lange vor ihrer Geburt.“ Von einem Ende ist nicht die Rede.

Dennoch hofft man bis zuletzt mit der jungen, tapferen, dem Leben aber abhanden gekommenen Frau. Man wünscht, dass es ihr gelingen möge, sich aus der von Großvater und Vater ererbten Misere zu kämpfen. Beide Männer versagten als Väter, fanden ihren Weg nicht; als italienische Arbeitsimmigranten in der Schweiz hinterließen sie Adelina außer der falschen Abstammung auch einen Berg Schulden.

Ein dritter, ebenso verantwortungsversagender Mann kommt dazu. Mit ihm erlebt die gerade volljährige Fabrikarbeiterin höchstes Liebesglück und tiefe Katastrophe: Nach der Geburt der Tochter lässt er Adelina allein zurück. Ganz allein: Auch ihre Mutter lebt längst wieder in Italien.

Wie schwer es Alleinerziehende in den 1970er-Jahren nicht nur in der Schweiz hatten, hat Lukas Bärfuss in jener Zeit selbst erfahren – als Kind. Mit allen späteren Konsequenzen. Deshalb kommt er seiner Figur sehr nahe, begleitet sie mit Empathie und Unerbittlichkeit. Und macht wütend auf die Verhältnisse, die Menschen in Armut so gut wie keine Chance bieten.

von Bettina Storks

Verlag: Diana 2023

464 Seiten, Klappenbroschur

Preis: 16 Euro

Die Macht des Schweigens

(ewei). Agnes war acht, als sie Lily zum letzten Mal sah: An einem Oktobermorgen im Jahr 1940 wurde sie Augenzeugin der Deportation der jüdischen Familien Sulzburgs in das Internierungslager Gurs. Auf dem Marktplatz steckte Lily ihr ein halbes Foto zu, das ihr Gesicht zeigt. Die andere Hälfte mit Agnes’ Konterfei nahm sie mit auf ihre Reise mit unbekanntem Ausgang.

Lange hält sich Agnes an das Versprechen, nach der Kindheitsfreundin zu suchen. Doch als sie von den Lagern und der Ermordung von Lilys Eltern erfährt, begräbt sie alle Hoffnung auf ein Wiedersehen.

1965 – sie wohnt inzwischen in Freiburg, arbeitet als Lokalnachrichtenmoderatorin beim Südwestfunk-Landesstudio in Günterstal und spricht fließend französisch –flammt diese Hoffnung jedoch wieder auf: Ihr Redaktionsleiter beauftragt sie, eine verschwiegene Geschichte im südfranzösischen Département Drôme zu recherchieren. In einem Ort namens Dieulefit, wo knapp 2000 Einwohner während der deutschen Besatzung etwa 1500 Flüchtlinge versteckt hätten, darunter viele aus Gurs gerettete Kinder.

Agnes wird fündig, ihre Reportage wird vom Sender aber abgelehnt – zu früh für solche Themen, heißt es. Dabei ist dies von Bettina Storks bestens aufgearbeitete Thema damals wie heute von Relevanz.

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