chilli cultur.zeit

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HEFT NR. 8/21 11. JAHRGANG

Mehr Transparenz WIE SICH FREIBURGS MUSEEN MIT RAUBKUNST BEFASSEN

Leinwand

Musik

Literatur

LUDWIG AMMANN ÜBER KINO & CORONA

NEUES ALBUM VON „DAS BLANKE EXTREM“

TOP-AUTOREN ZU GAST AN DER DREISAM


KULTUR

Etikettiert: Tausende Objekte werden

Foto: © Till Neumann

in Freiburg für eine Datenbank aufbereitet.

„Es gibt kein Protokoll“ WIE SICH FREIBURGS MUSEEN MIT RAUBKUNST BEFASSEN

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olle Transparenz. Das ist der Wunsch der Freiburger Museen in Sachen Provenienzforschung. In mühsamer Kleinstarbeit werden dafür Bestände digitalisiert. Darunter auch zehn Beninbronzen. Anfragen für eine Rückgabe liegen bisher nicht vor. Was genau passiert, wenn es so weit ist, weiß selbst das Museumsteam nicht. Ein Experte fordert eine Liste kritischer Objekte. Das Zentrale Kunstdepot Hochdorf ist von außen nur ein schlichtes Gebäude. Im Innern liegen jedoch unter anderem rund 20.000 Objekte der Ethnologischen Sammlung des Museums Natur und Mensch, deren Herkunft nicht immer geklärt ist. Licht 38 CHILLI CULTUR.ZEIT NOVEMBER 2021

von Till Neumann ins Dunkel versucht Nicole Landmann-Burghart zu bringen. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ethnologischen Sammlung arbeitet seit 2019 die Bestände der Afrika-Sammlung auf. Sie erfasst Datensätze, gleicht sie ab und pflegt sie in eine Datenbank ein. Ein „Traumjob“, wie sie sagt. Doch auf sensiblem Terrain. So manches hier könnte unrechtmäßig im Besitz der Freiburger Museen sein. Um das herauszufinden, haben sich diese eine Transparenzoffensive auferlegt. So viele Informationen wie möglich sollen online gestellt werden – auf Deutsch, Französisch und Englisch. „Unser zentrales Ziel ist, Forschung und Kooperation zu ermöglichen“, erklärt Landmann-Burghart und öffnet eine schwere Metalltür. Im Raum reihen sich Speere

an Masken und eiserne Werkzeuge. Sie sind auch Teil der Afrika-Sammlung, die die 44-Jährige mit einer Halbtagsstelle aufbereitet. Mehr als 2000 Datensätze hat Landmann-Burghart bereits abgeglichen. 1000 Fotos, Objekte und Infotexte sind bis Ende des Jahres bereit zur Veröffentlichung auf der Online-Sammlung STM. Ein Drittel der 3000 Objekte aus Afrika sollen dann online zugänglich sein. Für den Rest bräuchte es weitere Fördergelder. Nur so sei die aufwendige Forschung und Aufarbeitung zu finanzieren, stellen die Museen klar. Schwer angetan von der Leistung ihrer Kolleg·innen ist Tina Brüderlin. Eine Sisyphus-Arbeit sei das, sagt die Leiterin der Ethnologischen Sammlung des Museums Natur und Mensch.


Rückgabeforderungen haben die Freiburger Museen bisher nicht erhalten. Daher fehlen Erfahrungen, wie so etwas laufen könnte. „Es gibt hierfür noch kein Protokoll“, sagt Brüderlin. Sie weiß nur so viel: „Sollten Anfragen eingehen, müssen diese selbstverständlich bearbeitet werden und Lösungen gefunden werden.“ Dass es zu Forderungen kommen könnte, liegt nahe. Zum Beispiel zu den zehn Beninbronzen aus dem Königreich Benin in Nigeria oder zu sogenannten Tjuringas aus Australien. Das sind sakrale Objekte der Aborigines, die nur Eingeweihte sehen dürfen. Doch mit Einschätzungen zu kritischen Objekten ist Brüderlin

Sisyphus-Arbeit: Nicole Landmann-Burghart arbeitet im Zentralen Kunstdepot der Stadt.

vorsichtig. „Um sensible Bestände zu identifizieren, bedarf es neben der wissenschaftlichen Aufarbeitung auch Kooperationen mit Vertreter·innen aus Urhebergesellschaften, um nicht nur aus europäischer Perspektive zu agieren.“ Wichtig ist ihr, proaktiv zu forschen. Das heißt, auch auf Herkunftsgesellschaften zuzugehen. Immer mal wieder sind Vertreter·innen in Freiburg, um die Sammlungen zu begutachten. Beispielsweise der namibische Botschafter. „Wir befürworten diese Besuche, das sind mit die spannendsten Momente“, sagt die Wissenschaftlerin. Auch mit Ausstellungen möchten sie und ihr Team Einblicke geben. Für 2022 ist eine in Vorbereitung mit dem Titel „Freiburg und Kolonialismus. Gestern? Heute!“. Ergänzend gibt es die Sonderausstellung „Handle with care. Sensible Objekte aus der Ethnologischen Sammlung“. Brüderlin wird dann nicht mehr in Freiburg sein. Nach neun Jahren wechselt sie im Januar nach Berlin. Dort wird sie das Ethnologische Museum der Staatlichen Museen Berlin leiten. Einen Standort hat es im Humboldt Forum. Das hat im Sommer eröffnet und ist mit seinen ethnologischen Exponaten bereits in die Kritik geraten.

Foto: © Till Neumann

Kooperationen sind nötig, um Kritisches zu finden

Aus aller Welt: Die Objekte kommen aus Afrika, Asien, Australien, Amerika und Ozeanien.

Foto: © Britt schilling

Mit der Provenienzforschung ihres Hauses ist die gebürtige US-Amerikanerin zufrieden: „Freiburg hat hier schon viel geleistet“, zukunftsweisend sei die Arbeit. Bestätigung dafür gab’s gerade vom Gemeinderat: Der hat das Vorgehen der Museen in Sachen Raubkunst und Restitution im Oktober abgesegnet und gelobt. Teil davon ist die seit 2020 verfügbare Online-Sammlung der Städtischen Museen. Rund 1400 Objekte sind dort bereits abrufbar. Sukzessive soll sie erweitert werden. Doch für große Sprünge fehlen Brüderlin die Mittel: „Das größte Problem ist die verstetigte Finanzierung.“ Für neue Arbeitsfelder brauche es mehr Personal. Ihr Team besteht aus zwei Festangestellten und einer Volontärin. Allein für die Provenienzforschung fehlten ihr zwei Kräfte. „Andere Städte sind besser aufgestellt“, sagt die 44-Jährige. Angewiesen ist sie daher auf Fördermittel, beispielsweise vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste Magdeburg. Lob gibt es auch von einem externen Experten: „Freiburg kommt voran“, sagt Heiko Wegmann zur städtischen Provenienzforschung. Der Leiter des Forschungsprojekts freiburg-postkolonial.de findet die Online-Sammlung eine gute Sache. Und er begrüßt die Vorlage für den Gemeinderat und deren breite Annahme. Wünschenswert fände der Sozialwissenschaftler einen weiteren Schritt: „Für noch mehr Transparenz sollten die Museen öffentlich machen, welche Objekte und Sammler sie – zum jetzigen Stand der Recherchen – selbst als besonders kritisch einschätzen.“ Das würde zum Beispiel die Arbeit für Herkunftsgesellschaften vereinfachen. Tina Brüderlin lehnt das ab: „Wir geben keine Liste raus.“ Es sei für Museen fast nicht möglich, alle Bestände konkret zu benennen, die potentiell aus kolonialen Kontexten stammen, da es viele unterschiedliche Parameter gebe. Sie verweist auf den Leitfaden des Deutschen Museumsbundes zu Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Um konkrete Bestände als kritisch einzustufen, sei eine intensive Aufarbeitung nötig. Pauschalisierungen sollten vermieden werden.

Foto: © Till Neumann

KULTUR

Setzt auf Transparenz: Tina Brüderlin vom Museum Natur und Mensch in Freiburg. NOVEMBER 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 39


KINO

Gutes Essen für alle ÉRIC BESNARD BRINGT EINE FANTASTISCHE GESCHICHTE ÜBER DIE GEBURT DES ERSTEN RESTAURANTS INS KINO von Erika Weisser

À la Carte! – Freiheit geht durch den Magen Frankreich 2021 Regie: Éric Besnard Mit: Grégory Gadebois, Isabelle Carré, Benjamin Lavernhe, Lorenzo Lefèbvre Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 112 Minuten Start: 25. November 2021

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er Duc de Chamfort hält gerne Hof. Noch lieber brüstet er sich dabei mit den Kochkünsten seines Küchenchefs Pierre Manceron – so, als hätte er selbst all die erlesenen Köstlichkeiten aufgetischt, in denen seine Gäste nur herumstochern: Für die Adeligen im 18. Jahrhundert, heißt es im Vorspann, diente das gemeinsame Essen nur dazu, „die Langeweile zu vertreiben und anderen den eigenen Reichtum zu beweisen“. Während im Jahr 1789 draußen vor den Toren der Schlösser das Volk hungert. Manceron ist tatsächlich ein genialer Koch, der auch die aufwendigsten Bankette meistert – mit Hilfe eines riesigen Küchenteams, das er mit buchstäblich harter Hand regiert. Er bringt gleichzeitig 30 verschiedene, mit besten Zutaten zubereitete und kunstvoll arrangierte Speisen auf den Tisch. Und er experimentiert gern: Zu den nach strenger Etikette aufgetragenen gebratenen Tauben, gefüllten Singvögeln, ragoutierten Jungschwänen und sonstigen fleischlichen Genüssen gesellen sich immer wieder auch Beilagen-Kreationen, die aus Gemüsen, Kräutern und Pilzen von heimischen Feldern und Wäldern komponiert sind. Das wird ihm zum Verhängnis. Als er köstliche Pastetchen mit Kartoffel- und Trüffelscheiben serviert, verhöhnt ihn die dekadente Gesellschaft und bezichtigt ihn, ihnen Schweinefutter vorgesetzt zu haben. Der Duc entlässt ihn; Manceron kehrt mit seinem Sohn Benjamin zurück in das Haus seines Vaters auf dem Land. Doch der lebt nicht mehr, nur ein alter Nachbar ist noch da, der ihm hilft, die alte Backstube wieder funktionstüchtig zu machen – während der Sohn Schriften von Rousseau und anderen Aufklä-

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Fotos: © Neue Visionen

rern liest. Missmutig macht sich der verkannte Koch ans einst erlernte Backwerk, seine Kochkunst ist nicht mehr gefragt; nur gelegentlich machen durchziehende Reisende hier Rast, bei Brot und Kastaniensuppe. Benjamins Feststellung, dass er nun endlich frei und kein Lakai des Adels mehr sei, ist ihm dabei kein Trost. Als Louise auftaucht und bei ihm in die Lehre gehen will, weist er sie ab. Er traut ihr nicht und traut ihr nichts zu. Außerdem, gibt er ihr zu verstehen, „ist Kochen Männersache“. Sie ist indessen hartnäckig, setzt sich durch, probiert mit ihm neue Formen der Gastlichkeit aus. Nach vielen Auseinandersetzungen raufen sie sich zusammen, richten eine Gaststube mit Garten ein, erfinden täglich wechselnde Menüs, kochen mit Hingabe und heimischen Zutaten. Sie bewirten alle Menschen – ohne Unterschied der Klasse, lediglich zu unterschiedlichen Preisen, je nach Geldbeutel. Das Konzept funktioniert, Leute aller Stände kommen an einem Ort zusammen, essen erstmals in ein und demselben Raum – Liberté, Egalité und Fraternité – am gleichen Tisch. Ein delikater Gute-Laune-Film mit wunderbaren Landschaftsbildern, leicht wie ein Soufflé, aber immer mit Biss: „Wenige Tage später“, heißt es im Abspann, „stürmte das Volk die Bastille“.


KINO GROSSE FREIHEIT

DAS LAND MEINES VATERS

HANNES

Foto: © Freibeuterfilm

Foto: © Weltkino

Foto: © Studiocanal

Österreich 2021 Regie: Sebastian Meise Mit: Franz Rogowski, Georg Friedrich u. a. Verleih: Piffl Laufzeit: 116 Minuten Start: 18. November 2021

Frankreich 2019 Regie: Edouard Bergeon Mit: Guillaume Canet, Veerle Baetens u. a. Verleih: Weltkino Laufzeit: 103 Minuten Start: 18. November 2021

Deutschland 2021 Regie: Hans Steinbichler Mit: J. Nussbaum, L. Scheicher u. a. Verleih: Studiocanal Laufzeit: 91 Minuten Start: 25. November 2021

Lebenszeichen im Knast

Das Ende einiger Träume

Übermütig in den Abgrund

(ewei). Als Hans im Frühjahr 1945 in Viktors Knastzelle einquartiert wird, hat er eine Nummern-Tätowierung am Unterarm. Wegen Verstoßes gegen den Paragrafen 175 war er ins KZ gekommen – und das Ende der Nazi-Herrschaft brachte ihm keine Freiheit: Männerliebe war weiterhin unter Strafe gestellt, die im Zuchthaus zu verbüßen war. Und dorthin kommt der abgemagerte Kahlgeschorene, um „noch die Reststrafe abzusitzen“. Doch mit „einer perversen Schwuchtel“ will der Mörder Viktor nichts zu tun haben – und jagt Hans gewaltsam hinaus, verweigert ihm gar das erbettelte Streichholz für die selbst gedrehte Zigarette. Schließlich wirft er ihm dann doch eine Schachtel hin – und lässt die KZ-Nummer unter einer anderen Tätowierung verschwinden. Das ist der Beginn einer widersprüchlichen Freundschaft, die sich über die Jahre entwickelt, in denen sich der „Wiederholungstäter“ und der Lebenslängliche immer wieder im Knast begegnen. Ein ganz ausgezeichneter Film, bestens besetzt und mit Tiefgang.

(ewei). Pierre ist 25, als er seinen amerikanischen Traum aufgibt und nach Frankreich zurückkehrt, um den Hof seines Vaters zu übernehmen. Er ist voller Tatendrang und neuer Ideen, doch die sind kostspielig und gehen nicht immer auf. Zudem bremst ihn der Vater, der nicht loslassen kann. Doch Pierre gibt nicht auf. Zusammen mit seiner Frau Claire und den beiden Söhnen überwindet er den Konflikt zwischen Tradition und Modernisierung. Gemeinsam und mit viel Hingabe bewirtschaften sie den Hof, vergrößern die Betriebsfläche, erwirtschaften höhere Erträge, können irgendwie mit den anderen mithalten. Es ist ein hartes, arbeitsintensives Leben am Rand der Erschöpfung. Dennoch wachsen die Schulden – und mit ihnen Pierres Verzweiflung. Inspiriert vom Leben seines Vaters erzählt Edouard Bergeon eine universelle Geschichte von Menschen zwischen Lebensträumen und Existenzsorgen – und wirft einen zutiefst menschlichen Blick auf die Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft.

(ewei). Moritz und Hannes sind 19 – und schon seit ihrer Geburt unzertrennlich und beste Freunde. Dabei könnten die beiden unterschiedlicher nicht sein. Während der zupackende, lebenslustige Hannes sein Leben fest im Griff hat, ist Moritz eher der Träumer. Ständig steckt er in Schwierigkeiten, die Hannes für ihn ausbügelt. Bei einem gemeinsamen Motorradausflug in die Südtiroler Berge ändert sich alles: Hannes stürzt auf Moritz’ schlecht gewarteter Maschine einen Abhang hinab und erleidet ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Im Krankenhaus fällt er ins Koma; niemand weiß, ob er je wieder aufwachen wird. Moritz fühlt sich schuldig, weicht nicht von seiner Seite – und beginnt, das Leben des anderen weiterzuführen. Er schreibt Tagebuch für ihn, übernimmt seinen Job in einem Pflegeheim für psychisch Kranke und emanzipiert sich unmerklich von seiner Rolle des Abhängigen. Eine berührende Geschichte um Lebenslust, Schuld, Vergebung, Verlust und Hoffnung – mit Hannelore Elsner in einer ihrer letzten Rollen.


KINO BENEDETTA

ADAM

ANNETTE

Foto: © Capelight

Foto: © Grandfilm

Foto: © Alamode

Frankreich 2021 Regie: Paul Verhoeven Mit: Virginie Efira, Daphné Patakia u. a. Verleih: Capelight Laufzeit: 131 Minuten Start: 2. Dezember 2021

Marokko 2019 Regie: Maryam Touzani Mit: Lubna Azabal, Nisrin Erradi u. a. Verleih: Grandfilm Laufzeit: 100 Minuten Start: 9. Dezember 2021

Frankreich 2021 Regie: Leos Carax Mit: Adam Driver, Marion Cotillard u. a. Verleih: Alamode Laufzeit: 139 Minuten Start: 16. Dezember 2021

Heimsuchungen einer Nonne

Allmähliche Annäherung

Mysteriöse Dämonen

(ewei). Die fromme Benedetta Carlini wird als Kind von ihren Eltern in ein Kloster im toskanischen Pescia gebracht, wo sie ihren Glauben und ihre heilenden Fähigkeiten festigen soll. Unter den strengen Augen der habund machtgierigen Äbtissin Schwester Felicita entwickelt sich das Mädchen ganz nach Wunsch – doch sie wird zunehmend von religiösen Visionen und erotischen Christus-Fantasien heimgesucht. Die Novizin Bartolomea steht ihr bei, erweckt aber auch ihre sexuellen Gelüste. Schon bald erscheinen die Wundmale Christi an Benedettas Händen und Füßen und machen sie zu einer Heilsverkünderin. Das neue Ansehen bringt sie in das Führungsamt des Klosters – und in die vermeintliche Freiheit, ihre Liebe zu Bartolomea leben zu können. Doch die abgesetzte Vorsteherin, die von der verbotenen Beziehung weiß, wendet sich an den päpstlichen Nuntius in Florenz. Der Kirchenmann bricht nach Pescia auf, das von der Pest noch verschont ist. Ein entlarvender und ziemlich provokanter Film.

(ewei). Abla ist Mitte 40 und lebt mit ihrer Tochter Warda in Casablanca. Ihr Leben als alleinerziehende, berufstätige Frau fordert sie sehr. Hinzu kommt, dass das Café, das sie in der Altstadt betreibt, nicht sonderlich gut läuft. Eines Tages klopft Samia an Ablas Haustür. Die hochschwangere junge Frau sucht Arbeit. Doch Abla schickt sie weg. Ohne Arbeit, Geld und ein Bett für die Nacht verbringt Samia die nächsten Stunden vor Ablas Haus. Da Warda die Fremde aber sofort ins Herz geschlossen hat, gewährt ihr Abla schließlich doch Einlass. Samia lebt sich in den folgenden Wochen gut ein, was nicht nur an ihren ausgezeichneten Backkünsten liegt. Bald entwickelt sich eine echte Freundschaft zwischen den beiden starken Frauen, die jeweils für sich eine schwere Last zu tragen haben, aber unterschiedlich damit umgehen. Subtil berührend und angenehm unverfälscht lotet der Film die Rolle der Frau in der Gesellschaft aus und stellt kluge Fragen danach, was Muttersein bedeutet.

(ewei). Ann ist eine berühmte Opernsängerin, Henry ein polarisierender Stand-up-Comedian. So unterschiedlich die beiden sind, so tief ist ihre Liebe. Als mediengefeiertes Star-Pärchen sind sie in den Häuserschluchten von Los Angeles unterwegs, rasen an blendenden Leuchtreklamen vorbei und singen schließlich „we love each other so much“ in ihrem idyllischen Strandhaus. Sie sind glücklich, freuen sich auf ihr erstes Kind. Doch die Geburt dieser Tochter Annette, eines geheimnisvollen Mädchens mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, wird ihr Leben auf den Kopf stellen. Als Ann ums Leben kommt, wirkt Henry wie von inneren Dämonen getrieben Leos Carax hat ein rauschhaftes, furioses Drama geschaffen, das von der Musik der Art-Pop-Pioniere Sparks getrieben wird und zwischen Momenten eindringlicher Schönheit und abgründigem Hass changiert – mit subtilen Zwischentönen. Das bestens besetzte Werk eröffnete die Filmfestspiele in Cannes 2021– und gewann den Jury-Preis für die beste Regie.


„Ein absurdes Hü und Hott“

KINO

INTERVIEW MIT KINOBETREIBER LUDWIG AMMANN von Erika Weisser

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itten im Sommer, als es die Leute eher ins Freie als ins Kino zog, öffneten Harmonie, Friedrichsbau und Kandelhof wieder – nach einer sieben Monate langen zweiten Phase der geschlossenen Türen. Der Sommer war regnerisch und die Besucher stürmten die Kinosäle geradezu – zumindest bei bestimmten Filmen. Kinochef Ludwig Ammann über Albträume, Masken und Schnapsideen.

Fotos: © Erika Weisser, Ingo Schneider

cultur.zeit: Haben Sie mit diesem Ansturm gerechnet, und wie sieht Ihre Bilanz für die ersten vier Monate nach der Eröffnung aus – kommen die Kinobesucher inzwischen eher zögerlich? Ammann: Wir wussten, dass in diesem Sommer viel mehr attraktive Filme als sonst starten würden, eine von zwei Bedingungen für einen Ansturm war also erfüllt. Dass dann auch noch die zweite Bedingung über weite Strecken erfüllt sein würde, nämlich grottenschlechtes Wetter, konnten wir natürlich nicht vorausahnen. So haben wir allen Grund zur Freude, der Kinosommer war gut, viel besser als der letzte, und der Oktober dank Bond hervorragend. Einziger Wermutstropfen, nicht für

Ludwig Ammann: Mieses Wetter bescherte ihm einen prima Kino-Sommer.

uns, aber für die Verleiher: Da viel zu viele über ein Jahr aufgeschobene Filme gleichzeitig starten, gehen die meisten Titel sang- und klanglos unter – es gibt jenseits der wenigen Gewinner wie „Keine Zeit zu sterben“, „Der Rausch“, „Nomadland“ oder „Die Unbeugsamen“ fast kein gesundes Mittelfeld mehr, nur noch Flops. Ein Albtraum für Verleiher! cultur.zeit: Derzeit gilt in Ihren Kinos die 3G-Regel. Wie hoch sind damit die Platzkapazitäten? Ammann: Alle Vorschriften, die die Kapazität eingeschränkt hatten, wurden durch die Einführung von 3G aufgehoben. Wir haben darum die gesperrten Sitzreihen nach und nach freigegeben und den Abstand zwischen Buchungsgruppen auf nur noch einen Platz reduziert. Damit kommen wir auf 70 bis 80 Prozent Kapazität, die reichen uns für die allermeisten Filme. Und einen Knaller wie Bond spielt man eben in zwei Sälen – bei insgesamt 11 Sälen kein Problem. Bleibt noch die Maskenpflicht – wobei die Maske ja zum Verzehr abgenommen werden darf. Die 3G-Kontrolle am Einlass kostet selbstverständlich mehr Zeit und Personal. Das dämpft die Rentabilität, ist aber noch verkraftbar. cultur.zeit: Derzeit steigen die Infektionszahlen wieder. Nach den Verlusten von 2020/21 würde so manches Kino eine weitere Schließung nicht überleben. Wie würde für Sie das ideale Konzept für Kinos und andere Kulturstätten in Pandemiezeiten aussehen? Ammann: Die Einführung von 3G als Zugangsbeschränkung für Veranstaltungen war ein überfälliger Fortschritt im bemerkenswert inkohärenten Pandemiemanagement. Anders ist das bei 3G Plus und 2G beim Überschreiten von Grenzwerten, denn der Anteil der Schnellgetesteten am Einlass ist schon

Ein Ort für besondere Filme: das Kandelhof-Kino.

seit Wochen auf ein bis zwei Prozent gesunken. Da sind 3G Plus und 2G reine Augenwischerei, das verhindert kein einziges epidemiologisch relevantes Cluster. Und bei der Maskenpflicht am Platz nach der 3G-Kontrolle rollen sogar die mit den Augen, die sie von Amts wegen hochhalten sollen. Darum: 3G minus Maskenpflicht bis zum Frühling wäre gut, noch besser wäre eine Impfkampagne, die auch die Skeptiker und Gegner überzeugt, schädlich sind Schnapsideen wie das optionale 2G: Epidemiologisch sinnfrei und mit Blick auf die Maskenpflicht ein absurdes Hü und Hott, denn die entfiel nun nur auf der Basisstufe; in der inzwischen verkündeten Warnstufe herrscht nämlich wieder Maskenpflicht. Wer sich hat ködern lassen, darf jetzt seinen Gästen verklickern, dass sie nach zwei Wochen Freiheit die Maske wieder auflassen müssen. Wer soll das denn noch ernst nehmen? cultur.zeit: Herr Ammann, vielen Dank für das Gespräch. NOVEMBER 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 43


MUSIK

„Kann nicht sein“ DAS DEBÜTALBUM VON QUINTIN COPPER UND NAS MELLOW LÄSST AUFHORCHEN

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ässig im See stehen und ein noch lässigeres Lied singen. Das können zwei junge Musiker namens Quintin Copper und Nas Mellow wie nur wenige andere. Das Duo aus Freiburg und Tübingen hat kürzlich das Debütalbum „April Dreams“ rausgebracht. Der soulige Sound sorgt nicht nur für eine wachsende Fanbase. Auch ein Freiburger Altmeister feiert ihn.

von Till Neumann

Mischen Soul, Funk und Jazz: Quintin Copper und Nas Mellow. DJ Rainer Trüby (rechts) hat für das Debütalbum des Duos seine Kontakte spielen lassen.

Mit Keyboard, Gitarre und Hawaiihemd stehen die beiden im Niederrimsinger Baggersee. Quintin Copper drückt die Tasten, Nas Mellow zupft an den Saiten. Hinten schwimmt ein Mann vorbei. Was mit reduziertem Beat beginnt, entwickelt sich spätestens im Chorus zu einer genüsslich groovenden Wohlfühlnummer. „Breathe easy“ singt Nas Mellow, der mit bürgerlichem Namen Nasir Marc Imam heißt. Warum er den Text geschrieben hat? „Es können sich alle mal ganz ordentlich entspannen“, sagt der 25-Jährige. Schluss mit Dauerstress und Hektik. Die Idee dazu hatte der Musiker mit Wurzeln in Nigeria nach einer langen Recor-

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ding-Session: „Das kam wie ein Freestyle rausgeschossen.“ Für den Tübinger Studenten fühlt sich das Leben nicht immer gut an. „Wir sind always in a rush“, sagt er. Also in Dauereile. So könne man die guten Sachen im Leben nicht sehen. „Und das bringt dir die Schule oder Wirtschaft auch nicht bei – also musst du es in Kunst packen.“


MUSIK

Post-Punk aus Freiburg

Gemeinsam mit dem in Freiburg lebenden Quintin Copper (25) hat er das mit „April Dreams“ getan. Die neun Songs der Platte mischen Soul, Funk, Rap und Jazz. Der Laid-Back-Sound bietet Retro-Knistern, relaxte Synthies und Beats zum Kopfnicken. Dazu eine Stimme, die ins Ohr geht und da auch bleibt. Überzeugt hat das den Freiburger DJ-Altmeister Rainer Trüby. Der lernte Copper vor etwa drei Jahren bei einer Plattenbörse kennen. „Der hat sich für die richtigen Scheiben interessiert“, erzählt Trüby. Sie kamen ins Gespräch. Kurz darauf besuchte Quintin den DJ, um noch mehr Vinyl zu bekommen. Dabei berichtete er von seiner Musik, Trüby hörte rein und war angetan. „Das kann nicht sein, dass so was aus Freiburg kommt“, dachte er sich und empfahl die beiden dem Sonar Kollektiv in Berlin. Das Musiklabel war ebenso begeistert und nahm sie unter Vertrag. Mittlerweile gibt es von „Breathe Easy“ einen Rainer-Trüby-Remix. „Der Song ist eins meiner Lieblingsstücke, aber ich mag das ganze Album“, erzählt der Mann, der einst die Fantastischen Vier auf das Sample für „Die Da?!“ brachte. Als organisch, uplifting und soulfull beschreibt Trüby den Sound. Nicht so clean wie vieles andere.

„DAS BLANKE EXTREM“ WARTET MIT NEUEM ALBUM AUF „Unheimlich nette Leute“ – auf diesen Namen hört die neue Scheibe der in Freiburg ansässigen Post-Punk-Combo „Das blanke Extrem“. Eine gewisse Ironie ist dem Titel nicht abzusprechen. Auf dem Werk, das am 19. November auf Flight 13 Records erscheint, werden harte Themen aufgegriffen. „Natürlich war es schmerzhaft, wegen Corona keine Konzerte spielen zu können“, erinnert sich Sänger und Gitarrist David Sipple. Doch die Formation blieb nicht untätig, sondern nutzte die Zeit, um an Sound und neuen Kompositionen zu feilen. Das hat sich gelohnt. Der Nachfolger des vor zwei Jahren erschienen Debüts „Alles in schönster Ordnung“ dürfte bei manchem Fan von alternativer Gitarrenmusik mit Ecken und Kanten gut ankommen. Der Opener „Sprichwörtliches Geplänkel“ wartet mit textlichen Einfällen rund um Luftschlösser aus verbalen Flatulenzen und befruchteten Gehirnen auf. Auf den folgenden Songs beziehen die Künstler dezidiert Stellung zu aktuellen Themen. Klar, die Auseinandersetzung mit Aspekten wie Rechtsextremismus, Gentrifizierung, dem Leben im Kapitalismus und Social Media ist nichts Neues. Dennoch umschifft die Band ausgelatschte Floskeln und Klischees. Bestes Beispiel: „Von allen guten Geistern nie besucht“ verzichtet auf „Nazis raus!“-Parolen, stattdessen erschallen schon im Intro Worte von Bertolt Brecht. „Wir haben das Glück, zusammen in einer Band zu spielen, auf der Bühne zu stehen und schon unser zweites Album veröffentlichen zu können“, so Sipple. Diese Reichweite will die Gruppe nutzen, um Themen zu verhandeln, die ihr wichtig sind – jedoch ohne dabei eine Deutungshoheit zu reklamieren. Wer herausfinden will, wie das live und in Farbe klingt, kann sich den 20. November vormerken. Dann spielen die Jungs eine Release-Show im Freiburger Slow Club, als Support ist Shitney Beers dabei. Außerdem soll es einen Live-Stream geben. Die Band hofft mit Sicherheit auf den Besuch vieler unheimlich netter Leute – dieses Mal ganz unironisch. Pascal Lienhard

Fotos: © Georg Peiffer, Joergens.mi/Wikipedia

Retro passt gut zu den zwei Studenten, die ihr Musikvideo mit wackeligen Handyaufnahmen schmücken und Effekte einbauen, die vor 20 Jahren als trendy galten. Als große Strategen geben sie sich im chilli-Interview nicht: Warum „Breathe Easy“ die erste Single geworden ist? „Das wissen wir gar nicht.“ Auch der Videodreh sei Zufall gewesen und die Bilder eher nebenbei entstanden. Genauso zufällig sind sie zusammengekommen: Bei einer WG-Party trafen sie sich 2018 in Tübingen und nahmen gemeinsam was auf. Copper lebt mittlerweile seit drei Jahren in Freiburg. Er ist in Kanada geboren und wuchs in Kirchheim unter Teck auf. Zweimal ist das Duo bisher in Freiburg aufgetreten. Beide Shows im Artik haben sie in bester Erinnerung. Die Chemie stimmt offenbar. Copper ist verantwortlich für die meisten Beats. Mellow textet, singt und hilft bei der Produktion. Warum sie gerne zusammenarbeiten? „Wegen seinem Perfektionismus und Einfallsreichtum – und wegen seiner Stimme“, sagt Copper. Mellow gibt das Lob zurück: „Er ist einfach sehr kreativ und hat keine Scheu davor, neue Wege zu gehen.“ Als Vorbilder nennt Mellow Stevie Wonder, Donnie Hathaway oder Tyler the Creator. Copper ergänzt auch Unbekanntere: „Neben den Stars waren für mich auch viele Leute in der nächsten Nähe Vorbilder für bestimmte Aspekte; für manche Sachen Nas Mellow selbst, oder aus der Nähe von Kirchheim Bands wie ,Yeah‘ oder das kleine Label ,Beatbude‘.“ Sie hätten ihm gezeigt, dass man auch selbst Gutes aufnehmen kann, wenn man es wirklich will. In eine Schublade stecken lassen möchten sich die beiden nicht: „Wir wollen einfach gute Musik machen“, betont Mellow. Die komme vom Herzen, und das sei eben Soulmusik.

Foto: © Sévérine Kpoti

„Keine Scheu, neue Wege zu gehen“

„Das Blanke Extrem“: Die Band bezieht Stellung zu aktuellen Themen.

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BIFFY CLYRO

Dream Pop

THE MYTH OF THE HAPPILY EVER AFTER

BLUE BANISTERS

te des M

Alternative-Rock

Foto: © Fotogräfin Lisa

4 FRAGEN AN Musikrätin Nina Ruckhaber Die Freiburgerin Nina Ruckhaber ist gerade ins Präsidium des Deutschen Musikrats gewählt worden. Für das Ehrenamt hat sich die 36-Jährige einiges vorgenommen. Was genau, erzählt sie im Interview mit chilli-Redakteur Till Neumann. Frau Ruckhaber, was macht eine Musikrätin? Der Musikrat ist ein Dachverband. Wir engagieren uns für Verbände, schreiben Statements oder fördern Projekte wie „Jugend musiziert“. Ich bin für vier Jahre ins Präsidium gewählt als eine von 19 Präsidiumsmitgliedern im Deutschen Musikrat. Wie kommt man zu so einer Position? Ich lebe und liebe Musik. Ich singe im Jazzchor Freiburg, blogge und gehe viel auf Konzerte. Ich bin Medienvorstand der Deutschen Chorjugend und im Beirat Chor des Musikrats. Jetzt bin ich das zweitjüngste Präsidiumsmitglied dort. Was möchten Sie bewegen? Zum einen ist das die Musik in den Schulen. Wenn Musikunterricht nicht wieder als vollständiges Fach zurückkommt, können wir das in der Freizeit kaum mehr aufholen. Ein weiterer Punkt ist Projektförderung, die wahnsinnig arbeitsaufwendig ist. Wir brauchen unkomplizierte institutionelle Förderungen. Ich möchte auch, dass sich mehr junge Menschen in Verbänden engagieren. Können sich Musiker·innen an Sie wenden? Absolut! Ich bin erreichbar. Vielleicht kann ich auch zu Themen beraten. Das ist eine neue Rolle, ich muss mich da erst mal reinfinden. 46 CHILLI CULTUR.ZEIT NOVEMBER 2021

Melancholische Melodien

Kreativität ohne Ende

(lfn). Nur wenige Monate nach „Chemtrails over the Country Club“ beglückt Lana Del Rey ihre Fans mit dem achten Album „Blue Banisters“. Allzu viel Abwechslung dürfen diese von den fünfzehn Tracks allerdings nicht erwarten: Liebe, Jugend und Pferdestärken beschäftigen die Songwriterin auch zum Jahresende. „And if this is the end, I want a boyfriend – Someone to eat ice cream with and watch television – Or walk home from the mall with“, trällert die 36-Jährige in eingängiger Folk- und Country-Manier auf dem Song „Black Bathing Suit“. Es ist nicht der einzige Ohrwurm. Auch die Klavierklänge der Single „Arcadia“ hallen lange im Ohr. Und selbst wenn sich inhaltlich wieder alles um Herzschmerz in den Hollywood-Hills dreht, so schlägt Del Rey doch zumindest musikalisch neue Töne an, schreit im Duett mit dem Sänger Miles Kane auf „Dealer“ regelrecht ins Mikro. Ein Schuss ins Blaue ist „Blue Banisters“ trotzdem nicht – die Sängerin verlässt ihre Komfortzone leider viel zu selten und so reicht die Scheibe nicht an „Norman Fucking Rockwell“ oder „Born to Die“ heran. Für melancholische Herbsttage mit dicker Decke, heißem Tee und vielleicht sogar einer Packung Taschentüchern kommt Album Nummer acht aber wie bestellt.

(pl). Biffy Clyro gelten einigen als eine der großen Rockbands unserer Zeit. Das schottische Trio ist enorm wandlungsfähig und versteht es, große Melodien mit komplexem Songwriting zu verbinden. Zudem scheinen die Jungs vor Ideen überzusprudeln: Gerade einmal rund 14 Monate hat der Vorgänger auf dem Buckel und schon steht ein neues Werk in den Regalen. Und das hat es in sich. Besonders abgefahren gerät „Unknown Male 01“. Zwei verschiedene Refrains, eingängige Ohrwurmparts, hier eine zurückgenommene Instrumentierung, dort harte Gitarren – die Band demonstriert in rund sechs Minuten eindrucksvoll, was in ihr steckt. Der Song gleicht einer Achterbahnfahrt ins Ungewisse. Ähnlich „Holy Water“: Die Nummer tarnt sich als eine von der Akustikgitarre dominierte Ballade, bevor sie sich in eine andere Richtung entwickelt und am Ende ordentlich an Härte gewinnt. Doch auch ohne derart unkonventionelle Songstrukturen überzeugt die Formation. Songs wie das ordentlich rockende „A Hunger in your Haunt“ liefern ab, ohne altbekannt oder abgedroschen zu klingen. Die experimentierfreudigen Biffy Clyro verlangen ihrer Hörerschaft so einiges ab – nicht zuletzt mit dem abgespacten „Slurpy Slurpy Sleep Sleep“. Die Fans werden es ihnen danken.

on ats

Rein ins Präsidium

LANA DEL REY

Pl a t

MUSIK


KOLUMNE MARTERIA

HELENE FISCHER

Deutsch-Rap

Pop/Schlager

5. DIMENSION

RAUSCH

Der Sounddreck zum Kotzen Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Diese Party wird düster

Schlechter Trip

(pl). „Niemand bringt Marten um“ – ein Opener wie eine Kampfansage. Marteria, bürgerlich Marten Laciny, ist zurück und erklärt selbstsicher, dass er sich von nichts und niemandem unterkriegen lässt. Was auf den weiteren elf Tracks folgt, ist eine Tour durch verschiedene Themen, die den Rostocker Musiker umtreiben. Mal geht es um das Leben an der heimatlichen Ostsee („Strandkind“), mal um Erinnerungen an einen Besuch West-Berlins nach dem Fall der Mauer („Neonwest“). Ein Topos, auf den der Musiker auf „5. Dimension“ immer wieder zurückkommt: das Feiern. Da ist es folgerichtig, dass das Album stark elektronisch daherkommt. Dennoch: Ausgelassene Partylaune mag größtenteils nicht so recht aufkommen. Dazu tragen die Texte zu viel Dunkelheit, die Sounds zu viel Schwere in sich. Besonders düster gerät das manisch-zugedröhnte „Traffic“ – gute Stimmung geht anders. Das Gesicht des arg derangierten Musikers auf dem Plattencover spricht Bände. Mit Ausnahme des unnötigen Rohrkrepierers „Interstellar“ ist Marteria mit „5. Dimension“ eine weitestgehend homogene Platte gelungen. Die Stimmung, die er auf dem Longplayer heraufbeschwört, ist nicht jedermanns Sache. Aber auch das wird Marten nicht umbringen.

(pt). Zugegeben: Sich über Schlager lustig zu machen, ist eine dankbare Aufgabe. Kummer und Kümmern, Pathetik und Plattitüden, heile Welt und Heiterkeit in wechselnden Worthülsen, klatschbar auch nach zwölf Bier oder sieben Weinschorle. Daran berauscht sich bisweilen nicht mehr nur die Generation Tonträger. Von solchen hat Schlagerqueen Helene Fischer schließlich mehr als 16 Millionen abgesetzt. Dazu kommen 12 Platin-, 30 Gold- sowie Tourticketpreise um 170 Euro. Nach erster Injektion ihres 18 Lieder starken Narkotikums „Rausch“ verarbeitet die Sängerin auf „Volle Kraft voraus“ auch gleich die Trennung von Florian Silbereisen. Allerdings ohne den Namen des Traumschiff-Kapitäns zu nennen. Fischer will darin „zurück aufs offene Meer“ und ihr Netz neu auswerfen. Der Kahn säuft textlich wie musikalisch allerdings gründlich ab. Da hilft auch der liebe Herrgott nicht. Auf „Engel ohne Flügel“ tätschelt Fischer dem Pflegepersonal des Landes den krummgeschufteten Rücken. „Er wird geliebt auf der Station und diese Liebe ist sein Lohn“, jauchzt Fischer beinahe zynisch. Das erste Album seit 2017 soll ein Rausch sein, statt bunten Farben stellt sich nach wenigen Tönen üble Katerstimmung ein. Von manchen Drogen lässt man lieber die Finger.

„Ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen möchte.“ Wer hat das gleich noch mal gesagt? Dieter Bohlen, Karl Dall oder doch Christian Lindner? Nein, es war natürlich Kommissar Ballermann, der große alte Ermittler in Sachen Trink-, Sauf- und KotzLied und zudem der Gottvater der Geschmackserund -verbrechensbekämpfung. Kein Widerspruch? Ich merke schon: Wir können Ihnen nach wie vor viel wenn nicht alles erzählen. „Saufen, Kotzen, Aspirin, mehr ist heute nicht mehr drin“ lautet unsingigerweise das Motto von Meiki Rakete, einem der neueren Vertreter der Mallorca-Connection. Bis zum Erbrechen wurde unsererseits versucht, diese Branche auszutrocknen (ha!) – keine Chance. So viel Sangria kann man gar nicht vernichten, wie er in diesen Kreisen konsumiert und als schwallartige Entleerung des Magen- oder Speiseröhreninhaltes entgegen der natürlichen Richtung (retroperistaltisch) durch die Speiseröhre und den Mund zurückbefördert wird. Wir übergeben uns gegenseitig diese Fälle seit Jahren immer wieder hin und her, ohne dass sich durchschlagende Erfolge in der Ermittlung und Ergreifung der Straftäter einstellen. „Komm schon, spuck’s aus“ ist eine Standardaufforderung in den vielen Verhören, die wir wieder und wieder zu führen haben. Das Ergebnis ist immer das Gleiche – zum Kotzen. Bis zum Erbrechen grüßt Ralf Welteroth für die Geschmackspolizei


LITERATUR

Fast wie ein Wunschkonzert HANNA HOVTVIAN FREUT SICH AUF DAS 35. FREIBURGER LITERATURGESPRÄCH

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Foto: © Marc Doradzillo

von Erika Weisser

nter dem Motto „Schrift für blinde Riesen“ laden Martin Bruch, Birgit Güde und Hanna Hovtvian ein zu „inspirierenden Reisen durch eine Fülle von Zeiten“: Zum 35. Freiburger Literaturgespräch, das am zweiten November-Wochenende im Literaturhaus stattfindet – im gut gelüfteten und spärlicher als sonst bestuhlten Saal. Oder im Livestream: Während 2020 alles abgesagt oder nachgeholt werden musste, sind die Organisator·innen heuer besser auf Unwägbarkeiten eingestellt und haben technische Voraussetzungen für Hybridund online-Veranstaltungen geschaffen.

Liebt Festivals: Hanna Hovtvian im „Weltgarten“

INFO „Schrift für blinde Riesen“ 35. Freiburger Literaturgespräch 11. bis 14. November 2021 Literaturhaus Freiburg Eröffnungslesung: Donnerstag, 11.November 19.30 Uhr, Ratssaal des Neuen Rathauses, Freiburg www.literaturhaus-freiburg.de

Für Hanna Hovtvian ist es das erste Freiburger Literaturgespräch, an dem sie mitwirkt: bei der Programmgestaltung, an der logistischen Organisation und als Moderatorin. Ihr erstes Festival ist es indessen nicht: Die 27-Jährige, die Anfang des Jahres ins Literaturhaus Freiburg kam, war aktiv am Übersetzer-Festival „Café Ü“ im Herbst beteiligt, außerdem am „Weltgarten“, dem Lesefest im Freien, das im Sommer mit Autoren des Nature Writing in Schrebergärten, in Parks und unter Bäumen stattfand. Und auch zuvor war sie im Festivalbetrieb tätig: 2017, noch vor dem Abschluss ihres Master-Studiums der Literatur- und Kulturwissenschaft, machte sie beim Göttinger

48 CHILLI CULTUR.ZEIT NOVEMBER 2021

Literaturherbst ein Praktikum – und verbrachte dort ihre ersten drei Berufsjahre. „Ich mag Festivals und alles, was damit zu tun hat, die Vielseitigkeit, den gemeinschaftlichen Prozess, in dem ein solches Event entsteht, die Begegnungen und auch das Gefühl danach.“ Zunächst hatte sie einen anderen Berufsweg eingeschlagen: In ihrer Geburtsstadt Dnipro in der Ost-Ukraine hatte sie ein Bachelor-Studium für Technische Übersetzungen aus dem Englischen ins Ukrainische und Russische absolviert. Das war der damals 20-Jährigen aber zu einseitig, zu einsam. Also ging sie 2014 für ein Au-Pair-Jahr nach Deutschland, lernte Deutsch und schloss das erwähnte Master-Studium an – allerdings in englischer Sprache. Sie mag also auch Veränderung. Deshalb bewarb sie sich auf die für zwei Jahre ausgeschriebene Stelle als Elternzeitvertretung im Literaturhaus. Von Anfang an, erinnert sie sich, habe sie sich hier zu Hause gefühlt. Wegen „der sehr herzlichen Aufnahme“, aber auch wegen des „solidarischen Teamgeists, der hier in jeder Beziehung“ herrsche. Besonders beeindruckt habe sie, dass nach der Absage des Literaturgesprächs 2020 den geladenen Autoren Ausfallhonorare bezahlt wurden – als Unterstützung in der Krise. Nun freut sich die vielsprachige Kulturvermittlerin auf die nächste Ausgabe des Literaturgesprächs, „dessen Programm sich liest wie ein Wunschkonzert“: Fast alle Namen, die das Team bei der Planung „im Kopf hatte“, sind darauf zu finden. Lutz Seiler ist dabei, Paul Maar, Monika Helfer, Felicitas Hoppe, Jo Lendle, Yevgeniy Breyger und etliche andere. Besonders gespannt ist Hovtvian auf die Begegnung mit Sasha Marianna Salzmann, deren Lesung sie moderieren wird und deren Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ teilweise in der Stadt spielt, in der sie selbst aufwuchs und studierte.


FREZI

AM LAUFENDEN BAND

von Joseph Ponthus Verlag: Matthes & Seitz, 2021 240 Seiten, gebunden Preis: 22 Euro

DIE MILITANTE MADONNA

von Irene Dische Verlag: Hoffmann und Campe, 2021 159 Seiten, Hardcover Preis: 22 Euro

ALT-FREIBURG

von Peter Kalchthaler Verlag: Sutton, 2021 120 Seiten, gebunden Preis: 22,99 Euro

Wütendes Lied

Vergnügliches Schelmenstück

Der erste Fotograf der Stadt

(ewei). Ein Mann, der in einem anderen Leben erst Student und dann Sozialarbeiter war, verdingt sich bei einer Zeitarbeitsfirma, die ihn und seine Arbeitskraft gewinnbringend an verschiedene Fabriken der Lebensmittelbranche verleiht. Fortan schuftet er als Garneleneinfrierer oder -auftauer, als Wellhornschneckengarer, als Fischsortierer, als Schlachtkörperschieber – am ununterbrochen laufenden Fließband. In Schichten, zu jeder Tages- und Nachtzeit, selbst dann, wenn die Festangestellten für bessere Arbeitsbedingungen streiken. In diesem Fall mit der doppelten Arbeit für den gleichen erbärmlichen Lohn: Da Zeitarbeiter kein Recht auf Streik haben, müssen sie den Anteil der Kollegen miterledigen. Er macht diesen Job nicht, um in einem Anfall von Klassenkampfromantik das Leben innerhalb der Fabrikmauern kennenzulernen und dann Industriereportagen der Marke Wallraff zu schreiben, sondern „wegen der Kohle“: Er will seiner Frau, deretwegen er von Paris in die Normandie zog, nicht auf der Tasche liegen, und in seinem Metier gibt es keine Stellen. Irgendwann schreibt er seine Erlebnisse auf, verdichtet sie zu einem epischen Versroman. Und der wird zu einem wütenden Lied, in dem die Stimmen der heutigen Arbeitssklaven so deutlich zu hören sind wie selten.

(ewei). Heute würde man den Chevalier d’Éon de Beaumont als nichtbinäre Person bezeichnen. Mit dem entsprechenden Sternchen im geschriebenen Wort und der kurzen Unterbrechung im gesprochenen. Er/sie selbst würde sich wohl lustig machen über all die Diskussionen um gendergerechte Sprache. Das lässt sich zumindest aus dem Vorspruch schließen, mit dem Irene Dische ihre höchst amüsant und schelmenhaft erzählte Lebensgeschichte dieses Menschen eröffnet, der im 18. Jahrhundert lebte. Als Botschafter des französischen Königs und dessen Spionin, als Freimaurer und Degenfechterin, als Soldat und Soldatin, als Finanzexperte und Büchernärrin. „Ich betrachte Sie in Ihrem seltsamen Jahrhundert voller Verwunderung“, lässt sie diese schillernde Figur an heutige Leute gerichtet sagen, die offenbar glaubten, sie hätten „die Wahlfreiheit erfunden, ein Mann oder eine Frau zu sein“. In Wahrheit aber „haben Sie nur jede Menge Regeln erfunden, wie eine einmal getroffene Wahl umzusetzen und in Worte zu fassen ist“ – unter strenger Kontrolle des Sprachgebrauchs. Éon oder Lea de Beaumont hat sich nie um solche Regeln und Festlegungen gekümmert. Er sprach, lebte und kleidete sich, wie es ihr gefiel – und beiden dabei lesend zuzusehen, das ist witzig, spannend und rührend. Ein großes Vergnügen.

(ewei). Die Stadt, die beim Durchblättern des Buchs sichtbar wird, wirkt auf den heutigen Betrachter vertraut und unbekannt zugleich. Auf den mehr als 120 reproduzierten Aufnahmen des ersten Freiburger Fotografen Gottlieb Theodor Hase und seines Sohnes Fritz sind Plätze, Straßen, und Gebäude festgehalten, die nicht mehr da sind. Oder zumindest so stark verändert, dass sie nicht auf den ersten Blick zu verorten sind. Die Hases haben diese Bilder in den Jahren zwischen 1852 und 1904 gemacht – und dabei bereits die allmähliche Veränderung der Stadt dokumentiert. Da gibt es zwar Brücken über die Dreisam, die mit den heutigen höchstens noch den Namen gemein haben. Da sind auch noch Reben und Gärten mitten in der Stadt – und freie Flächen. Doch es gibt bereits Fotos von deren Bebauung, etwa vom Bau des späteren Rotteck-Gymnasiums, das längst der UB weichen musste. Auf diesen Fotos ist auch die Synagoge zu erkennen, die 1938 zerstört wurde. Und am heutigen Karlsplatz prangt die wunderschöne Kunstund Festhalle, die die Bombardierung 1944 nicht überstand. Eine wahre Fundgrube. Nicht nur wegen der dokumentarischen Bilder, sondern wegen der kenntnisreichen kurzen Geschichte der Fotografie, die Peter Kalchthaler seinen Ausführungen voranstellt. NOVEMBER 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 49


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