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Kunst & Kultur
STILLE VERHEISST ÜBERLEBEN
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„Di Am 22. März wäre der weltberühmte Pantomime Marcel Marceau 99 Jahre alt geworden. 1923 wurde er als Sohn einer jüdischen Familie in Straßburg geboren. Über die tragischen Hintergründe von Marceaus Kunst der Stille hat der Züricher Regisseur Maurizius Staerkle Drux jetzt einen bewegenden Dokumentarfilm gedreht. Text: Erika Weisser
Ein Mann mit weiß geschminktem Gesicht und dunkel konturiertem Mund kommt ins Bild. Er hält den Kopf schräg, als würde er lauLebensretter mit Ringelhemd und Rose schen. In sich hinein lauschen. Er bewegt nur die Arme, die Hände. Sie scheinen zu fliegen, Er kann aber auch traurig sein. Todtraurig. ein Ziel zu suchen. Schließlich formen sie ein In Marcel Marceaus Kunst liegen Glück und Herz. Die leise, ruhige, fast monotone Musik Trauer ganz nahe beieinander, machen die inhört sich plötzlich an wie ein schlagendes Herz. nere Spannung seiner Seele aus. Wie in seinem Leben: Ihm selbst ist es nach der Annexion des Szenenwechsel. Eine weibliche Stimme fragt: Elsass durch die deutsche Wehrmacht zwar ge„Wie sagt man auf pantomimisch ,Ich liebe lungen, aus Straßburg zu entkommen. Doch Sie?‘“ Der ungeschminkte Mann auf der klei- seinen Vater Charles Mangel konnte er nicht nen Bühne findet „diese Frage wunderbar“ und retten. Er wurde verhaftet, nach Auschwitz debeginnt mit der Performance. Er dreht sich portiert und dort ermordet. Das hat den Panmit dem Rücken zum Publikum, beugt den tomimen sein Leben lang belastet, wie MauriKopf nach vorne, überkreuzt die Arme vor zius Staerkle Druxs Film eindringlich zeigt. dem Oberkörper und lässt seine Hände streichelnd über Rücken, Kopf und Nacken glei- „Marceau“, sagt der Regisseur, „hat mich seit ten. Keck dreht er den Zuschauern den Kopf meiner Kindheit begleitet.“ Dabei ist der 1988 zu und sagt mit einem Augenzwinkern, dass es geborene Dozent für Ton im Film an der auch einfacher geht: Er bittet die Fragestellerin Zürcher Hochschule der Künste dem im auf die Bühne und umarmt sie. Und lacht. Jahr 2007 verstorbenen Künstler nie persönlich
Kunst der Stille“ e – Marcel M arc e a us Geheimnis
Der Pantomime Marcel Marceau und sein Cousin Georges Loinger (r.) retteten jüdische Kinder vor den Nazis, darunter auch Georges‘ Sohn Daniel Loinger (l.).
Fotos: © W-Film
begegnet. Da der Pantomime aber im Leben seines von Geburt an gehörlosen Vaters Christoph Drux eine ganz zentrale, ja existenzielle Rolle spielte, sei er selbst früh mit der Welt der Gebärden und der Stille in Berührung gekommen. Der Vater hatte Marceau als Kind bei einem Theaterbesuch kennengelernt: Im Film erzählt Christoph Drux, wie begeistert er war, als er sofort perfekt verstand, was dieser zugleich traurige und lustige „Bip“ mit Ringelhemd und einer Rose am zerbeulten Hut zu sagen hatte und wie er dazu „keine Geräusche brauchte“. „Hätte mir das nie jemand gezeigt, wäre ich verloren gewesen“, beteuert der Mann, der selbst als Pantomime auf Kleinkunstbühnen zu Hause war.
Nicht nur den Vater hat Marceaus Kunst gerettet: Maurizius Staerkle Drux erinnert sich an eine Begegnung in New York – mit einer alten Dame, die ihm beteuerte, dass ihr ein Pantomime das Leben gerettet habe. Das sei ganz am Anfang des Filmprojekts gewesen und habe ihn gleich „hellhörig und neugierig gemacht“. Er habe dann eingehender über Marceaus Leben geforscht und ein paar weniger bekannte Aktivitäten entdeckt: Er fand heraus, dass Marceau sich der Résistance angeschlossen und mit seinem Cousin Georges Loinger heimlich jüdische Kinder über die Grenze in die Schweiz geschmuggelt hatte. Bei dieser Recherche traf er dann sogar noch auf Georges Loinger, der damals bereits 105 Jahre alt war. Dieser berichtete bereitwillig, wie Marcel die Kinder lehrte, in Gefahrensituationen nicht zu sprechen und die Stille zu nutzen, um zu überleben. Mit dem inzwischen verstorbenen Loinger, erinnert sich Drux, habe er die ersten Szenen gedreht, die er dann für den Film verwendete – nach vielen Gesprächen, bei denen auch der damals gerettete Daniel Loinger anwesend war.
Das habe er auch mit Marceaus Witwe Anna Sicco und ihren Töchtern Camille und Aurélia Marceau so gehalten. Die Familienmitglieder, die sich zehn Jahre nach Marceaus Tod zum ersten Mal mit jemand Unbekanntem über den Menschen und Künstler unterhielten, waren erst nach vielen Begegnungen ohne Kamera bereit, auch vor der Kamera von ihm, seinem Leben und seinem Wirken zu erzählen. Von der anfänglichen Distanz ist im Film nichts zu spüren: Die drei Frauen, der Enkel Louis Chevalier und viele andere Weggefährten erzählen so unbefangen und vertraut, als wäre der junge Regisseur ein alter Freund. Ein großartiger Film. Chapeau!
Regisseur Maurizius Staerkle Drux ist mit der Stille aufgewachsen.
Foto: © MAXDRUX Gmbh Die Kunst der Stille Schweiz 2022 Info Regie: Maurizius Staerkle Drux Dokumentarfilm; 85 Minuten Verleih: W-Film (D), Cineworx (CH)
15., 17., und 22. Mai im Kommunalen Kino Freiburg
www.koki-freiburg.de
Ab 19. Mai im kult.kino Basel
www.kultkino.ch/film/artdusilence/
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