Picturing Nature. Ein Blick in die Sammlung SpallArt

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Picturing Nature Ein Blick in die Sammlung SpallArt


1 Ernst Haas geb. 1921 in Wien (AT), gest. 1986 in New York (US)

•• „Abalone Shell, California“, 1962 aus der Serie The Creation, 1971 Dye-Transfer-Abzug auf Karton, 32,5 × 49 cm Sammlung SpallArt, Inv. S-1, © Ernst Haas Estate


Einleitung Landschafts- und Naturdarstellungen sind seit Anbeginn der Fotografie untrennbar mit dem Medium verbunden – von Joseph Nicéphore Niépces Blick aus dem Arbeitszimmer über Anna Atkins British Algae: Cyanotype Impressions bis hin zu Karl Blossfeldts Urformen der Kunst. Sowohl für wissenschaftliche Dokumentationszwecke als auch in der bildenden Kunst als künstlerisches Ausdrucksmittel gebraucht, wird die Ambiguität der Fotografie im Genre der Naturdarstellung besonders evident. Andra Spallart sammelt seit den 1980er Jahren Fotografien und Videoarbeiten, die Sammlung SpallArt umfasst mittlerweile über 2.500 Werke, die von historischen Objekten über internationale Größen bis hin zu aktuellen Neuentdeckungen reichen. Der Schwerpunkt der Sammlung liegt auf zeitgenössischen, fotografischen Positionen aus Österreich, die mit Klassikern amerikanischer und europäischer Fotokunst sowie mit neueren Arbeiten des europäischen Umfelds in Bezug gesetzt werden. Die Themen Natur und wissenschaftliche Dokumentation bilden dabei einen wesentlichen Fokus von SpallArt. Anlässlich der FOTO WIEN wirft EIKON einen Blick in die Sammlung und macht ausgewählte Schätze, zumeist sicher im Depot gelagert, nun einem größeren Publikum zugänglich. Für Picturing Nature. Ein Blick in die Sammlung SpallArt werden Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern der Gegenwart Klassikern gegenübergestellt und zeigen so das breite Spektrum auf, in der eine fotografische Auseinandersetzung mit der fragilen wie lebensnotwendigen Beziehung von Mensch und Natur erfolgen kann. Nela Eggenberger, EIKON

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Eine fotografische Assoziationsmaschine Sammeln ist eine Tätigkeit, die hinter den Kulissen stattfindet.

ebenso wie die Möglichkeit, Denkmäler, Vergängliches oder gar

Museen zeigen meist nur einen geringen Teil ihrer Sammlungs­

Kriminalfälle für die Zukunft sichern zu können. Der Zeichenstift

bestände und was nicht auf der Bühne von Ausstellungen

der Natur garantiert im dokumentarischen Anwendungsbereich

zugänglich gemacht wird, ruht im Depot. Dort unterscheidet sich

Neutralität, da sich die Natur selbst zeichnet, sich selbst abbildet.

die Ordnung maßgeblich von chronologischen, kanonischen oder

Im Falle von Plate VII platzierte Talbot etwa ein Pflanzenblatt

didaktischen Festlegungen der Kunstgeschichte. Es geht vielmehr

direkt auf dem Fotopapier. Es handelt sich um eine „fotografische

darum, verschiedenen Materialansprüchen gerecht zu werden und

Zeichnung“ („photogenic drawing“) ohne kompositorischen Eingriff

mit dem zur Verfügung stehenden Platz auszukommen. Gleich-

des Fotografen, demnach ein willkommenes Hilfsmittel für die

zeitig werden die Werke herumgeschoben, fotografiert, restauriert,

Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts. In der Ausstellung wird

von grauer Patina befreit, mit einem Passepartout versehen, neu

dies durch einen Naturselbstdruck von Constantin Freiherr von

gerahmt, möglicherweise in Kisten verpackt – kurzum auf ihren

Ettingshausen und Alois Pokorny aus einem Kompendium über

Auftritt im cleanen White Cube vorbereitet. Dabei hat die Arbeit

Gefäßpflanzen Österreichs repräsentiert.

backstage einen speziellen Reiz, denn es ergeben sich oftmals Zusammenstellungen von Bildern oder Objekten, die man in dieser

Bilder wie diese dienen allerdings nicht nur dem Blick der Wissenschaft. Sie führen auch das Außergewöhnliche im Gewöhnli-

Form nicht angedacht hatte. Man denke in diesem Zusammenhang

chen, die ästhetische Erscheinung einzelner Blätter, Fasern oder des

an das berühmte und für die Surrealisten so wichtige Aufeinander-

gesamten Erscheinungsbildes vor Augen. Man entdeckt die von ihrer

treffen von Nähmaschine und Regenschirm auf einem Seziertisch.

natürlichen Umgebung isolierte Pflanze gleichsam neu. In seinem

Die Ausstellung Picturing Nature versucht dieses Sammlungs-

Text zu Plate VI (dargestellt ist ein vor einem Scheunentor lehnender

geschehen vor den Vorhang zu holen. Zwar lässt sich „Natur“ als

Besen) bemerkt Talbot, dass bereits die holländische Malerei diesen

kleinster gemeinsamer Nenner der 27 ausgestellten Fotografien

Reiz des Unscheinbaren reflektierte und bemüht sich dadurch um

bestimmen. Die zeitliche Spanne der Entstehungsdaten, das breite

eine Anknüpfung an die Malereitradition. Karl Blossfeldt liefert mit

Spektrum an Techniken und Stilen, die Gegenüberstellungen von

seinen Urformen der Kunst das wohl berühmteste Beispiel für die

Ikonen der Fotografie und Foto-Debütanten weisen den Fries jedoch

ästhetische Eroberung der Pflanze. Das Buch wird in der Aus-

als kuratorisches Experiment, als Assoziationsmaschine aus. Bereits der Titel adressiert eine Problemgeschichte, die so alt ist

stellung durch die Vergrößerung der Fruchtform eines Riedgrases vertreten.

wie die Fotografie selbst. In seinem berühmten Fotobuch The Pencil

Picturing Nature zeigt, dass einige Gedanken Talbots bis heute

of Nature (1844) publizierte William Henry Fox Talbot 24 Bildtafeln,

nichts an Aktualität eingebüßt haben und dass jene Faszination, die

die er mit präzise abgestimmten Texten unterlegte. Unter anderem

Talbot in den Jahren der Erfindung der Fotografie verspürte, keines-

befasste sich Talbot mit Potenzialen, die er im neuen Medium

wegs erschöpft ist. Robert Zahornicky rückt mit seiner Serie Wilder-

erkannte. Dazu gehörten ästhetische und technische Eigenschaften

ness die heimische Flora in den Fokus. Dabei werden die Pflanzen

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samt Wurzeln ausgegraben und vor neutralem Hintergrund isoliert.

kann dokumentiert werden, was in Zukunft möglicherweise nicht

Nicht nur die schöne Blüte, auch der erdige Rest gehört dazu. In

mehr sein wird.

ähnlicher Weise spielt Hans Wetzelsdorfer mit seinen Nestern auf die bautechnische Arbeitsleistung der gefiederten Architekten an.

Hans Kupelwieser adressiert meteorologische Umwälzungen über das Zusammenspiel von Zufall, Zerstörung und Ästhetik.

Elfriede Mejchar nutzt Blätter wiederum zur Erprobung technischer

2007 knickte die Kraft des Sturm Kyrill Baumstämme wie dünne

Möglichkeiten und erreicht durch Solarisation in der Dunkelkam-

Äste, deren Erscheinungsbild der Künstler in seiner Serie festhielt.

mer einen abstrahierenden Effekt. Neben verschiedenen Formen der Motiv-Isolation lässt sich an Beispielen des Fries-Tableaus ein ganz grundlegender Schnitt in

Einen institutionskritischen Zugang verfolgt wiederum Fabian Knecht, wenn er mitten in der Natur ein Zelt aufschlägt und eine Art Außenstelle des White Cube installiert. Dadurch wird zum einen

der Geschichte künstlerischer Fotografie darstellen. Gemeint ist der

im emphatischen Sinne die Präsentationswürdigkeit (oder auch der

Übergang von formalästhetischen zu konzeptuellen Strategien. So

Denkmalstatus) bloßer Natur thematisiert. Andererseits geht es um

stehen Fotografen wie Edward Weston, Ansel Adams oder Lucien

eine ironische Entmythisierung des Whites Cube, also des ganz für

Clerge für die Hochblüte der formvollendeten Schwarzweißfoto-

sich stehenden, erhabenen Ausstellungsraumes.

grafie. In dieser klassischen Moderne wurde die Natur als Füllhorn für ästhetische Erlebnisse begriffen. Anders verhält es sich bei zeitgenössischen Positionen, bei

Abschließend sei mit Sanna Kannisto erneut auf die eingangs erwähnte Metapher der Bühne verwiesen. Expeditionsreisen führen die Künstlerin in entlegene Gegenden, wo sie Tiere und Pflanzen

denen die Interpretation der Werke eine Kontextualisierung

beobachtet und in einem portablen Ministudio zu Protagonisten ihrer

erfordert. So beschäftigt sich Thomas Struth in seiner Serie Paradies

wunderbar inszenierten Fotografien erklärt. Mit ihrer recherche­

nicht nur mit schönen Urwäldern sondern mit den letzten grünen

basierten Methodik bewegt sie sich an der Grenze von Kunst und

Wänden, der bedrohten terra incognita des Dschungels. Noch

Wissenschaft – eine Grenze, die bereits Talbot interessierte. Nikolaus Kratzer • Einblick in das Depot der Sammlung SpallArt, Salzburg 2022. Im Depot der Sammlung in Salzburg werden zwischen den verpackt gelagerten Kunstwerken regelmäßig kuratierte Ausstellungen zu Sammlungsschwerpunkten gezeigt.

William Henry Fox Talbot geb. 1800 in Dorset (UK), gest. 1877 in Lacock (UK)

• „Plate VII. Leaf of a Plant“, 1844 aus dem Buch The Pencil of Nature, 1844–46 Salzpapierabzug vom Papiernegativ, 15,2 × 20,3 cm 10



Der Naturselbstdruck ist ein Verfahren, bei dem die Naturobjekte

plantarum Austriacarum heraus. Es umfasst in seiner ersten Auflage

selbst als Druckformen eingesetzt werden. Ab etwa 1830 wurden

500, in der 2. Auflage 1.000 Pflanzenabbildungen aus dem Gebiet

getrocknete Pflanzen zwischen eine Stahl- und eine Bleiplatte gelegt.

der österreichisch-ungarischen Monarchie.

Durch Druck zeichnen sich die Pflanzenkonturen in der Bleiplatte

„Die Krystallschränke der neuen Auslage der Hof- und Staats-

ab. Die Herstellung metallischer Druckplatten auf der Grundlage

druckerei in der Singerstraße erregen die Aufmerksamkeit jedes

echter Pflanzenabdrucke wurde konsequent weiter­entwickelt und

Vorübergehenden, doch fesselt nichts in dem Grade wie die

von Alois Auer Ritter von Welsbach (1813–1869), Direktor der Wiener

wunderbaren braun in braun gehaltenen Pflanzenabdrücke, die

Staatsdruckerei, perfektioniert. Auer stellte vom Blei-Abdruck

einem nachbarlich aufliegenden Buche, der Physiotypia plantarum

auf galvanischem Weg eine Hochplatte her. Durch nochmalige

austriacarum angehören. Laie und Kenner staunen über die Natür-

Galvanisation erzeugte er eine druckfähige Kupfertiefdruckplatte.

lichkeit, mit welcher ihnen hinter den Glastafeln die Kinder unserer

Der Druckvorgang selbst unterscheidet sich kaum von dem eines

heimischen Flora entgegenschauen. Man wird irr, ob das eigen-

Kupferstichs. Durch das Auftragen unterschiedlicher Farben auf

thümlich getrocknete Pflanzen seien, die auf dem Papier kleben,

die Druckplatten, ließen sich besonders lebensechte Abbildungen

oder ob es wirklich möglich wurde, durch ein graphisches Mittel an

schaffen. Aus wissenschaftlicher Sicht und im Detailreichtum waren

den geheimsten Webstuhl der Natur zu gelangen“, schreibt Gustav

die Naturselbstdrucke den frühen Fotografien weit überlegen.

Lasenbach in Die Presse am 12. August 1856 über das „Botanische

Anwender dieses Verfahrens waren die Botaniker Constantin von

Prachtwerk“. Christoph Fuchs

Ettingshausen und Alois Pokorny. Zwischen 1855 und 1873 gaben sie ein zwölfbändiges Abbildungswerk mit dem Titel Physiotypia

2 Constantin Freiherr von Ettingshausen & Alois Pokorny geb. 1826 in Wien (AT), gest. 1897 in Graz (AT) / geb. 1826 in Jihlava (CZ), gest. 1886 in Innsbruck (AT)

• Naturselbstdruck, 1855 aus dem Buch Physiotypia plantarum austriacarum. Die Gefässpflanzen Österreichs in Naturselbstdruck, mit besonderer Berüksichtigung der Nervation in den Flächenorganen der Pflanzen, 1855–1856 Naturselbstdruck, 44 × 30 cm Sammlung SpallArt, Inv. S-379

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Eine naturwissenschaftliche Aufnahme des relativ unbekannten Fotografen Emm. Isard. Durch die Konzen­tration auf das Objekt vor einem einheitlichen Hintergrund, noch lange vor Blossfeldt, werden auch ästhetische Bedürfnisse befriedigt. Die Erfindung des Albuminpapier im Jahr 1850 ermöglichte detailreichere und kostengünstigere Fotografien als die bis dahin gebräuchlichen Methoden. Albuminpapier zählt bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zu den beliebtesten Kopierpapieren. Sein Detailreichtum wird selbst von modernen fotografischen Ausbelichtungsverfahren nicht erreicht. Christoph Fuchs

3 Emm. Isard • „Extrémité de rameau du V. Riparia sauvage.“ Triebende der Uferrebe (Vitis riparia), um 1880 Albuminabzug auf Karton, 20 × 14 cm Sammlung SpallArt, Inv. S-200

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Im Jahre 1928 veröffentlichte Karl Blossfeldt das inzwischen legendäre Fotobuch Urformen der Kunst – die Heliogravüre ist eine Originalseite aus dem Buch. Es versammelte eine Auswahl jener Pflanzenbilder, die der Kunstgewerbler nur als Anschauungs­ material für seine Studentinnen und Studenten an der Berliner Hochschule aufgenommen hatte. Die isoliert vor neutralem Grund abgelichteten Pflanzen, ihre oft in starker Vergrößerung wiedergegebenen Blüten, Knospen, Stängel, Dolden und Samenkapseln sollten als direktes Vorbild dienen für die dekorativen Kunstformen des damals schon verblühten Jugendstils. Doch bei dieser kunstpädagogischen Verwendung der Bilder blieb es nicht. Der Berliner Avantgarde-Galerist Karl Nierendorf erspürte in den emotionslosen und präzisen Aufnahmen den kühlen Geist der Neuen Sachlichkeit und wurde entsprechend aktiv: 1926 stellte er die Werke – zusammen mit afrikanischen Skulpturen! – in seiner Galerie aus, zwei Jahre später verfasste er die Einleitung zu der im Ernst-Wasmuth-Verlag Berlin erschienenen Buchpublikation Urformen der Kunst. Dieses Fotobuch, zu dessen ersten Rezensenten Walter Benjamin gehörte, begründete nicht nur den bis heute ungebrochenen musealen Erfolg von Blossfeldts fotografischem Werk – es machte selbst eine steile Karriere als Bestseller. Der Erfolg stellte sich unmittelbar ein. Bereits 1929 erschien eine zweite Auflage in Deutschland sowie Ausgaben in London, New York und Paris. Susanne Boecker, Karl-Blossfeldt-Archiv

4 Karl Blossfeldt geboren 1865 in Schielo (DE), gestorben 1932 in Berlin (DE)

• „Carex grayi. Riedgras, Segge. Fruchtform in 5facher Vergrößerung“, um 1900 (Abzug 1928) Heliogravüre, 26,8 × 20,4 cm Sammlung SpallArt, Inv. S-2305

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William Edward Dassonville ist ein wichtiger Vordenker für die Art der Wahrnehmung wie sie später von Ansel Adams, Edward Weston und vielen anderen gesehen wurde. Sie konzentrieren sich auf ein Objekt, das aber nicht isoliert betrachtet wird, sondern in enger Verbindung mit der Umgebung steht – hier der Baum in Verbindung mit den Wolken. Fritz Simak

5 William Edward Dassonville geb. 1879 in Sacramento (US), gest. 1957 in San Francisco (US)

• „Gnarled Tree“, 1920er Kohledruck, 20 × 22 cm Sammlung SpallArt, Inv. Nr. S-197, © Estate of William Edward Dassonville / Courtesy of Susan Herzig & Paul Hertzmann

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Carleton Eugene Watkins fotografierte die ­Jeffreys ­Kiefer (­Jeffrey Pine) am Sentinel Dome im Yosemite Nationalpark das erste Mal im Jahr 1867. Viele Fotografen, darunter auch Ansel Adams, folgten. Die Kiefer starb in der großen Dürre 1976, obwohl viele Menschen Wasser auf den Berggipfel trugen, um den Baum zu retten. Im Jahr 2003 fiel die abgestorbene Kiefer dann endgültig um. Christoph Fuchs

Carleton Eugene Watkins 1829 in Oneonta (US), gest. 1916 Napa (US) „Tip top of Sentinel Dome“, 1867 Albuminabzüge auf Karton (Ste­reo­graf ) Quelle: CarletonWatkins.org

6 Ansel Adams geb. 1902 in San Francisco (US), gest. 1984 in Monterey (US)

• „Jeffrey Pine, Sentinel Dome, Yosemite National Park, California“, 1940 (Abzug 1970er) aus der Serie Photographs of Yosemite, Special Edition Gelatinesilberabzug auf Karton, 19 × 24 cm Sammlung SpallArt, Inv. Nr. S-32, © The Ansel Adams Publishing Rights Trust

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Edward Westons bevorzugte Thematik waren Landschaften, Akte, Natur- und Pflanzendetails von großer Schärfentiefe, außerordentlichem Detailreichtum und feinen Hell-Dunkel-Abstufungen. Die Ausarbeitung seiner Abzüge wurde im Lauf der Zeit zusehend abstrakter und artifizieller. Ob es sich um Landschaftsaufnahmen, ein totes Stück Treibholz, einen Frauenakt, eine Nautilus-Muschel oder eine Paprika handelt, Edward Weston versuchte der Struktur der Dinge auf den Grund zu gehen und war darin ein besessener Perfektionist. Als Ergebnis seiner oft wochenlangen Bemühungen, über die man in seinen Tagebüchern nachlesen kann, lieferte er Abzüge mit derart umfangreichem Tonwert- und Strukturreichtum ab, dass der Betrachter die Oberfläche des abgebildeten Gegen­ standes oder Körpers schon fast fühlen kann. wikipedia Diese magisch anmutenden Bilder vereinen beide abstrakte und anthropomorphe Formen im Bild. Während jedoch das rechte Werk wesentlich durch den Ausschnitt und durch das Belassen einer vorgefundenen ­Konfiguration von Objekten gestaltet wurde, ist im linken Bild durch die Gestaltung des Fotografen eine bestimmte Kompo­sition wahrnehmbar. Fritz Simak

7 Edward Weston geb. 1886 in Highland Park (US),gest. 1958 in Carmel (US)

„Cypress, Point Lobos“, 1944

„Cypress, Point Lobos“, 1940

Gelatinesilberabzug auf Karton, 19 × 24 cm

Gelatinesilberabzug auf Karton, 19 × 24 cm

Sammlung SpallArt, Inv. Nr. S-150, © Center for Creative Photography, Arizona Board of Regents

Sammlung SpallArt, Inv. Nr. S-134, © Center for Creative Photography, Arizona Board of Regents

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Ansel Adams ist vor allem bekannt durch seine eindrucksvollen Landschafts- und Naturfotografien aus den Nationalparks, National Monuments und den Wilderness Areas im Westen der Vereinigten

Nevada) wanderte. Die Hartriegel (Dogwood) im Yosemite Gebiet erreichen im April bis Mai ihren Höhepunkt und lassen dabei ihr „Sternenlicht“ vor dem kahlen Waldhintergrund aufblitzen. Dieser

Staaten. Adams verbrachte einen Großteil seines Lebens in diesen

dramatische Kontrast veranlasste Adams, eines seiner einzigen Still-

Nationalparks und Indianerreservaten, in denen er nicht nur als

leben zu komponieren. Um die zwölf Blüten dieses spektakulären

Fotograf wirkte, sondern die er mit seiner Arbeit, seinen Publika-

Hartriegels einzufangen, platzierte er sie auf einem nahegelegenen,

tionen und in seinen Workshops unterstützte und sich zeitlebens

mit Kiefernnadeln und Flechten bedeckten Felsen. Der Sierra Club

aktiv für ihren Erhalt einsetzte. Seine zahlreichen Schriften weckten

veröffentlichte Dogwood Blossoms im Jahr 1970, nachdem Ansel

großes öffentliches Interesse an den bis dahin noch unbekannten

Adams es zusammen mit 15 anderen Bildern für die Aufnahme im

Wildnisgebieten des Westens.

Portfolio III, Yosemite Valley ausgewählt hatte. Später wählte Adams

Ansel Adams fotografierte dieses Bild mit einer 5×7-Inch Fach­ kamera im Jahr 1938, dem Jahr, in dem er mit Edward Weston

das Bild für seine Museum Set Collection aus, ein retrospektives Portfolio mit den seiner Meinung nach besten Arbeiten. The Ansel Adams Gallery, Yosemite National Park

durch die High Sierra (das Hochgebirge der kalifornischen Sierra

8 Ansel Adams geb. 1902 in San Francisco (US), gest. 1984 in Monterey (US)

• „Dogwood Blossoms, Yosemite National Park, California“, 1938 (Abzug 1960) aus der Serie Photographs of Yosemite, Special Edition Gelatinesilberabzug auf Karton, 23 × 17 cm Sammlung SpallArt, Inv. Nr. S-33, © The Ansel Adams Publishing Rights Trust

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Minor White war ein bekannter amerikanischer Fotograf, einflussreicher Lehrer, intellektueller und spiritueller „Guru“ einer ganzen Fotografengeneration, der insbesondere für die Verbreitung und konsequente Weiterentwicklung der symbolistischen Ästhetik seines Landsmannes Alfred Stieglitz sorgte. Das Bild Birdlime and Surf, Point Lobos, California stellt unsere Wahrnehmung auf die Probe: Handelt es sich im Vordergrund etwa um dem Meer zustrebenden Fischlaich oder wie im Bildtitel beschrieben einfach um Vogelkot? Das unproportionale Größenverhältnis des nahsichtigen Vordergrundes in Bezug zur Brandung dahinter ist ein weiteres I­ rritationsmoment. White zwingt uns damit in dem Bild mehr zu sehen als Vogelkot, Felsen und Brandung, er zeigt uns eine Metapher, beruhend auf seiner Theorie zum Äquivalent. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist der Blick in den Himmel auf die Woken und die Suche nach Figuren darin. Christoph Fuchs •

Alfred Stieglitz geb. 1864 in Hoboken (US), gest. 1946 in New York (US) „Equivalent“, 1929 Gelatinesilberabzug, 11,9 × 9,3 cm

9 Minor White geb. 1908 in Minneapolis (US), gest. 1976 in Boston (US)

• „Birdlime and Surf, Point Lobos, California“, 1951 aus der Serie Jupiter Portfolio, 1975 Gelatinesilberabzug auf Karton, 23 × 27 cm Sammlung SpallArt, Inv. S-405, © Minor White Archive / Princeton University Art Museum

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Blanc et Demilly ist der Name des Fotostudios in Lyon, das von Théodore Blanc und Antoine Demilly von 1924 bis 1963 betrieben wurde. Blanc und Demilly hatten das Atelier von ihrem Schwiegervater Édouard Bron geerbt, nachdem dieser in den Ruhestand getreten war und beide an seiner Seite eine mehrjährige Lehre absolviert hatten. Blanc und Demilly benannten das Atelier um und spezialisierten sich auf Familienfotos und Porträts von Persönlichkeiten aus Politik, Literatur, Kunst und Medizin in Lyon. In Erweiterung ihrer Atelierpraxis eröffneten sie 1935 die Galerie Blanc et Demilly, in der sie ihre künstlerischen Arbeiten und die Bilder talentierter Amateure ausstellten. Sie nutzten die Galerie, um die fotografische Gemeinschaft in Lyon zu fördern, verkauften Rolleiflex- und Leica-Kameras (die sie in den späten 1920er Jahren in Lyon einführten), organisierten Workshops und Wettbewerbe und gaben monatlich ein Bulletin d‘informations photographiques heraus. In den 1930er bis in die 1950er Jahre nahmen sie an Ausstellungen teil und präsentierten ihre Bilder oft unter ihrem eigenen Namen, aber mit ihrer gemeinsamen Signatur. Mitra Abbaspour Geschult durch das von Karl Blossfeldt 1928 erschienene Buch Urformen der Kunst zeigen Blanc und Demilly einen ähnlichen Zugang zu Formen der Natur. Fritz Simak

10 Théodore Blanc & Antoine Demilly geb. 1891 in Lyon (FR), gest. 1985 in Lyon / geb. 1892 in Mâcon (FR), gest. 1964 in Lyon

• Ohne Titel, 1950er Gelatinesilberabzug warmgetont, 32 × 27 cm Sammlung SpallArt, Inv. S-1229, © Estate of Blanc & Demilly

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Zwei außergewöhnliche Gestaltungsvarianten des viel beanspruchten Sujets Bäume im Wald. Harry Callahan versteht es, den nahezu in der Mitte befindlichen „Hauptbaum“, durch raffinierte Staffelung der übrigen Bäume in ein Geflecht kalligrafischer Formen einzubetten. Im Vergleich dazu The Tree von Aaron Siskind, der durch unterschiedliche Helligkeit Tiefe im Bild schafft. Die Formen aus der Natur erinnern an den Menschen in Bewegung. Fritz Simak

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Aaron Siskind

Harry Callahan

geb. 1903 in New York (US), gest. 1991 in Providence (US)

geb. 1912 in Detroit (US), gest. 1999 in Atlanta (US)

• „The Tree #36, Martha’s Vineyard“, 1973 aus dem Portfolio The Eighth Annual Portfolio of the Photographic

• „#6 Aix en Provence“, 1958 (Abzug 1972)

Education Society, Rhode Island School of Design

aus dem Portfolio Landscapes 1941–1999

Gelatinesilberabzug auf Karton, 16 × 17 cm

Gelatinesilberabzug auf Karton, 18 × 18 cm

Sammlung SpallArt, Inv. Nr. S-263, © Aaron Siskind Foundation

Sammlung SpallArt, Inv. Nr. S-380, © The Estate of Harry Callahan / Courtesy Pace/MacGill Gallery, New York

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Die vorliegende einzigartige Fotomontage besteht zu einem großen Teil aus fotografischen Elementen, die Bayer präzise beschnitt und mit Rasterelementen collagierte. Die Wimpern und Pupillen des eindringlichen, großen weiblichen Augenpaares am rechten Rand der Komposition sind sorgfältig mit von Hand aufgetragener Tusche akzentuiert. Inmitten des Waldes von Bäumen verwendete Bayer mühsam Gouache und Tusche, um die zarten Äste, einzelne Zweige und verstreute zyklopenartige Augen hervorzuheben, die sich als Äste in den Baumstämmen tarnen. Während Bayers Erkundungen der Fotografie, die überwiegend von 1926 bis 1938 stattfanden, ging er konsequent mit Intelligenz, Fantasie und Sinn für Humor an seine Kompositionen heran. Bereits in seinen frühen fotografischen Arbeiten waren die Perspektive und der Blick ansich zentraler Inhalt seiner Arbeiten. Sotheby’s, New York

13 Herbert Bayer geb. 1900 in Haag am Hausruck (AT), gest. 1985 in Montecito (US)

• „In Search of Time Past“, 1959 (Abzug 1969) aus der Edition 10 fotomontagen 1929–1936, mappe 1 Fotocollage, Gelatinesilberabzug, 23 × 34 cm Sammlung SpallArt, Inv. Nr. S-1211, © Herbert Bayer Stiftung / Bildrecht Wien

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In den Sümpfen von Arles breitet sich das Land des Jenseits aus. Lucien Clergue bietet uns Einblick in die geheime Camargue, offenbart durch besondere Lichtsituationen, die er sich zu eigen macht. Clergue übt sich darin, die mystischen Zeichen der Landschaften zu lesen – Reisfelder, Sumpfalgen, triumphierenden Maisblätter, im Winter überschwemmte Weinstöcke oder den schlafenden Teich. In einem vom Wind umspülten Himmel wird in jedem Augenblick der Prozess des organischen Lebens geboren und organisiert sich im Delirium des Winzers. Zwischen den Mäandern der Rhône finden wir die Vaccares, das Delta und seinen Schlick, die Schönheit des Schilfs, die Weiten des Salzes, die Gewalt der rissigen Erde – großzügige Natur, von der sich der Künstler ernährt, außerhalb der Sichtweite des gewöhnlichen Auges. Wahre Poesie in ihrem tiefsten Sinn ist hier installiert. Atelier Lucien Clergue

14 Lucien Clergue geb. 1934 in Arles (FR), gest. 2014 in Nimes (FR)

• „Le Marais d’Arles“, 1960 Gelatinesilberabzug auf Karton, 50 × 59 cm Sammlung SpallArt, Inv. Nr. S-205, © Atelier Lucien Clergue

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Brett Weston war der zweite Sohn des berühmten Fotografen Edward Weston. Bereits im Alter von 14 Jahren wurde er zum Assistenten seines Vaters und lernte das Fotografen-Handwerk von Grund auf. Früh erlangte Brett Weston internationale Bekanntheit. Die letzten zwei Lebensjahrzehnte verbrachte er auf Hawaii – „In dieser Umgebung gibt es alles, was es wert wäre, dass man es fotografisch neu interpretiert.“ Durch das weiche Licht und die sorgfältige Vergrößerung wird der helle Farn im Gegensatz zum dunklen Hintergrund eindrucksvoll hervorgehoben und seine filigrane Zartheit betont. Christoph Fuchs und Fritz Simak

15 Brett Weston geb. 1911 in Los Angeles (US), gest. 1993 auf Hawaii (US)

• Ohne Titel, Hawaii, 1980 Gelatinesilberabzug auf Karton, 26 × 32 cm Sammlung SpallArt, Inv. Nr. S-257, © Brett Weston Archive

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Diese außergewöhnliche Fotografie eines Blattes gehört zu einer

schaffen.2 Im Fall von Mejchars Aufnahme, zu der es übrigens auch

Werkgruppe, die Elfriede Mejchar seit Ende der 1960er bis in

ein positives Gegenstück gibt, wird zugleich die „Konstruktion“ und

die 2000er Jahre verfolgt und als Herbarium bezeichnet hat. Es

das Makelhafte des Blattes hervorgehoben. Dieser die Vergänglich-

handelt sich um eine Serie unzähliger Schwarzweißaufnahmen

keit aller Schönheit entlarvende Blick ist ein zentraler Aspekt ihres

von Pflanzen, Blüten und insbesondere Blättern, die sie – einzeln oder in Gruppen – vor weißem Hintergrund arrangierte. Mejchars

facettenreichen Œuvres und entspricht ihrem Selbstverständnis als „mitleidlose“ Fotografin. Nicht zuletzt jedoch bewahrheitet sich an

­Herbarium besticht durch den Verzicht auf plastische Effekte

unserem Beispiel, was Otto Steinert die vierte „Vollendungsstufe

zugunsten einer geradezu zeichnerischen Betonung des Schwarz-

fotografischen Schaffens“ nannte: „die absolute fotografische

weiß-Kontrasts, wobei sie sich mitunter experimenteller, von der

Gestaltung“, die etwa durch den Einsatz fotografischer Variations-

üblichen Negativ/Positiv-Verarbeitung abweichender Verfahren

verfahren, zu denen auch die (Pseudo-)Solarisation zählt, den

bediente. Beispielhaft hierfür ist der sogenannte Sabattier-Effekt

Gegenstand derart entmaterialisiert bzw. abstrahiert, „daß er nur

(auch: Pseudo-Solarisation), den die Künstlerin bei dieser

noch Formelement, Baustein der Komposition wird“.3 Alexandra Schantl, EIKON Nr. 113, 2021

Aufnahme angewendet hat. Das bereits um 1860 von Armand 1

Sabatier entdeckte und nach ihm benannte Verfahren, das auf der Umkehrung der Tonwerte beruht und dadurch die Konturen

1 Die unterschiedlichen Schreibweisen (Sabattier-Effekt und Armand Sabatier)

akzentuiert, wurde im 20. Jahrhundert von maßgeblichen Erneuerern der Fotografie wie Man Ray oder Otto Steinert wiederbelebt,

sind historisch überliefert. 2 Otto Steinert, „Über die Gestaltungsmöglichkeiten der Fotografie“ (1955),

um „einem allzu platten Naturalismus“ entgegenzuwirken und eine „neue optische Erlebniswelt von lebendigem, grafischem Reiz“ zu

in: ­Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie III. 1945–1980, München 1999, S. 87. 3 Ebd., S. 89.

16 Elfriede Mejchar geb. 1924 in Wien (AT), gest. 2020 in Wien

• Ohne Titel, 1991 Gelatinesilberabzüge, je 29 × 23 cm Sammlung SpallArt, Inv. Nr. S-1580, S-1581, © Nachlass Elfriede Mejchar

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Ich zeige die Wildnis, die Idee des unbegrenzten wilden Wucherns: Wirr, seltsam, hässlich, unrein, wertlos. Ortsansässige Gewächse werden wieder ins Bewusstsein gebracht. Exotischer Pflanzenwuchs trägt nicht zur Nahrungskette bei. Daher sind auch keine schön arrangierten Blumensträuße zu sehen, sondern was sich zum Zeitpunkt der Freilegung am zutreffenden Ort fand, ohne Berücksichtigung der Schönheit oder Kostbarkeit oder Einmaligkeit eines Gewächses. Man sieht unter die Oberfläche, das, was sonst mit Füßen getreten wird, offenbart seine Basis. Unter dieser subjektiven Auswahl versteht man auch manchmal Wald- und Wiesenstücke. Durch die Loslösung eines Rasenstückes aus dem Kontext der Natur geht es nicht um die schöne Repräsentation der Dinge oder das sentimentale In-sich-Versinken beim Anblick der Naturschönheit. Sondern vielmehr darum, dass es der Natur mit dem Menschen erstmals gelungen ist, eine Reflexion über sich selbst anzustellen. Robert Zahornicky

17 Robert Zahornicky geboren 1952 in Wien (AT), lebt und arbeitet in Pressbaum (AT)

• „Wildnis #12“, 1996 (Abzug 2017) aus der Serie Wilderness C-Print auf Aluminum-Dibond, 80 × 60 cm Sammlung SpallArt, Inv. S-888, © Robert Zahornicky / Bildrecht, Wien

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Cyanobakterien besiedeln die Erde seit etwa 3,5 Mrd. Jahren und waren dafür verantwortlich, erstmalig Sauerstoff in die Urathmosphäre der Erde abzusondern. So schufen die Cyanobakterien die Grundlage für die Evolution zahlreicher Lebewesen und unsere heutigen Lebensbedingungen. Es sind genau diese Bakterien mit ihren Bezügen in die frühe Evolutionsgeschichte, die in dem Werkzyklus Bakterium für mich von größtem Interesse sind. Die Bakterien werden in meinen Arbeiten nicht nur abgebildet, sondern vielmehr selbst zum Bildträger. Auch bei diesem Projekt hat mich die Lichtsensibilität der Cyanobakterien – ihre Fähigkeit, sich zum Licht hin zu orientieren – beschäftigt. Mikroskopaufnahmen der Bakterien werden auf die mit Bakterienlösung gefüllten Petrischalen projiziert. Nach einer Belichtung der Negative von mehreren Tagen bilden die Organismen ihr eigenes Mikrobild nach. Eine Unmenge für das Auge nicht erkennbarer Organismen formiert sich zu einem Superzeichen eben dieser Organismen, deren Lebendigkeit in ihr Abbild eingeht. Die Idee des Fotografischen und grundsätzliche Parameter der Fotografie werden hier in einen biologischen Prozess übertragen. Ephemere Zustände der Bildobjekte werden in meinen Arbeiten nicht nur abgebildet, der Prozess des Werdens und Vergehens ist im Innersten des lebenden Mediums selbst enthalten. Edgar Lissel

18 Edgar Lissel geb. 1965 in Northeim (DE), lebt und arbeitet in Wien (AT)

• „Bakterium-Selbstzeugnisse“ (S1), 1999–2001 Pigmentbasierter Tintenstrahldruck auf Dibond, Durchmesser 80 cm Sammlung SpallArt, Inv. S-435, © Edgar Lissel

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Nirgends teilt sich das Geäst, kein Weg führt ins Innere des Waldes. Die Aufnahmen aus der Serie Paradies zeigen Thomas Struths Suche nach einer wilden, unkultivierten Vegetation, einer Natur, die sich vor uns verschließt. Unser Auge sucht nach Haltepunkten und gleitet doch immer wieder an den Stämmen, den Blättern und Farnen, den Ästen und Lianen ab, sucht forschend einzudringen und bleibt doch außen vor. Statt eines Raumes mit Tiefe und Volumen breitet sich vor uns eine einzige, undurchdringbare Fläche aus, bei der sich Vordergrund und Hintergrund auf einer Ebene unlösbar verknüpfen. Das Gehölz, der Wald, der Dschungel stehen wie eine Wand vor uns, ein filigran durchbrochener Vorhang, von Licht durchflutet, doch keiner, der sich beiseiteschieben ließe – letztlich eine unein­ nehmbare Festungsmauer. Christoph Heinrich

19 Thomas Struth geb. 1954 in Geldern (DE), lebt und arbeitet in Düsseldorf und Berlin (DE)

• „Xi Shuang Banna“, 2004 aus der Serie Paradies, griffelkunst Pigmentbasierter Tintenstrahldruck, 30 × 39 cm Sammlung SpallArt, Inv. Nr. S-1217, © Thomas Struth / Bildrecht, Wien

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Der Orkan Kyrill zerstörte im Januar 2007 weite Teile Europas. Hans ­Kupelwieser hat die Folgen dieses Orkans auf eindrucksvolle Art dokumentiert. Hier erweist sich der Bildhauer Kupelwieser als exzellenter Beobachter, der Vorgefundenes in eindringlicher und gleichzeitig unprätentiöser Weise zu vermitteln weiß. Seine gestalterische Kraft manifestiert sich durch subtile Zurückhaltung. Fritz Simak

20 Hans Kupelwieser geb. 1948 in Lunz am See (AT), lebt und arbeitet in Wien (AT)

• „Kyrill“, 2007 Pigmentbasierter Tintenstrahldruck auf Aluminium-Dibond, 106 × 81 cm Sammlung SpallArt, Inv. Nr. S-530, © Hans Kupelwieser / Bildrecht, Wien

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Als Objekte fungierten in verschiedenen Konstellationen drapierte und arrangierte Blütenblätter, die, ähnlich einem Snapshot, ausschnitthaft dargeboten werden. Trotz der formalen Klarheit ihrer Präsentation bleiben die Gegenstände nicht immer eindeutig lesbar. Erinnerung an Malerei wird wach, Assoziationen zu Bluttropfen keimen auf. Die durch das Licht zerklüfteten Ränder der einzelnen Blüten scheinen wie Farbtropfen zu verschwimmen, eine Verschmelzung mit dem Hinter- oder respektive Vordergrund findet statt. Auch bei seinen Farbfotogrammen lässt uns Zahornicky über einiges im Unklaren, seine Arbeiten erschließen sich dem Betrachtenden nur langsam, lösen sich aber nie ganz auf. Inge Nevole, Fotogramme 1920 > now, 2006

21 Robert Zahornicky geboren 1952 in Wien (AT), lebt und arbeitet in Pressbaum (AT)

• „Papaver bracteatum – Mohn, Türkei“, 2008 Fotogramm auf Sofortbildfilm (Polaroid), 9 × 7 cm Sammlung SpallArt, Inv. S-1390, © Robert Zahornicky / Bildrecht, Wien

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Seit über zwei Jahrzehnten beschäftigt sich die finnische Fotografin Sanna Kannisto mit der Beobachtung der Natur und ihrer besonderen Erscheinungsformen. Ihre fotografischen Arbeiten erforschen die Schnittmenge zwischen Natur, Wissenschaft und Kunst. An abgelegenen Orten, wie dem Regenwald von Französisch-Guayana oder den Bergen von Ecuador, sucht sie nach den Besonderheiten der Flora und Fauna. Mit den Arbeitsmethoden der Naturwissenschaft analysiert und archiviert die Fotografin die unterschiedlichsten Spezies in ihrer großen Vielfalt. So zieht sie mit einem „Field Studio“ in die Wildnis, um dort die Akteure der Natur für den Moment der Aufnahme festzuhalten. Dazu setzt sie einen kleinen netzartigen Käfig mit weißem Hintergrund in die Landschaft. Auf dieser Bühne präsentieren sich sodann seltene Vogelarten, Orchideen, Frösche und viele andere Lebewesen und Pflanzen, die Kannisto immer direkt vor Ort findet und nach der kurzen •

Performance vor der Kamera unbeschadet wieder ins Freie entlässt.

Sanna Kannisto beim Warten auf einen ihrer Akteure

In den Aufnahmen sind aber nicht nur die Akteure selbst zu sehen,

im Regenwald von Costa Rica im Januar 2018.

sondern auch Teile des Aufbaus der Versuchs- und Untersuchungs-

© Sanna Kannisto

anordnung. Kannisto studiert bei ihrer Aufnahme das Verhalten und Aussehen des kleinen Vogels, in diesem Fall eines Kentuckywaldsängers aus der Gattung der Gelbkehlchen, während dieser die Fotografin studiert: „Mit einem Vogel zusammen zu sein ist absolut einzigartig, es ist bewegend. Ich schaue den Vogel an, und er schaut mich an. Einen Moment lang teilen wir gleichsam ein und denselben Gedanken. Es ist eine Art gegenseitige Untersuchung.“ Sanna Kannistos Bilder sind ein Mahnruf, Biodiversität und den Klimawandel ernst zu nehmen. Christoph Fuchs, EIKON Nr. 117, 2022

22 Sanna Kannisto geb. 1974 in Hämeenlinna (FI), lebt und arbeitet in Helsinki (FI)

• „Oporornis formosus“ (Kentuckywaldsänger, Nordamerika), 2010 Pigmentbasierter Tintenstrahldruck auf Aluminium, 74 × 94 cm Sammlung SpallArt, Inv. S-790, © Sanna Kannisto

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Berge sind seine Leinwand, Scheinwerfer sein Werkzeug: Adrian Bischoff meißelt mit Licht Stück für Stück seine eigenen, faszinierenden Bilder aus der nächtlich schwarzen Bergwelt, die er dann zu einem einzigen großen Kunstwerk zusammensetzt. Das Ergebnis sind völlig neue Ansichten einer eigentlich bekannten Kulisse, in der Bischoff eigene Lichtakzente setzt. Jobst Kehrhahn

23 Adrian Bischoff geb. 1959 in Frankfurt (DE), lebt und arbeitet in Maintal/Frankfurt (DE)

• „Uri-Rotstock 1 46°51’N 8°32’E“, 2011 C-Print auf Aluminium auf Acrylglas (Diasec), 52 × 70 cm Sammlung SpallArt, Inv. Nr. S-1574, © Adrian Bischoff



Porträts von abgestorbenen Bäumen im nordamerikanischen Teil des Arboretum Tervuren. Dieser „Zoo für Bäume“ in der Nähe von Brüssel, Belgien, ist eine Miniaturversion eines Amerikanischen Nationalparks und wurde um 1910 gegründet, während des Aufstiegs der USA zur Weltspitze. Der Wald ist wurde von Menschen angelegt und künstlich. Der Glanz scheint natürlich, aber braucht ständige Pflege. Wenn Bäume absterben wie Wale, die an den Strand gespült werden, werden sie von Waldarbeitern kosmetisch entfernt. Die Bäume der American Heritage können metaphorisch für die schwindenden Kräfte einer jeden Nation stehen, die zwanghaft über ihre Schulter auf ihre glorreiche historische Bedeutung zurückblickt. Formal gesprochen ist American Heritage eine Reprise der historischen amerikanischen Landschaftsfotografie. Wouter Verbeylen

24 Wouter Verbeylen geb. 1974 in Lier (BE), lebt in Lier

• „Reconstruction“, 2011 aus dem Projektzyklus American Heritage Pigmentbasierte Tintenstrahldrucke auf Aluminium-Dibond, je 50 × 40 cm Sammlung SpallArt, Inv. Nr. S-728 bis S-730, © Wouter Verbeylen

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twitter. Nachrichten aus leeren Nestern ist eine Sammlung strenger Bilder von eleganten und komplizierten kleinen Objekten. Jahrelanges Fotografieren von Nestern als Teil der Faszination für die Geheimnisse und Wunder der Natur. Hunderte von Reisen unternimmt ein Vogel, um das Material zu sammeln und damit ein Nest zu bauen, das dann mit Spinnweben und Speichel gewebt und verklebt wird. Jede Art tut dies instinktiv, weil Rassengedächtnis­ fähigkeiten und -reaktionen als Ergebnis der gemeinsamen Erfahrung ihrer Vorfahren in ihren genetischen Code aufge­ nommen wurden. Hans Wetzelsdorfer

25 Hans Wetzelsdorfer geboren 1952 in Wiener Neustadt (AT), lebt und arbeitet in Neufeld an der Leitha (AT) „02-2014“, 2014 aus der Serie twitter. Nachrichten aus leeren Nestern C-Print auf Diasec, 40 × 40 cm Sammlung SpallArt, Inv. S-2333, © Hans Wetzelsdorfer / Bildrecht, Wien

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Robert Bodnar ist ein Künstler, der die Grenzen des Fotografischen ständig neu vermisst. Er kombiniert traditionelle, gleichsam handwerkliche fotografische Methoden mit hoch entwickelten digitalen Technologien. Seine Bilder und Installationen verweisen sowohl spielerisch auf den Ursprung der Fotografie in den Silbersalzkristallen des Analogfilms, als auch auf die gegenwärtigen Formen der Bilder als abstrakte Information in den Leiterplatten unserer elektronischen Geräte. Oft steht in den Diskursen über die post-digitale Fotografie die Beliebigkeit der elektronischen Bilder im Vordergrund. Die Bilderflut, Copy-and-Paste, komplexe Manipulationen per Knopfdruck – das fotografische Bild ist oft nur der Ausgangspunkt für eine Simulation, die scheinbar jede beliebige Form annehmen kann. Aber so frei, wie man uns glauben lassen möchte, sind die Bilder nicht. „Die Cloud“ ist keine körperlose Metaebene, sie baut auf einer riesigen industriellen Infrastruktur auf: Datenzentren mit eigenen Kraft­werken, ein weltumspannendes Netz aus Kupfer- und Glasfaserkabeln. Robert Bodnar untersucht nicht nur die Algorithmen und Interfaces, sondern vor allem den materiellen Unterbau des Digitalen. Seine Fotolithografien mit ihren filigranen Kupferlinien vor mattschwarzem Hintergrund sind mit denselben photochemischen Verfahren hergestellt, wie die Leiterbahnen auf Computerplatinen, die in der Massenproduktion ebenso belichtet und entwickelt werden wie eine analoge Fotografie. Johan Nane Simonsen

26 Robert Bodnar geboren 1980 in Prag (CZ), lebt und arbeitet in Wien und Niederösterreich (AT)

• „self-similar object #1|1“, 2018 Fotogramm, Kupfer-Fotolithografie auf Epoxidharz-Glasfaser-Gewebeplatte [FR4], beschichtet mit ­Chemisch-Nickel/Palladium/Gold [ENEPIG], 25,5 × 25,5 cm Sammlung SpallArt, Inv. S-2278, © Robert Bodnar / Bildrecht, Wien

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Die Serie Isolation zeigt Fotografien von konventionellen Ausstellungsräumen (White Cubes), die Fabian Knecht an unterschied­lichen Orten in der Natur installiert hat. Statt ein Readymade oder eine Repräsentation der Wirklichkeit in den Ausstellungsraum zu überführen, bringt Knecht den Ausstellungsraum in die Wirklichkeit, isoliert ein Segment mithilfe des White Cubes: ein Flussbett und ein Sockel eines verschwundenen Denkmals in der Ukraine, ein zugefrorenes Meer in Wladiwostok, eine Brache in Berlin und ein Waldstück in NordrheinWestfalen. Die Natur wird in ihrer Komplexität zum Werk erhoben und ausgestellt, in situ, ohne in vorgefundene Formen und Lebensformen einzu­greifen. Mitunter werden – wie beiläufig – kanonische Kunstwerke ins Bewusstsein gerufen: von Caspar David Friedrichs Eismeer (1823/24) bis zu Robert Smithsons Dead Tree (1969). Isolation kommentiert – invertiert – so nicht nur das klassische Konzept des •

Readymades, sondern auch das traditionelle Verhältnis von Kunst und

Installationsansicht, Haus Erlengrund, Buckow, Märkische Schweiz

Natur, natura naturans und natura naturata (schaffender und geschaffener Natur). „Dann wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reißen, der hat sie …“, schreibt Albrecht Dürer. Wer sie an Ort und Stelle belässt, umgrenzt und zeigt – der hat sie auch. Der Ausstellungsraum wird zum Medium und damit vom Hintergrund zum Werk (gleichermaßen ungebunden wie ortsbezogen und fotografisch vermittelt, beinahe unwirklich) – um dann vom Foto im nächsten Schritt erneut zum Hintergrund gemacht zu werden: ein Werk an der Naht- und Bruchstelle zwischen Raum, Natur und Fotografie. Die Fotos hängen im Ausstellungsraum. Die Ausstellungsräume sind abgebaut. Die Natur – berührt und unberührt – bleibt dort, wo sie war: jenseits des Rahmens. Institut für Raumexperimente, Universität der Künste Berlin

27 Fabian Knecht geb. 1980 in Magdeburg (DE), lebt und arbeitet in Berlin (DE)

• „Isolation (52°33’44.1”N 14°03’12.8”E) III“, 2019 aus der Serie Isolation Pigmentbasierter Tintenstrahldruck, 100 × 150 cm Sammlung SpallArt, Inv. Nr. S-2242, © Fabian Knecht / Bildrecht, Wien

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EIKON Schauraum, Q21 / MuseumsQuartier Wien 25. Februar bis 8. Mai 2022

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Dieser Katalog erscheint anlässlich der Ausstellung Picturing Nature. Ein Blick in die Sammlung SpallArt 25. Februar bis 8. Mai 2022 im EIKON Schauraum Q21 / MuseumsQuartier Wien

Impressum Herausgeberin Sammlung SpallArt Jakob-Auer-Straße 8, 5020 Salzburg mail@sammlung-spallart.at www.sammlung-spallart.at in Kooperation mit EIKON – Internationale Zeitschrift für Photographie und Medienkunst Q21 / MuseumsQuartier Wien, Kulturbüros, 1. Stock Museumsplatz 1, e-1.6, 1070 Wien office@eikon.at www.eikon.at Konzeption, Redaktion, grafische Gestaltung Christoph Fuchs Lektorat Melanie Gadringer Druck und Bindung Holzhausen, Wolkersdorf, Österreich © 2022 Sammlung SpallArt und die Autorinnen und Autoren


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