CLV-Schulblatt Ausgabe Juni 2021

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STANDPUNKT

Paul Kimberger Mein Standpunkt

Wer heute die Schule regiert

V

Quelle: Statistik Austria

or einiger Zeit trug ein Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung diesen provokanten Titel – mit dem resignativen Zusatz „Einst hatten die Lehrerinnen und Lehrer das Sagen“. Der emeritierte Universitätsprofessor Dr. Richard Münch beschäftigt sich darin mit jenen Menschen und Mächten, die abseits demokratisch legitimierter Institutionen immer mehr Einfluss auf die Bildungspolitik nehmen. Richard Münch nennt diese den „bildungsindustriellen Komplex“ und warnt eindringlich davor, Schule zur „Rohstofflieferantin von Humankapital“ verkommen zu lassen. Münch zeichnet ein düsteres Bild von „ThinkTanks“, die „Wissen, Informationen und Reformprogramme zur Verfügung stellen“, von „Stiftungen“, die „mit ihrem Geld Reformprogramme fördern“ und von „Advocacy-Groups“, die die „Öffentlichkeit mobilisieren“. Am offenherzigsten agiert dabei das Beratungsunternehmen McKinsey, das sich rühmt, bis vor kurzem „220 Transformationsprojekte in 10 nationalen und 20 regionalen Bildungssystemen durchgeführt“ zu haben. McKinsey sieht in der Bil-

Die Schulwahl im Zehn-Jahres-Vergleich Schulbesuche der Schuljahre 2009/2010 im Vergleich zu 2019/2020 Neue Mittelschule* 2009/2010 2019/2020

AHS-Unterstufe 2009/2010 2019/2020

Berufsschulen 2009/2010 2019/2020

206.336 114.693

140.256

116.954

2019/2020

* an ehemaligen Hauptschulstandorten als Regelschulen

4

JUNI 2021 | DAS SCHULBLATT

-16,6 %

-17,1 %

42.885

Berufsbildende höhere Schulen 2009/2010

-11,9 %

+5,8 %

121.319

Berufsbildende mittlere Schulen 2009/2010 51.712 2019/2020

234.186

147.440

141.168

-4,3 %

dung einen „globalen Wachstumsmarkt von 8 Billionen Dollar“ – kein Wunder also, dass nun auch viele andere Technologiegiganten wie Google, Apple oder Microsoft in diese Richtung laufen, um sich nicht nur ihren Anteil an einem riesigen Markt, sondern auch an der Zukunft unserer Kinder zu sichern. Etwas diskreter gibt sich dabei der weltgrößte Bildungskonzern Pearson mit „einem Umsatz von 5,7 Milliarden Franken und 30.000 Angestellten in 70 Ländern“. Pearson bietet alles an, was gut und teuer ist, „von der Schulbuchproduktion bis zur Konzeption des internationalen PISA-Tests“. Der Soziologe Richard Münch ist kein grundsätzlicher Gegner (inter-)nationaler Testungen, wie er sagt. Er sieht nur dort Gefahr im Verzug, wo die „Bildungs- und Testindustrie die Schule zu dominieren beginnt und diese am Ende gleichwohl nicht einzulösen vermag, was versprochen wird: Bessere Leistungen und mehr Chancengerechtigkeit“. Es wird jedenfalls wache, kritische und widerstandsfähige Geister brauchen, das Treiben dieses „bildungsindustriellen Komplexes“ zu durchschauen, das der Öffentlichkeit bewusst zu machen und es zu durchbrechen, damit demokratisch legitimierte Institutionen die Oberhoheit über Schule und Bildung zurückgewinnen.

Notenstress Es ist immer das Gleiche mit dem Notenstress und spätestens in der dritten Klasse der Volksschule geht es so richtig mit dem großen Zittern los: Sind die Zeugnisnoten gut genug für einen Platz im Gymnasium? Was ist, wenn zu viele Zweier drinnen stehen, vielleicht ein Dreier oder sogar ein Vierer? Viele Eltern wollen mit allen Mitteln durchsetzen, dass ihre Töchter und Söhne in ein Gymnasium gehen können. Vor allem in den Ballungsräumen ist der Druck riesengroß – dort, wo die Mittelschulen trotz schwierigster Rahmenbedingungen nicht nur pädago„Eine schlimme Entwicklung für die duale Ausbildung, um die uns die ganze Welt beneidet.“


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