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Wilde, verführerische Île de Groix
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ÎLE DE GROIX
Wild und verführerisch
Etwas kleiner als Spiekeroog, tropisch anmutende Strände und ein Thunfisch auf der Kirchturmspitze: Die bretonische Insel Groix, wo Fischersfrauen seit jeher Chef de famille sind, ist ein charaktervolles und sehr erholsames Reiseziel.
TEXT: CATHELIJNE VAN VLIET FOTOS: E. LEMEE, XAVIER DUBOIS, YANNICK GALL, CATHELIJNE VAN VLIET
Die 45-minütige Bootsfahrt von Lorient zur Île de Groix ist ein angenehmer Übergang vom normalen Leben zum Urlaubstempo. An Deck wenden die Fahrgäste ihr Gesicht der Sonne zu oder stehen an der Reling und genießen den Wind und den Blick auf die tanzenden Möwen und die bretonische Küste. Dann stört ein blasser Mittdreißiger mit einem prall gefüllten Rucksack die Ruhe. Er rennt hinter seinem kleinen Sohn her und schafft es gerade so, nicht über die ausgestreckten Beine der sonnenbadenden Passagiere zu stolpern. Jetzt hält sein Sohn inne und schleckt an der Tür zum Innenraum. Der Vater schaut zu. Dann nähert sich seine hochschwangere Frau mit winkenden Armen, zieht den kleinen Jungen weg und beginnt, mit ihrem Mann zu schimpfen. Für den Rest der Überfahrt schaut sie finster drein. Und dann müssen sie mit dem plärrenden Kleinkind, dem Rucksack und dem Babybauch in der brennenden Sonne in der Schlange am Fahrradverleih warten. Denn das ist, was man auf der Île de Groix tut. Jeder fährt Rad. Das Auto darf zwar auf dem Boot mit, aber das tun eigentlich nur die Inselbewohner. Am Kai des kleinen Hafens Port Tudy gibt es mehr Fahrradverleiher als Cafés. Ein Mann mit einem roten Kopftuch auf der Glatze und tiefbraun gegerbter Haut befestigt unsere Koffer mit einem Stück Seil hinter den Fahrrädern. Der freundliche Pirat winkt uns nach, als wir im Zickzack zwischen den Fußgängern davonradeln. Den Hügel hinauf, der Hauptstraße folgend. Wider Erwarten rollen die Koffer ohne umzukippen und nach zehn Minuten
erreichen wir unsere Frühstückspension im Hauptort Le Bourg. Sie liegt mitten im Geschehen: einige Terrassen, eine Bäckerei und das Karussell. Vom Zimmer aus blicken wir auf das Meer.
Wanderzeichen
Die Groisillons nennen ihre Insel ‚Le caillou‘, der Stein. Auf diesem Felsen, von acht mal drei Kilometern, sieht man fast immer das Meer. Und wenn Sie es nicht sehen, können Sie es hören oder riechen. Alles ist gut mit dem Rad erreichbar. Die Straßen sind breit, sicher und fast ohne Verkehr. Es fahren auch Kleinbusse, die auf einen Wink hin überall anhalten. Das gelingt uns einmal abends im Hafen mit einer spontanen, dank des Apfelweins nicht ganz unauffälligen Armbewegung. Für drei Euro setzt uns der Fahrer gerne an unserer Unterkunft ab. „Où vous voulez, madame.“ Und wenn ich auf die andere Seite der Insel möchte? Dann auch! Für denselben Preis? „Mais bien sûr, madame!“ Wir orientieren uns anhand der minimalistischen Karte des Fahrradpiraten und an den Ortsnamen, die mit weißer Farbe auf die Straße und auf Felsbrocken gepinselt sind. Einige sind von der Sonne verblichen. Manchmal helfen Pfosten mit Wanderzeichen, die auch auf der Karte zu finden sind. Selbst langsame Radfahrer können die ganze Insel in drei Tagen mit dem Rad erkunden. Der raue Westen mit seinen Klippen unterscheidet sich vom freundlichen, flacheren Osten mit seinen Stränden und Wäldern. Wir radeln vorbei an weißen Fischerhäusern mit leuchtend rosa Stockrosen, Hortensien und Fensterläden in bunten Farben. Oft hängt über der Eingangstür ein >
Eröffnungsfoto: Pointe de Pen-Men, das wildeste Stück der Küste.
Links: eine der schönsten kleinen Buchten. Diese Seite oben: das Meer ist auf der Insel allgegenwärtig. Unten: der hübsche, ruhige Strand am Leuchtturm von La Pointe des Chats.
Die Wetterfahne in der Form eines Thunfischs auf der Kirche von Le Bourg ist eine Hommage an den Fisch, der die Bewohner am Leben hielt
dekorativer Fisch aus Holz. Auf den Pfaden liegen anstelle von Sand Muscheln, die unter den Fahrradreifen knirschen. Wir blicken auf das Meer in der Ferne und auf einen ruhigen und sehr weißen Strand. Dann steigen wir ab und haben ein Stückchen transparentes Meer für uns allein. Die Ruhe an den schönen Stränden tröstet darüber hinweg, dass das Meer ziemlich kalt ist, obwohl es schon Juli ist. In dem weiten Blau bilden die wenigen Segelboote am Horizont weiße Tupfer. Schnell wird klar, was man hier als Sommertourist trägt: abgetragene Bootsschuhe, ein einfaches T-Shirt und natürlich den weiß-blau gestreiften bretonischen Pulli um die Schultern. Schnappen Sie sich einen Weidenkorb oder binden Sie eine Kiste auf Ihr Fahrrad für ein Picknick, fahren Sie langsam, lassen Sie den ganzen Trubel auf dem Festland hinter sich und Sie sind von einem echten Groisillon(ne) nicht mehr zu unterscheiden. Das Inselleben, das die Besucher heute so lieben, war früher rau. Die Bewohner lebten vom Thunfischfang. Vom 19. Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Groix der wichtigste Thunfischhafen Frankreichs und die Einwohnerzahl wuchs auf 6.000, drei Mal so viel wie heute. Die Wetterfahne aus Metall in der Form eines Thunfischs auf der Kirche von Le Bourg ist kein Zufall. Sie ist eine Hommage an den Fisch, der die Bewohner am Leben hielt.
Souveräne Frauen
So klein die Insel auch ist, es bestehen Mentalitätsunterschiede zwischen der einen und der anderen Seite. Im raueren Westen lebten die Fischer zurückgezogen in kleinen Häusern in der Nähe der Klippen. In den Häfen des Nordostens lebten die Händler und Reeder in vornehmen Häusern. Sie unterhielten mehr Kontakte zum Festland. „Man war dort viel fortschrittlicher“, sagt Christine, die Besitzerin unserer Unterkunft. „Es existieren immer noch Rivalitäten zwischen den Familien der einen und der anderen Seite. Manche sprechen >
Überall auf der Insel betören die weißen Fischerhäuser mit ihrer Blumenpracht in den Gärten das Auge.
seit Generationen nicht miteinander.“ Christine muss es wissen, ihre Großmutter stammt von der Insel. „Sie war eine harte Frau, wie so viele Frauen von hier.“ Die Frauen von Groix hätten sich viel früher emanzipiert als die auf dem Festland, sagt sie. „Die Männer waren zum Fischen auf dem Meer oder zum Verkauf des Thunfischs unterwegs und meist nur drei oder vier Monate im Jahr zu Hause. So wurden die Frauen schon früh zum „Chef de famille“. Waren die Männer zur See, regelten sie den Rest - und das war eine ganze Menge. Sie versorgten die Kinder und den Haushalt, arbeiteten auf dem Land oder in einer der fünf Konservenfabriken, reparierten die Netze, wuschen die Wäsche (bis zum Aufkommen von Waschmaschi-
Die Männer waren oft nur drei oder vier Monate im Jahr zuhause. So wurden die Frauen ‚Chef de famille‘
nen auf der Insel 1960 in den Wäschereien, die man noch überall sieht), kümmerten sich um die Finanzen. Einmal retteten sie die Insel im 18. Jahrhundert sogar vor dem Angriff der Engländer. Als eine englische Flotte auf Groix zusteuerte, waren nur Frauen anwesend. Schnell schlüpften sie in ihre traditionelle Festkleidung, mit rotem Korsett und blauem Rock, banden sich die >
Im Uhrzeigersinn: Plage des Grands Sables; Krabbensuchen bei Locmaria, (ein beliebter Zeitvertreib auf der Insel); Eiswagen am Plage des Sables Rouges.
langen Haare hoch und bedeckten sie mit Holzschalen. Sie griffen sich lange Stöcke und kletterten auf Pferde und Kühe. Aus der Ferne hielten die Engländer sie für französische Soldaten und kehrten um. Kein Wunder, dass hier die Frauen das Sagen haben.
Krabben sammeln
Auf kleinen Inseln ticken die Uhren oft anders. Alles ist überschaubar. Wenn Sie alle Ihre Pläne erledigt haben, können Sie von vorne beginnen. Aber dann in einem langsameren Tempo und mit Zeit zum Träumen. Oder wie ein Großvater aus der Hauptstadt, den wir am Strand treffen und der jedes Jahr herkommt, sagt: „Ich kenne jeden kleinen Fleck und sobald ich auf der Insel bin, verschwinden die Sorgen vom Festland. Als sei es hier magisch. Einen Morgen Krabben suchen mit meinem Enkel und mir kommen die besten Ideen. Das werde ich einen ganzen Monat lang jeden Tag tun, ohne zu denken, dass ich etwas anderes tun muss.“ Auch wir blieben gerne einen Monat lang, um nach Krabben zu suchen. Leider müssen wir schon nach drei Tagen abreisen. Auf dem Boot höre ich jemanden laut lachen. Es ist der Vater des Kleinkindes, das auf der Hinfahrt die Türen abgeschleckt hatte. Mit beiden Armen hält er seine Frau und den Jungen umschlungen und beobachtet, wie die Insel am Horizont zurückbleibt. Die drei Gesichter sind sonnengebräunt und entspannt. Der Zauber der Insel hat auch bei ihnen gewirkt. Selbst in nur drei Tagen. ■
Links: die Klippen an der rauen Westküste.
Diese Seite im Uhrzeigersinn: ruhige, weite Wege laden zum Radfahren ein; Port Tudy, der wichtigste Hafen, wo auch die Fähre anlandet.
Tipps & Adressen
REISEN
Der TGV braucht von Paris aus 1,5 Stunden nach Lorient. Der nächstgelegene Flughafen ist Rennes. Infos zur Fähre: compagnie-oceane.fr. Bei Ankunft der Fähre in Groix wartet Bus 35, um Besucher für ein paar Euro zu ihrer Unterkunft zu bringen. Fahrten mit dem Bus 113 können Sie jeweils am Vortag reservieren unter ctrl.yusofleet.com.
WANDERN & RADFAHREN
Es gibt drei ausgeschilderte Wanderwege von 10 bis 14 km Länge. (siehe groix.fr). Mit dem Rad ist im Prinzip die gesamte Insel erreichbar, bis auf die unbefestigten Küstenpfade. Fahrradvermietung (auch Elektroräder und Tandems) finden Sie im Hafen, u.a. bei bikini-bike.fr
WÄRMSTENS EMPFOHLEN
Pointe de Pen-Men, das rauste Stückchen Küste mit einem Leuchtturm. Pfade durch Heidelandschaft führen zum Trou de l’Enfer. An diesem ‚Höllenloch‘ donnert die See durch ein Loch im Felsen. Im hübschen Dorf Locmaria mit seinen fotogenen, gewundenen Gassen gibt es ein nettes Café mit Strandblick. Hier lassen sich wunderbar Krabben und Meerestiere sammeln. Von hier sind es nur 10 Minuten mit dem Rad über den schönen Wanderweg entlang der auffallend glitzernden Felsen bis nach Pointe des Chats. Mehr als 60 Sorten Mineralien sind hier zu finden. Einige der Steine sehen aus wie Silber und können ohne weiteres als schmucker Anhänger dienen. Quelhuit ist ebenfalls ein sehr idyllisches Dorf mit einer kleinen alten weiß getünchten Kirche. Kleine Buchten finden sich überall, Plage des Grands Sables ist der größte Strand: weißer Sand und der einzige Strand in Europa, der ins Meer hinein ragt. In der Nähe liegt Plage des Sables Rouges, mit rötlichem Sand. Poulziorec liegt am Ende eines steilen Pfades. Das Wasser dieser ruhigen Bucht ist derart türkisfarben, dass der Strand Tahiti Beach genannt wird.
LESEN
Die Romane der in Frankreich gefeierten Autorin Lorraine Fouchet. Ihr Buch „Die Farben des Lebens“ spielt auf der Insel: Es ist gut geschrieben und erlaubt dem Besucher, vieles wieder zu erkennen.
BESUCHEN
☛ Eco Museum van Groix
Diese ehemalige Konservenfabrik im Hafen bietet Informationen über den Thunfisch-Fang, die Geologie, das Leben der Bewohner und die Landschaft der Insel. museedegroix.com
☛ Parcabout
Toller Kletterpark mit guter Pizzeria. In den Bäumen hängen kugelförmige Zelte für Übernachtungen. parcaboutgroix.com
☛ Groix Nature
Schönes Lädchen im Hafen mit allen Spezialitäten der Insel. groix-et-nature.com
☛ Caramels de Groix
Lädchen in Le Bourg wo die besten Caramels hergestellt und verkauft werden, die wir jemals gekostet haben. Wollen Sie Vanille, Ingwer oder Himbeere? caramelsdegroix.com
KULINARISCHE SPEZIALITÄTEN
Terrine d’ormaux (Seeohr): Pastete eines Meerestieres, dass unter den Felsen am Wasser lebt. Cotriade: Eintopf (pot-au-feu) mit lokalen Fischsorten, Meeresfrüchten und Gemüse. Appelcider: Die Auswahl ist groß: eher süß oder doch lieber trocken? Wenig Alkohol oder mehr? Wir entschieden uns jeweils für Ersteres denn bei der zweiten Variante könnte es schwierig werden mit dem Radfahren. Kouign pod oder Tchumpôt: in den Kuchen von Groix gehören Eier, Crème fraîche, brauner Zucker, Mehl und Salzbutter.
ESSEN & TRINKEN
☛ Ti Beudeff – Port Tudy
Legendäre Fischerkneipe bzw. -restaurant am Hafen. Also kein Chichi (Schnickschnack) sondern gute, bodenständige Küche, vergilbte Bilder von Booten an der Wand und hausgemachten Rum. Rue du Général de Gaulle, Groix, tel. +33 (0)62788304145.
☛ La Crêperie des Îles -
Le Bourg
Angenehme Terrasse mit großer Auswahl an Crêpes. groix.online/annuaire/creperiedes-iles
☛ Auberge du Pêcheur
Ausgezeichnetes Fischrestaurant nur drei Gehminuten vom Hafen entfernt. Sie können auch schön im Garten speisen. aubergedupecheur.free.fr ☛ Le Bao
Schön eingerichtet, biologisches Gemüse, fantastische Fischgerichte (siehe Foto oben). Mein Poulpe kam direkt aus dem Meer. Es überraschte kaum, als ich dieses Restaurant später im Restaurantführer ‚Le Fooding‘ als „eines der besten Restaurants des Jahres 2021“ fand. Es liegt etwas außerhalb des Zentrums von Le Bourg. Route de Créhal, tel. +33 (0)2 97 89 94 87
ÜBERNACHTEN
☛ Chambres d’hôtes
La Paranthèse de l’Ile (foto)
Fünf komfortable Zimmer und ein Appartement in einem renovierten Haus eines Reeders. Schöner Garten mit Liegestühlen und Terrasse. Ab € 80 DZ mit Frühstück. chambres-hotes-ile-groix.fr
☛ Hôtel Ty Mad
24 Zimmer, drei Appartements plus Restaurant in einem herrschaftlichen Haus mit Pool. Sechs Zimmer haben Aussicht auf den Hafen. DZ ab € 80. tymad.com
INFORMATIONEN
• lorientbretagnesudtourisme.fr • groix.fr • bretagne-vakantie.com Im Hafen von Tudy ist ein kleines Office de tourisme.