HEFT NR. 4/22 12. JAHRGANG
SPEKTAKULÄRE LANDSCHAFTSFOTOS VON LONG-NONG HUANG
TOTAL LEBENDIG
SCHWULE FILMWOCHE & LESBENFILMTAGE
WACHGEKÜSST
FREIBURGER BRILLIERT AUF BLOCKFLÖTE
LESENSWERT
WELT OHNE ENDE – COMIC ZUR WENDE
KULTUR
„Geil, aber anstrengend“ LONG-NONG HUANG MACHT SPEKTAKULÄRE LANDSCHAFTSFOTOS
Reist um die Welt: Der umtriebige Freiburger Fotograf long_explorer Foto: © tyrellwellig
Kontrastreich: Die Höhle und den Vulkansee (l. u. o. Mitte) hat er auf der Insel Java fotografiert. Die Felslandschaft (o. r.) in Jordanien.
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E
rst vor fünf Jahren hat er mit dem Fotografieren angefangen. Mittlerweile ist Long-Nong Huang wohl Freiburgs bekanntester Landschaftsfotograf. Als long.explorer reist der 26-Jährige um die Welt und hält atemberaubende Orte fest. In Kasachstan ging das schief. Mehr als 215.000 Follower hat Huang auf seinem Instagram-Profil long.explorer. Er liefert ihnen Bilder von vielen Ecken des Globus: wilde Flüsse in Schottland, schimmernde Höhlen in Indonesien oder steile Gipfel in Neuseeland. Die Stimmung ist oft mystisch, die Farben leuchten. „Ich will Emotionen einfangen“, sagt Huang. Er hat vor zwei Jahren seinen Job als Eventmanager gekündigt und widmet sich seitdem in Vollzeit der Fotografie. Kürzlich war er in Indonesien, um einen Vulkan abzulichten. Rund 5000 Fotos hat er dort mit seiner Sony-Kamera und einer DJI-Drohne geschossen. „Etwa 150 werden veröffentlicht“, sagt Huang. Gereist ist er allein, für das Shooting war er mit lokalen Fotografen unterwegs. Sie dienen ihm auch als Model: „Ich habe gerne Personen im Bild.“ Mit orangener Jacke stehen sie beispiels-
weise vor einem Wasserfall. Ein weiterer Farbklecks in den Aufnahmen, die wirken, als habe er mit viel Ruhe komponiert. Doch es läuft anders: „Ich gehe rum und shoote aus der Hand, ich brauche etwa eine Minute pro Perspektive.“ Ein Großteil der Arbeit fällt im Vorfeld an: So wollte er sich in Indonesien in eine Höhle abseilen lassen und stimmte das mit den Behörden ab. Huang ist Teil der Visual Creators aus Freiburg. Mit seinem Partner Sebastian Lucht macht er visuelle Kunst, Lucht vor allem Videos, er Fotos. Er will Orte finden, die keine „Hypespots“ sind, sucht Motive auf Instagram und einschlägigen Fotoseiten. „Ich habe einen Tick“, sagt Huang. Sobald er einen spannenden Ort auf einem Foto entdecke, recherchiere er, wo das ist. „Auch wenn es eine halbe Stunde dauert.“ Seine Favoriten markiert er sich auf Google Maps. Von seiner Arbeit kann Huang mittlerweile gut leben. Er macht Auftragsarbeiten für Tourismusregionen, testet Handys renommierter Hersteller oder nutzt seine Reichweite als Influencer mit Produktempfehlungen. Gesponsert wird er unter anderem von Tamron, deren Objektive er gestellt bekommt. Reisen, fotografieren, Geld verdienen – klingt wie ein Traumjob. „Das täuscht“, sagt Huang. Seine Arbeit sei „geil, aber richtig anstrengend“. In Indonesien sei er nachts um zwei Uhr aufgestanden, um bei Sonnenaufgang auf dem Vulkan zu sein. Nach drei Stunden Schlaf habe er neben der eigenen Fotografie ein Sony-Handy getestet und Erklärvideos für einen Kunden gedreht. „Gepennt haben wir im Auto“, erzählt er. Rund ein Drittel des Jahres ist Huang nicht in Freiburg. Die Reiseziele gehen nicht aus: Gerne würde er nach Pakistan oder Algerien. Geplant war für dieses Jahr eine Russlandreise, die abgesagt ist. Ganz risikofrei ist sein Job nicht. An Abhängen zu kraxeln, gehöre dazu. In Kasachstan ist er verhaftet worden, als er in einen Hangar einsteigen wollte, um Space Shuttles zu fotografieren. „Ich gehe nicht mehr so viel Risiko wie früher“, sagt der Freiburger. Dafür schreibt er gerade sein erstes Buch zu Fotografie. Es erscheint im Juli. Till Neumann
KINO
Queere Filmfestivals FREIBURGER KINOS PRÄSENTIEREN NEUE PRODUKTIONEN MIT LESBISCHEN UND SCHWULEN THEMEN
18. bis 25. Mai 2022 Kino Kandelhof schwule-filmwoche.de
31.Freiburger Lesbenfilmtage 25. bis 29. Mai 2022 Kommunales Kino freiburger-lesbenfilmtage.de
N
ach zwei Jahren Pause gibt es heuer sowohl die Schwule Filmwoche als auch die Lesbenfilmtage wieder in ihren altbekannten Formaten, an den bewähren Orten und zum üblichen Zeitpunkt von Mitte bis Ende Mai. Jede Menge neuer Produktionen werden im Kandelhof und im Kommunalen Kino präsentiert – Kurzfilme, Spielfilme und Dokumentationen –, bei täglich mehreren Vorführungen ist für jede·n das Passende dabei, sind die Veranstalter·innen überzeugt. Sie freuen sich nicht nur auf den frischen Neustart mit Insider·innen und Newcomer·innen, sondern auch auf die gemeinsame Queere Filmparty am 25. Mai in der Wodanhalle. Die Schwule Filmwoche wird mit der argentinischen Coming-of-Age-Geschichte „Sublime“ eröffnet, die auf der Berlinale Deutschlandpremiere hatte. Es geht dabei um zwei beste Freunde, die in einer Band spielen und die irgendwann weitere Gemeinsamkeiten entdecken. Der Vorfilm „Inmitten der Kulissen“ stammt vom Freiburger Filmemacher Simon Schneckenburger, der vor seinem Studium Vorführer im Kandelhof war und nun mit der Freiburger Band „Redensart“ ein Musikvideo über ein schwules Pärchen auf einem Roadtrip gedreht hat. Unter den insgesamt 18 Spielfilmen sind zwei spannende Streifen, die die extrem schwierige Situation von LGBTQ*Menschen in Russland zum Inhalt haben. Dabei ist auch Sebastian Meises „Große Freiheit“, der drastisch zeigt, wie die Kriminalisierung Schwuler auch nach der Nazizeit weiterging. Zudem gibt es in Freiburg drei internationale Deutschlandpre-
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mieren: „Stormy Night“ von David Moragas, der am 20. Mai extra aus Spanien anreist, außerdem am selben Abend das Spielfilmdebüt des US-Amerikaners Ali LeRois, der in „The Orbituary of Tunde Johnson“ den ganz speziellen Rassismus analysiert, dem schwarze Schwule ausgesetzt sind. Am 24. Mai gibt es den Film „Deserto Particular“, in dem der Brasilianer Aly Muritiba queere Identitätssuche und tradierte Vorstellungen von Männlichkeit thematisiert. Auch bei den anschließenden Lesbenfilmtagen im Kommunalen Kino gibt es Erstaufführungen, mit dem Spielfilm „Balaban“ sogar eine Welt-Premiere, zu der die kasachische Regisseurin Aysulu Onaran eingeladen ist. Zum ersten Mal ist auch Kelly Walkers „My Fiona“ zu sehen, außerdem ein von Liliana Furió und Lucas Santa Ana gedrehtes dokumentarisches Porträt der inzwischen 92-jährigen argentinischen Aktivistin Ilse Fusková Kornreich. Neben vielen anderen Filmen kommt auch eine besonders berührende Geschichte zur Aufführung: Magnus Gerttens Dokumentarfilm „Nelly und Nadine“ über eine lesbische Liebe im Frauen-KZ Ravensbrück. Zwei Kurzfilmprogramme werden gezeigt, außerdem wählt das Publikum die drei Filme aus, die am Ende die Goldenen Tannas erhalten.
Der Titel trügt: „Die große Freiheit“ gab es für Schwule in Deutschland lange nicht..
Fotos: © Freibeuterfilm, Salzgeber Filmverleih, Rialto Distribution, Schwule Filmwoche, Lesbenfilmtage
38. Schwule Filmwoche Freiburg
von Erika Weisser
KINO DAS LICHT AUS DEM DIE TRÄUME SIND
MAIXABEL
FRANCE
Foto: © Neue Visionen
Foto: © Piffl
Foto: © MFA
Indien 2021 Regie: Pan Nalin Mit: Bhavin Rabari, Bhavesh Shrimali u. a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 110 Minuten Start: 12. Mai 2022
Spanien 2021 Regie: Icíar Bollaín Mit: Blanca Portillo, Luis Tosar u. a. Verleih: Piffl Laufzeit: 115 Minuten Start: 26. Mai 2022
Frankreich 2021 Regie: Bruno Dumont Mit: Léa Seydoux, Blanche Gardin u. a. Verleih: MFA Laufzeit: 133 Minuten Start: 9. Juni 2022
Liebeserklärung an das Kino
Ein Ende des Schreckens
Schöne neue Medienwelt
(ewei). Samay lebt mit seiner Familie in großer Armut in der indischen Provinz. Viel ist nicht los in dem kleinen Dorf, das über die Eisenbahn immerhin Verbindung zur Welt hat. Samays Vater arbeitet als Teeverkäufer am Bahnhof der nächsten Stadt – und hat eines Tages die Idee, die Familie zu einem Kinobesuch dorthin mitzunehmen. Allerdings mit der Absicht, besonders den Kindern zu zeigen, dass Kinobesuche schädlich und mit der Religion nicht vereinbar sind. Samays Leben wird durch diese Erfahrung völlig auf den Kopf gestellt. Fasziniert von den neuen Welten, die sich ihm eröffnen, will er nur noch Filme sehen – und selbst welche machen. Heimlich fährt er immer wieder zum Kino, freundet sich mit dem Filmvorführer an und beginnt, für seine neue Leidenschaft die Schule zu schwänzen. Da bleiben heftige Auseinandersetzungen mit dem Vater nicht aus. Doch der experimentierfreudige Junge lässt sich nicht aufhalten, er lernt, Filme zu machen und begeistert auch andere für das Kino.
(ewei). Maixabel Lasa steht vor dem Spiegel und föhnt ihre Frisur. Das Telefon klingelt lange; sie hört es, hebt aber nicht ab. Als ahnte sie, was das Kinopublikum schon weiß: Ihr Mann, der sozialistische Regionalpolitiker Juan Maria Jauregui wurde an diesem Julitag im Jahr 2000 Opfer eines Attentats der baskischen Separatistenorganisation ETA. In einem Lokal schossen drei Männer auf Jauregui, der sich stets für eine friedliche Koexistenz im Baskenland eingesetzt hatte. Als er kurz darauf im Krankenhaus stirbt, ist Maixabel zutiefst erschüttert, wahrt ihrer Tochter Maria wegen aber die Fassung. Sie gründet eine Organisation zur Unterstützung der Opfer und Hinterbliebenen von ETA-Anschlägen. Dabei führt sie das Vermächtnis ihres Mannes weiter. Zehn Jahre später ist sie eine der Ersten, die zum Dialog bereit ist. Zum Gespräch mit den Mördern ihres Mannes, die der ETA längst abgeschworen haben. Ein Film um Schuld, Reue und Vergebung, der unter die Haut geht.
(ewei). France de Meurs wird bei einem französischen Fernsehsender als Starjournalistin gehandelt. Mit ihren angeblich live geführten Interviews und den zwar realen, doch stark manipulierten Reportagen gilt sie als Quotenbringerin. Dabei ist die narzisstische Selbstdarstellerin stets darauf bedacht, Ergriffenheitsjournalismus zu produzieren und sich selbst besonders vorteilhaft besorgt zu präsentieren. Die Menschen, die Gegenstand ihrer Reportagen sind, interessieren sie dabei herzlich wenig. Das wird deutlich an einem Bericht aus einem Krisengebiet in der Sahel-Zone; hier ist zu sehen, mit welcher berechnenden Distanz sie Gespräche führt – und was unter ihrer Regie dann publikumswirksam daraus gemacht wird. Doch irgendwann wird sie selbst von der reißerischen schönen neuen Medienwelt eingeholt und gerät nicht sonderlich vorteilhaft in die sensationsheischenden Schlagzeilen, die sie sonst selbst bedient. Ihr wohlgeordnetes und sorgsam inszeniertes Leben gerät aus den Fugen.
MUSIK
Blockflöte mit Swag
JOHANN SUNDERMEIER ERFINDET SEIN INSTRUMENT NEU
B
von Till Neumann
Elektrosound: Mit diesen Flöten kreiert Johann Sundermeier überraschende Kompositionen. Fotos: © tln
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lockflöte. Das klingt nach Schulunterricht. Ein Instrument für Einsteiger. Doch der Freiburger Johann Sundermeier zeigt, dass es auch anders geht: Der 22-Jährige macht elektronische Musik. Er arbeitet mit Effekten, Synthesizern, Loops und Beatbox. Damit ist er möglicherweise der Erste, der das verrufene Instrument in die Urban Music trägt.
les mit Flöten eingespielt hat, ist kaum zu erkennen. Der hypnotische Track könnte auch auf dem Sea You Festival laufen. „Ich mag den Klang von Blockflöten“, sagt Sundermeier. Er sei weich, warm und voll – vor allem mit seinen High-End-Instrumenten, die bis zu 3000 Euro kosten. Wichtig für ihn: „Man kann wahnsinnig virtuos spielen.“ Virtuoser als auf einer Geige. „Die BPM-Zahl ist einfach höher.“ Entscheidend seien neben Artikulation
Wenn der Student Blockflöte spielt, leuchten nicht nur seine Augen. Hinter Johann Sundermeier Der Ruf des Instruments ist blinken LEDs: Neben seinem Laptop stehen ein Stagepiano, für ihn schon lange ruiniert ein Drumpad, eine Soundkarte. Sein WG-Zimmer in Freiburg-Kappel ist und Blasdruck vor allem flinke Finger. sein Studio. Hier feilt der Student der Frei- Eine Stunde täglich übe er Fingermotorik. Dass er das Instrument beherrscht, zeiburger Musikhochschule an Kompositionen. Er ist im 6. Semester – einer von neun gen Videos auf seinem YouTube- und Instagram-Kanal. Man sieht ihn auf FestiStudenten, die dort den Bachelor machen. Selten sind die, die das Instrument stu- val-Bühnen, bei Home-Sessions mit dieren. Noch seltener ist Sundermeiers anderen Musikern und auf dem SchlossArt, es zu spielen. „Ich kenne niemanden, berg. Die Reaktion auf seine Kunst sei oft der das sonst so macht“, sagt Sundermeier. dieselbe, berichtet Sundermeier: „Wow, Er arbeitet mit der Software Ableton und krass, so habe ich eine Blockflöte noch nie bis zu sechs Flöten: Große Instrumente gehört.“ Der Ruf von Blockflöten ist für liefern die tiefen Töne, kleine die hohen. ihn schon lange ruiniert: „Sie gilt als AnEffektbeladen wabern die Sounds zu Elek- fängerinstrument.“ Das liege vor allem datrodrums durch die Boxen. Dass er fast al- ran, dass in der Schule früh damit begon-
MUSIK
Endlich angekommen
nen wird: „Alle kennen sie so, wie sie im Anfangsstadium klingt: 20 Leute spielen schief im Klassenzimmer durcheinander.“ Seine Musik ist daher auch ein Kampf gegen Klischees, eine kleine Revolution in der Blockflötenwelt. Die jedoch viel Lob bekommt: „Ich finde das großartig“, sagt Musikprofessor Ralf Schmid. Der Freiburger experimentiert selbst mit Datenhandschuh und Piano – und unterrichtet Sundermeier. Schmid lobt: „Johann setzt sich mit musikalischen Möglichkeiten der heutigen Zeit auseinander und erfindet sein Instrument neu.“ Für die barocke und klassische Bläserwelt könne er ein Role Model sein. Auch Professor Stefan Temmingh (43) ist angetan: „Johann sticht heraus.“ Er sei fleißig, kreativ und könne besonders schnell spielen. Der Leiter des Blockflötenstudiengangs der Musikhochschule findet es „sehr schön, wenn junge Menschen ihren eigenen Weg gehen“. Sundermeier macht keinen Hehl daraus, dass es ihn reizt, Konventionen zu brechen. Die Rolle des Außenseiters gefällt ihm. Dennoch ärgert es ihn, dass er selten nach Qualität beurteilt werde, sondern meist danach, dass er aus der Reihe tanzt. Er ist überzeugt: „Ich kann mich musikalisch auch unabhängig von Blockflöte behaupten.“ Sein Repertoire hat er gerade um eine Sparte erweitert: Sundermeier kann jetzt auch beatboxen – während er Flöte spielt.
SONGWRITER HESSELMANN VERÖFFENTLICHT SINGLE Als der Freiburger Musiker Sebastian Hesselmann 2017 den One Week Record Contest gewann, erwartete mancher den großen Karrieresprung. Der Hauptpreis des Wettbewerbs des amerikanischen Musikers Joey Cape ist die Aufnahme eines Albums in Kalifornien. Zeitsprung um fünf Jahre: Das Album ist bis heute nicht erschienen, in den vergangenen Jahren wurde es ruhig um Hesselmann. Jetzt ist er mit neuem Selbstvertrauen zurück. Die Aussicht, ein Album mit dem Frontmann der Punkband Lagwagon aufzunehmen, brachte Hesselmann nicht nur Freude. Zunehmend hatte er mit Selbstzweifeln und Depressionen zu kämpfen. Die Albumproduktion rückte in weite Ferne, die Pandemie tat ihr Übriges. „Der letzte Kontakt nach Kalifornien war vor Corona“, berichtet der 30-jährige Musiker. Doch Hesselmann hängte die Musik nicht etwa an den Nagel, sondern wagte den Neuanfang: Er schloss das Lehramtsstudium ab, begann einen Job im Plattenladen Flight 13 und arbeitete an neuen Songs – erstmals ausschließlich auf Deutsch. Mit „Manchmal“ ist nun das erste neue Stück seit Jahren erschienen. „Songwriting ist für mich therapeutisch“, resümiert Hesselmann. Das hört man dem Song an: „Manchmal fühle ich mich alleine, niemand kann mich je verstehen“ – mit diesen Worten startet die Single. Das Stück ist melancholisch, überrascht aber mit vollem Sound inklusive Backing-Band und Bläsern. Über sein Produzenten-Team aus Yannick Albrecht und Thilo Türr kam der Kontakt zum Hamburger Produzenten Swen Meyer zustande, der das gelungene „Manchmal“ mixte. Meyer ist kein Unbekannter, er hat bereits mit Szenegrößen wie Kettcar und Tomte aber auch Tim Bendzko gearbeitet. „Ich bin mega happy, dass das funktioniert hat“, freut sich Hesselmann. „Auch wenn es ein bisschen surreal ist, dass er tatsächlich meine Single abgemischt hat.“ Müssen sich Fans nun wieder Monate oder Jahre bis zum nächsten Lebenszeichen gedulden? Es sieht nicht danach aus. Noch diesen Sommer soll eine zweite Single folgen, im Herbst oder Winter eine EP. Und die Platte aus Kalifornien? Diese müsste auf Englisch und akustisch eingespielt werden. „Ich kann mir vorstellen, dass ich das Album noch angehen werde“, sagt Hesselmann. Aktuell läge der Fokus aber auf deutschsprachigen Songs mit breiter Instrumentierung. Denn der Musiker hat etwas gefunden, wonach er lange auf der Suche war: seinen Platz im Musikbetrieb. Pascal Lienhard
„Ich bin ready für den Musikmarkt“
Melancholisch: Für Hesselmann ist Musik therapeutisch. Foto: © Frieder Lang
Seine Leidenschaft hat Familientradition: Die Mutter des gebürtigen Hildesheimers spielte Blockflöte – genau wie seine Großmutter. Sie war es, die ihn auf den Geschmack brachte. „Sie war professionelle Blockflötenspielerin“, erzählt Sundermeier. Als er sie in einer Kirche spielen sah, war er angefixt: „Das war voll bewegend und emotional.“ Der Waldorfschüler nahm Unterricht und merkte schnell: Das Instrument liegt ihm. Sein zweiter Lehrer in Hildesheim, Eugen Iburg, habe ihn bei der Arbeit mit Effektgeräten supportet. Iburg meldete ihn für Jugend musiziert an, Sundermeier komponierte sein erstes Stück „Delute“. Dazu drehte er ein Video. Von da an kamen Anfragen für Auftritte. Sundermeier spielte und komponierte weiter. Mit 17 begann er seine Musikerkarriere, seit zweieinhalb Jahren ist er als Student in Freiburg und tritt auch hier auf. Vielen ist er im Breisgau jedoch noch kein Begriff. Das könnte sich bei seinen Fähigkeiten ändern. Auf Festivals in anderen Städten spielt er schon jetzt solo einstündige Shows. „Ich bin ready für den Musikmarkt“, sagt Sundermeier. Er möchte von der Musik leben. Dennoch kann er sich vorstellen, erstmal noch einen Master in Musikproduktion dranzuhängen. Am liebsten in Berlin. Auch als Flötist in einer Band zu spielen, würde ihn reizen. Elektro, Techno, Balkan und Klezmer gefallen ihm. Absichern kann er sich auch finanziell als Lehrer. Bei allem Ärger über die Blockflöte als Einsteigerinstrument. Das sichert ihm einen Pool an vielen jungen Menschen, denen er etwas beibringen kann. Möglicherweise auch, wie man das Instrument so spielt, dass es Swag hat.
WET LEG
US-Rap
Indie-Rock/Pop
COCODRILLO TURBO
WET LEG
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Foto: © Danjo
3 FRAGEN AN Jonas Hammerschmidt Mit Banjo und Bluesharp entführen die Freiburger Musiker Jonas Hammerschmidt und Danny Harland eher auf amerikanische Highways als an die Dreisam. Im Interview mit chilli-Volontär Pascal Lienhard spricht der 29-jährige Hammerschmidt von der Musik des Duos Danjo. Herr Hammerschmidt, wie klingen Danjo? Die Musik geht in Richtung Folk, auch ein bisschen Rock und Country sind dabei. Bluegrass spielen wir zwar nicht unbedingt, aber der Stil hatte den größten Einfluss auf uns, besonders bei der Instrumentenauswahl. Bluegrass zeichnet sich durch eine breite Auswahl an Instrumenten aus, dazu gehören Gitarre, Banjo, Mandoline und Mundharmonika. Den Großteil der Instrumente spielen wir selbst. Welcher Danjo-Song ist Ihr Favorit? Danny ist bei uns eher der Lyriker, ich befasse mich mehr mit der Komposition. „Take Me Home“ ist Dannys erster Track. Deswegen hat er darin alles verpackt, was ihm so durch den Kopf ging, die Nummer hat eine sehr persönliche Note. „Devil in me“ ist mein letzter Song, der für unser Album entstanden ist. Ich habe viele Stunden experimentiert, wodurch ein sehr persönlicher Klang entstanden ist. Sie haben gerade Ihre erste Platte veröffentlicht. Wie geht es weiter? Momentan nehmen wir eine Single auf. Wir wollen so viel machen wie möglich. Das Ziel ist es, bekannter werden, um noch mehr Leute zu erreichen. Zudem machen wir jeden Samstag Straßenmusik. 54 CHILLI CULTUR.ZEIT MAI 2022
Rappendes Krokodil
Hype oder Hit?
(tln). 38 Jahre jung ist der Rapper Action Bronson. Der in Queens geborene Mann mit albanischen Wurzeln nennt sich „den unverwechselbaren HipHop-Held der Herzen“. In Rap-Untergrund-Kreisen hat er Kultstatus. Seine rotzige Art zeigt er auch auf dem neuesten Release: Das Album „Cocodrillo Turbo“ ist gerade erschienen. Neben jeder Menge grimmigen Tiersounds gibt’s da die Lines des menschlichen Reptils, das Hunger hat. Bronson beißt sich mit stabilem Flow und großmäuligen Lines in die Beats von Produzenten wie Daringer und The Alchemist. Mit seinen Musikvideos will der zweifache New York Times-Bestsellerautor und TV-Koch das gewisse Etwas liefern. So auch für seine erste Single „SubZero“: Ein Tsunami rast da durch New York, der Rapper reitet auf einem Board über die Wellen. Dazu gibt’s schmutzige Geschichten unter der Gürtellinie. Ebenso versiert gleitet er mit lässigem Basslauf über den minimalistischen Knister-Beat. Action Bronson liefert mit seiner heiseren Stimme den Sound für eingefleischte Rapfans. Perfekt zum Kopfnicken und Mitbouncen. Revolutionär sind die Texte nicht, aber der Klangkosmos des Schwergewichts reißt mit. Wer bis zum Ende hört, wird mit einem Saxofonsolo überrascht. Das Krokodil kann auch mal sanft sein.
(pl). Das Duo „Wet Leg“ kommt aus Großbritannien und macht poppigen Indie-Rock. Klingt vorhersehbar? Nicht so voreilig. Mit ihrem selbstbetitelten Debüt dürften Rhian Teasdale und Hester Chambers viele in den Bann ziehen. Einprägsame Hooks, offenherzige Texte und manch musikalische Überraschung verbinden sich zu einem ganz eigenen Stil. „Chaise Longue“ heißt die erste Single der Band. Der Song eroberte vergangenen Sommer die Musikwelt. Die tanzbare Indie-Nummer ist ein Ohrwurm, der eindeutig zweideutige Text und ein verrücktes Musikvideo inklusive schräger Tanzeinlagen tun ihr Übriges. Erfüllt nach bereits sechs im Vorfeld veröffentlichten Tracks nun auch das Debütalbum die Erwartungen? So ziemlich. Zwar hat das Duo mit „Chaise Longue“ und dem nicht weniger eingängigen „Wet Dream“ seine stärksten Songs als erste Singles verschossen. Doch auch die anderen zehn Tracks dürften so manche Hörer·innen am Ende ihrer Zwanziger ansprechen. Hier die Beschreibung eines langweiligen Abends mit dem Smartphone auf dem punkigen „Oh No“, da ein wütendes Statement zu einer gescheiterten Beziehung im getragenen „Loving you“, dort Reflexionen über die eigene Lebensgestaltung im melancholischen „I don't wanna go out“. Auch wenn nicht jeder Song ein Hit ist – der Hype um „Wet Leg“ ist nachvollziehbar.
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Ein Haufen Instrumente
ACTION BRONSON
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MUSIK
KOLUMNE PHANTOM BAY
RAMMSTEIN
Hardcore Punk
Neue Deutsche Härte
PHANTOM BAY
ZEIT
... zum Mutter- und auch Vatertag Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.
Lass alles raus
Keine Skandale mehr
(pl). Ist Phantom Bay eine Newcomer-Band? Ja und nein. Die erste Single kam Ende 2021, jetzt ist das zugehörige Album erschienen. Doch die drei Musiker hinter der Band sind sicher keine Neulinge. Bassist Laurin Rutgers hat sich mit den Freiburgern von Redensart und Casually Dressed einen Namen gemacht, Drummer Yannic Arens war bei den Freiburger Deadnotes, Sänger und Gitarrist Michael Hanser hat in der Wiener Band „New Native“ gespielt. Als Phantom Bay serviert das Trio treibenden Hardcore Punk mit melodiösen Hooks. Nach einem kurzen Intro zeigt „Trembling World“ wo der Hammer hängt: Hanser gibt alles, es wirkt, als würde er sich den Frust aus der Seele schreien. In die gleiche Richtung schlägt etwa die Single „Separate Ways”, die verdeutlicht, wie viel Energie und Emotion die Band auf knapp unter zwei Minuten freizusetzen weiß. Die Jungs kommen schnell auf den Punkt, überflüssiges Beiwerk ist ihnen fremd – nur ein Song übertritt die Marke von drei Minuten. Leidenschaft wird bei Phantom Bay großgeschrieben. Die Musik des Trios ist nicht für jeden was, gute Laune macht das Album bestimmt nicht. Wer aber auf kompromisslosen Punk fernab vom Mainstream steht und mit Phantom Bay alles an Frust rauslassen will, darf dieses Debüt nicht verpassen.
(pl). Es gibt kaum eine deutsche Band, die so polarisiert wie Rammstein. Ob man sie mag oder nicht: In den 27 Jahren seit dem Debüt haben die Berliner ihren eigenen Stil geschaffen, sind musikalischer Exportschlager geworden und haben massenweise Fans in ausverkaufte Stadien gelockt. Nun liegt der achte Longplayer vor – überzeugen kann er nur bedingt. Zugegeben: Die erste Single, das titelgebende „Zeit“, ließ aufhorchen. Die Ballade klingt ungewohnt für Rammstein. Der Song baut sich langsam auf, Till Lindemann sinniert über die Vergänglichkeit. Mit der Nummer haben die Musiker den Höhepunkt der Platte direkt verschossen. Einige Songs wie „Zick Zack“, auf dem die Musiker sich mit dem Schönheitswahn beschäftigen, gehen schon klar. Doch viel hängen bleibt nicht, zu oft bleiben Rammstein im Mittelmaß stecken. Über die Jahre ist die Band zum Synonym für den Tabubruch geworden. Skandale findet man auf „Zeit“ jedoch keine. Ein Junggeselle, der eine Frau sucht, die nichts mitzubringen braucht außer „Dicke Titten“ – das schockt heute nicht mehr. Wenn die Band auf „OK“ einen Chor „Ohne Kondom“ singen lässt und Lindemann mit pubertären Wortspielen um sich wirft, glaubt man kaum, dass der Sänger auf die 60 zugeht. Doch dem Erfolg wird auch das keinen Abbruch tun.
Mama mia – was da nicht alles schon im Namen des Vaters und auch der Mutter verbrochen wurde. Rammsteins Lied „Mutter“ ist da fast noch das kleinere Übel, aber eben schon auch übel. Marie Wegener zum Beispiel singt in ihrer Mutter-Hommage Danke ... ohne dich gäbe es mich nicht. Da hat aber jemand in Biologie so was von aufgepasst. Streberin, setzen, sechs! Dann lieber doch der Humor eines Fips Asmussen: „Ich bin schon so alt – als ich geboren wurde, hat meine Mutter noch gelebt.“ Oder Falco mit „Mutter, der Mann mit dem Koks ist da“. Wäre auch mal ein schönes Geschenk zum Muttertag. Nein, die Kollegen der Drogenfahndung verstehen da keinen Spaß. Heintje sang einst „Mama du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen, Mama, und bringt das Leben mir auch Kummer und Schmerz, dann denk ich nur an dich, es betet ja für mich oh Mama dein Herz.“ Mehr geht nicht. Aber in der Regel ist ja weniger mehr. Und dann wäre da noch die Band Mutter aus Berlin, ein Lichtblick. Ihre Platte aus den frühen 90ern trug den freimütigen Titel „Ich schäme mich Gedanken zu haben, die andere Menschen in ihrer Würde verletzen“. Klare Ansage. Die geht hiermit auch an den ein oder anderen aktuell zu Fahndung ausgeschriebenen Musikanten. Den Vatertag verbringen wir dann wieder wie jedes Jahr gnadenlos ermittelnd auf Streife mit unserem Leiterwagen. Aua. In diesem Sinne, väterlich grüßen Muttis Lieblinge Ralf Welteroth für Ihre GeschPo
LITERATUR
Haus der digitalen Kultur DIE STADTBIBLIOTHEK FREIBURG IST MEHR ALS NUR EIN ORT FÜR BÜCHERAUSLEIHE
A
von Erika Weisser
Als nach der ersten, gerade fünf Wochen dauernden Schließung im Frühjahr 2020 absehbar wurde, dass die Stadtbibliothek irgendwann möglicherweise erneut ihre Türen schließen müsse, riefen Bibliotheksleiterin Elisabeth Willnat und ihre Mitarbeiter·innen ein „Jahr der digitalen Welt“ aus. Sie arbeiteten ohnehin noch im Schichtdienst mit Wechsel von reduzierten Präsenzzeiten und Home-Office, konnten sich digital aber untereinander vernetzen. Und sie haben, so Willnat, „die Zeit gut genutzt“ und insbesondere im zweiten Lockdown zwischen November 2020 und März 2021 von zu Hause aus einige Formate entwickelt, die im Bibliotheksservice fest verankert sind. Sie stellten Buchbesprechungen online, es entstanden Videos zur Orientierung der Nutzer·innen, sowohl für die analogen als auch für die digitalen Abläufe. Denn auch
Fotos: © ewei
Ort der Begegnung: Die Räume der Stadtbibliothek sollen zu einem Haus der digitalen Kultur werden, in dem alle Formen der Kommunikation möglich sind. Leiterin Elisabeth Willnat (u.r.) freut sich darauf.
uch in der Freiburger Stadtbibliothek hat die Corona-Krise mit all ihren Lockdowns und Kontaktbeschränkungen tiefe Spuren hinterlassen. Sie hat zum einen noch bestehende Defizite bei der Digitalisierung offenbart, die Suche nach neuen Kommunikationswegen aber auch angeschoben. So haben die Beschäftigten den über weite Strecken stark eingeschränkten Publikumsverkehr der vergangenen zwei Jahre dazu genutzt, viele neue digitale Plattformen und Angebote zu entwickeln.
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diese gibt es bereits seit einigen Jahren: Die Stadtbibliothek, betont Willnat, sei schon lange „mehr als ein Ort zur Ausleihe von Büchern oder anderer Medien wie Filme, Zeitschriften, Hörbüchern oder Musik-CDs oder Noten“. Seit zehn Jahren schon gibt es die Onleihe, ein Angebot zur Nutzung digitaler Medien wie E-Books, Online-Zeitungen oder Filmstreamings. Das werde gerade von den jüngeren Generationen gut angenommen. Nun wurde auch die Homepage überarbeitet, das digitale Angebot durch eine Rechercheplattform und andere Datenbanken erweitert, etwa durch E-Learning-Kurse, Online-Gaming, Tutorials zur Wissensaneignung und mit Informationen über Fake News, wie man sie erkennt und wie man damit umgeht. „Alle haben mit angepackt“, freut sich Willnat, und damit einen wichtigen Beitrag geleistet für das Zukunftskonzept, das vor dem Hintergrund der nicht nur digitalen Transformation und der gesellschaftlichen Umbrüche erarbeitet wurde. Demnach soll die „Stadtbibliothek Freiburg 2025“ ein offener Ort für alle sein. Ein Raum für Begegnung, Vernetzung, Austausch und demokratische Meinungsbildung. Eine Partnerin für Lese- und Sprachförderung und Medienkompetenz. Und ein Haus der digitalen Kultur. Mit der Umgestaltung der Räume und der Nutzung neuer Kommunikationsformen ist sie darauf gut vorbereitet.
FREZI
DER ERZHERZOG ...
von Natalka Sniadanko Verlag: Haymon, 2021 424 Seiten, gebunden Preis: 25,90 Euro
TANZ DER TEUFEL
von Fiston Mwanza Mujila Verlag: Zsonlay, 2022 288 Seiten, gebunden Preis: 25 Euro
WELT OHNE ENDE
von Jancovici & Blain Übersetzt von Ulrich Pröfrock Verlag: Reprodukt, 2022 196 Seiten, gebunden Preis: 39 Euro
Augenzwinkernd, augenöffnend
Glücksritter und Geldbarone
Der Strom der Zukunft
(ewei). Den Erzherzog, von dem hier die Rede ist, gab es wirklich: Wilhelm von Habsburg wurde 1895 geboren, wuchs im damals zu Österreich-Ungarn gehörigen, heute in ukrainischem Gebiet gelegenen Ostgalizien auf und kämpfte im Ersten Weltkrieg als k. u. k. Offizier gegen das russische Zarenreich im Osten. Sein Vorhaben, die Ukraine in die Unabhängigkeit zu führen und König zu werden, wurde indessen von der Oktoberrevolution vermasselt. Der verhinderte König, der im wirklichen, recht ausschweifenden Leben tatsächlich junge Männer und besonders tätowierte Matrosen liebte, kam 1948 als Spion in einem sowjetischen Gefängnis um. Natalka Sniadanko lässt ihn jedoch gnädig noch so lange weiterleben, dass er seiner 1969 geborenen fiktiven Enkelin Halyna von seinen Abenteuern erzählen kann. Die Autorin siedelt die beiden in Lviv an, der Stadt (Freiburgs Partnerstadt), in der sie selbst bis zu ihrer unlängst erfolgten Flucht lebte. Dabei zeichnet sie den schrägen Blaublütigen als geschickten Lebenskünstler, dem es gelingt, mit den verschiedenen aufeinander folgenden Herrschaftssystemen der jüngsten Geschichte der Ukraine bestens zurechtzukommen. Ein gleichermaßen augenzwinkerndes wie augenöffnendes Buch über die schmerzliche Identitätssuche eines Landes und seiner Menschen.
(ewei). Die kongolesische Provinz Katanga ist reich an Erzen, Gold und Diamanten. Und an Korruption. Das gilt auch für die jenseits der Grenze gelegene angolanische Provinz Lunda Norte, deren Diamantenvorkommen zu den ergiebigsten Zentralafrikas gehören. Beide Gegenden waren schon immer Anziehungspunkte für Glücksritter und Gauner, die hier schnelles Geld zu machen hofften. In diesem Grenzgebiet zwischen der urbanen Aufgeregtheit von Katangas Provinzhauptstadt Lubumbashi und der wüsten Minenregion um Canfunfo im nordöstlichen Angola ist Fiston Mwanza Mujilas „Tanz der Teufel“ angesiedelt. Die vielschichtige Geschichte spielt in den späten 1980er-Jahren, als die DR Kongo noch Zaire hieß und vom Diktator Mobutu Sese Seko mit grausamer politischer Repression regiert wurde. Vor diesem Hintergrund entfaltet er das Panorama einer ebenso vitalen wie gnadenlosen Gesellschaft. Jeder konkurriert mit jedem, die Hoffnung auf ein besseres Leben erweist sich als trügerisch; wem das Glück hold war, dem kommt es ziemlich schnell wieder abhanden. Gefahren lauern überall, in Angola durch Erdrutsche, Gewalt und Bürgerkrieg, in Zaire durch Elend, Diebstahl und politischen Verrat. Soundstarke Auseinandersetzung mit den Folgen von Kolonialismus und Raubbau.
(ewei). Ein Thema, das seit geraumer Zeit immer mehr Menschen beschäftigt, ist Gegenstand dieses Comics aus der Feder des französischen Graphic-Novel-Autors Christophe Blain: Um den von Menschen verursachten globalen Klimawandel geht es, um den Zusammenhang zwischen stetig steigendem Verbrauch fossiler Brennstoffe und der folgenschweren Erwärmung der Erdatmosphäre – und um CO2-freie Alternativen für die Energieversorgung. Blain hat das knapp 200 großformatige Seiten starke Buch nicht allein verfasst. Jean-Marc Jancovici, einer der bekanntesten französischen Energie- und Klimaexperten, hat ihm dabei gewissermaßen assistiert: Bemerkenswert nachvollziehbar erläutert er dem ahnungslosen Blain (und den Lesern) die hochkomplexen Sachverhalte aus den verschiedensten Gebieten und stellt sein Wissen so selbstverständlich in wirtschaftliche, ökologische und gesellschaftliche Zusammenhänge, dass am Ende nicht nur Blain so ziemlich alles kapiert. Übersetzt wurde das Gemeinschaftswerk vom Freiburger Comic-Spezialisten Ulrich Pröfrock. Und es dürfte trotz profunder Französischkenntnisse nicht leicht gewesen sein, daraus das auch für deutsche Leser bestens verständliche, erleuchtende und zugleich unterhaltsame Lehrstück zu machen, das er nun vorlegt. MAI 2022 CHILLI CULTUR.ZEIT 57