HEFT NR. 9/22 12. JAHRGANG
AB
2 4 .1 1 . IM KINO!
Zeiten des Umbruchs
AUSSTELLUNG WELTKUNST IN DER FONDATION BEYELER
MUSIK
NEUER FEIERSOUND VON EL FLECHA NEGRA
LITERATUR
JUDITH HOLOFERNES BLICKT AUF IHR LEBEN
KULTUR
Erstaunliche Sichtweisen AUSSTELLUNG ZUM 25-JÄHRIGEN BESTEHEN DER FONDATION BEYELER
von Erika Weisser
INFO www.fondationbeyeler.ch
Hyperrealismus: Duane Hansons Anstreicher (re.) und Bauarbeiter bei der Mittagspause (o.) machen bei Beyeler auf die wenig wahrgenommenen Menschen aufmerksam, die nicht nur einen Museumsbetrieb am Laufen halten.
Fotos: © Erika Weisser
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D
ie Fondation Beyeler feiert ihr 25-jähriges Bestehen – und präsentiert aus diesem Anlass ihre bisher größte Sammlungs-Ausstell ung. Auf nahezu der gesamten Fläche des im Oktober 1997 eröffneten Kunsthauses sind bis zum 8. Januar rund 100 Bilder und Skulpturen zu bewundern – von Klassikern der Moderne bis zu brandneuen Objekten der Gegenwartskunst. Mit dabei sind 13 hyperrealistische Figuren des US-amerikanischen Künstlers Duane Hanson (1925–1996); sie eröffnen ganz erstaunliche Sichtwei sen auf die anderen Exponate. Der Mann im grünen Overall wirkt erschöpft. Er hat seine Sackkarre umgelegt, sich auf die noch darauf verbleibenden Pakete gesetzt und macht erst einmal eine Trinkpause: In der Hand hält er eine geöffnete Sprite-Dose. Gleich neben diesem von Duane Hanson geschaffenen „Delivery Man“ hängt Paul Cézannes „Biegung des Chemins des Lauves“.
Zuverlässige Zusteller Und obwohl dieser Lieferant keine Notiz von dem Kunstwerk nimmt und einfach nur zu Boden schaut, entsteht der Eindruck, dass Bild und Figur etwas miteinander zu tun haben: Die Frage, wie die teuer versicherten hochpreisigen Kunstwerke eigentlich zu ihren Ausstellungsorten gelangen, drängt sich geradezu auf. Und es wird klar, dass zuverlässige Zusteller dabei eine wichtige Rolle spielen. Bei der aktuellen Ausstellung war ihr Anteil und ihre Verantwortung indessen gering: Die rund 100 Exponate gehören zu der gut 400 Werke umfassenden Sammlung der Fondation; sie sind also sowieso vor Ort – wenn sie nicht gerade irgendwo in der Welt als Leihgabe bei einer Ausstellung unterwegs sind. Wo sie dann auf die für das Publikum unsichtbar bleibenden Lieferanten angewiesen sind, denen Hanson hier ein Denkmal setzt. Nicht nur ihnen: Beim Rundgang durch die 18 Ausstellungsräume, von
denen manche jeweils einem der 30 modernen Künstler gewidmet sind, wird die Rolle jener deutlich, die nach den Worten von Kurator Raphaël Bouvier „ein Museum überhaupt zum Museum machen: Handwerker, Reinigungspersonal und Besuchende“. Und durch die kluge Gegenüberstellung von Hansons meisterwerklichen Alltagsmenschen und Meisterwerken aus der Sammlung eröffnen sich für die realen Besucher tatsächlich neue Sichtweisen auf längst bekannte, zur Weltkunst zählende Bildnisse. So ist etwa in dem Saal, in dem Bilder von Marlene Dumas hängen, die Figur eines schwarzen Fensterputzers aufgestellt, der an der riesigen Glasfassade des Hauses für die Durchsicht zu dem herbstfarbenen Park zu sorgen scheint. Und dafür, dass die Malereien im Saal im richtigen Außenlicht zur Geltung kommen. Das gilt auch für den massigen Mann auf dem fahrbaren Rasenmäher, der im benachbarten Saal neben Claude Monets „Bassin aux Nymphéas“ platziert ist: Der sieht aus, als habe er soeben den Wildwuchs um den vor dem Fenster real vorhandenen seerosenbewachsenen Teich gebändigt und würde nun seinen Weg um deren wunderbare Abbildung fortsetzen. Die Skulpturen des „Special Guest“ Duane Hanson, die für sich eine Ausstellung in der Ausstellung, eine konzentrierte Retrospektive auf sein Werk bilden, lenken indessen nicht nur den Blick auf Besuchende und Mitarbeitende der Fondation, sondern sie treten auch in einen direkten Dialog mit den Exponaten aus der Sammlung. Bestens sichtbar wird dies im großen zentralen Saal 9, wo Hansons „Lunchbreak“ – drei Bauarbeiter bei der Mittagspause – mit zwei riesigen Materialbildern von Anselm Kiefer korrespondieren, von denen eines eine überdimensionale Pyramide darstellt – und das andere Hochhäuserschluchten einer Großstadt. Dadurch werden die dargestellten Bauwerke nicht mehr lediglich als Kunst wahrnehmbar, sondern als Ergebnis menschlicher Arbeit – die ja auch in fast jedem Kunstwerk steckt. Eine höchst kreative und durch die dialogische Platzierung sehr gelungene Ausstellung.
KULTURNOTIZEN 260.000 Euro für die Kultur Sieben Kunstprojekte aus Freiburg werden vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes gefördert. Insgesamt 256.745 Euro aus dem Innovationsfonds Kunst gehen in den Breisgau. Unterstützt werden Cargo-Theater, E-Werk, Literaturhaus / Literatur Forum Südwest, Mehrklang-Gesellschaft für Neue Musik, Theater Zerberus, Zeug und Quer und Zusammen leben. Die Projekte setzen sich mit dem Klimawandel oder dem Krieg in der Ukraine auseinander. „Mich freut besonders die Förderung des Literaturhauses“, sagt die Freiburger Landtagsabgeordnete Daniela Evers (Bündnis90/Die Grünen). Unter der Leitung eines deutsch-ukrainischen Tandems veranstaltet das Literaturhaus Sonntagsateliers mit geflüchteten Künstler·innen aus der Ukraine, in denen deutsch- und ukrainischsprachige Kinder und Familien in Buch- und Druckwerkstätten ihre Kreativität entwickeln. Begleitend entsteht eine zweisprachige Mitmach-Post mit Spielen und Kreativaufgaben für zu Hause, die Freiburger Sozial- und Bildungseinrichtungen erhalten. Den Abschluss bildet eine Kunstmesse. Insgesamt werden im Ländle 41 Projekte mit rund 1,5 Millionen Euro unterstützt. Eine Jury aus Fachexpert·innen hat 130 Anträge bewertet. pl
Gefürchteter Chronist
Foto: © Patrick Seeger
Zeitübergreifend: Im Museum für Neue Kunst treffen Werke Großmanns auf künstlerische Fotografien.
Die Ausstellung „Phänomen Großmann trifft auf künstlerische Fotografie“ läuft noch bis Februar kommenden Jahres im Freiburger Museum für Neue Kunst. Der 1882 in Freiburg geborene Rudolf Großmann war ein gefürchteter Chronist seiner Zeit. Um sein Werk neu zu betrachten, wird es in der Ausstellung mit künstlerischen Fotografien der Gegenwart zusammengebracht. So stehen etwa Großmanns Lithografien berühmter Zeitgenossen aus den 1920ern neben Sven Johnes Arbeit „Anomalien des frühen 21. Jahrhunderts / Einige Fallbeispiele“. pl
KINO
Ein Mensch bleiben BANKS REPETA ÜBERZEUGT ALS FILM-ENKEL DES WEISEN ALTEN MANNES ANTHONY HOPKINS
Zeiten des Umbruchs USA 2022 Regie: James Gray Mit: Banks Repeta, Anthony Hopkins, Anne Hathaway, Jaylin Webb, Jeremy Strong u. a. Verleih: Universal Laufzeit: 106 Minuten Start: 24. November 2022
A
ls Ronald Reagan 1980 zum US-Präsidenten gewählt wird, lebt der elfjährige Paul im New Yorker Stadtteil Queens in einer jüdischen Mittelschichtfamilie. Diese ist, obwohl bereits in dritter Generation in den USA, noch immer mit dem sozialen Aufstieg beschäftigt. Oder eher damit, nicht abzusteigen – in die Nähe des gesellschaftlichen Niveaus von Pauls Urgroßeltern, die Anfang des 20. Jahrhunderts vor den antisemitischen Pogromen aus der Ukraine geflüchtet waren. Entsprechend streng, leistungsorientiert und überbehütend besorgt sind die Eltern, die es sich zu ihrem Bedauern nicht leisten können, ihre beiden Söhne an eine private Prep School zu schicken, wo die Sprösslinge gut situierter Familien auf ihr College-Studium vorbereitet werden. Dabei will Paul gar nicht studieren, sondern Künstler werden, doch das akzeptieren die Eltern nicht. Nur der liebe- und verständnisvolle Großvater Aaron nimmt den Jungen ernst – bei all seinen Sorgen und Nöten, in sämtlichen Lebenslagen. Anders als der ältere Bruder Ted geht Paul also in eine öffentliche Schule, wo er zu Beginn des sechsten Schuljahrs auf Johnny trifft, der die Klasse wiederholt. Die beiden freunden sich rasch an. Dabei stellt Paul bald fest, dass Johnny für die Clownerien, die sie zusammen anstellen, vom Lehrer deutlich strenger getadelt wird als er selbst: Johnny ist der einzige schwarze Junge in der Klasse; er wird nicht nur vom Lehrer, sondern auch von den Mitschülern rassistisch beleidigt – wogegen Paul jedoch nur wenig unternimmt. Einzig Aaron mahnt
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von Erika Weisser
Fotos: © Universal Pictures
ihn, nicht zu schweigen: „Be a Mensch“, sagt er ihm – im jiddischen Sinne: jemand, der rechtschaffen und tapfer ist, der nicht wegsieht, wenn anderen Unrecht geschieht. Nach einem Vorfall – die beiden Freunde büxen aus und werden schließlich mit einem Joint erwischt – wird Paul doch noch in eine blütenweiße Eliteschule gesteckt; Opa Aaron ließ seine Beziehungen spielen. Doch dort kommt der sensible und verträumte Junge überhaupt nicht zurecht. Nicht mit der Arroganz, nicht mit der angeblichen, als völlig selbstverständlich angenommenen Überlegenheit der Weißen. James Gray ließ sich bei diesem Film von seiner eigenen Kindheit inspirieren. Er wuchs in denselben familiären Verhältnissen auf wie Paul, er lebte im selben Stadtteil, der damals vom skrupellosen Immobilienunternehmer Fred Trump gentrifiziert wurde. Er herrschte nicht nur im Stadtteil: Donald Trumps Vater war auch Vorsitzender des Fördergremiums der Cew-Manor-School, der Schule seines Sohnes – und von James Gray und dessen Alter Ego Paul. Ein Familiendrama in der Brutstätte des künftigen Trumpismus – es spiegelt im Kleinen, wohin das ganze Land Jahre später steuern wird.
KINO
THE MENU
GRUMP
DIE STILLEN TRABANTEN
Foto: © Disney
Foto: © Arsenal
Foto: © Warner Bros.
USA 2022 Regie: Mark Mylod Mit: Ralph Fiennes, Anya Taylor-Joy u. a. Verleih: Disney Laufzeit: 106 Minuten Start: 17. November 2022
Finnland 2022 Regie: Mika Kaurismäki Mit: Heikki Kinnunen, Kari Väänänen u. a. Verleih: Arsenal Laufzeit: 109 Minuten Start: 24. November 2022
Deutschland 2022 Regie: Thomas Stuber Mit: Martina Gedeck, Nastassja Kinski u. a. Verleih: Warner Bros. Germany Laufzeit: 120 Minuten Start: 1. Dezember 2022
Verdächtig einsamer Ort
Unfreiwillig unterwegs
Nächtliche Begegnungen
(ewei). Auf einer abgelegenen Insel betreibt der gefeierte Koch Slowik ein Nobelrestaurant. Dorthin hat Food-Blogger Tyler seine neue Dating-Bekanntschaft Margot eingeladen, zu einem exklusiven Menü mit wenigen handverlesenen Gästen. Zunächst ist Margot ziemlich geschmeichelt. Doch auf dem Schiff, das die zwölf betuchten Gourmets zum legendären Tempel der Haute Cuisine bringt, fühlt sie sich bald fehl am Platz. Die elitären Bösartigkeiten, die dort über nicht Anwesende ausgetauscht werden, nerven sie genauso wie die hohle und völlig aufgesetzte Schwärmerei von der Genialität des Kochs und den zu erwartenden exotischen Köstlichkeiten. Sie ist skeptisch, ob sie wirklich einen besonders schönen Abend vor sich hat. Im Restaurant angekommen, wird die Skepsis zur Gewissheit, dass hinter den glatten Fassaden Düsteres lauert. Eine bitterbissige Gesellschaftssatire mit einem teuflischen Ralph Fiennes.
(ewei). Grump ist ein sehr mürrischer Mensch. Seit dem Tod seiner Frau Hertta lebt er allein auf seinem Bauernhof in der Weite der finnischen Wälder. Die Söhne Pekka und Hessu führen in Helsinki ihr eigenes Leben. Und von seinem Bruder Tarmo, den er seit 50 Jahren nicht gesehen hat, will er gar nichts wissen. Geblieben ist ihm der verschrobene Nachbar Kohlemainen – und ein roter Ford Escort, Baujahr 1972. Diesen fährt er allerdings zu Schrott, als auf der Landstraße plötzlich zwei Kinder vor seinen Kühler springen: Zwar kann er gerade noch ausweichen, doch landet er dachüber im Straßengraben. Der Wagen endet auf dem Autofriedhof; Grump macht sich zum Kauf eines neuen 72er Escort auf den Weg nach Hamburg. Als er nach allerhand Verwicklungen ohne Geld und Erinnerung in einem Krankenhaus aufwacht, sitzt ausgerechnet Tarmo an seinem Bett. Es beginnt ein wundersamer Roadtrip, bei dem nicht nur die beiden Brüder wieder zueinander finden.
(ewei). Hans ist Geländearbeiter. Bis er Zeuge des Todes eines Mädchens wird, das mit seinen Eltern nach Deutschland flüchtete und bei der Ankunft Herbstzeitlose aß. Er heuert bei einem Sicherheitsdienst in einer Flüchtlingsunterkunft in Leipzig an. Dort erzählt er seinem Kollegen Erik davon und schärft ihm ein, gut auf Marika aufzupassen. In diese Marika hat sich Erik bei seinen nächtlichen Kontrollgängen verliebt. Verliebt ist auch Jens – in Aischa, die einmal Jana hieß und mit ihrem Mann Hamed auf derselben Etage wie er wohnt. Er trifft sie manchmal im Treppenhaus, wenn er feierabends von seinem Imbissgrill in der Nähe des Hauptbahnhofs heimkommt. Dorthin findet Christa nie. Sie geht, wenn sie mit der nächtlichen Reinigung der Züge fertig ist, in die Bahnhofsbar, wo sie die Friseurin Birgit trifft, die genauso einsam ist wie sie. Auch sie verlieben sich. Kleine, unaufgeregt erzählte Momente des Alltags, mit einer verborgenen Magie.
MUSIK So hätte es werden sollen: Das Reboot Open Air lockte aber keine Massen an.
Ein Desaster, viele Faktoren KOMMENTAR ZUM WIRBEL UM DIE MUSIKERINITIATIVE MULTICORE
Multicore will ein „Verein zur Förderung von Live-Musik in Freiburg und Region“ sein. Für viele ist er mittlerweile der Inbegriff eines Vereins, der viel Geld bekommt und das amateurhaft verschleudert. Einen Einblick in die heftige Kritik gibt’s unter dem Instagram-Multicore-Post zu ei44 CHILLI CULTUR.ZEIT NOVEMBER 2022
nem Spendenaufruf für den Verein. User raten den Verantwortlichen, lieber Pfandflaschen zu sammeln oder wollen einen Rechenschieber spendieren, damit ab sofort vernünftiger kalkuliert werden kann. Mit der Kritik muss Multicore leben. Die Initiative hat schließlich jede Menge Geld versenkt: 90.000 Euro hat ihnen die Stadtkasse für das Reboot Open Air zur Verfügung gestellt. Mit einem Minus von 30.000 Euro ging das Event aus. Ein Desaster. Das viertägige Festival stieg Anfang Juli im Eschholzpark und sollte mit 24 Acts aufwarten. Der Fokus lag auf lokalen Bands, als Zugpferde sind überregional bekannte wie der Sänger Mal Élevé der Irie Révoltés oder das Kollektiv Luksan Wunder gebucht worden. Am Ende kamen laut Veranstaltern nur rund 1000 zahlende Gäste. Das chilli war am letzten der vier Tage da und schätzt, dass etwa 20 zah-
lende Gäste anwesend waren. Die Tagestickets kosteten 24 bis 27 Euro. Aufgrund der wenigen Zuschauer wurden die Preise am Festivaltag sukzessive gesenkt. Am Ende hieß es: Pay what you want. Bei all dem Übel muss man ergänzen: Zwei Gruppen fielen an dem Tag spontan aus. Unter anderem Hauptact Luksan Wunder.
Eine Antwort gibt es direkt am Zaun Warum Zuschauer nicht kommen, ist Spekulation. Fakt ist aber: Zwei entscheidende Faktoren sind die Attraktivität der Acts und die Ticketpreise. Im Nachhinein waren knapp 30 Euro sicher zu viel. Der Verein hat sich da grandios verkalkuliert. Dennoch standen auf den Bühnen auch Gruppen, deren Namen man kennen könnte. Die Singer-Songwriterin Laura
Foto: © Pixabay/Activedia
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tattliche 90.000 Euro hat der Verein Multicore für das Reboot-Festival im Sommer bekommen. Das Geld hat das Kollektiv – man kann es nicht anders sagen – in den Sand gesetzt. Der Ärger darüber entlud sich danach auch auf Instagram. Der Verein hat Fehler gemacht, die Gründe für das gescheiterte Festival sind aber vielfältig. Das Engagement für die Freiburger Musiklandschaft schmälert der Misserfolg nicht.
von Till Neumann
MUSIK
Tanzen statt trauern
Braun zum Beispiel, sie hat gerade erst das E-Werk gefüllt. Warum zahlen Musikfans das Geld nicht? Eine Antwort gab es direkt am Festivalgelände. Am Zaun rund um das Areal standen Menschen, die sagten: Warum soll ich hier eine Karte holen, ich habe die doch gerade erst kostenlos gesehen. Gemeint war das Festival „Freiburg Stimmt Ein“. Es bietet seit mehr als zehn Jahren auf zig Bühnen in Freiburg Livemusik ohne Eintritt. So schön das für die Zuschauenden ist: Der Ansatz hat auch seine Schattenseiten. Ist kostenlose Kultur nachhaltig? Gerade in Zeiten, in denen kleineren und mittelgroßen Bands viele Einnahmemöglichkeiten wegbrechen? Veranstalter müssen sich das fragen. Aber auch die Musiker·innen selbst. Wie sinnvoll ist es, sein Schaffen kostenlos anzubieten? Man wägt ab zwischen pro und contra. Zum Beispiel Reichweite versus Aufwand. „Freiburg Stimmt Ein“ bietet große Bühnen und Publikum. Es kann aber auch den Marktwert plätten. Wer wenige Wochen später Tickets für eine Show verkaufen möchte, muss sich gut überlegen, ob das dann noch klappt.
EL FLECHA NEGRA VERÖFFENTLICHT „RENACER“ Latinosound zum Feiern. Das liefert die Freiburger Band „El Flecha Negra“. Jetzt haben die sechs Musiker aus Lateinamerika ihr drittes Album veröffentlicht. Es soll eine Wiedergeburt nach einer schwierigen Phase sein. Renacer. Wiedergeboren werden. So nennen die Schwarzen Pfeile (Flechas Negras) ihre neue Platte. Sie ist entstanden in einer schwierigen Phase, erzählt Bandleader Tatán Gonzales Luis (Foto u., ganz links). „2019 war ein mega gutes Jahr, 2020 wurden dann mehr als 100 Konzerte abgesagt“, berichtet der 37-Jährige. Die Pandemie schlug mit voller Wucht ein. Die Band hatte mit Depressionen zu kämpfen, hing in den Seilen. Doch das Kreative blieb. „Die Texte fürs Album sind in diesen schwierigen Momenten entstanden“, berichtet Luis. So hat er beispielsweise den Track „Siento“ (ich fühle) geschrieben, als Corona eine Reise zu seiner Familie in Chile unmöglich machte. Mit Gitarren, Bläsern, Flöten und Percussion nimmt der Song als Ruhepol der Platte mit auf einen Trip in ferne Welten. Das Motto der in Freiburg heimischen Musiker aus Chile, Peru, Kolumbien und Argentinien ist: tanzen, solange die Beine tragen. Beim Releasekonzert im E-Werk spielten sie kürzlich mehr als zweieinhalb Stunden für ihre Fans. Für Luis sind solche Heimspiele etwas Besonderes: „Woanders habe ich kein Lampenfieber, hier aber schon: Es sind viele Freunde, Bekannte und Musiker da.“ Die Band liefert mit zehn Songs wie gewohnt eine geballte Ladung positive Vibes und Treibstoff für die Beine. Karibische Leichtigkeit trifft auf südamerikanische Energie. „Der Sound ist ein bisschen moderner als auf Tropikal Passport“, erklärt Luis mit Blick auf den Vorgänger von 2017. Mehr Synthies und Bläser-Arrangements hätten Einzug gefunden. Auf den Konzerten kommt das an. Die Stimmung ist ausgelassen, wenn die Flechas aufdrehen. Nach vorne geht auch ihre erste Single „La Desconocida“. Im Video drehen sich die Musiker um eine unbekannte Schönheit. Sie steht für das Leben, das voller Wendungen und Wunder ist, erklärt Luis. Die Musik ist für sie eine Therapie gegen die Trauer. Auch Bassist Christian Ovalle (3. v. r.) fühlt sich beflügelt: „Für mich ist der Release eines der schönsten und motivierendsten Gefühle der ganzen letzten Zeit.“ Es spiegle für ihn genau das wider, was er in diesem Jahr auf den Livekonzerten gespürt habe: „Viel Optimismus, Euphorie, Spaß und Gelassenheit.“ Till Neumann
Ja: Das kann es. Kurze Auftritte können Appetizer sein. Doch in Zeiten von knappen Kassen und Pandemie-Ängsten wird eben dreimal überlegt, wohin der Taler fließt. Nicht umsonst gibt es in Musikkreisen Verträge mit Gebietssperren: Wer an Tag X in Location Y spielt, darf dann in einem gewissen Zeitraum nirgendwo anders in der Region auftreten. Ja, Multicore hat’s versemmelt. Und ja: Mit mehr Erfahrung hätte man das anders planen können. Aber zur Wahrheit gehört auch: Die Zeiten für Veranstalter und Musiker·innen sind schwierig. Das erleben auch viele andere. Dass sich Multicore für das Festival ins Zeug gelegt hat und Freiburger Bands eine professionelle Bühne geboten hat, verdient dennoch Respekt. Schon seit Jahren ackert der Verein, um die Musiklandschaft in Freiburg zu pushen. Bestes Beispiel: die Musikzentrale. Der ambitionierte Plan eines mehrstöckigen Hauses am Güterbahnhof mit Proberäumen, Bühne und Co. ist zwar geplatzt. Dafür kam KA52 als kleinere Lösung um die Ecke. Dass dort in bald zwei Jahren noch nichts Konkretes draus geworden ist, liegt nicht am Verein. Auch der Standort könnte wegen explodierender Baukosten platzen. Mittlerweile deutet vieles auf eine Lösung mit Holzmodul-Proberäumen hin. Kommen diese, ist das auch ein Verdienst von Multicore. Keine zweite Gruppe zeigt in Freiburg für Musiker ehrenamtlich so viel Engagement. Das sollte trotz des 90.000-Euro-Debakels nicht vergessen werden. Es ist daher richtig und wichtig, dass der Gemeinderat die fehlenden 30.000 Euro zur Rettung des Vereins freigegeben hat. Die Multicore-Existenz ist damit vorerst gesichert. Jetzt gilt es, mit guten Ideen am Start zu sein. Mit dem Format „PopUp-Musikgarten“ auf dem Europaplatz ist das zuletzt geglückt. Der Tatendrang ist offenbar nicht erloschen.
Foto: © Markus Schumacher
Großes Engagement über Jahre verdient Respekt
GALV
Single – Alternative-Rock
Album – Deutschrap
COME A LITTLE CLOSER
2022
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Foto: © Frederic Hafner
3 FRAGEN AN Gabriel Bechler Casually Dressed, Redensart, Deserteur Schumann, Cats on Mopeds – die Liste der Bands, in denen die Musiker·innen der Freiburger Formation Scheitern spielen oder gespielt haben, ist lang. Im Interview mit chilli-Volontär Pascal Lienhard berichtet der 30-jährige Gitarrist Gabriel „Gabbo“ Bechler vom ersten Auftritt und warum die Band die Dinge anders angeht. Wie ist Scheitern entstanden? Wir haben uns nach der Auflösung von Deserteur Schumann gegründet. Dort habe ich unter anderem mit Florian Scheiner und Jan Schurer gespielt. Wir wollten weiter in einer Punkband spielen. Später kam Carina Cremer dazu, die in mehreren Combos aktiv ist. Dann haben wir Dominik Schindler, früher Bassist bei Dead Cats on Mopeds, gefragt, ob er singen wolle. Das hatte er vorher nie gemacht – gepasst hat es dann dennoch. Wie war der erste Auftritt im Räng? Das war ultra cool. Wir durften im Vorprogramm vom Blanken Extrem und Shoreline spielen. Das war nicht selbstverständlich, wir haben ja noch keinen einzigen Song veröffentlicht. Aufnehmen wollen wir nun Ende des Jahres. Ist es Absicht, dass ihr euch bisher online rar macht? Nicht unbedingt. Wir haben alle einen Alltag und können nicht unsere ganze Zeit in die Band stecken. Zudem nerven mich Social-Media-Bands, die haufenweise Sachen posten, während die Band aber tatsächlich gar nicht so aktiv ist, wie sie sich zu präsentieren versucht. Das empfinde ich als unauthentisch. 46 CHILLI CULTUR.ZEIT NOVEMBER 2022
Kampf der Routine
Schub und Reflexion
(pl).Mit „Come a little closer“ haben die Freiburger von Raw Sienna unlängst ihren dritten Release des Jahres auf den Markt geworfen. Zu hören gibt’s modernen Alternative-Rock inklusive eingängigem Refrain. Der Track ist einer der ersten, den die Musiker der 2018 gegründeten Band gemeinsam geschrieben haben. Im Laufe der Zeit hat sich der Song immer wieder verändert, die endgültige Version wurde im Toolhouse in Rotenburg aufgenommen. Inhaltlich geht es um eine Person, die sich von ihrer Langeweile befreien will. „Es ist gewissermaßen eine Kampfansage an die Routine und die Angst vor Neuem“, erzählt Sänger Fabian Sommerhalter. „Come a little closer and tell me about your life“, singt er im Refrain. Bei Fans der Band dürfte kaum Langeweile aufkommen. Klang die Single „Firesky“ noch melancholisch und opulent, ging es auf „Soak up some Light“ deutlich grooviger zu. Mit „Come a little closer“ servieren die Freiburger ihren Hörer·innen nun klassischen Alternative-Rock. Das Ergebnis bleibt zwar nicht so stark im Ohr wie „Soak up some Light“ – gelungen ist die Nummer aber allemal. Ihr Pulver haben Raw Sienna noch nicht verschossen. Im Gespräch mit dem chilli kündigen sie für die kommenden Monate drei weitere Songs an.
(tln).Der Rapper Galv aus Rottweil hat einiges auf dem Kerbholz: Seit Jahren releast er Platten, auch mal auf Spanisch, und glänzt bei Battles mit fiesen Lines. Mit seinem achten Album kommt er jetzt um die Ecke. Es trägt den simplen Namen „2022“. Es liefert Rap-Wortakrobatik und Beats mit jeder Menge Schubkraft. Ganze 18 Tracks hat der MC mit dem Freiburger Produzenten Jan Faati vorgelegt. Schon der Opener legt die Latte hoch: „Gott gibt es wirklich und er ist eine Frau“, rappt er im nervös-stampfenden „Pass auf was du sagst“. Und Frau könne alles außer pinkeln durch einen Schlauch. Die gepresste Stimme ist unverkennbar, der Flow markant. Galv hört man gerne zu und grinst über seine ratternden Reimketten. Wie ein hungriges Krokodil beißt er sich in den Beats fest. Die Songs bieten offensive Ansagen wie im futuristischen „Die Zwei“, aber auch Reflexion in „Verantwortung“. Mit drei smoothen Interludes gibt’s Zeit zum Durchatmen. Die kann man bei dem Redeschwall auch gebrauchen. Eine kompaktere Platte hätte nicht schaden können. Die Disco-Synthie-Nummer „Anders Wild“ ist beispielsweise verzichtbar. Doch Galv liefert viel Hörenswertes. Und mit dem Video zu „Ballade“ auch filmreifen Stoff seiner eigenen Beerdigung – inklusive Wiederauferstehung.
onats
Punk-Supergroup
RAW SIENNA
Pl a t
MUSIK
KOLUMNE MAX BUETTNER COLLECTIVE
BETTEROV
Hip Hop / Lofi
Album – Indie-Rock
VIRTUAL DREAM EP
OLYMPIA
... zur Fußball-WM Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.
Buntes Potpourri
Mission erfüllt
(jp).In neuem Gewand präsentiert das Max Buettner Collective sechs Tracks. Vier davon sind Reximes der Bad-DreamEP von 2021. Der Drummer und Producer Max Buettner erzeugt eine Symbiose aus Lofi, Rap, Drum’n’Bass und Trip Hop. Für die Updates seiner Songs hat Büttner namhafte (Exil-) Freiburger Produzenten versammelt: An den Reglern saßen unter anderem damaa.beats, Flamingo Zamperoni, Paul-Aaron Wolf oder G!ga Lurch. Die Songs funktionieren mit Vielfältigkeit, unterschiedlichen Genres und Sprachen. Das gilt auch für den Opener „Wake up Call“: Er bleibt direkt im Ohr, macht Lust auf mehr. Der instrumentale Sound ist entspannt, passt gut in den Alltag hinein. „Blue Skies: Blurred Minds“ mit den Rappern Till und Felix von Zweierpasch geht dafür nach vorne. Die deutsch-französischen Parts der Zwillinge treffen hier auf einen verschrobelt-roughen Breakbeat. „In this Moment“ mit dem englischsprachigen Text von Luka Nozza bewegt sich wiederum in die poppige Drum’n’Bass-Richtung. Der Track hebt sich deutlich von den anderen ab und besticht mit seinem natürlich-treibenden Sound und Dubstep-Elementen. Das bunte Potpourri des FutureSounds beschreitet neue Wege. Und das glückt – mit einem spannenden Einblick in die Mikrokosmen der Freiburger Beatmaker.
(pl).Manuel Bittorf, besser bekannt als Betterov, ist in deutschen Indie-Kreisen gerade „Everbody’s Darling“. Nach der starken EP „Viertel vor Irgendwas“ von 2020 und Features mit Acts wie Milliarden oder Fatoni sind die Erwartungen an den ersten Longplayer hoch. Der 28-Jährige hat sie erfüllt. Betterov kreiert einen ganz eigenen Stil irgendwo zwischen New Wave und Indie-Rock. Durch seine tiefe Stimme haben die Songs eine düstere Note – was besonders dann gut passt, wenn es inhaltlich um Themen wie das Ende einer Beziehung („Berlin ist keine Stadt“) oder Entfremdung („Die Leute und ich“) geht. Zwei Songs stechen besonders heraus: Auf der bereits 2021 veröffentlichte Single „Dussmann“ geht es um einen Sprung aus der vierten Etage des gleichnamigen Berliner Kulturkaufhauses, im Text taucht sogar Regisseur Quentin Tarantino auf. Nicht zuletzt wegen der eigensinnigen Lyrics bleibt das Stück hängen. Mit „Schlaf gut“ hat Betterov einen Ohrwurm geschrieben, der jedem aus dem Herz sprechen dürfte, der schon einmal nachts wach gelegen hat: „Würden sich Wände durch Blicke abnutzen, dann hätte ich die Decke hier in meinem Zimmer bis zum Dach freigelegt.“ Live: Am 12.2.23 im Räng.
Jede WM hat ihre Lieder. Wer erinnert sich nicht, ungern zwar, aber sicherlich doch noch an die WM 1978 und „Buenos Dias Argentina“? Als man dort im Lande einer Militärdiktatur die fußballerische Schmach gegen Österreich hinnehmen musste und musikalisch ebenfalls Schiffbruch erlitt, indem man gemeinsame Sache mit Udo Jürgens machte. Fußball mit Musik zu kombinieren kann funktionieren, tut es aber leider eher selten. Die Engländer haben es schon hinbekommen, remember „Three Lions“. Und natürlich Franzl Beckenbauer: Wahrscheinlich aber nicht aufgrund seiner Sangeskünste holte er die WM 2006 nach Schland. „Gute Freunde kann niemand trennen“, hatte er Jahre zuvor geträllert. Eben. 1974 nahm sich Jack White der Nationalmannschaft an, „Fußball ist unser Leben“ und „Olala L’amour“ waren das eher traurige Ergebnis dieser Mesalliance. Oder 1994, als die Village People zusammen mit Olli Kahn und Klinsi „Far away in America“ performten – glatt Rot. Jetzt also Katar. Eine Kat(h)arsis? Mitnichten. Singende Kicker sind keine zu befürchten, dafür Die Hansiaten mit „Hansi mach den Titel klar“. Reimt sich, na klar, auf Katar. Ein Song für alle Unverbesserlichen, die diese WM verfolgen und dann auch nichts Besseres als solche „Musik“ verdient haben. Alles klar Hansi? Es grüßen dich, die Boykott-Boys um Ralf Welteroth von der GeschBo
LITERATUR
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CULTUR.ZEIT-INTERVIEW MIT DEM NEUEN PEN-PRÄSIDENTEN JOSÉ F. A. OLIVER
I
m Oktober wurde der Hausacher Lyriker und Essayist José F.A. Oliver zum Präsidenten des PEN Zentrums Deutschland gewählt. Dieses war im Frühjahr nach vielen Querelen auseinandergebrochen. Oliver, oft gesehener Gast im Literaturhaus Freiburg, sprach mit der cultur.zeit über seine Entscheidung und Ziele. cultur.zeit: Haben Sie es sich gut überlegt, dieses Amt zu übernehmen? Oliver: Ich hatte viel Zeit, die Entscheidung reifen zu lassen, auch im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen. Es wird ja eine gemeinsame Aufgabe sein, den PEN Deutschland wieder in ruhigere Fahrwasser zu begleiten. Als Erstes gibt es im Januar eine Klausurtagung mit allen neu gewählten Verantwortlichen, um die augenblickliche Wirklichkeit gründlich zu betrachten, sie strukturell zu bewerten und den Verband mit erneuertem Auftritt und mit poetischer Kraft in die Zukunft zu gestalten. Sachlich und vor allem: als Team. Dabei konzentrieren wir uns auf das Wesentliche, scheuen aber auch nicht vor Veränderungen zurück. Das soll auch durch die stärkere Präsenz des literarischen Lebens zum Ausdruck kommen. Es gibt so großartige literarische und journalistische Stimmen innerhalb des PEN! cultur.zeit: Was sind die eigentlichen Aufgaben des PEN? Oliver: Es geht um die Freiheit des Wortes in all ihren Erscheinungsformen. Diese Freiheit ist jederzeit und in viel zu vielen Ländern bedroht. Deshalb ist das Engagement für Schreibende, die inhaftiert sind oder 48 CHILLI CULTUR.ZEIT NOVEMBER 2022
von Erika Weisser verfolgt werden, eine fundamentale Aufgabe. Diese Schwerpunkt-Arbeit ging und geht übrigens unabhängig von den Querelen selbstverständlich und mit Entschiedenheit weiter, mit den Programmen „writers-in-prison“ oder „writers-in-exile“. Das PEN Zentrum ist ja auch eine politische Institution, eine kultur- und gesellschaftspolitische Notwendigkeit! Ein Kompass für die demokratischen Grundprinzipien und das Rückgrat unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens – jenseits aller Grenzen, gegen jede Diskriminierung. cultur.zeit: Was liegt Ihnen persönlich besonders am Herzen? Oliver: Die unumstößliche Verteidigung des freien Wortes – mit Respekt und Würde. Nicht Dogmen und Ideologien, sondern Sachlichkeit ist gefragt. Wider jegliche Eitelkeiten. cultur.zeit: Eitelkeiten und Differenzen gibt es nicht erst seit der Spaltung und der Gründung von „PEN Berlin“. Sind Sie ein Brückenbauer, der die verschiedenen Gruppen zusammenbringen kann? Oliver: Zunächst möchte ich ausschließlich von der „Berliner Vereinigung“ sprechen. Es gibt bis dato lediglich einen einzigen PEN in Deutschland; bei der Berliner Verei-
nigung liegt ja keine Anerkennung seitens des Internationalen PEN vor. Umso mehr gilt es, die Situation in jeder Hinsicht ernst zu nehmen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Lieber als das Bild der Brücke ist mir allerdings das Bild der Fähre. Ich baue lieber Fähren, die bestiegen werden können. Fähren sind in aller Regel in Bewegung. cultur.zeit: Welche besonderen Fähigkeiten bringen Sie in diesen bewegten Erneuerungsprozess ein? Oliver: Gute Frage. Das wird sich zeigen. Vielleicht meine drei LebensVorsätze: Dialoge fördern, immer wieder von Neuem lernen, zuzuhören und perspektivisch denken und fühlen, um entsprechend handeln zu können. Und: demütiger sein oder werden. cultur.zeit: Werden Sie denn nun noch zum Schreiben kommen? Oliver: Schreiben ist für mich eine Existenzfrage. Ich werde immer in Versen sein und ich werde auch mit dem mir anvertrauten Amt eines PEN-Präsidenten Lyriker bleiben. Im kommenden Jahr erscheint bei Matthes & Seitz mein neuer Essayband und in Spanien eine umfangreiche zweisprachige Werkauswahl meiner Gedichte. Also zwei Bücher, an denen ich gerade noch arbeite.
Foto: © picture alliance Andreas Arnold
Zuversichtlich: PEN-Präsident José Oliver sieht sich als Fährmann im Erneuerungsprozess.
FREZI
ICH HAB’S DIR DOCH GLEICH GESAGT, SEBASTIAN
RADIO NACHT
von Juri Andruchowytsch Verlag: Suhrkamp, 2022 472 Seiten, gebunden Preis: 26 Euro
von Sebastian Lehmann Verlag: Voland & Quist, 2022 191 Seiten, Klappenbroschur Preis: 16 Euro
DIE TRÄUME ANDERER LEUTE
von Judith Holofernes Verlag: KiWi, 2022 407 Seiten, gebunden Preis: 24 Euro
Musik vom Nullmeridian
Telefontranskriptionen
Ohne Schonung
(ewei). Es ist Mitternacht. Der 13. Dezember, ein Freitag, bricht an – „der schlimmste Tag des schlimmsten Monats am schlimmsten Wochen tag“, sagt die Stimme aus dem Radio. Sie gehört Josip Rotsky, der täglich von null bis acht Uhr auf Amateursendung ist. Von einem ungenannten, am Nullmeridian gelegenen Ort aus wendet er sich an seine Hörer und Hörerinnen, um auch deren „Nächte mit Schlaflosigkeit zu füllen“: mit Alltagserinnerungen, Fluchtgeschichten, philosophischen Gespinsten und viel Musik – dem Soundtrack seines Lebens. „Radio Nacht“ nennt Rotsky sein Programm, mit dem er ständig neue Hörer erreicht, was er anhand der Leuchtpunkte auf der Weltkarte seines „hinter vier Wänden versteckten“ Studios erkennen kann. Verstecken muss sich dieser „prätentiöse Hybrid“ der aus Galizien stammenden Schriftsteller Joseph Brodski und Joseph Roth, weil er zum Attentäter wurde: Rotsky hatte die Revolution in seinem Land als Barrikadenpianist unterstützt – und den für ihre Niederschlagung verantwortlichen „vorletzten Diktator der Welt“ niedergeschossen, als er ihn im Schweizer Exil wiedertraf. Versehentlich, wie er beteuert. Ein virtuos-poetischer Schelmenroman, der die Geschichte der Ukra ine erzählt, ohne dass der Name des Landes auch nur ein einziges Mal erwähnt wird.
(bar). Elterntelefonate. Für die einen ein Graus, für die anderen ein Stück Heimat. Sebastian Lehmann, in Freiburg geboren, schon seit 20 Jahren aber in Berlin beheimatet, hat sie zur Kunstform erhoben. Im Radio laufen die kuriosen Schnipsel, auf der Bühne trägt der Kleinkunstträger sie seinem Publikum vor. Lustig, komisch, kurzweilig, zuweilen ein bisschen lakonisch kommen da die kleinen Telefontranskriptionen daher. Ständig ruft seine Mutter aus der alten Heimatstadt Freiburg an. Sie, ein bisschen so wie Mütter nun mal sind, immer etwas zu besorgt, zuweilen liebenswert tüdelig; der Vater hingegen lebt seinen Hang zum Granteln gerne aus, brummelt immer monoton aus dem Hintergrund, wo er wahrscheinlich mit einem Bierchen auf dem Sofa lümmelt und gerade den Fernseher auf lautlos gestellt hat. Ein schönes Bühnenbild. „Wann kommst Du uns wieder mal besuchen?“ ist ein zuverlässiges Finale, gänzlich unbeirrt der Tatsache, dass der Sohnemann zwei Sätze vorher noch mittelsanft beleidigt wurde. Nun gibt es diese Alltagsgespräche auch zwischen zwei Buchdeckeln. Die Darreichungsform Buch aber nimmt dem Thema viel von seiner Kraft. Wenn Sie Ihren Arzt oder Apotheker fragen würden, würde der die Bühne oder das Radio empfehlen.
(ewei). Als Judith Holofernes in Freiburg lebte, war sie noch nicht berühmt. Das wurde sie erst, als sie nach ihrem Abi an der Staudinger Gesamtschule, jenem „seltsamen Hybrid aus linken Idealen und Haslacher Vorstadtmentalität“, nach Berlin zog. Und dort die Band „Wir sind Helden“ mitgründete, mit der sie als Frontfrau 20 Jahre lang sehr erfolgreich durchs Land tourte, in ausverkauften Hallen spielte und jede Menge Branchenpreise einstrich. 2012 wurde die Heldenband auf Eis gelegt, danach startete die Texterin und Sängerin mit ihrem Ehemann, dem Helden-Schlagzeuger Pola Roy, eine Solokarriere als „Familienmutter mit einer 70-ProzentStelle als Rockstar“. Nun schreibt sie ziemlich selbstschonungslos über ihr unstetes Leben. Über die Zeit vor, während und nach den „Helden“, über ihre Erfahrungen als Tochter einer lesbischen Akademikerin in den 1970er-Jahren, über ihre als „Dauerstress des Dazugehörenwollens“ empfundenen Versuche, sich mit allen zu arrangieren. Mit schöner Selbstironie schreibt Holofernes von ihren kindlichen Fluchten in verschiedene Krankheiten – und von zahlreichen Therapien, die sie als Erwachsene hinter sich gebracht hat. Ein sehr wortspielreiches Selbstporträt einer widersprüchlichen öffentlichen Figur im Showgeschäft. NOVEMBER 2022 CHILLI CULTUR.ZEIT 49