HEFT NR. 2/22 11. JAHRGANG
LIEDERMACHERIN LAURA BRAUN
STEINREICH
AUF DEN SPUREN DER ERSTEN MÜNSTERSTEINE
VIElSTIMMIG
CINE-LATINO 2022 FOKUSSIERT DIE ANDEN
LEHRREICH
RUDOLF SCHÖNWALD ERZÄHLT SEIN LEBEN
KULTUR
Erste Stolpersteine: In der Hochburg bei Emmendingen entdeckte das Forschungsteam Sandsteine, die denen in den romanischen Querhäusern des Freiburger Münsters verbauten ähneln.
Die Spur der Steine
NEUE ERKENNTNISSE ÜBER DIE HERKUNFT DER ERSTEN MÜNSTERSTEINE
s gibt wohl kaum einen Zweifel darüber, dass das Münster das älteste und größte Kulturwerk Freiburgs ist. Mehr als 20.000 Kubikmeter Sandstein wurden in rund 300 Jahren verbaut – innerhalb der zeitgeschichtlichen Epoche des Mittelalters und während mehrerer kunsthistorischer Epochen: von der Spätromanik bis zur Renaissance. Um das Jahr 1200 wurde mit dem Bau begonnen, vollendet war das Werk 1513. Über die Herkunft der Steine gibt ein neues Buch erstaunliche Auskunft. Seit 500 Jahren steht das Münster also an seinem Platz und hat viele gute und schlechte Zeiten überstanden. Der Stoff, aus dem es ist, hat freilich schon viel mehr Jahre „auf dem Buckel“, wie der Geologe Wolfgang Werner sagt:
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Der Sandstein, der in großen Mengen an der Westabdachung des Schwarzwalds zum Oberrheingraben und besonders unter den Buckeln der Vorberge um Emmendingen vorkommt, ist vor mehr als 250 Millionen Jahren entstanden. Werner war so etwas wie der Koordinator des Buchprojekts, an dem ein fünfköpfiges Forschungsteam zwei Jahre lang arbeitete – auf Anstoß der früheren Münsterbaumeisterin Yvonne Faller. Bei einer Wanderung zur Hochburg erzählt ihre Nachfolgerin Anne-Christine Brehm, sei ihm aufgefallen, dass die dort verbauten gelben und gelb gemaserten Sandsteine denen an den spätromanischen Querhäusern „auffallend ähnelten“. Bei mehreren gemeinsamen
Fotos: © Erika Weisser, Hubert Gemmert
E
von Erika Weisser
Exkursionen zu längst stillgelegten Steinbrüchen in dem der Burg vorgelagerten Hornwald bei Sexau habe sich der „starke Verdacht“ erhärtet, dass die ersten und ältesten Münsterbausteine von hier stammen könnten.
Quarzfarben bis gelb gemasert: In den Sexauer Steinbrüchen (o.) wurden die ersten Steine für den Freiburger Münsterbau gebrochen.
Mit von der Partie war auch der Steinmetz und Hüttenmeister Uwe Zäh, der gleichfalls zu den Autoren des Buchs gehört. Zusammen mit Wolfgang Werner hat er später einen größeren Steinquader aus dem ehemaligen Burgsteinbruch gebrochen – natürlich mit behördlicher Genehmigung. Nun liegt der Block, der alle farblichen Varianten und Maserungen von hell quarzfarben bis Gelb aufweist, im Hof der Freiburger Münsterbauhütte. Eine Dünnschliffprobe, ist von Anne-Christine Brehm zu erfahren, könnte letzte Zweifel an der Übereinstimmung der Herkunft ausräumen. Doch dafür müsste man vergleichbare Steine aus dem Bau herausbrechen – ein Ding der Unmöglichkeit. Schriftliche Quellen, sagt die Architekturhistorikerin, gebe es bis auf eine Wegerechtsurkunde zum Tennenbacher Tal leider auch nicht. So oder so hätte das Münster „auf jeden Fall einen Platz auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes verdient“: In der Architekturgeschichte spiele das Bauwerk eine bedeutende Rolle – weltweit finde man viele gotische Kirchbauten, die insbesondere in der Turmhelmgestaltung dem Freiburger Beispiel folgen. Bis heute. Immerhin, freut sie sich, ist seit Ende 2020 das Bauhüttenwesen als Immaterielles Kulturerbe eingestuft – auch das oberrheinische. Und genau in einer dieser Bauhütten ist man nun auf die neue Spur der Steine gekommen.
Die Steine für den Münsterbau von Anne-Christine Brehm, Wolfgang Werner u.a. Verlag: Rombach, 2022 248 Seiten, broschiert Preis: 24,90 Euro
Foto: © privat
„Zweitbeste Lösung“
3 FRAGEN AN Holger Thiemann Chef des Freiburger Stadtjubiläums
Am 5. April soll der Gemeinderat über die Verwendung der rund 350.000 Euro entscheiden, die beim Stadtjubiläum sozusagen übriggeblieben sind. In einem interfraktionellen Antrag (aller außer AfD und FW) wird gefordert, einen „Kultursommer 2022“ auf die Tagesordnung zu setzen, für den das Geld eingesetzt werden soll. cultur.zeit: Herr Thiemann, schmerzt es eigentlich, wenn das Jubiläumsgeld nun in einem Festivaltopf verkocht werden soll? Thiemann: Nein, gegen die Unterstützung von Festivals kann man als Kulturmensch ja nichts haben. Aber es ist in meinen Augen nur die zweitbeste Lösung. Die übriggebliebenen Gelder waren für Projekte des Stadtjubiläums gedacht und diese bezogen sich nicht nur auf den Kulturbereich, sondern waren natürlich auch für andere Aktionsfelder gedacht. Es sollte ein Stadtjubiläum sein und kein Kulturjubiläum. cultur.zeit: Welche geplanten, aber nicht realisierten Projekte beim Stadtjubiläum könnten mit diesem Geld noch gemacht werden? Thiemann: Wir mussten in der Pandemie in erster Linie auf einige Großprojekte verzichten. Nachholen ließe sich etwa der Mittsommernachtstisch, die stadtübergreifende Freiburger Dance Week, der Boulevard des Bürgerschaftlichen Engagements, auch ein sportliches Großereignis wie das MTB-Enduro-Rennen, das Installationsprojekt am Dreisamufer, das jährlich oder auch nur alle zwei Jahre durchgeführt werden könnte, oder ein nächstes Münster-Mapping. Alle könnten eine Unterstützung gut gebrauchen! cultur.zeit: Inwiefern mischen Sie sich – sozusagen noch als Vater dieses Geldes – im Vorfeld der Entscheidung noch ein? Thiemann: Überhaupt nicht. Mein Vertrag mit der Stadt endete am 30.9.2021. Damit war das Kapitel Stadtjubiläum (fast) abgeschlossen und zumindest meine Arbeit beendet. Die Fragen stellte: Lars Bargmann MÄRZ 2022 CHILLI CULTUR.ZEIT 39
KINO
Zerstörte Träume
ASGHAR FARHADI THEMATISIERT DIE FOLGEN EINES EINZIGEN FEHLTRITTS MIT GROSSER EMOTIONALER WUCHT
Iran 2021 Regie: Asghar Farhadi Mit: Amir Jadidi, Mohsen Tanabandeh, Sarina Farhadi, Saleh Karimai u.a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 127 Minuten Kinostart: 31. März 2022
I
Rahim Soltani hat immer Pech gehabt. Als er versuchte, sich als Kalligraph und Maler selbstständig zu machen, geriet er auf der Suche nach einem Kredit an die falschen Leute. Da er die Wucherzins-Forderungen dieser „Kredithaie“ nicht erfüllen konnte, verlor sein Schwager und Bürge Braham sein ganzes Vermögen, darunter die Mitgift für seine Tochter Nazanin. So wurde Braham zu Rahims unnachgiebigem Gläubiger, Nazanin zu seiner erbitterten Feindin, und die Ehefrau trennte sich wegen der verlorenen Familienehre von ihm. Er selbst wanderte ins Gefängnis. Nun hat er zwei Tage Freigang für dringende Erledigungen, dabei kommt er bei seiner Schwester Malileh unter. In deren Familie lebt auch sein Sohn Siavash, der an einer starken Sprechstörung leidet. Zusammen mit Malilehs Mann Hossein versucht Rahim, seinen ehemaligen Schwager davon zu überzeugen, die Bezahlung eines Teils der Schulden zu akzeptieren. Doch Braham will nichts davon wissen: Alles oder nichts und sofort, ist seine Forderung. Was niemand weiß: Rahim
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hat eine heimliche Freundin, Siavashs Logopädin Farkondeh. Und die hat unlängst eine Tasche mit Goldmünzen gefunden, von denen die beiden hoffen, sie für einen guten Preis verkaufen zu können, um die Schulden zu tilgen. Doch der Goldpreis ist stark gefallen; Rahim entschließt sich, die Tasche mitsamt Inhalt an ihren Besitzer zurückzugeben. Noch vor seiner Rückkehr ins Gefängnis lässt er in der Nähe des Fundortes einen Aushang machen und hinterlässt die Tasche bei seiner Schwester. Diese übergibt sie bald darauf einer Frau, die sich bei ihr meldet – und dann spurlos verschwindet. Die Gefängnisleitung bekommt Wind von der guten Tat ihres Insassen und setzt, um von internen Missständen abzulenken, eine Medienkampagne um ihren „Helden des Alltags“ in Gang – Rahim wird zum gefeierten Vorbild, für dessen Entlassung eine gemeinnützige Organisation sogar Geld sammelt. Doch nicht genug, um Braham zufriedenzustellen; er bezeichnet Rahim weiterhin öffentlich als Betrüger. Und dann kommen die ersten Zweifel auf, verbreiten sich in Windeseile in den sozialen Medien. Und da er Farkondeh als wirkliche Finderin verschwiegen hat und die Taschenbesitzerin als Zeugin für seine gute Tat nicht auftreiben kann, verstrickt er sich zunehmend in Widersprüche. Schließlich tauchen Videos und E-Mails auf, in denen Rahim der Lüge bezichtigt wird. Mit der Folge, dass sich immer mehr Türen schließen. Am Ende sogar wieder die des Gefängnisses. Und zwar hinter ihm.
Fotos: © Neue Visionen
A Hero
n seinem neuen Film, der beim Filmfestival in Cannes 2021 mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, beweist Asghar Farhadi erneut sein feines Gespür für moralische Fallstricke in Familie und Gesellschaft: In einem fesselnden Drama zeigt er, wie schnell ein Mensch zum Helden aufgebaut wird – und wie schnell der kleinste Fehltritt und der geringste Zweifel ihn wieder zu Fall bringen und zerstören kann.
von Erika Weisser
KINO
COME ON, COME ON
BIS WIR FREI SIND ODER TOT
DAS EREIGNIS
Foto: © DCM
Foto: © Port au Prince
Foto: © Prokino
USA 2021 Regie: Mike Mills Mit: Joaquin Phoenix, Woody Norman u. a. Verleih: DCM Laufzeit: 109 Minuten Start: 24. März 2022
Schweiz 2020 Regie: Oliver Rihs Mit: Marie Leuenberger, Joel Basman u. a. Verleih: Port au Prince Laufzeit: 118 Minuten Start: 31. März 2022
Frankreich 2021 Regie: Audrey Diwan Mit: A. Vartolomai, S. Bonnaire u. a. Verleih: Prokino Laufzeit: 100 Minuten Start: 31. März 2022
Emotionaler Roadtrip
Ausbrecher als Freiheitsheld
Schwierige Entscheidung
(ewei). Der Radiojournalist Johnny arbeitet seit Längerem an einem Projekt, für das er durch die USA reisen will, um Kinder und Jugendliche jeglicher Herkunft über ihre Träume, Ängste und Zukunftserwartungen zu befragen. Kurz bevor er jedoch zu seiner Reportage aufbricht, muss er sich unerwartet um den neunjährigen Sohn seiner alleinerziehenden Schwester Viv kümmern. Das hat er bisher zwar auch hin und wieder getan und er kommt auch ganz gut mit dem ebenso aufgeweckten wie sensiblen Jesse zurecht. Doch es war immer nur für ein paar Stunden und immer nur in New York, wo die drei leben. Nun aber muss Viv für längere Zeit wegfahren – und Jesse war noch nie mehr als ein, zwei Tage von seiner Mutter getrennt. Johnny übernimmt diese ungewohnte Rolle und die völlig neue Verantwortung. Er nimmt den schwierigen Neffen mit auf seine Reise, die zu einem in jeder Hinsicht bewegenden Roadtrip wird, bei dem sich allmählich eine tiefe emotionale Bindung entwickelt.
(ewei). „Wir werden alles ändern. Alles“, sagt die engagierte Anwältin Barbara Hug. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, das „rückständige Justizsystem von Grund auf umzukrempeln“. Es sind die frühen 1980er-Jahre, und in der Schweiz liegt Rebellion in der Luft – Hausbesetzungen, Demos und Straßenkämpfe zwischen Polizei und linksautonomer Szene sind in Städten wie Zürich keine Seltenheit. Es kommt zu Festnahmen und Anklagen wegen Landfriedensbruchs. Bei den Prozessen übernimmt die idealistische Barbara die Verteidigung der jungen Rebellen und nutzt dabei das Gericht als Bühne für ihre Anklage gegen das verkrustete Strafvollzugssystem. Irgendwann wird der Industriellensohn und Berufskriminelle Walter Stürm ihr Mandant. Und sie fühlt sich bald zu dem gleichermaßen charmanten wie skrupellosen Ausbrecherkönig hingezogen. Als er erneut in Isolationshaft landet, wird der absolut prinzipienlose Mann für die linke Bewegung zum Symbol für die Freiheit und Würde des Einzelnen.
(ewei). Frankreich 1963: Die begabte und hoch motivierte Literaturstudentin Anne ist auf dem Weg in eine vielversprechende akademische Karriere. Auf einer Party lässt sie sich auf eine Liebesnacht ein – und wird prompt schwanger. Eigentlich müsste sie sich mit der neuen Realität abfinden: Schwangerschaftsabbruch ist strafbar. Doch Anne will ihr Studium beenden und sich dadurch auch aus der Enge ihrer sozialen Schicht und ihrer ländlichen Herkunft befreien. Und sie beschließt, zu handeln. Doch der Weg ist lang und schwer: Sie ist auf sich allein gestellt – sowohl bei der emotional nicht gerade einfachen Entscheidung als auch bei der Suche nach einer „Engelmacherin“. Zudem ist ihr klar, dass sie außer einer Gefängnisstrafe auch ihr Leben riskiert. Der bewegende, mit dem Goldenen Löwen 2021 ausgezeichnete Film ist mehr als ein Abtreibungsdrama: Wie der gleichnamige Roman von Annie Ernaux thematisiert er vor allem die Klassenunterschiede in der französischen Gesellschaft.
KINO DEATH OF A LADIES’ MAN
WO IN PARIS DIE SONNE AUFGEHT
DER WALDMACHER
Foto: © MFA
Foto: © Neue Visionen
Foto: © Weltkino
Kanada 2020 Regie: Matt Bissonette Mit: Gabriel Byrne, Jessica Paré u. a. Verleih: MFA Laufzeit: 101 Minuten Start: 7. April 2022
Frankreich 2021 Regie: Jacques Audiard Mit: Lucie Zhang, Makita Samba u. a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 105 Minuten Start: 7. April 2022
Deutschland 2021 Regie: Volker Schlöndorff Dokumentarfilm mit: Tony Rinaudo Verleih: Weltkino Laufzeit: 87 Minuten Start: 7. April 2022
Trost bei Frankenstein
Moderner Liebesreigen
Fruchtbare Wüste
(ewei). Eigentlich hat Samuel nur seine Brieftasche zu Hause vergessen. Und als er auf seinem Weg zum Flughafen umkehrt, um diese zu holen, ahnt er nicht, dass diese kleine Nachlässigkeit sein Leben auf den Kopf stellen wird. Als er nämlich seine Wohnung betritt, überrascht er nicht nur seine deutlich jüngere Ehefrau, sondern auch deren Liebhaber – in seinem Ehebett. Sie hält ihm ihrerseits seine unzähligen Seitensprünge in eben diesem Bett vor. Ein Wort gibt das andere – Samuel steht vor seiner zweiten Scheidung. Er sagt die geplante Dienstreise ab, verabredet sich stattdessen in einer Kneipe mit seinem Sohn. Doch der zeigt wenig Mitgefühl für den Vater, sucht eher nach dessen Verständnis für sein endlich offenbartes Schwulsein. Schon gut betrunken rettet er sich in eine Bar, wo er von seiner Tochter versetzt wird. Auf sie wartend, sucht er Trost bei einer Frankenstein-Figur. Zur Musik von Leonard Cohen stolpert er trinkend durch sein Leben – und stellt sich seinen Dämonen.
(ewei). Drei Frauen, ein Mann. Im 13. Arrondissement von Paris leben sie, dicht gedrängt, zwischen Sehnsüchten, Abenteuern, Dramen: Émilie schlägt sich nach ihrem Elite-Studium mit Gelegenheitsjobs durch, träumt von einer Beziehung und sucht einen Mitbewohner. Camille hat als junger Lehrer beruflich noch Illusionen, dafür keine in der Liebe – er wird Émilies Mitbewohner und Kurzzeit-Lover. Als seine beruflichen Illusionen platzen, versucht er sich als Immobilienmakler und stellt Nora ein. Die ist in die Stadt gekommen, um ihr JuraStudium wieder aufzunehmen. Doch bei einer Party trägt sie ahnungslos eine platinblonde Perücke, mit der sie dem Pornostar Amber Sweet, die eigentlich Louise heißt, zum Verwechseln ähnlich sieht. Bald kursiert ihr Bild mit entsprechenden Kommentaren in den sozialen Medien – Noras Traum vom sozialen Aufstieg ist ebenso zerstört wie ihre gerade beginnende Beziehung zu Camille. Dafür wird Louise zu ihrer Freundin – aber auch von Émilie und Camille.
(ewei). Vor 40 Jahren reiste der australische Agrarwissenschaftler Tony Rinaudo in den Niger. Mit dem Ziel, durch Aufforstung die voranschreitende Ausbreitung der Wüstengebiete zu verhindern und sie wieder nutzbar zu machen. Dadurch sollten wieder Ernteerträge erzielt und die Hungersnot der Menschen bekämpft werden. Nach gescheiterten Versuchen entdeckte er im Boden ein riesiges Wurzelwerk, aus dem es gelang, neue Bäume zu ziehen. Das Ergebnis: eine umfassende Begrünungsaktion und die Gewinnung von landwirtschaftlichen Flächen – mitsamt einem Umdenken in der Agrarproduktion, die auf kleinbäuerliche Anbauweisen umgestellt wurde. Nun kehrte Rinaudo zurück in die Sahelzone – zu den früheren Weggefährten und Wirkungsstätten, die auf Grundlage des „unterirdischen Waldes“ tatsächlich zu blühenden Landschaften wurden. Volker Schlöndorff begleitete ihn und schuf das einfühlsame Porträt eines Mannes, der sein Wissen und seine Fähigkeiten den Notleidenden zur Verfügung stellt.
KINO
Vielstimmige Autorenfilme
DAS CINELATINO-FESTIVAL 2022 LEGT DEN FOKUS AUF DIE ANDENLÄNDER UND DIE INDIGENEN VÖLKER LATEINAMERIKAS
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Fotos: © CineLatino
eit 20 Jahren ist der April der Festivalmonat des CineLatino in Freiburg. Und das Kommunale Kino der Austragungsort. Nur 2020 und 2021 wurden die Filme im Sommer gezeigt, beim Open-Air-Festival „Ins Weite“. Heuer kehrt dieses Forum für lateinamerikanische Autorenfilme in seinem traditionellen Monat an seinen angestammten Ort zurück. Vom 7. bis 14. April sind hier insgesamt 15 Filme zu sehen. Der regionale Schwerpunkt liegt in den Andenländern, thematisch geht es um „indigene Stimmen – Kämpfe um Sichtbarkeit und eine gerechte Welt“. Gleich drei Länder nimmt das CineLatino 2022 in den Blick: Ecuador, Bolivien und Peru, die, verbunden durch die Anden als längster Gebirgskette der Welt, viele kulturelle, ethnische und sprachliche Gemeinsamkeiten aufweisen. In den Filmen geht es um den Kampf ums alltägliche Überleben, um das oft sehr karge Leben zwischen dem Festhalten an Traditionen und dem Wunsch nach Veränderung und einem Leben in der Stadt sowie auch um die hiesigen Menschen nur schwer zugänglichen mystischen Welten der Andenbewohner·innen. Eröffnet wird das Festival am Donnerstag, 7. April um 19.30 Uhr mit einem Film, der all diese Aspekte thematisiert: Kiro Russos bolivianischschweizerische Produktion „El Gran Movimiento“, die beim Venedig Film Festival 2021 mit dem Spezialpreis der Jury in der Sektion Orrizonte ausgezeichnet wurde. Protagonist dieses Spielfilms ist der Bergmann Elder, der in die Hauptstadt La Paz reist, um dort
von Erika Weisser
gegen den Verlust seiner Arbeit in einer Mine zu kämpfen. Er hält sich mit einem Hilfsjob auf dem Markt über Wasser, entwickelt in dem infernalischen Kessel aus Menschen, Lärm und Farben jedoch zusehends Symptome einer seltenen Krankheit. Eine alte Frau schickt ihn zu einem bizarren Schamanen; ein halluzinogener Trip beginnt – eine mystische Erzählung am Rande des Fantastischen. Ganz realistisch geht es hingegen in „El Rugir del Marañón“ (13.4.) aus Peru zu: Diese Dokumentation zeigt, wie lebensnotwendig dieser Fluss für Menschen, Tiere und Vegetation entlang seines Laufs ist. Und welch fatale Folgen die Umsetzung der Pläne der peruanischen Regierung für ihre Lebensräume und das Mikroklima hätte: Am Rio Marañón sollen nämlich Staudämme gebaut und seine Wassermassen zur Energiegewinnung genutzt werden. Ebenfalls aus Peru kommt mit „Manco Cápac“, (10.4.) auch ein Film zum Themenfokus Indigene Stimmen: Anhand der Geschichte des jungen Elisban führt er vor Augen, mit welcher Feindseligkeit die „weiße“ Gesellschaft ihren oft in äußerst prekären Verhältnissen lebenden indigenen Landsleuten begegnet. Ein ganz anderes, wenngleich auch von Armut geprägtes Szenario ist in „Mato Seco em Chamas“ (9.4.) zu erleben. Dieser brasilianische Film, der bei der diesjährigen Berlinale seine Weltpremiere feierte, spielt in Sol Nascente, der größten Favela des Kontinents in der Nähe der Hauptstadt Brasília. Dort betreibt die furchtlose Chitara zusammen mit ihrer Schwester Léa eine selbst gebaute, nicht ganz legale Ölförderanlage. Gegen die weibliche Ölgang und ihre überwiegend
Jenseits der Fiktion: Die Favela Sol Nascente (o.), Elisban bei der Arbeit und der Rio Marranón
männliche und überwiegend motorradfahrende Kundschaft kann auch der gepanzerte Polizeiwagen nicht viel ausrichten, der hier täglich Streife fährt. Authentische Schauplätze, echte Proteste gegen Bolsonaro, Laiendarsteller·innen, die sich selbst spielen – jenseits der Fiktion ist das wahre Leben. In fast allen Filmen des Festivals. MÄRZ 2022 CHILLI CULTUR.ZEIT 43
MUSIK
Tristesse trifft Optimismus LIEDERMACHERIN LAURA BRAUN GEWINNT KLEINKUNSTPREIS
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as Potenzial für eine große Karriere bescheinigt ihr die Jury des Kleinkunstpreises Baden-Württemberg. Sie hat der Freiburgerin Laura Braun unlängst den mit 2000 Euro dotierten Förderpreis verliehen. Es läuft für die 28-Jährige. Und das, obwohl sie noch keinen Song in Studioqualität aufgenommen hat.
von Till Neumann
One-Woman-Show: die Freiburgerin singt, spielt Klavier und begleitet sich auf der Melodica. Fotos: © Jigal Fichtner, Ellen Kienzler
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„Der Preis kam sehr unverhofft“, erzählt Laura Braun am Telefon. Sie hatte sich für den Kleinkunstpreis beworben. Mit dem Blick auf bisherige Preisträger·innen aber ohne Hoffnungen auf eine Auszeichnung. Dann platzte die Info rein, dass sie es für den Förderpreis geschafft hat. Sie „berührt mit deutschen Chansons“, schreibt die Jury. „Eine Liedermacherin, die alles mitbringt, was frau für eine Bühnenkarriere braucht: Studium der Musikwissenschaften, Gesangsausbildung, Pianistin und ein
feines Gespür für die Geschichten, die das Leben schreibt.“ Die Auszeichnung bedeutet Braun viel: „Das ist schon wichtig, der Markt ist sehr gesättigt, es gibt viele Musikerinnen wie mich.“ Der Preis zeige ihr, auf dem richtigen Weg zu sein. Ihre Musik schreibe sie zwar erst mal für sich selbst. Dann schaue sie aber schon, wie die Resonanz beim Publikum ist. Gerade Frauen seien mehr zu Selbstzweifeln sozialisiert. „Im Rock-Pop-Bereich gibt es wahnsinnig wenige Frauen, es fehlen Vorbilder“, sagt Braun. Dennoch ist das Selbstbewusstsein da: „Das Lob der Jury würde ich unterschreiben.“ Eine Glückssträhne scheint die Singer-Songwriterin derzeit zu haben. Im September gewann sie einen Musikwettbewerb des Sozialverbands Deutschland zum Thema „Wie groß ist dein Armutsschatten“. Mit ihrem Lied „Nullsummenspiel“
erzählte sie die Geschichte eines Mädchens, das seine Mutter fragt, warum die anderen Kinder mehr haben als es selbst. Das Video zeigt sie im Homestudio am Klavier. Sie singt und begleitet sich selbst auch mit der Melodica. 5000 Euro Preisgeld gab es für diese Auszeichnung. Studiert hat Braun Musikwissenschaften. Den Abschluss machte sie noch vor der Pandemie. Bis vor Kurzem arbeitete sie aber in einem Callcenter. „Anfang des Jahres habe ich meinen Job an den Nagel gehängt“, erzählt sie. Die Preisgelder seien als Puffer Gold wert. Ihr Studio hat sie damit aufgerüstet – unter anderem mit einem virtuellen Flügel und einem Rechner. Genutzt werden soll die Technik für die Aufnahmen ihres Debütalbums. Damit möchte sie noch im März starten. Bisher hat die Freiburgerin lediglich Live-Mitschnitte veröffentlicht. Ein professionelles Musikvideo lässt noch auf sich warten. Über Wasser hält sie sich auch als Hochzeitsmusikerin und mit einem Job als Referentin bei der Diakonie. Ihr Ziel ist klar: von und für die Musik leben. Dafür greift ihr Jonas Vogelbacher unter die Arme. Er ist ihr Freund und kümmert sich um Technik, Vermarktung und Videos. „Er hat mich darauf gebracht, Musik rauszubringen“, berichtet Braun. Es sei Verschwendung, ihre Konzerte nicht aufzunehmen, habe er ihr gesagt und das in die Tat umgesetzt. „Das klang gar nicht so schlecht“, erzählt die Musikerin.
„Als ich sie zum ersten Mal gehört habe, hatte ich Tränen in den Augen“ Ihr Weggefährte hält große Stücke auf sie: „Als ich sie zum ersten Mal gehört habe, hatte ich Tränen in den Augen“, erzählt Vogelbacher. Sie sei unermüdlich kreativ und erzähle lebensnahe Geschichten, mit denen sich fast jeder identifizieren könne. Sie habe jedoch nie die Ambition gehabt, sich selbst zu vermarkten. „Sie hat kein Interesse an der Musikindustrie.“ Das versucht der 33-jährige Student der Sozialen Arbeit zu kompensieren. Aufgewachsen ist Laura Braun an der FerdinandWeiß-Straße in Freiburg. Ihre Eltern brachten ihr früh die Musik nahe, doch leicht sei es nicht gewesen. „Wir hatten kaum Geld, ein paar hundert Meter weiter wurde mit Heroin gedealt, als ich zwölf war, ist mein Vater gestorben.“ Einen dunklen Touch bringe das in ihre Musik. Zu hören auch im Song „Sterben“, den sie im Februar als LiveMitschnitt veröffentlicht hat. „Was ist, wenn ich mal sterbe und das, was ich der Welt vererbe, nur ein Haufen Müll ist?“, fragt sie da zu einem melancholischen Piano. Mit zwölf Jahren hat sie auch ihr erstes Lied geschrieben. Seitdem sie 18 ist, spielt sie Konzerte. Für Herbst plant sie ihr Debütkonzert im Freiburger E-Werk. Dann kann die mit Lorbeeren geschmückte Liedermacherin zeigen, wie gut sie eine größere Bühne beherrscht. Auftreten wird sie möglicherweise auch mit Begleitung. Doch im Zentrum steht auch dann sie. Mit ihren Geschichten und Melodien. Songs mit Tristesse, die dennoch Leichtigkeit und Optimismus ausstrahlen.
„Die ehrlichste Musik“ OTTO NORMAL SIND MIT „FUTURE SHIT“ ZURÜCK
Mit einem Track-by-Track-Release ist die Indie-Pop-Band Otto Normal aus Freiburg wieder da. Seit der ersten Single im Dezember gibt es im Monatstakt neue Songs. Die schlagen neue Wege ein. „Eine ekstatische Befreiung“, nennt die Band das. Das Ziel: Hinter sich lassen, was man geglaubt hat, sein zu müssen. „Wieder wir“ hieß das letzte Album der Band von 2018. „Jetzt sind wir dran“ nennen sie die erste Single des Albums „Future Shit“. Mit einem Presslufthammer-Beat und einem gepitchten Vocal-Sample reist die vierköpfige Band weit nach oben. Rap mischt sich da mit rockiger Gitarre. Gesang trifft auf flirrende Effekte. Noch experimenteller kommt „Okay“ um die Ecke. Sänger Peter Pete Stöcklin erzählt vom Versuch, den Blick auf die schönen Dinge im Leben zu richten. Das falle nicht immer leicht, „doch gerade in den aktuellen Zeiten mit Kriegen und Killerviren liegt es doch eigentlich nahe, mit dem eigenen Leben zufrieden zu sein“. Der Song klingt düster, der Bass rotzig, die Gitarre kreischend. Die eigenen Dämonen sollen so vertrieben werden. Die Band hat viel erlebt: 2014 macht sie mit dem rückwärts gedrehten Video zu „Spitter“ Furore. Es folgten gewonnene Contests, ein Fernsehauftritt bei Circus Halligalli, ein Plattenvertrag bei Branchenhai Sony – der in die Sackgasse führte. Im vergangenen Jahr schockte der Tod von Bassist Emanuel Teschke. Jetzt ist mit Calvin Lennig ein Nachfolger gefunden. „Die Grundstrukturen der Band haben sich dadurch nicht verändert“, schreibt Drummer Anthony Greminger. Sie seien vielleicht aber mehr edgy, etwas punkiger, abstrakter, undurchschaubarer und komplexer geworden. Das Album verspricht, bunt zu werden. Als Einflüsse nennen die „Ottos“: Dance/Electronic, Chad Smith, Jimmy Hendrix, Bilderbuch, Inversion, Liebe, Druck in der modernen Gesellschaft, eigenes Tempo, moderne Musikbranche. Einen Hang zur aktuellen Pop Kultur habe die Platte. „Die bisher präziseste, relevanteste und ehrlichste Musik von uns.“ Die ersten Songs unterstreichen den Drang nach Neuem. Wie das live klingt, kann das Freiburger Publikum im Herbst sehen. Dann wollen sie im Jazzhaus den Future Shit präsentieren. Till Neumann
Auf Richtung Zukunft: die Band Otto Normal um Frontmann Pete (links). Foto: © Jakob Tillmann
MUSIK
CASPER Rap/Indie
STROMAE
Singer-Songwriter
Pop/Electro
LIEDER FÜR VOR, WÄHREND UND NACH DER APOKALYPSE
MULTITUDE
te des M
Zwischen den Stühlen
Delfine an die Macht
Unter die Haut
(pl). Mehr Kontrast geht kaum: Hörte der Vorgänger auf den Namen „Lang lebe der Tod“, verkündet Casper heute: „Alles war schön und nichts tat weh“. Fast ein Etikettenschwindel: Zwar kommt die Platte weniger sperrig als ihr Vorgänger daher, doch sind es keinesfalls nur schöne Momente, die der Deutsch-Amerikaner beackert. Der opulente Titeltrack zeigt, wohin die Reise geht. Zwar gibt der Rapper den dunklen Aspekten des Lebens immer noch viel Raum. Wie im gelungenen „TNT“, auf dem der 39-Jährige mit Tua über mentale Gesundheit rappt. Im düsteren „Das bisschen Regen (Die Vergessenen Pt 4)“ entwirft er eine beängstigende Zukunft im Zeichen der Klimakrise. Auf der anderen Seite steht etwa der Ohrwurm „Lass’ es Rosen für mich regnen“, in er sich mit Provinz und Lena ordentlich abfeiert. Ebenfalls mit ins Boot gesellen sich Rapperin Haiyti, Kraftklub-Frontmann Kummer und Arnim Teutoburg-Weiß von den Beatsteaks – eine bunte Mischung. Musikalisch macht Casper ohnehin sein eigenes Ding zwischen Pop, Rap, Indie und Post-Rock. Auch wenn nicht alle neuen Nummern begeistern und er wohl keine Welle der Euphorie wie 2011 mit „XOXO“ mehr lostreten wird – Casper bleibt eine Ausnahmeerscheinung der deutschen Musikszene.
(pl). Zwei Aale treffen sich im Mittelmeer, sprechen über die Pandemie und sinnieren darüber, wer wohl nach der Menschheit die Weltherrschaft beansprucht. Selbst die Saurier hätten ja wie die Menschen jede Warnung ignoriert. Klare Sache, befindet einer der Aale: Die Delfine werden herrschen, die hätten kein Interesse an Machtspielen und Heimtücke. Die schräge Idee stammt aus dem Song „Die Herrschaft der Delfine“, zu finden auf dem vierten Album von Wahlberliner Lukas Meister. „Lieder für vor, während und nach der Apokalypse“ ist der Titel des neuen Outputs des gebürtigen Heitersheimers. Mal geht der Musiker auf ironische Weise auf gesellschaftliche Probleme ein. Im nächsten Moment wird auf „Hundert Euro“ der Fund eines vermeintlichen Geldscheins zur Metapher für das Leben. Kreativität und Einfallsreichtum kommen bei Meister nicht zur kurz. Höhepunkt der Platte ist das ruhige „Selbstgespräch“. Hier besingt der Künstler die Passivität und Doppelzüngigkeit im eigenen Leben mit Zeilen wie „Wir waren uns doch einig, dass die Politik da was machen muss / Das ist ja viel zu kompliziert und keiner weiß mehr wie und wo / Und der Flieger ging doch sowieso.“ Ob mit Humor oder schmerzhaft auf den Punkt: Die Platte überzeugt.
(tln). Singen, rappen, fluchen, flüstern. Die Musik des Belgiers Stromae hat fast so viele Facetten wie das Leben. Mit elektronischen Sounds und World-Einflüssen hat das Ausnahmetalent bis vor sieben Jahren Millionen begeistert. Seinen ersten Hit „Alors On Dance“ haben 300 Millionen Menschen auf YouTube gesehen. Die Dancefloor-Nummer hat eine sozialkritische Note, was vielen gar nicht bewusst ist. Bewegende Songs zu schweren Themen komponieren, das kann Stromae wie kaum ein anderer. So meldete er sich kürzlich mit dem Song „L’Enfer“ (die Hölle) zurück. Darin spricht er über Selbstmordgedanken. Das Lied gab es überraschend live in den 20-Uhr-Nachrichten von TF1. Eine Interviewfrage beantwortete Stromae da einfach mit dem Track. Seine Musik geht auch auf Multitude unter die Haut. Man hört zu und fragt sich, ob man eine Träne verdrücken oder tanzen soll. So auch im bleischweren „La solassitude“, ein Wortspiel aus Einsamkeit (solitude) und Überdruss (lassitude). Schwächen zeigen, von Schmerzen erzählen, das perfektioniert Stromae. Sein Name ist ein Silbendreher aus Maestro. Ein Meister, das ist der Belgier zweifelsohne auch nach der langen Kreativpause geblieben.
46 CHILLI CULTUR.ZEIT MÄRZ 2022
onats
ALLES WAR SCHÖN UND NICHTS TAT WEH
LUKAS MEISTER
Pl a t
MUSIK
KOLUMNE OF DREAMS AND NIGHTMARES
AVRIL LAVIGNE
Symphonic Metal
Pop-Punk
SANDGLASS (EP)
LOVE SUX
... zum Deutschen Musikfernsehen Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.
Debüt mit Power
Es ist keine Phase
(tln). Träume und Albträume: Drummer Simon Zsebedits, Sängerin Britta Allies, Gitarrist Andreas Waibel, Bassist Michael Holland und Keyboarderin Elizabeth Audrey haben sich in Freiburg beim Musikstudium kennengelernt. 2020 haben sie die Band „Of Dreams and Nightmares“ gegründet. Jetzt ist mit „Sandglass“ (Sanduhr) die erste EP erschienen. Die fünf Songs zeigen, was die Band unter „Symphonic Metal“ versteht: Harte Drums und laute Gitarre treffen auf ein wildes Piano. Dazu singt Britta Allies, die solo für ruhigere Klänge bekannt ist. Die erste Single „With You“ brettert mit Vollgas los. Mit kreischender Gitarre und einer Melodie, die im Ohr bleibt. An die Stimmlage von Allies muss man sich da erst mal gewöhnen. Ruhiger wird’s im vierten Song: Da darf das Piano tänzeln – und plötzlich fügt sich die Stimme besser ins Gesamtbild. „It’s like the galaxy, wide and endless and mysterious“, singt Allies gefühlvoll. Der Mix aus laut und leise kommt gut. So auch in A Self-Seekers Tale, der im Mittelteil mit Stakkato-Style beeindruckt. Um aus der Masse herauszustechen, wird noch ordentlich Weg zu gehen sein. Dass die fünf Bock auf mehr haben, ist den Songs anzuhören. Wenn der Punch live so groß ist wie auf Platte, dürfte sich ein Konzert für Metalfans mehr als lohnen.
(pt). Eines muss man Avril Lavigne lassen: Viele Hits der Künstlerin sind besser gealtert als die meisten Dinge aus den 2000er-Jahren. „Complicated“, „Sk8ter Boi“ und „Girlfriend“ haben Klapphandys, Limewire oder den Sega Dreamcast lange überlebt. Nun meldet sich Kanadas bekanntester Pop-Punk-Export mit neuer Scheibe und althergebrachter Schreibweise zurück: Love Sux. Die LP will direkt mit einem Knaller loslegen. Gepitchter Gesang, schnelle Drums und Gitarrengeschrabbel von Aufmacher „Cannonball“ schlagen nur leider nicht im Gehörgang ein. Und auch sonst verschießt die zwölf Songs starke Scheibe viele Platzpatronen: Die Millennial-Ballade „Avalanche“ ist zum Weglaufen: „It feels like I'm running from an Avalanche“, ruft Lavigne melodramatisch ins Mikro. Auch Songs wie „Bite Me“ oder „Love Me When You Hate Me“ bieten genau das, was ihre Namen versprechen, sind mit gut gewobenen Melodien aber immerhin angenehm eingängig – vorausgesetzt, Zuhörer·innen schaffen es, Lavignes aufgesetzten Herzschmerz auszublenden. Niemand muss mit Ende 30 die große Liebe gefunden haben. Sich mit 37 Jahren aber noch zu streiten wie ein Teenager, ist vielleicht nicht der beste Lebensentwurf – und garantiert kein gutes Musikalbum.
Sie kennen das Deutsche Musikfernsehen nicht? Dann sind wir beruhigt und Sie können es auch sein. Der Sender wird nämlich abgeschaltet. Wir haben das angeordnet. Das ist keine Zensur, sondern eine reine Schutzmaßnahme. Das Deutsche Musikfernsehen ist das Medium für alle stützstrumpftragenden, dauerkonsumierenden Realitätsverweigerer mit Hang zum dümmlichen bis volksdümmlichen Deutschen Schlager. Musikverbrecher wie Die Schlagerpiloten („Lass mich der Captain deines Herzens sein“) werden hier in Dauerschleife protegiert. Ein Auszug aus dem Programm: Musiktipps, Musik für Euch, Teleshopping, Musiktipps, Teleshopping, Steiners Theaterstadel, Künstler-Spezial, Christliche Hitparade, Musiktipps, Teleshoppings – Stopp! Sollten Sie jetzt mit dem Gedanken gespielt haben, Ihr TV-Gerät einzuschalten und diesen Sender zu suchen – zu spät. Auf dem gleichen Kanal wird von uns ein neuer Sender installiert, das Deutsche Geschmacksfernsehen, kurz DEGESCHFS. Hier ein Auszug aus dem Programm: Früher Vogel fängt den richtigen Ton, Blaulicht-Report mit GeschPOM R.D.Welteroth, Auf Streife-Doku Seife, RentnerCops, Beamte der GeschPo berichten, Verbrauchermagazin DoppelPlus – Klauen oder Kaufen? Der Geschmack des Tages, Deutschland sucht den Super-Depp, Polizeiruf 0815, Folge 0, 0.11 Uhr: Gemeinsames Singen des Kammertons A, danach Nachtschicht. In diesem Sinne, einen guten Empfang wünscht, Ihre Geschmackspolizei Ralf Welteroth
LITERATUR
Zeitgenosse vieler Zeiten RUDOLF SCHÖNWALD ERZÄHLT DEM SCHRIFTSTELLER ERICH HACKL SEIN LEBEN
D
Foto: © Leonhard Hilzensauer
von Erika Weisser
er Künstler Rudolf Schönwald hat viele, vorwiegend figürliche Werke geschaffen – Gemälde, Wandbilder, Grafiken und Keramikbilder. Bekannt wurde er mit seinen Zeichnungen von stillgelegten Industrieanlagen in ganz Europa, von denen einige zur Sammlung des Freiburger Morat-Instituts für Kunst gehören. Der 93-Jährige, der außer in Wien seit sieben Jahren auch in Freiburg lebt, hat nun seine
Brillanter Erzähler mit beeindruckendem Gedächtnis: Rudolf Schönwald.
bewegte und bewegende Lebensgeschichte veröffentlicht – eine eindrückliche Besichtigung des Jahrhunderts, in dem die Welt zum Irrenhaus wurde.
Die Welt war ein Irrenhaus von Rudolf Schönwald Verlag: Zsolnay, 2022 304 Seiten, gebunden Preis: 26 Euro 48 CHILLI CULTUR.ZEIT MÄRZ 2022
Schönwald hat das Buch nicht selbst geschrieben – „das wäre doch ziemlich hölzern geworden“, ist er überzeugt. Er hat sein Leben dem österreichischen Schriftsteller Erich Hackl erzählt, „in 13 langen Interviews mit etlichen Flaschen Wein“. Mit Hackls Nacherzählung ist er persönlich „mehr als zufrieden“. Doch ob das Ergebnis dieser langen Gemeinschaftsarbeit „wirklich etwas geworden ist, das müssen jetzt die Leser entscheiden“. Diese sind dem Werk in großer Zahl zu wünschen: Außer dem genauen Blick fürs
Detail, der in seinen grafischen Arbeiten sichtbar wird, verfügt Schönwald auch über ein präzises Gedächtnis. Und über die Gabe des lebendigen Erzählens: Mit viel Leichtigkeit und Witz, mit profunder Selbstreflexion und einer gehörigen Portion Selbstironie, mit unbedingter Ehrlichkeit und analytischem Verstand spaziert er durch sein Leben, nimmt die Leser mit auf eine packende Reise in die Vergangenheit, die bis in die Gegenwart reicht. Dieser Reise zu seiner Kindheit in Hamburg und Salzburg, seiner kurzen Schulzeit im Internat St. Blasien, seinen Jugendjahren in Budapest, seinen künstlerischen Anfängen in Wien, zu vielen „eigentlich unglaublichen“ Ereignissen und später einigermaßen berühmten Weggefährten hat er ein „schönes Bonmot“ von Carl Laszlo vorangestellt: „Erinnern ist das eigentliche Leben“. Wie Laszlo ist Schönwald Überlebender des Nazi-Terrors: Seine Volksschulzeit in Salzburg war der Tatsache geschuldet, dass beide Eltern aus jüdischen Familien kamen und sie mit ihren zwei Kindern 1934 vor den neuen Machthabern nach Österreich flohen – von dort stammte der Vater. Und auch nach Ungarn gelangten Rudolf und sein Bruder Peter durch Flucht vor den Nazis. Als „halbe Kinder“. Alleine. Sie überlebten dort in Lagern und Verstecken – dank vieler Zufälle, „die sich im Nachhinein als lebenserhaltend erwiesen“, dank hilfebereiter Menschen, dank des Internationalen Roten Kreuzes und „vieler Schutzengerl“. Angesichts der „sehr schmerzlichen“ Bilder aus der Ukraine, sagt er, kommt die Erinnerung an die beiden letzten Kriegsmonate wieder hoch, die er als Illegaler halb verhungert im eingekesselten Budapest erlebte, dem „Stalingrad an der Donau“. Der Friedens- und Menschenfreund hat nie damit gerechnet, dass es in Europa noch einmal so weit kommen würde. Obwohl er sehr oft erfahren hat, „wie wenig es braucht, dass der Mensch zur reißenden Bestie wird.“
„Sehr schade“
FREZI
UND DANN KOMMT DAS MEER IN SICHT
MÜLL
von Wolf Haas Verlag: Hoffmann und Campe, 2022 288 Seiten, gebunden Preis: 24 Euro
von Tamina Kallert Verlag: Kösel, 2022 208 Seiten, Hardcover Preis: 20 Euro
Ein Kopf im Elektroschrott
Mit Charme und Charisma
(ewei). Nach langer Pause hat Wolf Haas wieder einen Roman geschrieben, in dem der gleichermaßen verschrobene wie kultige Ermittler Simon Brenner die Hauptrolle spielt. Es ist der er neunte Fall in der skurrilen Serie, die vor 25 Jahren ihren Anfang nahm. Damals war Brenner noch Kommissar, dann wurde er Privatdetektiv, inzwischen ist er auf dem Wiener Mistplatz gelandet. Eigentlich, sagt Haas, wollte er ein Buch über die sicht- und unsichtbaren Strukturen der „wohlsortierten Wertstoffsammelstelle“ schreiben. Doch dann habe er festgestellt, dass „der Brenner genau dorthin passt“. Recht hat er. Als Mistler scheint Brenner endlich die Zukunft gefunden zu haben, die er noch nie hatte. Und wieder eine Uniform, mit der man als Mann anders dasteht als ohne. Auch wenn sie leuchtend orangefarben ist. Als aber seine deutlich fleißigeren Kollegen in der Sperrmüllwanne ein menschliches Knie, im Folienbehälter ein paar Finger und schließlich im Elektroschrott einen Männerkopf finden – da erwacht sein längst abtrainierter Spürsinn. Er ruht nicht, bis der verstorbene Mensch komplett zusammengesetzt ist – bis auf das unauffindbare Herz. Organmafia? Wider Erwarten und trotz falscher Fährten kommt Brenner den überraschenden Hintergründen auf die Spur.
(rw). Für die Reisejournalistin und Fernsehmoderatorin Tamina Kallert aus Freiburg sorgen seit ihrer Kindheit zwei Schlüsselmomente dafür, Reiselust aufkommen zu lassen. Das eine ist das Geräusch der sich schließenden VW-Bus-Tür – das untrügliche Signal zum Aufbruch. Das andere folgt am Ziel: Es ist der erste tiefe Atemzug am Meer – und mit ihm zugleich der Einstieg in das Abenteuer, das in der unbekannten, neuen Umgebung auf die Reisenden wartet. Und das ist erst der Beginn jeder Reise. Denn es folgen das Scheppern der Stahlseile der im Hafen schaukelnden Boote, das Gekreisch der Möwen, der Anblick der aufgehenden Sonne und – die vielen kleinen Annehmlichkeiten, die den Urlaub so unvergesslich machen wie die Tasse Kaffee zu jeder Zeit oder das Glas Wein mit Freunden im Abendwind. Kallert ist viel in ihrem Leben herumgekommen und kann auf nahezu unzählige Reiseerlebnisse zurückblicken. Egal, ob es mit dem Fernsehteam auf die Azoren geht, nach England oder in die USA, zwischendurch ganz privat der Familienurlaub am Bodensee ansteht oder kleine Überraschungen die Pläne durcheinanderwirbeln – die zweifache Mutter reißt die Leser mit Humor, viel Charme und Charisma mit. Auch wenn völlig ohne Vorwarnung Corona zuschlägt und die Familie ins Homeoffice schickt, hat die lebensfrohe Allrounderin ganz konkrete Tipps und Tricks parat, die über solche Phasen hinweghelfen.
Foto: © privat
3 FRAGEN AN Philipp Lindinger Geschäftsführer im Herder Verlag
cultur.zeit: Die Leipziger Buchmesse ist zum dritten Mal abgesagt worden. Aus Protest wird es eine alternative Pop-up-Messe geben, an der der Freiburger Herder Verlag nicht teilnimmt. Lindinger: Wir sehen die Pop-up-Messe nicht als Protestveranstaltung. Wir waren in Leipzig bis zur Pandemie mit einem Pädagogik-Stand vertreten, aber unsere programmatische Ausrichtung als Sach- und Fachbuchverlag passt in diesem Fall nicht zum vorwiegend belletristischen Angebot der Pop-up-Messe. cultur.zeit: Was bedeutet die erneute Absage der Messe für den Verlag und für dessen Autoren? Lindinger: Die Leipziger Buchmesse ist, auch mit Blick auf ihre besondere Geschichte, ein einzigartiges Fest des Buchs. Kaum ein anderes Event macht dem Publikum ein Buch derart sichtbar und zugänglich zugleich. Daher ist eine Absage auch für unsere Autorinnen und Autoren sehr schade. Die Messen sind für uns außerdem ein fixer Branchentreffpunkt, der einen regelmäßigen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen anderer Verlagshäuser ermöglicht. Das wird uns in diesem Jahr wieder fehlen. cultur.zeit: Wie sehen Sie die Zukunft der Buchmessen? Lindinger: Die Buchmessen, auch in Bologna oder London, werden relevant bleiben, doch weiterhin eine reichweitenvergrößernde und innovative Ergänzung durch digitale wie hybride Konzepte erfahren. Dadurch wird der Begriff der „Messe“ neu ausbuchstabiert und individualisiert. Wir entwickeln Konzepte, wie wir noch stärker mit dem Buchhandel, der für uns elementar ist, zusammenkommen und ihm passgenaue Angebote machen können. Beispiele sind unsere virtuellen Hausmessen oder unsere Teilnahme als Kooperationspartner am Kita-Onlinekongress, der in diesem Jahr 100 Beiträge von über 90 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis bietet. Die Fragen stellte: Erika Weisser MÄRZ 2022 CHILLI CULTUR.ZEIT 49