chilli cultur.zeit

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Heft Nr. 3/17 7. Jahrgang

Galerien-Rundgang Skulpturen der Freiburgerin Sundari Arlt in der Galerie Bollhorst

Leinwand

Musik

Literatur

Verwirrspiel mit falschen Identitäten

Brothers of Santa Claus starten durch

Auch ohne Buchpreis Gut: Jörg Später


Weit offene Türen Ein Rundgang durch Freiburgs Galerien

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von Tanja Bruckert

ür viele Menschen ist die Hemmschwel­ le, eine Galerie zu betreten, recht hoch. Das Resultat: In vielen Kunsträumen trifft man immer wieder auf den glei­ chen kleinen Kreis Kunstinteressierter, während Otto Normal nur im Vorüber­ gehen einen Blick durchs Schaufenster wirft. Dabei stehen in den meisten Ga­ lerien die Türen weit offen – auch wer nichts kaufen möchte, ist herzlich will­ kommen. Um das deutlich zu machen, lassen sich Freiburgs Kunstorte einiges einfallen, von gemeinsamen Veranstal­

tungen wie der Nocturne über Führun­ gen, Workshops und Performances bis hin zum Skulpturengarten oder der Es­ pressobar. Wie groß die Bandbreite ist, zeigt chilli-Redakteurin Tanja Bruckert bei einem Rundgang durch eine Aus­ wahl von Freiburgs Galerien.

Info Ihre Galerie ist nicht dabei? Schreiben Sie uns an redaktion@chilli-freiburg.de, wir nehmen Sie gerne in unseren Online-Rundgang mit auf.

Die Grenzüberschreitende – Kunsthandlung und Galerie Bollhorst Schwerpunkt: Keramik

„A True Story“ 28. Mai bis 17. Juni Die beiden Georgierinnen Nona Otarashvili und Sophia Tabatatse zeigen zur georgischen Woche Druck auf Keramik. Abends sind Konzerte geplant. Günstigstes / teuerstes Werk bei Bollhorst: 14 / 5 600 Euro 52 chilli Cultur.zeit April 2017

Bildende Kunst. Angewandte Kunst. Deko­ rative Kunst. Für die meisten Galeristen sind diese Sparten klar getrennt. Nicht so für Frederik Bollhorst. In seiner Galerie findet sich die Kaffeetasse neben der Skulptur, die Vase neben der Fotografie. Kunst oder Kunst­handwerk – das spielt in den Räu­ men am Schwabentor keine Rolle. Angefangen hatte Bollhorst hier vor elf Jahren mit einer klassischen Galerie. Doch zufrieden war er als Teil des elitären „Sys­ tems Galerie“ nicht: „Es reicht mir nicht, künstlerische Behauptungen in einem abge­ schotteten System – klar definierter Markt und Menschen – zu tätigen und 99 Prozent

der Menschen stehen draußen vor dem Fenster und schauen mit großen Augen auf eine Sektglas schwingende Gemeinschaft.“ Also zieht sich Bollhorst den „Hochkultur­ stachel“ und streicht kurzerhand das Wort Galerie von seiner Fassade. „Der Markt für Kunst ist verdammt eng und klein, deswegen muss man die Türen ganz weit aufmachen“, erläutert der 46-Jährige sein Konzept. Das Niveau sei weiterhin hoch, die Hemmschwelle aber viel niedriger. Dazu trägt auch die neue Espressobar bei – ein wirksamer Türöffner. Und viele, die w ­ egen eines Espressos kommen, bleiben wegen der Kunst.


bildende Kunst Der Exot – Galerie Artkelch Schwerpunkt: Zeitgenössische Kunst der australischen Ureinwohner

„Finalists. 1997–2017“ 6. bis 31. Mai Die Ausstellung feiert Künstler, die bei einem Kunstpreis in Australien auf sich aufmerksam gemacht haben. Kelch: „Ich mag am liebsten die Werke, die die Erwartungen nicht treffen, die viele von Aboriginal Art haben.“ Günstigstes / teuerstes Werk: 500 / 10.000 Euro

„Wir zählen in unserem Segment zu den Top10-Galerien weltweit, aber in Freiburg kennt man uns drei Straßen weiter schon nicht mehr“, sagt Galeristin Robyn Kelch. Seit zehn Jahren betreibt sie die Galerie in der Günterstalstraße mit ihrem sehr spezi­ ellen Fokus: Contemporary Aboriginal Art. „No names“ oder touristische Souvenirs haben hier keine Chance – die gebürtige Australierin vertritt zwar auch junge, unbe­ kannte Künstler, aber nur solche, denen sie zutraut, es mal ganz nach oben zu schaffen. Außerdem arbeitet Kelch ausschließlich mit Kunstzentren zusammen, um sicher­ zustellen, dass die Künstler fair bezahlt

werden und nicht für schnelles Geld Mas­ senware produzieren. „Deutsche fallen be­ sonders gerne auf Fakes herein, weil die so schön ordentlich gemalt sind“, sagt die 52-Jährige mit einem Augenzwinkern. Darüber braucht man sich bei Artkelch keine Gedanken zu machen: Mit ihrer Auswahl hat sich die Galerie mittlerweile einen so guten Namen gemacht, dass sie sogar teilweise nach Australien zurück­ verkauft. Auch in Freiburg gibt es mitt­ lerweile eine kleine Fangemeinde. Men­ schen, „denen die Geschichten hinter den Bildern genauso viel wert sind wie die Bil­ der selbst“.

Die Abgelegene – Galerie 4e Schwerpunkt: Figurative und gegenständliche Kunst

Fotos: © Mimili Maku Arts, Jutta Ort, Bollhorst, tbr, Artkelch, Heike Clemont/Joachim Klar, Bernhard Strauss

„Jutta Orth – Ladies & Gentlemen“ bis 28. April Clement: „Jutta hat hier mit Aktkursen angefangen. Sie ist eine sehr schnelle Zeichnerin – manche Kohlezeichnungen stellt sie in fünf Minuten fertig. Das ist eine künstlerische Qualität, die es nicht oft gibt.“ Günstigstes / teuerstes Werk: 400 / 900 Euro

Beim Besuch der Galerie 4e wandert der Blick automatisch nach oben: Der meter­ hohe, lichtdurchflutete Raum ist allein schon sehenswert. Erbaut haben Heike Clement und Joachim Klar das moderne Gebäude im Industriegebiet Haid mit dem Zweck, ein angemessenes Atelier für den Bildhauer Klar zu schaffen, in dem sich die Skulpturen in natürlichem Oberlicht prä­ sentieren können und das nicht unter dem Gewicht der schweren Kunstwerke ächzt. „Doch schnell war uns klar: Wenn hier nur Joachim ausstellt, wäre das totlangweilig – die Kunstwerke würden einfach viel zu sel­ ten wechseln“, sagt Clement und lacht.

So gibt es nun drei bis vier Ausstellun­ gen im Jahr. Das Galeristen-Ehepaar be­ schränkt sich dabei nicht nur auf Skulptu­ ren, sondern zeigt auch Zeichnungen und Gemälde. Einzige Bedingung: „Die Künst­ ler müssen im figurativen Bereich zu Hau­ se sein“, erklärt Clement. Ab dem Frühjahr lädt zudem ein Skulp­ turengarten auf einer großen Wiese hinter dem Haus zum Besuch. Neugierige sind herzlich willkommen: „Wir freuen uns auch sehr über Leute, die einfach nur zum Schauen kommen. Denn was brin­ gen die tollsten Kunstwerke, wenn sie keiner sieht?“

Das Urgestein – Galerie Baumgarten Schwerpunkt: Malerei und Skulptur

Francisco de Goya – Ausgewählte Radierungen 28. April bis 2. Juni Baumgarten: „Das wird eine kleine Sensation. Es gibt eine Goya-Ausstellung in Winterthur, in New York und in Korea – aber keine, die Goya in dem Umfang zum Verkauf anbietet. Günstigstes / teuerstes Werk: 900 / 10.000 Euro

„Man muss auch mal leiden können“, sagt Albert Baumgarten, wenn er auf seine 40 Jahre als Galerist zurückblickt. Nach dem Lehramtsstudium hätte er einst eine sichere Beamtenstelle haben können – ist aber lie­ ber seinem Traum von einer eigenen Galerie nachgegangen. Dass es ihm heute nicht mehr junge Menschen nachtun, findet er bedauerlich, aber auch verständlich. „Man weiß nie: Komme ich über die Runden?“ Selbst in seiner – mittlerweile weit über Frei­ burg hinaus bekannten – Galerie gebe es Tage, an denen kein Besucher in die Kartäu­ serstraße findet. „Man muss lernen, damit umzugehen und darf nicht gleich aufgeben.“

Beim chilli-Galerienbesuch herrscht aber keine Leere. Baumgarten spricht gerade mit einer 17-Jährigen. „Meine jüngste langjähri­ ge Besucherin“, freut er sich. „Seit sie 9 Jah­ re alt ist, kommt sie regelmäßig.“ Das Ge­ genstück dazu: Eine 96-Jährige, die zu jeder Ausstellung aus Bad Säckingen anreist. Ihm liege viel daran, dass sich auch die Jungen zu ihm trauen – und nicht wegblei­ ben, weil sie sich genötigt fühlen, etwas zu kaufen. „Ich achte nicht darauf, ob jemand im Anzug oder in zerrissenen Jeans kommt, ob er Geld hat oder nicht“, macht der 66-Jährige deutlich. „Jede Ausstellung ist erst mal ein Angebot zum Schauen.“ April 2017 chilli Cultur.zeit 53


Bildende kunst Der Newcomer – Galerie Malek Kralewski Schwerpunkt: Konzeptuelle Arbeiten und Installation

David van der Post – Pathos 28. Mai bis 17. Juni In der Ausstellung spielt die Fotografie eine wichtige Rolle. Kralewski: „Ich finde es spannend, dass van der Post die verschiedenen Ausdrucksformen der Malerei ausprobiert.“ Günstigstes / teuerstes Werk: 450 / 3 200 Euro

Ein wirklicher Newcomer ist Malek Kra­ lewski ja nicht – seine Galerie in der Basler Straße gibt es bereits seit fünf Jahren. In der Freiburger Galerienlandschaft zählt sie damit allerdings immer noch zu den Jun­ gen. „Es kommen noch oft Leute, die gar nicht wussten, dass hier eine Galerie ist“, sagt der 46-Jährige. Richtig angelaufen ist auch der Verkauf noch nicht: „Ich hätte nicht gedacht, dass das so hart ist.“ Der Galerist setzt allerdings auch nicht auf Werke, nur weil sie sich gut verkaufen lassen. „Natürlich ist es schwer, jemanden zu finden, der sich einen toten

Vogel an die Wand hängen will“, sagt er und zeigt auf ein Gemälde, das eine Taube mit verdrehtem Hals zeigt. „Aber darum geht es auch nicht: Mir ist es viel wichtiger, dass die Werke in gute Hände kommen.“ Der studierte Informatiker, der auch heute noch nebenher als Programmierer arbeitet, beschäftigt sich seit seinen Kin­ dertagen mit Kunst. Sein erstes Bild hat er mit 16 gekauft. „Eigentlich wollte ich ja eine Uhr“, erzählt er mit einem Schmun­ zeln. „Aber dann habe ich mir gedacht: Warum muss ich die Zeit wissen, das Bild ist viel interessanter.“

Der Off-Space – Pförtnerhaus Schwerpunkt: Raumbezogene Kunstwerke

Caroline von Gunten 22. April bis 21. Mai Thate: „Die Schweizer Künstlerin macht vor allem Installationen und Skulpturen und wird ihre Werke für das Pförtnerhaus direkt vor Ort entwickeln. Diesen Raumbezug finden wir besonders spannend.“

Vorbeigehen, stehen bleiben, die Kunstwer­ ke bewundern – der Kunstraum von Jürgen Oschwald (48) und Florian Thate (35) ist sicherlich zugleich der unauffälligste und der zugänglichste in Freiburg. Das alte Pförtnerhaus hinter der Brauerei Ganter bietet durch das große geschwungene Fens­ ter auch von außen einen guten Einblick auf die Ausstellungsstücke. Mehr als 50 Jahre lang war das 15 Qua­ dratmeter große Häuschen ungenutzt, bis es die beiden Künstler 2015 mit Unterstüt­ zung von Ernst-Ludwig Ganter zu neuem Leben erweckten. Seitdem sind hier rund sechs Ausstellungen im Jahr zu sehen. Ei­ nen festen Künstlerstamm gibt es dabei nicht, Oschwald und Thate setzen vor al­

lem auf Künstler, „die man in Freiburg sonst nur selten sieht“. Und obwohl es auch sol­ che gibt, die ihre Werke aufhängen und wie­ der gehen, laden die beiden Freiburger be­ sonders gerne Künstler ein, die ihre Kunst­werke erst vor Ort entwickeln und dabei den Raum miteinbeziehen. Mittlerweile ist das Pförtnerhaus vor al­ lem an lauen Sommerabenden zu einem beliebten Treffpunkt geworden, an dem man bei einem Bierchen die Kunstwerke betrachten und sich austauschen kann. Das Publikum sei dabei oft bunt durch­ mischt, von jung bis alt, so Oschwald: „Das mag ich besonders am Pförtnerhaus – die spannenden Gespräche zwischen den Generationen.“

Die Nicht-Galerie – Kunstraum Foth Schwerpunkt: Kunst, die Fragen aufwirft / Sperriges / Performance

„Ulrike Gerst – Neue Arbeiten“ bis 4. Mai Öffentliche Plätze und Innenräume sind ihre bevor­zugten Motive. Foth: „Um Ulrike bin ich ein paar Jahre herum­geschlichen, weil mir ihre Arbeiten zu schön waren.“ Günstigstes / teuerstes Werk: 190 / 4 000 Euro 54 chilli Cultur.zeit April 2017

Seine Leidenschaft für Kunst hat Markus Foth früh entdeckt: Schon als Zehnjähriger besucht er alleine Ausstellungen. Später drängen ihn seine Eltern, Stadtplanung zu studieren. Das Studium finanziert er als Kunsthändler. Reingerutscht durch die ei­ gene Sammelleidenschaft – „irgendwann war mein Zimmer so voll, dass ich anfangen musste zu verkaufen“ –, steht er bald regel­ mäßig morgens um fünf auf Flohmärkten und sucht nach verborgenen Schätzen. Der Umzug von Köln nach Freiburg macht da­ mit Schluss: „In über 20 Jahren habe ich hier kein einziges gutes Bild gefunden.“

Aus dem Handel wird eine Galerie, aus der Galerie ein Kunstraum. „Vorher hatte ich auch den einen oder anderen Künst­ ler vertreten, einfach weil er sich gut ver­ kaufen ließ“, erinnert sich der 58-Jähri­ ge, „aber da stand ich einfach nicht voll dahinter.“ Mittlerweile stellt Foth nur noch aus, was ihm wirklich gefällt und was ihn zum Nach­ denken bringt. Auch Performances und Ins­ tallationen stehen auf dem Programm sei­ nes Kunstraums in der Barbarastraße: „Es gibt auch Ausstellungen, wo es nichts zu kaufen gibt.“


Galerien Die Etablierte – Galerie g Schwerpunkt: Neigung zum Minimalen Von der Archäologie zur Kunst – geplant hatte das Gudrun Selz eigentlich nicht. Vielmehr sei sie als Sammlerin in eine beste­ hende Galerie „reinge­ rutscht“, bevor sie dann 1985 ihre Galerie g eröffnet hat. Spezialisiert hat sich die 65-Jährige auf reduzierte Positionen und Farbmalerei. „Als Archäologin habe ich es immer mit einfachen Formen zu tun gehabt, vielleicht prägt das meine Präferenz“, sagt die Altorientalistin. Als Einsteiger sei sie damals überrascht gewesen, wie viel­ fältig und gewichtig die Freiburger Galerien waren: „Sehr ungewöhnlich für so eine kleine Stadt.“ Mittlerweile zählt ihr Kunstraum in der Oberwiehre selbst zu den ältesten der Stadt. 30 Künstler vertritt Selz – zwei von ihnen bereits seit Gründung ihrer Galerie –, deren Werke in fünf bis sechs Einzelausstellungen pro Jahr zu sehen sind.

Koho Mori-Newton „after Iceland, drawing in colour“ 22. April bis 21. Mai Sein Thema ist die Linie – eine vibrierende, verwaschene, tastende, konzentrierte, die sich in komplexen Entstehungsprozessen zu rhythmischem Linienspiel auswächst. Günstigstes / teuerstes Werk: 1 800 / 7 000 Euro

Fotos: © Martin Horsky, Jürgen Rösch, Marc Doradzillo, tbr

Die Günstige – Galerie am Marienbad Schwerpunkt: Kunst aus Simbabwe „Freiburg ist kunstsinnig, aber badisch zurückhal­ tend, was die Preise an­ geht“, sagt Ullrich H. Flech­ senhar. Daher findet sich in seiner Galerie neben Wer­ ken hochkarätiger afrikani­ scher Künstler auch dekorative Kunst: Gemälde, die man sich über die Couch hängen kann, oder Skulpturen, die den Garten verschönern – Unikate, die dennoch kein riesiges Loch in den Geldbeutel reißen. Für Flechsenhar ist seine Arbeit auch eine Art Entwick­ lungshilfe. Jahrelang hat er in Afrika gelebt und dabei gute Kontakte mit Künstlern aus Simbabwe geknüpft. „Vielen von ihnen geht es finanziell sehr schlecht“, weiß der Gale­ rist. „Mit meiner Galerie möchte ich sie unterstützen und einen kulturellen Brückenschlag zwischen Afrika und Eu­ ropa schaffen.“ Über seinen Online-Shop bekomme er Anfragen aus vielen Ländern. Große Sammler würden dennoch einen Bogen um die Galerie machen: „Für sie bin ich zu günstig.“

Derzeit keine Ausstellung in Planung Günstigstes / teuerstes Werk: 50 / 2 000 Euro April 2017 chilli Cultur.zeit 55


musik

Couch, Karriere, Gladiole

Foto: © Brothers of Santa Claus

Vom Sofa in die Welt: Brothers of Santa Claus veröffentlichen zweites Album

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von Till Neumann

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rüher zogen sie mit einem Sperrmüll-Sofa als Straßenmusiker durch die Stadt. Heute wollen sie international durchstarten. Da­ für hat die Freiburger Indie-Band „Brothers of Santa Claus“ gerade ihr zweites Album „Not Ok“ veröffentlicht. Die erste Besche­ rung war schon, die zweite folgt sogleich. Der Manager sieht „viel Luft nach oben“.

garnt Maximilian Bischofsbergers Stimme einen federleicht schwebenden Beat. Sim­ ple Riffs, zerbrechliche Melancholie, Kopf­ nickdrums – das geht ins Ohr. Im Slow-Motion-Video dazu lassen sie sich von drei strengen Ladys begutach­ ten. Ob die Damen überzeugt sind, bleibt offen. Der Clip zum vielleicht besten Song der Platte ist in jedem Fall ein Hingucker.

In Freiburg sind die fünf mit dem weihnachtlichen Namen den meis­ „Sie haben sich ten ein Begriff. Wer sie nicht von den Straßenmusiksessions kennt, wahnsinnig entwickelt“ hat seit ihrem Debütalbum „Naviga­ tion“ (2014) von ihnen gehört. Die oft et­ Er enthält dem Hörer aber vor, dass die was verstrubbelt daherkommenden Indie-­ „Brothers“ verstärkt rockigere Töne an­ Musiker waren in der Musiktalkshow „TV schlagen: So fauchen Gitarren immer wie­ Noir“ oder den „Hamburger Küchensessi­ der in die melodische Stille. Eine klare ons“ zu sehen, tourten durch England, Entwicklung zum verträumteren Erstling. Frankreich oder die Schweiz – und haben Und ein Spiel mit Gegensätzen, für das sich so über den Breisgau hinaus Fans auch der Albumtitel steht – verbildlicht durch eine durchgestrichene Gladiole auf erspielt. Zweieinhalb Jahre nach dem Erstling dem Cover. Not Ok. „Navigation“ wurde noch in Freiburg soll es nun auf die nächste Stufe gehen. „Not Ok“ heißt die Anfang April veröffent­ aufgenommen. Diesmal sind die „­Brothers“ lichte Scheibe. Und die klingt sogar sehr fürs Recording nach Berlin. Mit dem Pro­ OK. Auf dem Opener „Figure it Out“ um­ duzenten Alex Sprave feilten sie dort bis


Ende 2016 an den zehn Songs. „Ohne Alex wäre die ­Platte noch vertrackter geworden“, erzählt Maximilian Bi­ schofsberger (24) in seiner WG-Küche. „Das hat uns gut getan“, ergänzt Jan Horst (24). Der Gitarrist findet die neuen Songs ernsthafter, technisch besser. Sich neu erfinden wollte die Band nicht. Keine Revolution, son­ dern eine „Evolution“, wie der letzte Song auf „Not Ok“ heißt. Eine sphärisch-neblige Nummer, die beim Jam­ men im Proberaum entstanden ist, erzählen die beiden bei Kaffee und Tee. Eine klare Entwicklung sieht auch Manager Michael Musiol: „Sie haben sich wahnsinnig entwickelt, sind enorm gewachsen“, schwärmt der Chef von Jazzhaus Re­ cords. Bei der Vorproduktion des Albums sei es musika­ lisch noch in viele Richtungen gegangen: „Es war nicht immer so leicht, die Kurve zu kriegen“, berichtet Musiol. Das Ergebnis begeistert ihn nun. Und das Feedback sei gut: „Da rollt etwas an, wir wissen aber noch nicht wohin.“ Die Band werde sich nun zuerst auf den deutschen Markt konzentrieren, Grenzen gebe es aber keine: „Da ist wahn­ sinnig Luft nach oben.“ „Maxi“ Bischofsberger käme auch

Fotos: © Screenshot/Youtube

indie

Härtetest: Im Slow-Motion-Video zur Single „Figure It Out“ stellen sich die fünf einer weiblichen Jury.

Ihren Namen verdanken sie einem Fund auf dem Sperrmüll in England mit seiner Stimme und den englischen Texten super an, hat Musiol beobachtet. Im Pressetext wird die Band als britisch klingendes „Indiejuwel“ angepriesen. Gestartet wird in heimischen Gefilden: Im Gewölbe­ keller des Jazzhauses steigt am 12. Mai die zweite Show der Tournee. Auf der Bühne könnte dann auch ein Ob­ jekt stehen, das den fünf zu ihrem Namen verholfen hat: eine abgeranzte Couch. Die hatten sie einst auf dem Sperrmüll im Kirchzarten gefunden und zogen damit zu Konzerten durch die Stadt. So sahen sie aus wie Santa Claus auf einem Rentierschlitten – was ihnen den skur­ rilen Namen einbrachte. Eine Umbenennung sei schon zwei Mal diskutiert worden, berichtet die Band. Doch bisher ohne nennenswertes Ergebnis. Alter Name, neuer Schwung: Wochenlang saßen Ma­ ximilian Bischofsberger und Gitarrist Bela Hagel an den fast fertigen Songs in Berlin, um das letzte Quäntchen rauszukitzeln. „Richtig geil“, findet Bischofsberger das Ergebnis. Damit das nun auch unters Volk kommt, ha­ ben sie erstmals zwei externe Kräfte für die Promoarbeit dazugebucht. Veröffentlicht wird über Jazzhaus Records. Der Kontakt zum Label steht seit 2013, als die Band ge­ gen hochkarätige Konkurrenz den dortigen Nachwuchs­ wettbewerb „Die Rampe“ gewann. Der Contest war ein Sprungbrett – zumindest für Frei­ burg. Die Größenordnung ist nun eine andere. Dennoch freuen sich Bischofsberger und Horst beim Interview, als sie erfahren, dass die ersten 70 Tickets fürs Jazzhauskon­ zert verkauft sind. Quasi das erste Geschenk für die selbsternannten Weihnachtsmänner. Die Tournee soll das zweite werden.

Hätten sie einen Wunschzettel für Santa Claus, wär klar, was draufsteht: „Dass wir nur Fans dazugewinnen, keine verlieren“, sagt Frontmann Bischofsberger. Denn die geben ihm Energie, weiterzumachen. Das Schlimms­ te wäre für ihn, dass es ausplätschert. Ein Traum wäre dafür, bei einem großen Festival als Headliner zu spielen, meint Jan Horst. Von ihren rund 70 Gigs kennen sie sol­ che Bühnen bisher nur als Voract um die Mittagszeit. Der Rentierschlitten wurde nun nachgeschliffen. Um höher zu fliegen und mehr Menschen zu erreichen. Santa Claus schafft’s ja auch zu Millionen Fans – an nur einem Tag.

Verlosung Brothers of Santa Claus spielen am Freitag, 12. Mai, im Jazzhaus Freiburg. Das chilli verlost 2x2 Karten für die Show. Ihr wollt dabei sein? Einfach eine Mail schicken mit dem Betreff „Brothers of Santa“ an redaktion@chilli-online.de Einsendeschluss ist der 23. April. Die Gewinner werden am 24. April per E-Mail benachrichtigt.

April 2017 chilli Cultur.zeit 57


e n g a a n r F ... 4 ... Emu

Les Brünettes

Schattenschwarm

Herzog Records

bandcamp.com

The Beatles Close-Up

Orbit

Foto: © Peter Herrmann

„Aus Versehen gewonnen“

Stimmgewaltig

Funkelnde Schatten

Das Indie-Rock-Trio EMU hat den Nachwuchscontest „Rampe“ gewonnen. Im Jazzhaus spielten sie sich aufs Siegertreppchen. Im chilli-Interview mit Till Neumann erzählt Frontmann Emanuel Hirt (25) vom unverhofften Sieg.

(tbr). Der Zebrastreifen in der Londo­ ner Abbey Road ist weltbekannt. Und so haben es sich natürlich auch „Les Brünettes“ nicht nehmen lassen, ihn im Gleichschritt zu überqueren, auf ihrem Weg zu den Abbey Studios. Hier ist das neue Album der A-cappel­ la-Band entstanden. Denn hier hatten schon dieselben vier Jungs ihre Songs aufgenommen, die dem Zebrastreifen zu seinem Ruhm verholfen haben. Diese Klassiker haben Juliette Brous­ set, Stephanie Neigel, Julia Pellegrini und Lisa Herbolzheimer nun auf ih­ rem dritten Album „The Beatles Close-­ Up“ neu interpretiert. Bereits beim Einstiegssong „Black­ bird“ zeigen die vier Frauen, die sich beim Gesangsstudium in Mannheim kennengelernt haben, wie perfekt ihre Stimmen miteinander harmonieren. Die melancholischen Nummern wech­seln mit poppigeren Songs, die die Sängerinnen mit viel Humor interpre­ tieren: So lassen sie bei „Penny Lane“ plötzlich Trompetentöne erklingen, und der Sopran wechselt kurzzeitig zum Operngesang. Highlight ist je­ doch die Friedens-Hymne „Imagine“, die mit ihren sphärischen Klängen sehr modern wirkt. Das Album erscheint am 28. April. Am 4. Mai sind „Les Brünettes“ im Jazzhaus Freiburg zu sehen – ein Heimspiel für die gebürtige Emmen­ dingerin Julia Pellegrini.

(tln). Alle paar Monate bringt der Frei­ burger „Orbit“, auch bekannt als Stiff Scratch, eine EP heraus. Der 24-jähri­ ge Student rappt auf selbst produzierte Beats. So auch auf „Schattenschwarm“, das neueste Release, erhältlich über bandcamp.com. „Seid ihr gut drauf? Gut, dann klickt diesen Link hier, um dies umgehend zu ändern.“ So bewirbt der Mann seine Scheibe: Dabei sorgt die absolut nicht für Frust. Der Sound ist zwar düster – Orbit rappt von Depression, Sinnlosig­ keit und Alkoholproblemen. Doch text­ lich und musikalisch ist das gut gemacht. Die Beats klingen undergroundig – nach Staub, Schmerz und Seele. Es knistert und knackt, wenn Orbit in „Riesen“ von einer Reise ins Unbe­ kannte erzählt, ein Ausbruch aus dem Alltagskreisel. Melancholisch wird’s auf „Sternhagelvoll“. Zu fein gesam­ pelter Gitarre und Flöte rappt sich Or­ bit die Schatten von der Seele. „In mir brennt ein Flammenmeer“, heißt es da. Zu oft hat er das offenbar mit Feu­ erwasser gelöscht. Den Brand mit Mu­ sik zu bekämpfen scheint heilsamer, wenn dabei solche Songs entstehen. Schattenschwarm ist Zuhör-Hiphop, nix für Partys. Beim Track „Wider­ standsregler“ wird Lambada auf Grä­ bern getanzt. Das ist düster. Doch der Wille, ans Licht zu kommen, blitzt im­mer wieder durch. Ein Funkeln im Schattenschwarm.

Emanuel, vor der „Rampe“ hatte man euch in Freiburg nicht so auf dem Schirm. Stimmt. Wir hießen bis 2014 noch „Confused“. Dann ist unser Drummer wegezogen, wir mussten pausieren. Mit einem neuen Schlagzeuger spielen wir seit Sommer 2016 wieder Konzerte. Neuerdings als „EMU“. Für was steht der Name? Habt ihr einen Vogel? Nein (lacht). Internettechnisch ist der Name eine Katastrophe. Wenn man da nach EMU sucht, findet man nur Videos von diesen Laufvögeln. Mit denen haben wir nichts am Hut. EMU ist mein Spitzname, die Band hat mich überredet, uns so zu nennen. Wenn ich jetzt auf der Bühne sage, wir sind EMU, fühle ich mich etwas schizophren. Diese Vögel sind flugunfähig. Ihr könntet mit dem Rampe-Sieg dennoch abheben ... Wir haben eigentlich nur mitgemacht, um uns in Freiburg etwas bekannter zu machen. Wettkampf­ typen sind wir keine. Und wollten als EMU eigent­lich auch keine Contests mehr spielen. Jetzt haben wir aus Versehen gewonnen (grinst). Das hat uns natürlich mega gefreut. Dafür gab’s 600 Euro und einen ZMF-Auftritt. Was ist mehr wert? Natürlich das ZMF-Konzert. Das Geld investieren wir in die Proberaummiete und Aufnahmen für unser zweites Album. Das soll nächstes Jahr fertig sein. 58 chilli Cultur.zeit April 2017


The Meltdown

Catastrophe Waitress

HopeStreet Recordings

Eigenvertrieb

The Meltdown

(Ohne Titel)

Der Sounddreck ... Headline ... zu Würselen W ü r s e l e n schreit geradezu nach einem Saunddreck. Die Band um Frontmann Martin Schulz hat in den letzten Monaten einen kometenhaften Aufstieg erfahren. Obwohl die Mucke eher recht einfältig und abgeschmackt daherkommt, und der Name sich wie ein Tätigkeitswort anhört, von dem man gar nicht so genau wissen will, was es genau bedeutet.

Südstaaten-Soul

Groove und Gefühl

(mik). Unaufdringlich, ein bisschen wehmütig und mit ganz viel Soul. So zeigt sich die australische Countryund Soulband „The Meltdown“ auf ihrem gleichnamigen Debütalbum. Nach der erfolgreichen Single „Bet­ ter Days“ (2015) hat sich die junge Band aus Melbourne ans erste Album gemacht: „The Meltdown“. Das be­ ginnt so smooth und gefühlvoll, dass man den Blues und das Country-Fee­ ling förmlich herausschmecken kann („Darkness Into Light“). Ein recht einfach gehaltener Sound wiegt den Hörer in die Atmosphäre ei­ nes heißen Sommerabends in Mem­ phis oder Detroit – den Metropolen der R’n’B- und Soul-Musik der 60er-Jahre. Melodische Bassgitarrenläufe („Better Days“), orchestrale Geigen- und Blä­ sersektionen und die weiblichen Gos­ pelchöre („Don’t Hesitate“) sind typisch für den sogenannten Motown-Sound und bringen eine gelungene Abwechs­ lung und Balance in die Platte. Durch den raueren und unge­ schminkten Klang des klassischen Süd­ staaten-Soul wirkt das Album treibend und energetisch – was gut zur authenti­ schen Country-Stimme von Frontmann Simon Burke passt. Diese Authentizität, das Gefühl und der Blues, gepaart mit der Leichtigkeit und Lebensfreude der Australier, lässt das Album zu einem zeitlosen, ermunternden Soundtrack zum Frühlingsbeginn werden.

(tln). Eine Freiburger Folkband, die „Catastrophe Waitress“ heißt? Nie ge­ hört. Doch beim Durchskippen des namenlosen Debütalbums bleibt man schnell hängen: tolle Stimme, verspiel­ ter Vibe, gute Musiker. Mit Ukulele, Gitarre, Geige, Klavier, Kontrabass, Trompete und Percussion formen die vier – früher als „Forks in the Snow“ unterwegs – einen bunten Klangkos­ mos. Maggies klare Stimme trägt das Ganze gefühlvoll: mal sanft schwe­ bend, mal frech fordernd. Die zwölf Stücke sind detailverliebt arrangiert: mal einstimmig, mal mehr­ stimmig. Mal klimpert die Ukulele, dann flüstern heisere Gitarren. Plötz­ lich kommt eine jazzige Trompe um die Ecke und groovt mit dem Kontra­ bass um die Wette. Kurz darauf schun­ kelt sie sogar mit der Geige. Der poppige Indie-Folk schwankt zwi­ schen retro und radiotauglich. Vieles glaubt man so ähnlich schon mal gehört zu haben. Manchmal erinnert die Stim­ me an Norah Jones, dann schimmert die unbekümmerte Lena Meyer-Land­ rut durch. Dennoch überraschen die Stücke immer wieder mit Brüchen oder wechselnden Instrumentierungen. Viel Feinarbeit steckt da drin. Und zugleich viel Leichtigkeit und Finger­ spitzengefühl. Da fängt beim Reinhö­ ren in der Redaktion doch glatt der kleine Finger an mitzuwippen. Wie das wohl erst auf großer Bühne wirkt?

Die „Songs“ sind zugegebenermaßen aber ziemlich catchy und gehen sofort ins Ohr, von dort ins Gehirn, von wo sie über die cerebralen Verdauungsorgane alsbald wieder ausgeschieden und so ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt werden. So ist das eben bei Politbanden, äh -bands, die Parolenhaftes, Märchen, Fantasy, Science Fiction und kleinere Flunkereien zu einem lustigen Potpourri zusammenrühren, um mit diesem alle, die nicht bis drei zählen können, an die Wahlurne zu bringen und ihr Kreuz an der richtigen Stelle zu machen. Würselen ist eine reine Casting- und One-BoyBand, die bei SPDeutschland sucht den Superstar reüssierte und jetzt mit ihrem Album „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ schier durch die Schädeldecke geht. Auweia. Altgediente Politrocker wie „Merkel & die Muttis“ müssen sich wohl warm anziehen oder lieber gleich blank.

Zum Würselen das alles, für Ihre Geschmackspolizei Freiburg Ralf Welteroth


kino

Abschiebung mit Hürden Ein Spiel mit wechselnden Identitäten Auf gesellschaftlichen Minenfeldern von Erika Weisser

Alles unter Kontrolle Frankreich 2016 Regie: Philippe de Chauveron Mit: Ary Abittan, Medi Sadoun, Cyril Lecomte, Slimane Dazi u.a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 87 Minuten Start: 20. April 2017

60 chilli Cultur.zeit APril 2017

E

in kahl geschorener Mann mit langem Fusselbart geht an der schier endlosen Warteschlange vor einer Pariser Behörde ent­ lang und versucht, ein tags zu­ vor gezogenes Nummernticket zu Geld zu machen. 25 Euro will er dafür haben; die Män­ ner, die sich auf den windigen Deal nicht einlassen wollen, beschimpft er als „Kameltreiber“, die zurück sollen in ihr „Beduinenland“. Dabei ahnt er noch nicht, dass er der Nächste ist, der in sein Herkunftsland abgeschoben werden soll. Während der Polizeikontrolle, in die er gleich nach dem Geld-Ticket-Tausch gerät, gibt er sich denn auch noch sehr selbstsicher. Seine Papiere, belehrt er die misstrau­ ischen Beamten, seien „in Ordnung“, so­ wohl sein Pass, der ihn als Massoud Karzaoui aus Kabul ausweist, als auch die Aufenthaltsgenehmigung. Außerdem habe er sich noch nie etwas zuschulden kommen lassen. Die beiden Polizisten sehen dies anders: Nach der Feststel­ lung, dass ein Mann dieses Namens we­ gen eines Handtaschenraubs an einer alten Dame gesucht wird, nehmen sie ihn kurzerhand fest. Zwar behauptet der Bärtige, dass es sich nicht um seine Papiere handle, dass er in Wahrheit Akim Ait-Boulfouz aus Tizi Ouzou in Algerien sei und dass er die falschen Papiere einem Mann entrissen habe, der ihn überfallen wollte. Doch das hilft ihm nichts; die Gendarmen pa­ cken ihn unsanft in ihren Dienstwagen. Und setzen damit eine turbulente Ge­ schichte in Gang: Bei der Gegenüber­ stellung wird der Mann nämlich von der geschädigten Dame wiedererkannt – und anschließend zu drei Monaten Gefängnis mit anschließender Abschie­ bung nach Afghanistan verurteilt. Mit

Fotos: © Neue Visionen

der Rückführung werden zwei Grenz­polizisten betraut, die mit Ausländern nicht gerade zimperlich umgehen und vor Diskriminierungen nicht zurück­ schrecken – insofern passen sie gut zu dem renitenten Delinquenten, der aus seiner Menschenverachtung ja auch kei­ nen Hehl macht. Das illustre Trio sitzt indessen bald auf Malta fest: Nach einer Notlandung gerät die Mission dort zusehends außer Kon­­ trolle; Karzoui schafft es, den beiden von einem gemeinsamen Sauf-, Drogen- und Sexgelage schwer angeschlagenen Ord­ nungshütern zu entkommen – natürlich mit einer weiteren falschen Identität. Die Flucht macht seinen neuen Bullenfreun­ den schwer zu schaffen, insbesondere José Fernandez: Die ihm vor der Reise verspro­ chene Beförderung wurde nämlich vom Erfolg des Abschiebungsauftrags abhängig gemacht. Und so will er den Entflohenen um jeden Preis wieder dingfest machen. Nach „Monsieur Claude und seine Töchter“ hat Philippe de Chauveron er­ neut einen Film gedreht, der mit Klischees spielt, die dieses Mal allerdings recht albern geraten sind. Am Samstag, 22. April kommt er zur Premierenvorstellung mit Filmge­ spräch im Kino Friedrichsbau. B ­ eginn ist um 19 Uhr.


DVD

USA 2015 Regie: Rodrigo García Mit: Ewan McGregor, Tye Sheridan u.a. Verleih: Tiberius Laufzeit: 98 Minuten Kinostart: 13.4.2017

Österreich/Deutschland 2016 Regie: Valentin Hitz Mit: Clemens Schick, Lena Lauzemis u.a. Verleih: Camino Laufzeit: 96 Minuten Kinostart: 20.4.2017

Maikäfer flieg!

Foto: © W-film

Stille Reserven

Foto: © Camino Filmverleih

Foto: © Tiberius Film

40 Tage in der Wüste

Österreich 2016 Regie: Mirjam Unger Mit: Zita Gaier, Ursula Strauss u.a. Verleih: W-film Laufzeit: 109 Minuten Kinostart: 27.4.2017

Im Namen des Vaters

Der Tod als Businessmodell

Plädoyer für den Frieden

(ewei). In der Vorahnung tragischer Ereignisse begibt sich Jeshua 40 Tage lang in die Wüste, um zu fasten und sich spirituell auf Verhaftung, Kreu­ zigung und Tod vorzubereiten. So ist es bibelhistorisch überliefert und da­ ran erinnert bis heute die 40-tägige Fastenzeit. Pünktlich zu Ostern kommt nun Rodrigo Garcías Film über diese ent­ scheidenden Tage in die deutschen Kinos. Doch er zeigt keinen abgeklär­ ten Gottessohn, der allen weltlichen Versuchungen widersagt, der über alle Zweifel an der Richtigkeit der väterli­ chen Pläne erhaben ist. Im Gegenteil: Der von Ewan McGregor sehr überzeu­ gend dargestellte heilige Mann gerät ständig an die Grenze seiner Loyalität mit dem Vater. Das liegt nicht nur an dem längeren Aufenthalt bei einer von einem tiefen Vater-Sohn-Konflikt zer­ rissenen Wüstennomadenfamilie. Son­ dern vor allem am Einfluss von Luzifer, des anderen, wegen Ungehorsams ver­ stoßenen Sohns, der, vom selben Schau­ spieler verkörpert, als Jesu Zwillings­ bruder und Alter Ego auftritt.

(ewei). In einer Stadt, die entfernt an Wien erinnert, können Leute nur dann sterben, wenn sie schuldenfrei sind. Doch das ist nach der totalen und tota­ litären Machtübernahme fragwürdiger Konzerne fast niemand mehr. Also vegetieren abertausende künstlich am Leben erhaltene Menschen so lange dahin, bis ihnen so viele noch brauchund vor allem vermarktbare Organe entnommen wurden, dass ihre Schul­ den beglichen sind. Die einzige Mög­ lichkeit, diesem unwürdigen Ende zu entgehen, ist eine teure Todesversiche­ rung, die sich jedoch nicht jeder leisten kann. Und der sich so mancher Wohl­ habende verweigert. Vincent Baumann, ein bisher sehr erfolgreicher Versicherungsvertreter, gerät bei dem Unternehmer Wladimir Sokulow an einen solchen Verweigerer – und damit selbst in die Gefahr des sozialen Abstiegs. Über Sokulows Toch­ ter Lisa versucht er, den Vater zu kö­ dern. Doch die ist längst Mitglied einer Rebellengruppe gegen das System. Eine düstere Dystopie über den Tod als Businessmodell.

(ewei). Das Leben im Krieg ist im Früh­ jahr 1945 für die 9-jährige Christl selbst­ verständlich: In ihrer Erinnerung gab es ja nie etwas anderes. Doch so richtig an sie herangekommen ist er erst in den letzten Monaten – mit der Nachricht von der Verwundung des Vaters und dem Näherrücken der Kampffront. Und mit der Flucht aus dem zerbombten Wien: Die Mutter nimmt sie und ihre Schwester mit in die noble Landvilla, wo sie als Haushälterin arbeitet. Die Ereignisse überstürzen sich, doch das couragierte Mädchen begeg­ net dem alltäglichen Schrecken mit kindlicher Gelassenheit, Neugier und einem unbestechlichen Gespür für Menschen und deren Gesinnung. Und so findet sie, als sich Soldaten der Ro­ ten Armee in der Villa einquartieren, in deren Koch Cohen einen Freund, mit dem sie Freud und Leid teilt. Die Verfilmung von Christine Nöst­ lingers gleichnamigem Buch ist – nicht zuletzt durch die großartige Hauptdarstellerin Zita Gaier – zu ei­ nem eindrücklichen Plädoyer für den Frieden geraten.


kino

Goldrausch im Ausverkauf (ewei). Monat für Monat spielt er im Kommunalen Kino. Egal, wie viele Leute da sind. Doch ziemlich oft ist der ehemalige Wartesaal des ehemaligen Bahnhofs Freiburg-Wiehre bis auf den letzten Platz besetzt, wenn Günter A. Buchwald dort, im linken Winkel direkt vor der Leinwand, am Klavier sitzt und in die Tasten haut. Oder zur Abwechslung auf der Geige spielt. Oder beides gleichzeitig. Seit Jahren lockt der weltbekannte Freiburger Stummfilmmusiker eine große Fangemeinde in das Kino, das atmosphärisch und historisch irgendwie den passenden Rahmen bietet für die bewegten Bilder, die dort gezeigt werden. Da kommen außer bekannten, wie der Bahnhof zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandenen Klassikern, auch immer wieder vergessene, verschollene, zerstörte und mühselig digital restaurierte Raritäten aus der Stummfilmepoche zur Aufführung, deren Live-Musik-Begleitung intensiv einstudiert, zuweilen neu arrangiert werden muss. Eine Musik also, die Buchwald nicht einfach so aus dem Ärmel schüttelt. Auch wenn es so scheinen mag, angesichts der spielerischen Leichtigkeit, mit der er sie präsentiert. Chaplin-Filme sind selten darunter; die würden den kleinen Rahmen wohl sprengen. Wie das diesjährige Stummfilmkonzert des Philharmonischen Orchesters Freiburg unter der Leitung von Günter A. Buchwald im Stadttheater beweist: Bereits sechs Wochen vor den beiden Aufführungen von „Goldrausch“ am 2. & 3. Mai war das Große Haus so gut wie ausverkauft, gab es selbst für die wirklich teuren Plätze nur noch wenige Karten. Und leider gibt es keine drei Aufführungen – was für künftige Konzerte eventuell überlegenswert sein könnte. Damit das Glück, Tickets zu ergattern, von mehr Menschen geteilt werden könnte.

62 chilli Cultur.zeit April 2017

Deutschland 2017 Regie: André Erkau Mit: Wotan Wilke Möhring, Kostja Ullmann u.a. Verleih: Warner Bros Laufzeit: 90 Minuten Start: 27.4.2017

Einsamkeit und Sex und Mitleid

Foto: © X-Verleih

So köstlich kann ein Schuh schmecken: Charlie Chaplin in „Goldrausch“, demnächst im Theater

Foto: © Warner Bros

voll von der Rolle

Happy Burnout

Deutschland 2017 Regie: Lars Montag Mit: Jan-Henrik Stahlberg, Rainer Bock, Lilly Wiedemann u.a. Verleih: X-Verleih Laufzeit: 119 Minuten Start: 4.5.2017

Die Farben der Liebe

Liebe in neurotischen Zeiten

(ewei). Altpunk Fussel ist zwar in die Jahre gekommen, doch er wohnt im­ mer noch in einem Zelt. Allerdings campiert er nicht mehr unter freiem Himmel: Das Zelt hat er längst in einer Wohnung aufgeschlagen, die er mit Hilfe der verständnisvollen Jobcen­ ter-Mitarbeiterin Frau Linde ergattert hat. Denn der Lebenskünstler und Sys­ temverweigerer, der sich seit Jahren er­ folgreich um eine regelmäßige Arbeit herumschlawienert, ist vor allem eins: Frauenheld. Aus Überzeugung und mit Leidenschaft. So hat er mit seinem jungenhaft-sym­ pathischen Charme außer anderen hilfreichen Damen auch die gutmütige Arbeitsvermittlerin um den Finger ge­ wickelt, die großes Verständnis für sei­ ne Zurückhaltung auf dem Arbeits­ markt zeigt. Bis das Arrangement auffliegt. Doch statt eines Jobs vermittelt sie ihm ein Arbeitsunfähigkeits-Attest und schickt den Müßiggänger wegen eines Burnouts in eine Klinik. Wo er auf die Gestrandeten einer dem Effizi­ enzwahn verfallenen Gesellschaft trifft. Und sein Leben überdenkt.

(ewei). Swentja ist an allem Schuld: Sie hat einen Lehrer des sexuellen Über­ griffs bezichtigt und zwei gottesfürch­ tigen Jünglingen den Kopf verdreht. Obwohl streng katholisch bzw. musli­ misch und entsprechend sexfeindlich, können sie seit der Begegnung mit der frühreifen 14-Jährigen an nichts ande­ res mehr denken. Ebensowenig wie der eher männerorientierte Lehrer, der nun ein verarmtes Messie-Dasein fris­ tet und sich von kostenlosen Wursten­ den ernährt. Als es die im Supermarkt nicht mehr gibt, schlägt er den frisch geschiedenen Filialleiter zusammen. Dieser trifft bei seiner Suche nach einem Ausweg aus dem sexuellen Not­ stand während einer Silent Party auf eine ziemlich lädierte Künstlerin, die zuvor Swentjas latent schwulen Vater porträtiert hat – und danach die weibli­ che Hälfte eines Call-Pärchens, dessen männliches Pendant der Ehefrau des Filialleiters dienen muss. Was zu weiteren Verstrickungen in diesem komischen, sexlastigen Epi­ sodenfilm über die Liebe in neuroti­ schen Zeiten führt.


DVD Amerikanisches Idyll

El Olivo Spanien 2017 Regie: Icíar Bollain Mit: Anna Castillo, Javier Gutiérrez u.a. Studio: good!movies Laufzeit: 94 Minuten Preis: ca. 13 Euro

USA 2016 Regie: Ewan McGregor Mit: Ewan McGregor, Jennifer Connelly, u.a. Studio: Splendid Film Laufzeit: 104 Minuten Preis: ca. 14 Euro

Seefeuer Italien 2015 Regie: Gianfranco Rosi Dokumentarfilm Studio: Weltkino Laufzeit: 109 Minuten Preis: ca. 15 Euro

Eine Reise à la Don Quijote

Im Chaos der Gefühle

Nur eine kleine Insel

(iba). Alma kümmert sich liebevoll um ihren Großvater Ramón; zur restlichen Familie hat sie kein gutes Verhältnis. Denn diese verkaufte vor Jahren gegen Ramóns Willen einen tausendjährigen Olivenbaum. Seither hat er kein Wort mehr gesprochen. Als er auch noch das Essen verweigert, will sie den Baum zurückholen – und geht mit Sattel­ schlepper, Onkel und Freund Rafa auf eine abenteuer- und tränenreiche Rei­ se nach Düsseldorf, wo der Baum einem Energiekonzern als Nachhaltig­ keitssymbol dient.

(ewei). Seymour Levov geht es gut. Denkt sein ehemaliger Mitschüler, ein bekannter Schriftsteller, auf dem Weg zu einem Klassentreffen. Doch er soll dem erfolgreichen Handschuhfabri­ kanten, einstigen High-School-Spitzen­ sportler und Ehemann einer früheren Schönheitskönigin nicht mehr begeg­ nen: Der Glückspilz, dem das Leben „alle Türen aufhielt“, ist an der Radi­ kalisierung seiner Tochter zerbrochen, die nach einem Bombenanschlag spur­los verschwand. Und ihn im Gefühls­ chaos zurückließ.

(ewei). Eigentlich ist Lampedusa nur eine Insel im Mittelmeer. Und eigent­ lich gibt es dort, wie der Alltag eines 12-jährigen Bewohners zeigt, auch nichts Außergewöhnliches. Doch seit das kleine, südlich von Sizilien gelege­ ne Stück Land zum Ziel vieler schutz­ loser Menschen auf dem Weg nach Europa wurde, hat sich dort viel verän­ dert: Hoffnung liegt neben Verderben, Zuflucht neben Tod. Ruhig, eindrück­ lich, mit wenigen Worten legt Gian­ franco Rosi die zwei Welten nebenein­ ander. Berlinale-Gewinner 2016!

Censored Voices Israel/Deutschland 2016 Regie: Mor Loushy Dokumentarfilm Studio: good!movies Laufzeit: 84 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Eine unerhörte Frau Deutschland 2016 Regie: Hans Steinbichler Mit: Rosalie Thomass, Romy Butz u. a. Studio: Wild Bunch Laufzeit: 89 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Ich, Daniel Blake Großbritannien 2016 Regie: Ken Loach Mit: Dave Jone, Hayley Squires u.a. Studio: Prokino Laufzeit: 100 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Krieg. Ungekürzt.

Wenn niemand glauben will

Ohnmacht macht Wut

(ewei). Vor 50 Jahren, 1967, erlangte Israel im sogenannten 6-Tage-Krieg einen Sieg, der das Land um das Drei­ fache vergrößerte und ihm Jerusalem, Gaza und die West Bank einbrachte. Groß war der Jubel, taumelnd die Freude. Doch der Schriftsteller Amoz Oz, der damals selbst Soldat war, be­ fragte andere Soldaten nach ihren Er­ lebnissen. Und ihre Berichte waren erschreckend. Und waren 50 Jahre unter strengem militärischem Ver­ schluss. Jetzt sind sie endlich zu hören: Ergreifende Plädoyers für Frieden.

(ewei). Die Bäuerin Hanni macht sich Sorgen um ihre jüngste Tochter Magda­lena. Doch niemand will ihrem Ge­ spür glauben, das ihr sagt, dass hin­ ter der Zerbrechlichkeit und der schlechter werdenden Sehfähigkeit des Kindes eine ernsthafte Krankheit steckt. Über­zeugt, dass sie keinen Unken­ rufen folgt, und geplagt von einer unerhörten Kindheitserinnerung, be­ ginnt sie, um die Wahrheit zu kämp­ fen – und damit um das Leben ihrer Tochter. Unbeirrbar. Und ohne Kom­ promisse. Ein starker Film.

(ewei). Daniel Blake war zeitlebens ein braver und arbeitsamer Bürger. Doch als er wegen eines Herzinfarkts vorü­ bergehend arbeitsunfähig wird, verwei­ gern ihm die staatlichen Behörden den Bezug von Sozialhilfe. Der Witwer gerät in einen Teufelskreis von un­ durchschaubaren Bestimmungen, un­ ergründlichen Zuständigkeiten und verwirrenden Antragsformularen – und lernt die junge Katie kennen, der es nicht besser geht. Aus Ohnmacht wird Wut – und eine verschworene Ge­ meinschaft. Goldene Palme 2016. April 2017 chilli Cultur.zeit 63


Literatur

Höhenflug ohne Beute

E

von Erika Weisser

Siegfried Kracauer Eine Biographie von Jörg Später Suhrkamp Verlag, 2016 744 Seiten, gebunden Preis: 39,95 Euro

64 chilli Cultur.zeit April 2017

nde 2016 veröffentlichte der Freiburger Historiker Jörg Später ein Buch mit dem schlichten Titel „Siegfried Kracauer – Eine Biographie“. Anfang 2017 war es be­ reits für einen Literaturpreis nominiert: In der Kategorie Sachbuch/Essayistik des Preises der Leipziger Buchmesse erreichte das Buch, das sehr viel mehr ist als eine Biographie, die Runde der fünf Finalis­ ten. Bei der Preisverleihung am 23. März ging der Autor zwar leer aus, hatte aber eine fantastische Zeit erlebt. Nach solchen Preisverleihungen wird in den Feuilletons über die Gewinner ge­ schrieben, dass sie „zu Recht“ oder „ver­ dient“ gekürt worden seien. Über die Verlie­ rer wird hingegen fast kein Wort mehr verloren. Dabei hätte wohl jedes Buch, das so weit kommt, einen Preis verdient. Das gilt auch für Jörg Späters Abhand­ lung über das ereignisreiche Leben und umfangreiche Werk von Siegfried Kracau­ er: Ihr kommt das preiswürdige Verdienst zu, einen der bedeutenden Intellektuellen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor der Vergessenheit bewahrt und dessen scharf­sichtige gesellschafts- und kulturpo­ litische Analysen und Theorien für heutige Menschen verständlich gemacht zu ha­ ben. Obendrein liefert der Freiburger eine fundierte Darstellung des historischen Kontexts: Lebens- und Zeitgeschichte be­ leuchten sich gegenseitig; es wird erkenn­ bar, wie Sein Bewusstsein und Bewusst­ sein Sein prägen kann. Dabei hat der 50-Jährige sein bestens recherchiertes, kenntnisreiches und trotz zahlreicher Originalzitate sehr verständ­ lich geschriebenes Buch nicht einmal „für irgendeine Zielgruppe verfasst“, sondern für sich. Es hat ihn gereizt, das Leben Kra­ cauers, dieses fast vergessenen promovier­ ten Architekten und langjährigen Feuille­ tonisten und Filmkritikers der Frankfurter Zeitung, zu erforschen. Ein Leben, das

Foto: © Erika Weisser

Der Freiburger Jörg Später hat auch ohne Buchpreis gewonnen

Für Jörg Später ist auch die Buchpreis-Nominierung seiner Kracauer-Biographie ein Gewinn.

1889 in Frankfurt begann und 1966 in New York endete. Und zu dem fruchtbare philosophische und soziologische Lehrund Bildungsjahre mit Wegbegleitern wie Theodor W. Adorno, Ernst Bloch und Wal­ ter Benjamin gehörten. Aber auch, gleich nach dem Reichstagsbrand 1933, die Flucht vor dem Nazi-Regime – und viele schwierige Jahre des Exils in den USA. Jörg Später hat drei Jahre an dem Buch gearbeitet. Und diese, sagt er dem chilli, „gehören zu der besten Zeit“ seiner gesamten wissenschaftlichen Laufbahn. Es sei „ein­ fach fantastisch“ gewesen, sich so ausgie­ big mit einem so großartigen Geist beschäf­ tigen zu können. Da habe die Nominierung zudem noch „wie ein Höhenflug“ gewirkt. Obwohl diese „sicher auch ein Ziel“ seiner Arbeit war. Und als es dann, nach den „spannenden und angespannten letzten Minuten“ vor der Verkündung des Gewinners nicht sein Name war, der genannt wurde, da war er „schon enttäuscht“. Und dieses Gefühl verflog auch nicht so schnell: Es dauerte „ungefähr 24 Stunden“, bis er sich „nicht mehr als Verlierer fühlte“. Bis er „es wieder klar hatte“, dass schon allein die Nominie­ rung seines Erstlings ein Gewinn, eine ganz besondere Auszeichnung ist.


FRezi

So, und Jetzt kommst du

von Arno Frank Verlag: Klett Cotta, 2017 352 Seiten, gebunden Preis: 22 Euro

Schatz, ich habe den Index geschlagen

von Christian Thiel Verlag: campus, 2017 224 Seiten, Taschenbuch Preis: 17,95 Euro

Gegen Drachen

von Jürgen Lodemann Verlag: Klöpfer & Meyer, 2017 288 Seiten, gebunden Preis: 22 Euro

Für einen Arsch voll Geld

Überraschend unterhaltend

Ansteckende Denkanstöße

(dob). Es sind die Achtziger. Jungs mit Mofa, Boris Becker, Tschernobyl. In der pfälzischen Provinz bringt ein windiger Autoverkäufer überteuerte Schrottkar­ ren an die Dummen, daheim sagt er zu seinem Sohn: „Du musst dir nehmen, was du willst, niemand schenkt dir et­ was. Du frisst oder wirst gefressen. So, und jetzt kommst du.“ Aber was will denn der Bub über­ haupt? Sicher nicht das: In einem ge­ klauten kackbraunen Ford Escort, zu­ genebelt vom Zigarettenqualm der Eltern und einen stinkenden alten Köter mit Durchfall auf dem Schoß, von Lissabon über Paris nach Kai­ serslautern fliehen zu müssen. Doch das passiert ja erst gegen Ende des lau­ nigen, autobiografischen Roman­ debüts des Journalisten Arno Frank. Zuvor nämlich lebt die Familie Frank, nachdem ein krummes Ge­ schäft in der Pfalz geklappt hat, auf ziemlich großem Fuß. In Südfrank­ reich, wo die Yachten schaukeln. „Ei­ nen Arsch von Geld habe man“, prahlt Papa und kauft seiner Frau, der Toch­ ter und den beiden Söhnen alles, was das Herz begehrt und treibt sich im Ca­ sino rum. Doch irgendwann, der Bub ahnt es, ist die Sause vorbei und die Flucht wird alles andere als glamourös – sie endet in einem Kaff in Bayern. Es darf gelacht werden auf diesen 352 Seiten, es kann aber auch geweint werden. Auf jeden Fall aber sollte die­ ses Roadmovie, diese Familientragö­ die, diese wahre erfundene ­Geschichte gelesen werden.

(tbr). Aktien, ETFs, Einlagen, Divi­ denden, Währungsgewinne – na, noch da? Geldanlagen sind ja für die meisten Menschen ein Thema, das sie gerne weit, weit weg von sich schieben. Aus einem Buch über Aktien einen Page­ turner zu machen, ist deswegen eine ziemliche Leistung. Geholfen hat sicherlich, dass Chris­ tian Thiel kein Broker ist, sondern Paarberater. Statt in Fachbegriffen unterzutauchen, erklärt er die Welt der Geldanlagen mit Hilfe unterhalt­ samer Geschichten auch für Laien verständlich. Die Marschrichtung ist dabei klar: Sparbuch, Festgeld und Staatsanlei­ hen haben dank Niedrigzinsen ausge­ dient, Gold ist alles andere als eine glänzende Geldanlage und Immobi­ lien sind weder sicher noch rentabel. Was bleibt? Aktien. Und zwar „die besten Aktien der Welt“. Thiel ist überzeugt, sie gefunden zu haben. Der Erfolg seines ersten Anlagejahrs scheint ihm Recht zu geben: Der Hob­ bybroker hat 2015 ein Plus von 47 Prozent eingefahren – der Dax ist in dieser Zeit gerade einmal um 9,6 Pro­ zent gestiegen. Auf seinem Blog ist mittlerweile aber auch die Bilanz für 2016 zu finden – und hier haben sei­ ne Aktien eine Nullrunde hingelegt. Klar ist: Thiel hat die Finanzweisheit nicht mit dem Löffel gefressen. Seine Thesen dürfen und sollen auch aus­ drücklich hinterfragt werden. Viele hilf­ reiche Tipps gibt’s dennoch – und eine unterhaltsame Lektüre obendrein.

(ewei). Dass Jürgen Lodemann 81 ist, glaubt ihm kein Mensch: Die un­ längst unter dem bezeichnenden Titel „Gegen Drachen“ veröffent­ lichten jüngsten Reden des ehema­ ligen SWF- und SWR-Redakteurs sind erfrischend feurig, luzide und kämpferisch, sie zeugen von seinem kritischen Geist. Die Texte berühren, öffnen Augen, regen zum Denken an, reißen mit: Wortgewandt, mit fundiertem Wissen, zielsicherer Rhetorik und anstecken­ der Leidenschaft wettert der wahlfrei­ burgerische Freibürger gegen Gier und Machtgier, Oberflächlichkeit und Egomanie, gegen Nationalwahn und Heilsbotschaften, Schwindel und Zensur, Lug und Trug. Und, natürlich, gegen den „spekulativen Irrsinn“ von Bankenrettung, Stuttgart 21 und Fes­ senheim. Gegen Drachen eben. Unwesen, die schon Siegfried be­ kämpfte, mit dem sich der Autor gleich in der ersten Rede eingehend beschäf­ tigt. Und mit Freiburgs Stadtpatron St. Georg, der samt Stadtwappen und besiegtem Lindwurm das Schwaben­ tor ziert – und das Buchcover. Lodemann zeichnet aber auch Visi­ onen: Anlässlich der Grundsteinle­ gung für die Vaubanaise lobt er dieses Inklusionsprojekt als vielleicht doch machbare Variante des „Lebens als Ensemble-Kunst“, als Annäherung an den „alten Traum vom Zugleich von Individuation und Solidarität“. Und die ist ihm besonders wichtig. Unbedingt lesen! April 2017 chilli Cultur.zeit 65


chilli astrologie

Das »bierernste«

chilli-Horoskop

Die Gesundheits-Edition von Hobby-Astronautin Tanja Bruckert

Widder   21.03. – 20.04.

Waage   24.09. – 23.10.

Wir schlucken zu viel Antibiotika – und das erhöht die Gefahr von Resistenzen. Naturheilkundler raten daher zu Alternativen wie Ahornsirup, Shiitake-Pilzen oder Kohl. Ein echter Geheimtipp ist hingegen noch das Schnitzel: Zwei Stück täglich und du hast genügend Antibiotika intus, um den fiesesten Infekt unschädlich zu machen.

Super, du hast dich im Fitnessstudio angemeldet! Schritt 1 ist getan. Schritt 2: Nun musst du auch hingehen. Schritt 3: Wenn du hingehst, solltest du neben der Smoothiebar auch mal den Kraftraum besuchen. Schritt 4: Super! Du hast es immerhin bis zur Sauna geschafft! Schritt 5 bis 10 folgen, sobald du deine Jahresmitgliedschaft verlängert hast.

Stier   21.04. – 21.05.

Skorpion   24.10. – 22.11.

Die Feinstaubbelastung steigt, regelmäßig werden im Ländle die Grenz­ werte überschritten. In Stuttgart ist man nun dazu übergegangen, Moosplatten neben der Straße aufzustellen. Das Grün soll die kleinen Partikel wegfiltern. Die Lösung für daheim: Tapeten aus Moos. Da bekommt die Redewendung „Ohne Moos nix los“ eine ganz neue Bedeutung.

Nachts fällst du Baum um Baum. Wer neben dir schläft, sagt, du würdest ganze Regenwälder klein sägen. Mach dir nichts draus: Fast jeder zweite Mensch schnarcht – im Alter sogar häufiger. Meist ist das für die Gesundheit ungefährlich. Nur blaue Flecke kann es geben – wenn dein Bettnachbar mit kräftigen Tritten versucht, dich zur Ruhe zur bringen.

Zwilling   22.05. – 21.06.

schütze   23.11. – 21.12.

Eine aktuelle Studie zeigt: Der Anteil der Raucher sinkt. Gleichzeitig steigt aber – bedingt durch das Bevölkerungswachstum – die absolute Zahl der Raucher. Hört sich widersprüchlich an? Ach was: Je mehr Menschen rauchen, umso mehr profitieren vom Passivrauch und können selbst aufhören zu qualmen. Eine Win-win-Situation wie aus dem Buche!

Mit 15.102 Fällen in Baden-Württemberg war die Grippe in diesem ­Winter die heftigste seit 2009. Die gute Nachricht: Jetzt geht sie ihrem Ende entgegen. Und das wird auch Zeit – schließlich muss sie Platz für den Heuschnupfen machen, auf den die Sommergrippe folgt, die dann rechtzeitig abklingen muss, bevor die Schnupfnasen-Zeit im Herbst beginnt.

Krebs   22.06. – 22.07.

steinbock   22.12. – 20.01.

Du leidest unter fiesem Heuschnupfen. Und obwohl du seit Tagen nicht mehr das Haus verlassen und die Fenster verrammelt hast, wird es einfach nicht besser. Vielleicht solltest du mal deine Musikauswahl überdenken: Bei „Ein Bett im Kornfeld“, „Grass ain’t greener“ oder Nirvanas „In Bloom“ kann’s ja nicht besser werden!

Deine Freunde sagen, du bist ein Hypochonder. Deine Familie sagt es. Und sogar der Kassierer an der Supermarktkasse. Nur du willst das nicht glauben. Zumindest nicht, solange das auch dein Arzt bestätigt. Doch der sagt gar nichts – weil er nicht mehr rangeht, wenn du anrufst. Und das, obwohl du ihn auf Kurzwahltaste 1 hast!

23.07. – 23.08.

wassermann   21.01. – 20.02.

Die Frühjahrsgrippe hat dich gepackt. Ein deutsches Hausmittel: Apfel­essig mit Zitronensaft und Cayennepfeffer. Scheußlich. Probier’s also lieber mit einem russischen Hausmittel: warmer Wodka. So ein zwei Flaschen am Tag sollten reichen. Und nicht vergessen: Bei Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Barkeeper oder Spirituosenhändler.

Das Strandbad hat eröffnet. Also nichts wie hin: Schwimmen ist gesund! Und Schwimmen heißt nicht, in der Sonne braten, Pommes futtern und Selfies schießen – die sind seit dieser Saison eh verboten. Schwimmen ist das mit den Bewegungen im Wasser. Und so, wie du dich anstellst, solltest du froh sein, dass fotografieren und filmen jetzt verboten ist.

LÖWE

24.08. – 23.09.

fische   21.02. – 20.03.

In einem Interview mit der Huffington Post hat eine amerikanische Hirnwissenschaftlerin kürzlich erklärt: Backen ist gut für die Gesundheit. Also ran an den Kuchen! Schwing das Nudelholz! Fette die Muffinförmchen! Und spitz die Cakepop-Spieße! Denn schon der Volksmund wusste: An applecake a day keeps the doktor away!

Lebensmittel sind nicht nur mit Schadstoffen verseucht, sondern auch radioaktiv belastet. Doch anders als beim Biss einer radioaktiven Spinne bekommt man vom Verzehr strahlender Tomaten leider keine Superkräfte. Bisher allerdings ungeklärt: Was passiert, wenn man eine Spinne mit radioaktiven Lebensmitteln füttert und sich dann beißen lässt?

JUNGFRAU

66 CHILLI APRIL 2017




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