chilli cultur.zeit

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Heft Nr. 10/16 6. Jahrgang

Joe Bonamassa The Guitar Event Of The Year 2017 16.5.2017 • 20 Uhr • Rothaus Arena

Große Kleinkunst Kulturpolitik

Literatur

Kulturbörse und Grenzenlos-Festival

Übersetzer über ihre Bücher des Jahres

Ulrich von Kirchbach im Interview


Kultur

„ Die guten Jahre sind vorüber“ cultur.zeit-Interview mit Ulrich von Kirchbach

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reiburgs Kultur- und Sozialbürgermeister Ulrich von Kirchbach (SPD) hat ein Jahr hinter sich, das stark durch die Flüchtlingswelle beeinflusst war. Im traditionellen Weihnachtsinterview, nun schon im 13. Jahr, spricht der Dezernent mit den Redakteuren Tanja Bruckert und Lars Bargmann aber auch über die Dramatik auf dem Wohnungsmarkt und das Clubsterben, über Missstände und Erfolge. cultur.zeit: Herr von Kirchbach, Finanzbürgermeister Otto Neideck hat im Juni berichtet, dass im laufenden Jahr 60 und im Doppelhaushalt 2017/2018 noch einmal 130 Millionen Euro fehlen. Mit welchen Auswirkungen für Ihren Etat? von Kirchbach: Die Einnahmesituation hat sich zwischenzeitlich verbessert, im Verwaltungshaushalt werden wir eine schwarze Null hinkriegen. Der Investitionshaushalt aber muss über Kredite gestemmt werden, die bis zu 80 Millionen Euro umfassen können. cultur.zeit: Die Zeit der Schuldentilgung ist vorbei … von Kirchbach: Die guten Jahre sind vorüber, lägen Sie vor mir, wäre es mir lieber. Es wäre mir auch lieber, keine Schulden aufzunehmen, aber die Situation ist wie sie ist, und wir werden damit zurechtkommen.

Mehr ... Warum von Kirchbach die Landesregierung für ihre Förderpolitik im sozialen Wohnungsbau kritisiert und warum die Wohnungspolitik die Sozialpolitik entscheidend beeinflusst, lesen Sie im kompletten Interview auf bit.ly/Kirchbach

cultur.zeit: Neideck hatte für das Loch nicht zuletzt die Flüchtlingsversorgung verantwortlich gemacht … von Kirchbach: … es gilt die politische Zusage des Landes, dass von dort alle Kosten übernommen werden. cultur.zeit: Das Ende der guten Jahre hat welche Auswirkungen auf Ihren Etat? von Kirchbach: Wir müssen nicht kürzen, aber für zusätzliche Wünsche ist kein Platz im Haushalt. cultur.zeit: Die 12,4 Millionen schwere Investition in den dritten Bauabschnitt im Augustinermuseum …

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von Kirchbach: … ist nicht gefährdet. Da wir Bundesmittel bekommen, sind wir in der Pflicht. cultur.zeit: Warum investiert das Rathaus auch in den Paulussaal, obwohl der der Evangelischen Stadtmission gehört und auch nach der Sanierung Ende 2017 noch für drei Jahre durch die Uni blockiert ist? von Kirchbach: Ohne unsere Zuschüsse, 400.000 Euro, wäre der Paulussaal gar nicht saniert worden. Aber mit dem Paket an Veranstaltungen, für die wir ja dort nur Nebenkosten bezahlen müssen, macht das Sinn. Zudem ist der Saal ein wichtiger kultureller Veranstaltungsort an Wochenenden, der erhalten werden muss und auch von uns genutzt werden kann. cultur.zeit: Stolze 4,3 Millionen Euro sind in die Stadthalle geflossen, um dort Flüchtlinge unterzubringen. Nun soll die Halle ab Ende des Jahres bis Mitte 2018 leer bleiben. Haben Sie keine bessere Idee? von Kirchbach: Die Investition war richtig. Wir hatten in der Spitze 400 Flüchtlinge im Monat und haben die Stadthalle über ein Jahr lang genutzt, sonst hätten wir Turnhallen nehmen müssen. Wir behalten die Stadthalle also als Reservekapazität für Flüchtlinge. Parallel prüfen wir alternative Nutzungen.

„Ich hätte mehr nachfragen müssen“ cultur.zeit: Wie viele Flüchtlinge leben aktuell in Freiburg? von Kirchbach: 3400. Und auch wenn wir die nächste Zeit jeden Monat 25 dazu bekämen, hätten wir genug Plätze. Die Versorgung der Flüchtlinge war 2016 die Herkulesaufgabe. Dass wir die gemeistert haben, war nur möglich, weil wir dezernatsübergreifend sehr gute Arbeit geleistet haben und das zivile Engagement beeindruckend war.


kommunalpolitik cultur.zeit: Draußen zu Hause heißt es immer noch für viele Obdachlose. Nachts friert es, die Hilfeeinrichtung Oase ist restlos ausgebucht und das Rathaus hat trotzdem Obdachlose aus der wärmeren Innenstadt verbannt. Wie passt das zu einer sozialen Stadt? von Kirchbach: Wenn 100 Menschen in der Innenstadt übernachten, viele aus Osteuropa übrigens, zu denen wir kei-

von Kirchbach: Da lief einiges nicht gut. Wir sind aber bei den Verträgen in Eigenbetrieben nicht involviert. Hier habe ich zwar nichts falsch gemacht, aber ich hätte mehr nachfragen müssen. cultur.zeit: Welche Folgen haben die Ereignisse für die Zukunft? von Kirchbach: Das Theater wird künftig den Theaterausschuss mehr einbinden.

von Kirchbach: Bedeutsamer als die Passage ist der Tod des Freiburger Filmfests. Vor drei Wochen haben die bisherigen Veranstalter mir endgültig erklärt, dass sie nicht weitermachen. Das ist sehr schade, da ich das Filmfest sehr geschätzt habe. Die FWTM und das Studierendenwerk hatten ihre Hilfe angeboten, leider hat dies nicht zu einem Umdenken geführt. cultur.zeit: Was kann besser werden? von Kirchbach: Ich finde, dass die Kunst im öffentlichen Raum immer noch ein Schattendasein führt. Die Kunstkommission arbeitet zwar im zweiten Jahr, aber die finanzielle Ausstattung ist relativ bescheiden. Da müssten wir mehr tun. Immerhin wird es im neuen Rathaus auf einer 46 Meter langen Wand ein Kunstwerk geben (für 300.000 Euro von der Berlinerin Schirin Kretschmann, d. Red.), das finde ich toll.

cultur.zeit: Sie hoffen? von Kirchbach: Wir haben schon zu viele Eröffnungstermine kommuniziert.

cultur.zeit: Was lief 2016 gut? von Kirchbach: Ich fand es wichtig, dass wir die Straßennamen geprüft haben und nun auch welche ändern. Ich finde es richtig, dass wir im Augustinermuseum die Ausstellung Nationalsozialismus in Freiburg machen. Das war überfällig. Man muss sich mit der Geschichte auseinandersetzen. Ich freue mich, dass wir gerade die Nachricht bekamen, dass im Jahr 2018 fast 5000 Sänger zum Deutschen Chorwettbewerb nach Freiburg kommen und dass wir auch den Bundesentscheid bei Jugend musiziert nach Freiburg kriegen werden, 2020 zum Stadtjubiläum. Und die Gründung des Marina-Zwetajewa-Instituts, an der die Stadt sich beteiligt hat, finde ich auch ein gutes Signal. Im nächsten Jahr haben wir dort bei russischen Kulturtagen ein Programm zu 100 Jahre Revolution in Russland, für das wir 200.000 Euro vom Bund erhalten haben Es ist mir wichtig, dass wir hier im internationalen Kulturaustausch bleiben. Am wichtigsten aber ist, dass wir am Augustinermuseum nahtlos weitermachen können, damit wir zum Stadtjubiläum 2020 fertig sind.

cultur.zeit: Was lief neben der Passage 46 kulturpolitisch schlecht?

cultur.zeit: Herr von Kirchbach, danke für dieses Gespräch.

Fotos: © tbr

„Sehr schade“: Der Tod des Freiburger Filmfests gehört für Kirchbach zu den Tiefpunkten 2016.

nerlei Zugang hatten, muss man unsere Polizeiordnung umsetzen. Es ist ja nicht so, dass die Leute weggetragen wurden. Aber wir haben auch unsere Angebote erweitert, in der Waltershofener Straße und in der Bötzinger Straße in bisherigen Flüchtlingsunterkünften zusätzliche Plätze geschaffen. Und auch in Zähringen werden wir noch Container für Wohnungslose stellen. Wir haben heute schon fast 80 Plätze und werden die Kapazitäten weiter erhöhen. cultur.zeit: Wie viel Obdachlose leben in Freiburg? von Kirchbach: Etwa 650, die ans Sozialsystem angekoppelt sind. Die Dunkelziffer wird bei 800 bis 1000 liegen. Längst nicht alle aber wollen auch untergebracht werden. cultur.zeit: Das Stadttheater hat unrechtmäßige Deals mit dem mittlerweile insolventen Pächter der Passage 46 abgeschlossen. Wie kann es sein, dass Sie davon nichts wussten?

cultur.zeit: Von der Hoch- zur Subkultur. Das Crash ist wegen der Ausbaupläne der IHK gefährdet. Was wollen Sie? von Kirchbach: Da gibt es eine Übergangslösung, das Crash darf vorerst bleiben, muss aber mehr Miete als bisher zahlen. Später soll der Club in den Keller eines Neubaus integriert werden. Das finde ich richtig. cultur.zeit: Das Literaturhaus, das Sie schon Anfang 2015 eröffnen wollten, hat 2016 immer noch keine Heimat bezogen … von Kirchbach: Es gab viele Verzögerungen, aber ich bin mit Uni-Rektor Hans-Jochen Schiewer in engem Kontakt und wir hoffen, dass wir nun im nächsten Sommer das Haus in der Alten Uni endlich eröffnen können.

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Kultur

Einfach mal loslachen Wie auf der 29. Freiburger Kulturbörse wieder die groSSe Kleinkunst gefeiert wird Bunte Mischung: Zur IKF kommen 500 Künstler aus 25 Nationen an die Messe Freiburg. „Es wird schön-schräg“, sagt IKF-Chef Holger Thiemann. Fotos: © Veranstalter, Juan Gabriel Sanz, Anne de Wolf, Lily McLeish

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von Lars Bargmann

Open House So., 22.1., 22 h: Opening-Gala im Theatersaal 1, Karten ab 21/16 € Mo., 23. 1., 21 h: METROPOLISFilmkonzert im Theatersaal 1, Karten ab 12/10 € Mo., 23.1., 21 h: VertikalPerformance im Theatersaal 2, Karten ab 17/13 € Di., 24.1., 20.15 h: Poetry Slam im Konferenzraum K 6-9, Karten ab 12/10 € Di., 24.1., 20.30 h: A-CappellaAbend in der Music Hall, Karten ab 19/15 € Di., 24.1., 21 h: Bencha Theater (Artistik, Tanz, Livemusik) im Theatersaal 1, Karten ab 12/10 € Mi., 25.1., 20 h: Varieté-Abend im Theatersaal 2, Karten ab 22/19 €

chthundertfünfzig. So viele Künstler und Performer, Theater- und Tanzformationen, Bands und Slammer, Comedians und Kabarettisten haben sich für die 29. Internationale Kulturbörse in Freiburg (IKF) beworben. 850 wollten in ihren Lebensläufen einen Auftritt in Freiburg eintragen. Denn wer hier schon aufgetreten ist, der hat so eine Art Qualitätssiegel. Es ist eine beachtliche Wertschätzung, die man der 1988 noch vom städtischen Kulturamt gegründeten Börse inzwischen weltweit entgegenbringt. Man könnte sagen: Es kommt alles, was bald Rang und Namen hat. Holger Thiemann, noch immer rühriger Vater der Börse, hat sicher 15.000 Kilometer auf Bahngleisen, Flugrouten und Autobahnen zurückgelegt, um das diesjährige Programm auf die Beine und die Bühne zu stellen. „Es wird schön-schräg“, sagt er. Kann er sagen: So spielen die balearischen Res de Res eine Tanztheater-Performance in einem Gefängnis-Container, in dem auch 15 Zuschauer eingesperrt werden – performing in a box. Oder nehmen wir Shiva: Der Schamane sucht sich jemanden im Publikum und formt dann in einer Viertelstunde aus 15 Kilo Ton dessen Ebenbild. Schön-Schräges gibt es auch aus Polen: Das Teatr KTO ist für seine skurrilen Straßentheater-Performances bekannt, die spanische Straßentheatergruppe CQP Produccions wurde indes auf dem Theaterfestival Fira de Titelles de Lleida als beste Straßenshow 2016 ausgezeichnet – mit dem Programm Manneken’s Piss. Auch das ist durchaus schräg. Die IKF startet am 22. Januar, erstmals also an einem Sonntag, mit der Gala. Das

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katalonische Stelzentheater Compania Maduixa wird die Gäste durchaus langbeinig und attraktiv empfangen, drinnen werden das Orquestra de Cambra de l’Empordà, Lumpenpack, BANDART und Lisa Eckhart auftreten – die österreichische Kabarettistin wird übrigens noch während der Kulturbörse den Berliner Kulturpreis bekommen. Durch den Abend führt Kay Ray. Insgesamt gibt es sieben Publikumsveranstaltungen (siehe Infobox), die wohl schnell ausverkauft sein werden. Die Messe boomt: 400 Austeller werden es heuer sein, fast 50 mehr als im Vorjahr – und schon das war ein Rekordjahr. 180 Auftritte, 500 Künstler aus 25 Nationen: Aus Japan, Kanada, Amerika, aus dreiviertel Europa reisen sie nach Freiburg, um hier Agenten zu finden, Veranstalter (die wiederum neue Künstler brauchen), Kulturmenschen, mit denen man Auftritte klarmachen kann. Es war der Sprung vom Bürgerhaus am Seepark an die Messe Freiburg 2001, der die Kulturbörse auf ein neues Niveau gehoben hat. „Wenn wir die neue Messe damals nicht gehabt hätten, wäre die Börse vielleicht sogar kaputtgegangen“, blickt Thiemann zurück. Im Seepark gab es eine Bühne, jetzt gibt es vier. Das große Finale bestreiten am Varieté-Abend Raymond Raymondson, Dirk Scheffel, Michele Cafaggi, Nicolai Friedrich, Corinne Sutter, Bence und der Spicy Circus der kanadischen Trampolinartistin Andréanne Quintal, die mit ihrer Gruppe ein faszinierendes Spiel mit der Schwerkraft inszeniert. „Der Abend wird unglaublich“, sagt Thiemann, der schon beim Erzählen über Raymondson einfach loslachen muss.


„ Kulturhauptstadt der Kleinkunst“ Das 18. Grenzenlos-Festival zwischen schrägem Dia-Abend und schrillem Kabarett Lokalkolorit: Die Freiburger Peter W. Hermanns und Schroeder spielen im Slow Club Foto: © Felix Groteloh

Während Quintal mittlerweile in Zürich lebt, kommt das Klezmer-Ensemble Kleaztory tatsächlich für die IKF extra aus Kanada angereist. Aus Japan fliegt Maïa Barouh ein, die uralte japanische Klänge mit ihrer eigenwilligen Stimmtechnik und hypermodernen Elektro-Sounds zusammenmischt – und so zu einer Kulturpionierin wird. Aus der Kabarettszene kommt der frisch gekürte Österreichische Kabarettpreisträger Thomas Maurer. Zu Fritz Langs berühmtem Stummfilm Metropolis (siehe Infobox) spielt live Antonio Bras, während die britische Malerin Gina Southgate Bands während ihrer Auftritte live zeichnet. Die Werke werden ausgestellt – wer eins haben will, sollte sein Portemonnaie dabei haben. Es wird übrigens auch politisch: Andreas Thiel kommt nach Freiburg. Der Träger des Deutschen Kabarettpreises bekam nach seiner öffentlichen Islamkritik Ende 2014 Morddrohungen, stand zeitweise unter Polizeischutz und bekommt seither kaum noch Auftrittsmöglichkeiten. Der Schweizer ist von einer renommierten Jury für den Kulturbörsen-Preis „Freiburger Leiter“ nominiert, der für Darstellende Kunst, Straßentheater und Musik vergeben wird – von den Besuchern. Als Freiburger Band ist Indie Boy am Start. Der zählte nicht zu den 850. Die Kulturbörse lädt jedes Jahr den aktuellen Rampe-Bandcontest-Sieger ein. Noch mehr Info: www.kulturboerse.de

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leinkunst ist große Kunst in kleinen Räumen. Wenn am 22. Januar der Startschuss zur Internationalen Kulturbörse fällt, verwandelt sich Freiburg zeitgleich mit dem 18. Grenzenlos-Festival in die „Kulturhauptstadt der Kleinkunst“, wie der Freiburger SWR-Studioleiter Rainer Suchan trefflich formuliert.

Auch dieses Mal bringt das Kulturbüro vom Vorderhaus zusammen mit dem SWR und Koko & DTK Entertainment, unterstützt von der Freiburg Wirtschaft Touristik und Messe GmbH, ein sehr buntes Programm auf die Bühnen. Das Festival zur Börse präsentiert alte Kleinkunst-Freunde, die mal wieder in Freiburg vorbeischauen, junge Künstler und pflegt zugleich die regionale Kulturlandschaft mit einer gewissen Skurrilität – es wird wieder scharf, schräg und vor allem schrill. Kabarettist und Entertainer Kay Ray moderiert am 22. Januar die gemeinsame Opening-Gala in der Freiburger Messe. Am 23. Januar eröffnet dann Leo Bassi (The Power Of Innocence) die 18. Auflage des bis zum 4. Februar laufenden Kulturfestivals im Vorderhaus – ob er am Ende wieder geteert und gefedert an der Haltestelle an der Straße steht? Zu den Bühnen zählen auch das SWR-Studio, ausgestattet mit seiner exzellenten Tontechnik, das Klavier-

depot an der Schwarzwaldstraße mit einer sehr kleinen, charmanten Bühne, der Slow-Club an der Haslacher Straße, wo Peter W. Hermanns & Schoeder „Vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so“ spielen oder auch das Berghotel Schauinsland, wo chilli-Kolumnist Volkmar Staub und Diebold Maurer (Alpeflug) alemannisches Musikkabarett zelebrieren. „Das Festival ist wie eine Großfamilie“, sagt Martin Wiedemann vom Vorderhaus. Zu dieser zählt natürlich auch Matthias Deutschmann, der in seinem Programm überlegt: „Wie sagen wir’s dem Volk?“. Oder Arnulf Rating mit „Rating Akut“. Zu Gast in Freiburg ist auch der aus dem „Tatort Franken“ bekannte Matthias Egersdörfer mit seinem Gankino Circus. Auf dem Festival gastiert auch die Siegertour der diesjährigen Kleinkunstpreisträger des Landes, (Das Lumpenpack, Die Schlagzeugmafia und Matthias Weise). Ein relativ neues Gesicht der Szene ist Alain Frei, der mit seiner Rebell-Comedy am Start sein wird. Reeto von Gunten (iSee three) hat derweil den DiaAbend wieder entdeckt und zeigt mit seinem Programm die Revolution des Genres hautnah. Ob das ankommt? „Das Publikum verlässt sich darauf“, sagt Wiedemann, „dass wir keinen Quatsch servieren.“ (vba) Mehr Infos und Karten: www.freiburg-grenzenlos-festival.de

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Musik

Herbst, Herzschmerz, Holzhacken Songwriter-Rap: Julian Philipp David aus Au macht Melancholie zum Erfolgsrezept

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twas verplant guckt Julian Schwizler vom Cover seiner neuen Platte. Als könne der 25-Jährige den Rummel nicht ganz glauben. Der in Au bei Freiburg aufgewachsene Rapper hat mit „Herbst“ einen kleinen Hit gelandet. Mehr als 100.000 Klicks in wenigen Wochen, Radiorotation, ein Auftritt im Morgenmagazin. Die neue EP könnte sein Durchbruch sein.

von Till Neumann

Foto: © Julia Schoierer

Zwischen Skepsis und Steilgehen: Julian Philipp David dreht live gerne auf. Dabei sind die Texte des Rappers meist melancholisch. Mit seiner Single „Herbst“ hat er einen kleinen Hit gelandet.

Ein bisschen verträumt wirkt der Mann mit den drei Vornamen. Passt ja auch zu seiner Musik: „Herbst, das heißt sitzen auf dem Sofa, mit Ingwer-Tee statt Cola und der Strickjacke von Oma“, rappt der Blondschopf. Im Schein bunter Laternen läuft er dabei durch den Wald. Melancholie, getragen von sanften Gitarren, passend zur kalten Jahreszeit. So soll es gar nicht sein, sagt der Wahl-Mannheimer: „Das Lied ist zeitlos, das kann man auch im Sommer hören.“ Das Stück sei eine Metapher für innere Zerrissenheit. Die ist beim Popakademie-Studenten Programm. Auf seiner Herbst-EP erzählt er von Versagensängsten, Nachtschichten und der Jagd nach Höhepunkten. Songwriter-Rap nennt er den gitarrengetränkten Liedermacher-HipHop. Der Begriff ist ihm mal rausgerutscht, jetzt nutzt er ihn gerne. Auf den ersten Blick mag das soft erscheinen, doch Tiefsinn, ausgefeilte Kompositionen und schweißgetränkte Liveshows lehren eines Besseren. Wer Julian Philipp David auf der Bühne gesehen hat, weiß, dass in dem unscheinbaren Kerl ein Vulkan brodelt. Auf dem Zelt-Musik-Festival brannte er die vergangenen drei Jahre ein musikalisches Feuerwerk ab. Seine Songs hat er in einer Schrebergartenhütte bei Stuttgart geschrieben. Mit den Bandkollegen und dem Produzenten Jens Schneider, der auch mit Joris an Texten arbeitet. Zwischen Holzhacken und Teetrinken. „Da habe ich Bezug zu Umwelt und Natur, man ist viel draußen, lässt es wir-

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ken“, berichtet Schwizler. Ein Kontrast zum Getümmel des Szeneviertels Jungbusch, in dem er wohnt. Ein Song heißt „Highlights“. Eines davon sei das ZMF-Konzert im Sommer gewesen: „Da habe ich zum ersten Mal richtig meine neuen Sachen präsentiert.“ Gemeint ist sein Soloprojekt als Julian Philipp David. Noch 2015 trat er als Frontmann von Tonomat 3000 auf. Drei Jahre lang rockte die Band und veröffentlichte die Tono EP. Die klang ähnlich wie sein Soloprojekt, hinter den Kulissen läuft es aber anders: „Ich mache keine Kompromisse mehr“, betont er. Früher sei alles demokratisch diskutiert worden – Flyer, Songs, Videos. Nun entscheide er, auch wenn die Band weiter aus seinen „allerbesten Freunden“ bestehe. Das Soloprojekt scheint sich auszuzahlen. Die Klicks auf YouTube haben sich verzehnfacht, das Medieninteresse steigt. „Ich finde, ich hab’s verdient“, sagt Schwizler. 15 Jahre habe er geackert wie ein Blöder. Und müsse jetzt den Nobelpreis im Wachbleiben bekommen, wie er in „Die Nacht ist mit uns“ erzählt. Noch als Schüler hatte er in Freiburg mit Freunden die Rapformation Lingulistig gegründet. „Wir waren voll die Macher“, erinnert sich Schwizler. Bis ins Bundesfinale der „School Jam“ schafften sie es. Und veranstalteten ihre eigenen Willkommen-Daheim-Festivals. Nach einem Konzert im randvollen White Rabbit 2012 sei ihm klar gewesen: „Ich will Musik machen und nix anderes.“ Sein Studium an der Mannheimer Popakademie in „Musikproduktion“ liegt mittlerweile auf Eis. Bis zum Jahresende sollen die Aufnahmen fürs Album im Kasten sein. Ab April ist er auf Deutschlandtour. Trotz des Erfolgs wandelt Schwizler zwischen Skepsis und Steilgehen: „Es gibt ständige Zweifelmomente – fliegen oder fallen.“ Für 2017 wünscht er sich Glück und Gesundheit – auch wenn es kitschig klingt.



Musik

Auf Eric Claptons Spuren Bluesrock-Superstar Joe Bonamassa kommt nach Freiburg

N Info Karten für die Konzerte gibt’s auf www.adticket.de oder www.jbonamassa.com

Doch Bonamassa will mehr: Er möchte sich immer wieder neu erfinden – solo oder mit einem seiner zahllosen Nebenprojekte, heißt es in der Tourankündigung. Er wolle Inspiration sein für viele, die nach ihm kommen. Dazu hat er sich auch optisch etabliert: Mit dem für ihn typischen Anzug und der Sonnenbrille tourt er über die Bühnen der Welt, um seinem Ruf als einem der größten Gitarristen unserer Zeit gerecht zu Spaß und Leidenschaft, Professionalität werden. Für elf Shows kommt der New Yorker im und Visionen. Der Grammy-nominierte Superstar des zeitgenössischen Bluesrocks Mai nach Deutschland. Für Bescheidenheit bringt das scheinbar mühelos unter einen ist da kein Platz: Als „The Guitar Event of Hut. Joe Bonamassa steht für feuriges Gi- the Year 2017“ wird die Tournee angeküntarrenspiel und überzeugt mittlerweile digt. Wer vor dem Konzert in der Rothaus auch mit rauchiger Stimme und feinem Arena, die ab Januar Sick-Arena heißt, eiSongwriting. Er gilt als erfolgreichster Blues- nen Eindruck von Bonamassas Shows bemusiker seiner Generation. Die FAZ kommen möchte, kann das mit „Live At The nennt ihn „Eric Claptons Nachfolger im Greek Theatre“ tun. Seit September gibt’s die Live-Show auf CD oder Vinyl. Amt“. Musik wurde dem Mann quasi in die Wiege gelegt. Sein Vater hatte ein Gitarrengeschäft in New York. Schon als Vierjähriger, 1981, bekam er ein solches Instrument geschenkt. „Further than up the road“ von Eric Clapton war schließlich der erste Song, den er auf der Gitarre spielen konnte. Mit zwölf Jahren stand er auf einer Bühne mit B.B. King. Foto: © Christie Goodwin 2009 dann auch mit seinem Idol Eric Clapton. Der Mann und sein Instrument: „Triumphzug des Bluesrock“ Sein erstes Album brachte Bonamassas zwölftes Studioalbum „Blues Bonamassa im Jahr 2000 heraus. „A new Of Desperation“ ist im März erschienen. Day Yesterday” schlug bereits erste Wellen. Damit erreichte der New Yorker zum 16. Dann kam seine zweite, weit rockigere Mal die Spitze der Billboard Charts – öfter Scheibe – und schaffte es direkt auf Platz 1 als jeder andere Künstler vor ihm. In den der Billboard-Blues-Charts. Mittlerweile ist Billboard-Top-Album-Sales chartete die er beim zwölften Studioalbum und wurde Platte auf Platz 5, sein bislang größter Er- mit Preisen überschüttet. „Ich könnte mich folg in den USA. In Europa platzierte sich auch rülpsend auf einen Barhocker setzen das Album in 15 Ländern, in Deutschland und in Badelatschen und T-Shirt auftreerreichte es Platz 3. Seine letzte Tournee ten“, sagt Joe Bonamassa über seine Prähierzulande im Frühjahr 2016 wird als „Tri- senz auf der Bühne. Wäre ja mal eine Idee fürs Konzert in Freiburg. umphzug des Bluesrock“ gefeiert. iemand in der Bluesrock-Szene spielt mit so viel Leidenschaft und Talent“, schwärmt das Classic Rock Magazin UK. Keiner habe so viel Hingabe für sein Handwerk wie Joe Bonamassa. Davon können sich demnächst auch die Freiburger überzeugen. Der US-amerikanische Gitarrist und Sänger spielt am 16. Mai in der Rothaus Arena.

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Sven Väth

Sokom

Nur für mich

Der Sounddreck ...

COCOON

Eigenvertrieb

... zum Wichteln

The Sound of the 17th Season

Headline Titel: Gniechels Wichtelsong Urheber: Gniechel Jahr: 2013

Schlagartig düster

Reflektierter Raptrip

(Valérie Baumanns). Vogelgezwitscher und weiche, freundliche Akkorde erinnern an eine sonnige grüne Wiese im Hochsommer. Harald Björk lockt zu Beginn der neuen Platte von Sven Väth das Publikum des guten Tons mit zarten Beats. Weiter geht’s mit einer sanften Hookline, welche spielerisch dem federnden Groove folgt. Mit dieser musikalischen Einladung schickt Väth die Elektro-Liebhaber zum siebzehnten Mal auf den Dancefloor in Ibiza. Der gebürtige Hesse ist nicht nur an den Turntables zu Hause, auch als Label-Macher, Partyveranstalter und Produzent kennt er sein Metier. In der Elektro-Szene steht Väth schon immer für mehr als nur den einen Klangstil. Er mischt Techno und House und kostet dabei die verschiedenen Facetten des breit gefächerten Genres voll aus. Auch seine neue Platte hat viele Gesichter: Sie verkörpert gänzlich eine geheimnisvolle Klangwelt, die unbedingt entdeckt werden will. Ebenso spielt der neue Mix aber auch mit suggestiven Elementen. Ein eindringliches Zusammenspiel von Bassline und fast schon psychedelisch anmutender Flötenmusik. Der zweite Teil der Platte ist schlagartig düster: der Groove ist schwerer, die Bassline impulsiver. Auf der Tanzfläche ist die Dunkelheit eingebrochen und mit ihr pulsierende Beats.

(tln). Ein paar Jahre war es ruhig um den Freiburger Rapper Sokom. Jetzt hat er sich zum 29. Geburtstag selbst beschenkt: „Nur für mich“ heißt die Platte. Auf zehn Songs rappt Timo Horl über die Launen des Lebens, das verkommene Rapgeschäft und Sandkastenerlebnisse. „Bist du bereit, um das Rad neu zu erfinden?“, heißt es im Intro. Dabei macht Sokom, was er schon früher tat: Er reiht geschliffene Reime aneinander wie nur wenige in dieser Stadt. Deutschrap der guten alten Schule zu feinen Beats von Uncle Rafa, Tarantino Beats, Oliver Noise und Jay Baez. Sokom kommt reflektiert daher, die „Faker“ kriegen dennoch ihr Fett weg: „Die Rapper da draußen sind wirklich alle scheiße“, heißt es in „Achtung“. Vom HipHop-Business ist Sokom genervt. Er schwebt lieber über den Dingen, wie in „Spring“. Zu staubtrockenen Drums rappt er gegen die Schwerkraft: „Ich werd’ aus Elefanten Mücken machen, solange dran glauben bis mir Flügel aus dem Rücken wachsen“. Das wirkt. Mit AndOnez und Balance hat er wortgewandte Verstärkung, eine Frauenstimme fehlt dafür. Denn Sokoms Gesangsversuche sind ausbaufähig. Das tut dem Ganzen aber kaum einen Abbruch: Deutschrapfans der 90er werden den reflektierten Raptrip feiern. „Nur für mich“ gibt’s schließlich für alle. Gut so.

Kennen Sie ihn noch, den guten alten Grabbelsack? Den von früher? Die Jüngeren denken bestimmt, das ist eine unangenehme Geschlechtskrankheit. Nein, weit gefehlt. Der Grabbelsack war der Vorläufer dessen, was man heute „Wichteln“ nennt. In den Grabbelsack, gemeinhin ein gebrauchter Kartoffelsack aus kratziger Jute, wurden in der schönen Vorweihnachtszeit Geschenke getan, die dann ungesehen herausgezogen werden konnten. Wahlweise griff man zu einem prima Geschenk oder in ein zuvor ausgiebig benutztes Taschentuch. Der Grabbelsack war also eine Mischung aus Wichteln und „Schandwichteln“ bevor es zur totalen Wichteldiversifizierung kam. So ist heute die Rede von „Räuberwichteln“, „Würfelwichteln“, „Zufallswichteln“, „Gedichtwichteln“ bis hin zum „Sexwichteln“ etc. etc. Das aus dem Schwedischen stammende Wichteln, bei dem der „Wichtel“ (!) die Geschenke bringt, hat unseren Markt überflutet. Würde es beim Wichtel bleiben, wäre das noch zu vertreten. Kommt allerdings Musik hinzu, wird es bedrohlich. Ein Fake-Wichtel namens Gniechel veröffentlichte folgende Zeilen: „La-La, La-La, Lalalala, Lalala, La-La, La-La, Lalalala, Lalala” Ein kleines Membranophon, auch Kasoo genannt, untermalt diese Lyrics, die folgendermaßen angeprisen werden: Geht es euch einmal nicht gut oder seid ihr schlecht gelaunt, dann singt Gniechels Wichtelsong und alles ist gut. „La-La, La-La, Lalalala, Lalala, La-La, La-La, Lalalala, Lalala” Und nochmal „La-La, La-La, Lalalala, Lalala, La-La, La-La, Lalalala, Lalala” Wir sind schlecht gelaunt. Für Ihre Geschmackspolizei Freiburg, Benno Burgey


kino

Diese verrückte Freude Aberwitzige Reise durch den Wahnsinn in- und auSSerhalb von Anstaltsmauern

Die Überglücklichen Italien 2016 Regie: Paolo Virzì Mit: Valeria Bruni Tedeschi, Micaela Ramazzotti u.a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 118 Minuten Start: 29.12.2016

Fotos: © Neue Visionen

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as abgrundtief tragische und traurige Ereignis, das Beatrice und Donatella zusammenführt, wird im Vorspann nur angedeutet: In unterbrochenen Sequenzen ist da eine sichtlich verzweifelte Donatella zu sehen, die, von unsichtbaren Kräften getrieben, über eine Eisenbahnbrücke rennt – mit einen Kinderwagen, in dem ein kleiner Junge sitzt. Zwar verbirgt ein vorbeirasender Zug zunächst die weiteren Ereignisse. Doch schon wenige Minuten nach Beginn des Films werden sie offensichtlich: Da landet die junge Frau nämlich in einer psychiatrischen Klinik – in der Villa Biondi, einem einstmals hochherrschaftlichen Landhaus in der Toskana. Und findet sich in den Fängen der extrem extrovertierten Beatrice wieder, die sich durch nichts davon abbringen lässt, sich um die fast schon autistisch in sich gekehrte, am Boden zerstörte Donatella zu kümmern. Was an deren erbärmlichen Zustand erst einmal nichts ändert: Genervt von den Allüren und unaufhörlichen Wortkaskaden der einstigen Gräfin, die von ihrer Familie wegen ihrer bipolaren Störung und ihres unstandes­gemäßen Lebenswandels in die Casa Biondi gesteckt wurde, verschließt sie sich noch mehr. Irgendwann findet die neugierige, manisch optimistische und lebenshungrige Aufschneiderin dann aber

von Erika Weisser doch einen Zugang zu der tief betrübten Zimmergenossin. Mehr Zugang jeden­falls als die Psychiatrie-Profis, die sich auch gar nicht so sehr um die schwer traumatisierte Patientin bemühen. Sie findet heraus, was auf der Brücke geschah. Und dass Donatella nach dem dort versuchten Selbstmord das Sorgerecht für ihren Sohn entzogen wurde und dieser von einer „intakten“ Familie adoptiert wurde. Sie will das Kind unbedingt finden – und bietet Beatrice damit einen unverhofften Vorwand, ihre längst gehegten Fluchtpläne in die Tat umzusetzen. Durch einen glücklichen Zufall gelingt es den beiden ungleichen Freundinnen eines Tages tatsächlich, abzuhauen – und sich in den Wahnsinn außerhalb der Anstalts­ mauern zu stürzen. Dabei erweist sich Beatrice mit ihren vielfältigen Beziehungen und ihrer ansteckenden Heiterkeit als unerschöpflicher Motor ihres wilden Road-Trips durch die Toskana. Denn sie schreckt dabei weder vor Urkundenfälschung noch vor Zechprellerei oder gar Autodiebstahl zurück. Auf dieser herrlich aberwitzigen Reise finden die beiden Frauen immer mehr zueinander – und schließlich sogar den Schlüssel zu einem Ausweg aus Donatellas Tragödie.


Kino Das unbekannte Mädchen

Foto: © temperclayfilm

Belgien/Frankreich 2016 Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne Mit: Adèle Haenel, Fabrizio Rongione u.a. Verleih: temperclayfilm Laufzeit: 106 Minuten Start: 15.12.2016

Eine schöne Bescherung

Foto: © Arsenal Filmverleih

Schweden 2015 Regie: Helena Bergström Mit: Robert Gustafsson u.a. Verleih: Arsenal Laufzeit: 108 Minuten Start: 22.12.2016

Einfach das Ende der Welt

Foto: © Shayne Laverdière, Sons of Manual

Kanada/Frankreich 2016 Regie: Xavier Dolan Mit: Gaspard Ulliel, Marion Cotillard u.a. Verleih: Weltkino Laufzeit: 95 Minuten Start: 29.12.2016

Verschlossene Türen

Keine stille Nacht

Grenzen der Kommunikation

(ewei). In der Haut der jungen Ärztin Jenny mag man nicht stecken: Um ihren Praktikanten zu disziplinieren, hinderte sie ihn daran, die Tür der Praxis zu öffnen, als es dort kurz nach Feierabend klingelte. Und am anderen Tag stellt sich heraus, dass es jemand war, der dort offenbar Hilfe gesucht hatte: Ganz in der Nähe wird die Leiche einer sehr jungen, nicht zu identifizierenden schwarzen Frau gefunden – der Frau, die Jenny in der Aufzeichnung der Überwachungskamera an der Praxistür wiedererkennt. Die Bestürzung über ihr Versagen, die heftigen Gewissensbisse über ihre unterlassene Hilfeleistung lassen Jenny bald nur noch ein Ziel verfolgen: herauszufinden, wer das Mädchen war und wie es zu Tode kam. Zwar stößt sie bei ihren Recherchen auf verschlossene Türen, doch dank ihrer Beharrlichkeit gelingt es ihr, eine Spur zu finden, die zu Menschenhändlern führt. Ein emotional starkes Meisterwerk der Brüder Dardenne mit einer großarti­ gen Hauptdarstellerin: Adèle Haenel.

(ewei). Simon und Oscar sind ein Paar. Da sie gerade ein Haus gekauft und endlich viel Platz haben, laden sie ihre Familien zum gemeinsamen Weih­ nachts­abend in ihr neues Heim ein. Sie haben auch eine besondere Weihnachtsüberraschung für ihre Eltern, die der Einladung spürbar widerstrebend gefolgt sind und bald eine derart homophobe Stimmung verbreiten, dass die beiden Gastgeber nicht den Mut aufbringen, das Geheimnis dieses besonderen Geschenks zu lüften: den Grund für die Anwesenheit ihrer hochschwangeren „besten Freundin“ Cissi zu benennen. Dieser wird indessen das unentschlossene Versteckspiel bald zu viel; sie sorgt für eine vorzeitige Bescherung – und löst damit ungeahnte Turbulenzen aus. Eine ziemlich skandinavische Humoreske mit trefflicher Situations­ komik, die schon vor dem Kinostart als Weihnachts-Special der Schwulen Filmwoche im Kandelhof zu s­ ehen ist: Montag, 19.12.16, 20.30 Uhr. Mit Weihnachtsbrötchen, Glühwein und Punsch.

(ewei). Louis ist schwer krank. Und zu jung zum Sterben. Nach mehr als 12 Jahren Abwesenheit von seiner Familie besucht der 34-jährige erfolgreiche Theaterautor deshalb Mutter, Schwester und Bruder samt der ihm bisher unbekannten Schwägerin Catherine, um sie auf das bevorstehende Unabwendbare persönlich vorzubereiten. Und sie noch einmal zu sehen. Denn er fühlt sich ihnen verbunden, trotz aller Distanz. Es wird ihm jedoch nicht gelingen, die Verbindung herzustellen. Denn die Familie lässt ihn nicht zu Wort kommen, überzieht ihn mit Vorwürfen, mit Aggressionen, mit Schuldzuweisungen für eigene Unzulänglichkeiten, für das eigene Unglück. Bald erweist sich, dass sie alle völlig unfähig sind, miteinander zu sprechen – und es noch nie waren. Immer wieder scheitert die mühsame Kommunikation, endet in Geschrei, Gebrüll, in Weinen: im schmerzvollen Ruf nach Liebe und Anerkennung. Ein beklemmendes Kammerspiel – Gewinner des Großen Preises der Jury der Filmfestspiele von Cannes 2016.


kino Der Glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki

Foto: © Piffl Medien

voll von der Rolle

Die Blumen von gestern

Kein glückliches Ende in Sicht: Adèle Haenel und Lars Eidinger

Kinotour gegen den Hass (ewei). Der Film „Die Blumen von gestern“ kommt am 12. Januar in die Kinos. In Freiburg ist diese aufwühlende Tragikomödie über die Auswirkungen des Holocaust auf Leute von heute jedoch schon am 5. Januar zu sehen: Da startet im Harmonie-Kino die von Regisseur Chris Kraus und den Darstellern Lars Eidinger und Hanna Herzsprung begleitete Premierentour durch 12 Städte. Eröffnet wird die Premiere mit dem exklusiven und live im Internet gestreamten Auftritt eines hiesigen Poetry-Slammers; seine Texte sollen, ganz im Sinne der mitwirkenden Aktion #SlamHilft, dazu beitragen, dass Hass und Hetze eingedämmt werden: 88 Cent pro Slam-Streaming-Minute gehen an das Internet-Portal #HassHilft, das Hasskommentare im Netz aufspürt und diese in Spenden umwandelt – etwa an EXIT-Deutschland, einen Verein zur Hilfe beim Ausstieg aus der rechten Szene. In dieser Szene ist der Film zwar nicht angesiedelt, hat aber viel mit ihren Vorbildern zu tun. Und damit, wie sich eine solche Szene gebärdet, wenn sie an der Macht ist. Und damit, wie die Folgen der von alten und neuen Nazis propagierten und praktizierten Ausgrenzung bis in die heutige Gesellschaft reichen. Am Beispiel des bei der Ludwigsburger Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen beschäftigten Holocaust­ forschers – und Täter-Enkels – Totila Blumen (Lars Eidinger) und seiner aus Frankreich angereisten Praktikantin – und Opfer-Enkelin – Zazie Rosencranz (Adèle Haenel) zeigt der Film die vielfach anhaltende Unfähigkeit, unvoreingenommen mit sich und anderen umzugehen. Mit bitterem Witz, aber nie verharmlosend. 3 x 2 Eintrittskarten zu gewinnen: #SlamHilft-Premiere am Donnerstag, 5. Januar 2017, 19.30 Uhr im Kino Harmonie. E-Mail an: gewinnspiel @chilli-online.de, Stichwort: BlumenMedien

Foto: © Camino

Finnland 2016 Regie: Juno Kuosmanen Mit: Jarkko Lathi, Oona Airola u.a. Verleih: Camino Laufzeit: 92 Minuten Start: 5.1.2017

Foto: © Majestic

Deutschland 2016 Regie: Robert Thalheim Mit: Henry Hübchen, Antje Traue u.a. Verleih: Majestic Laufzeit: 90 Minuten Start: 26.1.2017

Ein glücklicher Verlierer

Undercover im Niemandsland

(ewei). Olli Mäki, ein vielversprechen­ der Leichtgewichtsboxer aus dem nordfinnischen Dorf Kokkola, bekommt zu Beginn der 1960er Jahre die Chance seines Lebens: Er soll in Helsinki gegen den amtierenden, bislang unbesiegten Weltmeister Davey ­Moore aus den USA kämpfen – und selbst Weltmeister werden. Das will zumindest der ehrgeizige Trainer Elis Ask erreichen. Stets auf den eigenen Vorteil bedacht, kümmert er sich um den Erfolg des freundlichen, schüchternen und frisch verliebten Olli. Doch dem wird der von Ask aufgebaute Medienrummel bald zu viel – die Rolle des von sich selbst überzeugten, siegesgewissen und zu allem entschlossenen Kämpfers liegt ihm gar nicht. Und von seinem „glücklichsten Tag im Leben“ hat Olli eine ganz andere Vorstellung als der Manager. Denn sein glücklichster Tag ist der Tag seiner Niederlage gegen Moore: Er kauft nämlich den Verlobungsring für seine Freundin Raija. Und sie sagt ja. Und sie sind heute noch zusammen. Ein märchenhaft schöner Film.

(ewei). Als Mitarbeiter des BND unerwartet bei dem längst im Ruhestand lebenden ehemaligen DDR-Spion Jochen Falk auftauchen, um ihn unauffällig einer höchst geheimen Mission im fernen Katschekistan zuzuführen, versucht es dieser erst einmal mit Flucht. Vergeblich: Zwar schafft er es mit Mühe auf eine Brücke, doch als er sich in atemloser James-Bond-Manier über das Geländer schwingen und auf einen darunter durchfahrenden Zug fallen lassen will, machen die Gelenke nicht mit. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als auf den Deal einzugehen. Widerwillig zieht er zusammen mit drei alten Kampf­ genossen und einer jungen Aufpasserin in das aus früheren Einsätzen bestens bekannte Operationsgebiet. Das geheim­ dienstliche Quartett soll dort zwei Leute befreien, die in die Hände von Rebellen gerieten: Falks ehemaligen Widersacher Frank Kern und den von diesem ins Land zurückgeschmuggelten künftigen katschekischen König. Es beginnt ein skurriles und witziges Abenteuer mit Anklängen an Tim und Struppi.


DVD Gestrandet Deutschland 2016 Regie: Lisei Caspers Dokumentarfilm Studio: Pandora Film Home Laufzeit: 80 Minuten Preis: ca. 15 Euro

Julieta

Maggis Plan Spanien 2015 Regie: Pedro Almodóvar Mit: Emma Suárez, Adriana Ugarte u.a. Studio: Tobis Laufzeit: 100 Minuten Preis: ca. 15 Euro

USA 2015 Regie: Rebecca Miller Mit: Greta Gerwig, Julianne Moore u.a. Studio: Sony Pictures Home Entertainment Laufzeit: 95 Minuten Preis: ca. 15 Euro

An der Nordseeküste

Zu viele Wendepunkte

Planlose Planung

(ewei). Für die Bewohner des ostfriesischen 1500-Seelen-Dorfes S ­ trackholt beginnt das Jahr 2014 anders als sonst. Eine kleine Gruppe eritreischer Flücht­ linge ist angekommen, um hier den Ausgang ihrer Asylverfahren abzuwarten. Ein paar Dorfbewohner nehmen sich der fünf Männer und ihrer Integration an – mit Deutschunterricht, Ämtergängen und selbst gebackenem Kuchen. Doch die Mühlen der Behörden mahlen langsam, das ewige Warten zehrt an den Nerven aller Beteiligten. Ein kluger, engagierter Film.

(ewei). Julieta lebt mit ihrem Lebensgefährten in Madrid, hat aber vor, nach Portugal zu ziehen. Kurz vor der Abreise bekommt sie ein Lebenszeichen von ihrer Tochter Antia, die sie vor vielen Jahren einfach verließ und nach der sie lange gesucht hatte. Zwar hatte sie geglaubt, den Verlust überwunden zu haben, doch nun reißen alte Wunden auf: Julieta verschiebt den Umzug und begibt sich auf eine großartig inszenierte Reise in ihre Vergangenheit, an die vielen Wendepunkte, die wohl zum Bruch mit der Tochter führten.

(ewei). Die leicht stadtneurotische Maggie plant, sich per Samenspende vom Alleinsein zu befreien. Doch als sie gerade dabei ist, sich in den Zustand der Schwangerschaft zu versetzen, klingelt der (verheiratete) John an ihrer Tür. Ein paar Tage zuvor hat sie sich in ihn verliebt – und wird nach der konventionellen Methode Mutter. Und bald darauf Johns Ehefrau. Doch dann knistert es in der Ehe – und zwischen John und seiner früheren Frau auch. Und Maggie hat schon wieder einen Plan ...

Verräter Wie wir Großbritannien 2015 Regie: Susanna White Mit: Ewan McGregor, Naomi Harris u.a. Studio: ArtHaus Laufzeit: 107 Minuten Preis: ca. 12 Euro

Zornige Indische ­Göttinnen

Tangerine L.A.

Indien, Deutsch­land 2015 Regie: Pan Nalin Mit: Sarah-­Jane Dias u.a. Studio: EuroVideo Medien Laufzeit: 104 Minuten Preis: ca. 12 Euro

USA 2015 Regie: Sean Baker Mit: Kitana Kiki Rodriguez, Mya Taylor u.a. Studio: good!movies Laufzeit: 87 Minuten Preis: ca. 14 Euro

Seele und Arm der Mafia

Ende einer Abschiedsfeier

Schrille Weihnachten

(ewei). Der Milliardär Dima ist die Seele der russischen Mafia. Sein Spezialgebiet: Geldwäsche. Da er aber mächtige Feinde hat und das Überleben seiner Familie sichern muss, lässt er sich auf einen Deal mit dem britischen Geheimdienst ein: Im Tausch gegen ein sicheres Leben in England bietet er sein Insider-Wissen an. Doch der Arm seiner mafiösen Gegenspieler reicht weit. Auch weit in den Westen. Ein temporeicher, spannender Thriller auf der Grundlage von John Le Carrés gleichnamigem Bestseller.

(ewei). Freida feiert Abschied von ihrem Jungesellinnendasein. Dazu lädt sie sechs beste Freundinnen in ihr Strandhaus in Goa ein, gibt aber nicht preis, wer nun der (oder die?) Glück-­ liche ist, den sie zu heiraten gedenkt. Nach anfänglichem Erstaunen über die eine oder andere Gästin finden die Frauen dann doch zu Feierlaune und Ausgelassenheit. Bis genau das passiert, was Frauen immer wieder passiert. Nicht nur in Indien. Ein eindrücklicher Film über die Grenzen der Selbstbestimmung.

(ewei). Auf dem Straßenstrich in Los Angeles bahnt sich ein stürmischer Weihnachtsabend an. Die leicht erregbare Transe Sin-Dee Rella kommt gerade aus dem Knast, als sie von ihrer Kollegin und besten Freundin Alex­ andra erfährt, dass ihr Freund und Zuhälter sie mit einer echten Frau betrogen hat. Sin-Dee rastet aus und jagt mit Alexandra durch die abenteuerliche Transgender-Szene Hollywoods, um den Missetäter zur Rede zu stellen. Ein schrilles und raues Filmfeuerwerk, nur mit dem iPhone gedreht.

Dezember 2016 / Januar 2017 chilli Cultur.zeit 75


Literatur Lesetipps

Auf Empfehlung von Experten Freiburger Übersetzer über ihre jüngsten Lieblingswerke zusammengestellt von Erika Weisser

Maya Überle-Pfaff: Am Anfang des Wie der Atem in uns Romans steht eine Katastrophe: „Im Somvon Elizabeth Poliner mer 1948 starb mein Bruder Davy bei eiDumont, 2016 nem Unfall ...“ Nach diesem Sommer an der amerikanischen Ostküste zerfällt das Leben der jüdischen Großfamilie Leibritsky in ein Vorher und ein Nachher. Fünfzig Jahre später macht sich Davys ältere Schwester Molly auf die Suche nach den „Puzzleteilen der Vergangenheit“. Wie sie das tut, ist spannend, tiefgründig und geht unter die Haut. Klaus Peter Arnold: Joseph Nasi ist Altai ein Sprössling einer einflussreichen jüdivon Wu Ming schen Familie, die von der iberischen HalbAssoziation, 2016 insel vertrieben wurde und über die Niederlande und Venedig nach Konstantinopel kam. Er hat den Traum, seinem über ganz Europa verstreuten Volk eine neue Heimat zu verschaffen: Die Insel Zypern, deren Eroberung durch die Türken er mit allen Mitteln unterstützt. Ein äußerst aktueller historischer Roman über Identität und Toleranz. Tagebuch eines Beate Thill: Die wahre Heimat eines Schriftstellers im Pyjama Schriftstellers, findet Dany Laferrière, ist von Dany Laferrière seine Büchersammlung – nicht das Land, Wunderhorn, 2015 in dem er zufällig geboren wurde. Denn das Lesen öffnet einen sehr persönlichen Raum, in den keine Macht eindringen kann. In diesem Raum finden seine „Sonntage des Lebens“ statt, die er „im Pyjama“ mit Lesen verbringt. Und Geheimnisse verrät – etwa über die Einflüsse anderer Autoren auf sein Schreiben.

Cornelia Holfelder-von der Tann: Peripherie Eine Zeitreise zwischen verschiedenen Zuvon William Gibson künften: Flynne lebt vor der ökologischen Klett-Cotta, 2016 Apokalypse, genannt der „Jackpot“, Wilf danach. Als vor Flynnes Augen ein Mord geschieht, kommen beide mittels origineller Peripheriegeräte miteinander in Kontakt. Das Buch ist ungewöhnlich, schräg, klug, unkitschig und obwohl es eine Gesellschaftsdystopie ist, geht es noch nicht mal schlecht aus, soviel sei verraten. 76 chilli Cultur.zeit Dezember 2016 / Januar 2017

Michael Mundhenk: Als Dave Mitte Oktober seiner wegen der 67 noch verbleibenden Einkaufstage hochgradig nervösen Frau Morley verspricht, sich zum Fest um den Truthahn zu kümmern, begeht er einen folgenschweren Fehler. Es wird ihm nämlich erst spät am Heiligabend klar, dass er den Vogel nicht nur in den Ofen schieben, sondern ihn auch kaufen und vorbereiten muss – und so gerät seine Welt für die nächsten 24 Stunden völlig aus den Fugen.

Dieses Jahr schenken wir uns nichts von Stuart McLean Atlantik, 2015

Judith Elze: „Calm“ ist ein wunderbares Anti-Stressbuch; es entfacht die Krea- Calm tivität und sorgt für kleine Lacher und von Michael Acton Smith Aha-Effekte. Es zeigt, wie man sich im Knaur, 2016 Hamsterrad des Alltags Ruheinseln schaffen kann. Lesend, schreibend und malend lernt man, Beziehungen bewusst zu genießen, mit Meditation zu sich zu finden, Essen und Trinken als Genuss zu begreifen und mit Musik, Kunst, Literatur und Naturbetrachtung zur Ruhe zu kommen. Anne Braun: Die

kleine Scarlet hat eine ungewöhnliche musikalische Begabung und kann fast alle Instrumente spielen. Sie lebt mit ihrer Großtante und ihrem geliebten Kater in einem multi­ kulturellen Wolkenkratzer in der magischen Wolkenstadt. Als ihr Kater plötzlich verschwindet, stellt sie fest, dass auch alle anderen Katzen im Haus verschwunden sind. Eine fantasievolle Geschichte um Magie, Freundschaft und Poesie.

Ulrich Pröfrock: Der Comic präsentiert das Treiben der menschlichen Fauna an einem beliebigen Sommertag an einem beliebigen Badeort am Meer. Dabei treten die Autoren nicht als handelnde Personen auf, begleiten das Ganze aber als allgegenwärtige Zaunanstreicher. Ihr Blick auf all die Absonderlichkeiten zwischen Campingplatz und Strand ist präzise, allumfassend, ironisch, böse – aber nie bösartig. Ein kleines Meisterwerk!

Scarlett und der Zauberschirm von Cerrie Burnell Fischer KJB, 2016

Rein in die Fluten von Prudhomme und Rabaté Reprodukt, 2016


FRezi

Hier können sie im Kreis gehen

von Frédéric Zwicker Verlag: Nagel & Kimche, 2015 120 Seiten,gebunden Preis: 20 Euro

Rechts um! Wie Europa abgewählt wird

von Roland Androwitzer Verlag: Styria, 2016 224 Seiten, gebunden Preis: 24,90 Euro

Immer denk ich deinen Namen

von Evelyn Grill Verlag: Haymond, 2016 139 Seiten, gebunden Preis: 17,90 Euro

Schönes Schelmenstück

Düstere Bestandsaufnahme

Erschriebene Fluchtwelt

(ewei). Dieses Mal kam ein Schweizer zur Veranstaltungsreihe Zwischen­ miete des örtlichen Literaturbüros in eine Freiburger WG: Frédéric Zwicker aus Lausanne. Und er brach­ te einen 91-Jährigen mit. Oder besser: dessen Geschichte, auf die er während seines Zivildienstes im Pflegeheim stieß und die er aus den Besonderheiten mehrerer Heim­ bewohner zusammensetzte. Ein schönes, lebendig und feinfühlig geschriebenes Schelmenstück ist daraus geworden. Ein Stück, das nicht nur den bei Zwickers Lesung anwesenden jüngeren Zuhörern viel­versprechende Aussichten auf das unweigerlich bevorstehende eigene Altersdasein eröffnet. Denn der Protagonist, Herr Kehr, führt auch im Pflegeheim ein selbstbestimmtes Leben. Nach dem Tod seiner Frau hat er sich freiwillig dort angemeldet, hat zur Beschleunigung der Aufnahme Demenz vorgetäuscht. Und nutzt diese nun kräftig aus, um die Desserts seiner Tisch­nachbarn aufzuessen, treffende, aber unerhörte Kommentare über die Pfleger in die Runde zu werfen oder die Gehhilfen von Mitbewohnern zu verstecken, vor denen er in Ruhe gelassen werden will. Mit einer gewissen Durchtriebenheit und Schrulligkeit gestaltet er seine letzten Jahre – ohne jemals zu missachten, was den Menschen ausmacht: seine Würde. Und sein Lachen.

(ewei). Dieses Buch ist das Resultat akribischer journalistischer Arbeit: In ihren „Arbeitsländern“ Deutschland, Frankreich, Schweiz, Niederlande, Großbritannien, Ungarn, Polen, Russland und Skandinavien untersuchten Auslandskorrespondenten des österreichischen Senders ORF die Ursachen für das Erstarken der jeweiligen rechtspopulistischen Parteien. Zeitnah zum Ergebnis des britischen Brexit-Referendums, der TrumpWahl in den USA und der gerade noch einmal glimpflich ausgegangenen Wahl des österreichischen Bundespräsidenten erschienen, liefert es eine emotionslose, düstere Bestandsaufnahme eines Phänomens, das längst keines mehr ist. Denn ob FN in Frankreich, PVV in den Niederlanden oder AfD in Deutschland: Das Dasein als nationale Rand-Erscheinung haben die nationalen Strömungen hinter sich gelassen und sind „in der Realität angekommen“, wie das Kapitel über Höke, Gauland, Petry & Co. betitelt ist – und nachweist. Bei Wahlen legen sie kontinuierlich zu, stellen in Ungarn und Polen gar die Regierungschefs und sind – trotz harten Anti-Europa-Kurses – im EU-Parlament vertreten. Die Hintergründe für diese Erfolge sind umfassend und gut verständlich dargestellt in diesem Werk, das allein schon wegen der Zusammenschau ein wichtiger Beitrag zum Thema Rechtsruck in Europa ist.

(ewei). „Ich lebe ja von dem Traum, dass du mich liebst.“ Mehr als 30 Jahre, nachdem Adrian seine Frau Nadine mit derlei poetischen Zitaten für sich gewonnen hatte, erinnert er sich plötzlich an das Gedicht mit diesem Vers. Und träumt davon, es noch einmal einer Frau vorzutragen, die es verstehen würde – und damit ihn selbst. Denn zwischen Adrian und Nadine gibt es kein Verstehen mehr, nicht einmal Verständnis. Und auch keine Liebe. Sie sind zusammen geblieben, der schwierigen Kinder, vielleicht auch der Bequemlichkeit wegen. Und weil bei Nadine eines Tages eine tödliche Krankheit diagnostiziert wurde. Während einer Reise nach Prag begegnet der Hochschullehrer aus Süddeutschland der erträumten Frau, doch sie, die mehr als 20 Jahre jüngere Lyrikerin Vera, steckt wie er selbst in einem unerfreulichen ehelichen Gefängnis. Daran gehindert, zueinander zu kommen, schreiben sie sich Briefe. Wöchentlich, täglich, manchmal stündlich – ohne sich ein einziges Mal wieder zu begegnen. Besessen, geradezu süchtig, erschreiben sie sich eine Fluchtwelt, in der nur ihre zwar gleichfalls erschriebene, doch unaufhaltsame Liebe von Bedeutung ist, in der die wenig romantische Realität zur Nebensache wird. Ein treffliches Beziehungspsycho­ gramm der in Freiburg lebenden Autorin.

Dezember 2016 / Januar 2017 chilli Cultur.zeit 77


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