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Rosen, Kunst und Restaurants in der Finsternis

Verborgene Welten im Tal der Loire

ROSEN, KUNST UND RESTAURANTS IN DER FINSTERNIS

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Unterirdische Restaurants oder Discos – das ist heute nichts Besonderes mehr. Aber ein ganzes Dorf mitsamt Kirche? Ein Zoo, ja sogar ein echtes Schloss unter der Erde? Sind die Augen einmal an das schummrige Dunkel gewöhnt, gibt es unendlich viel zu entdecken unter dem Tal der Loire.

TEXT & FOTOS PAUL SMIT

Oben strebt das Thermometer auf die 35 Grad Celsius zu. Ich befinde mich 15 Meter tief unter der Erde und kann nicht gerade behaupten, dass mir warm wäre in meiner Winterjacke. Aber ich wollte es ja so, diesen schrägen Ausflug. Eine unterirdische Fotoreportage ohne Blitzgerät. Denn ich will die Atmosphäre einfangen, die mich schon als Kind so faszinierte: wie bei Abbruchhäusern mitzugenagelten Fenstern, oder bei Urlaubsausflügen in Grotten. Dieses Ambiente soll mein Blitzlicht nicht überstrahlen. Also braucht jedes Foto eine ganze Weile, ich ziehe mir den Schal noch etwas straffer um den Nacken.

Versunkene Kathedrale

Diese Atmosphäre! Deswegen verbringen Kinder Stunden in den unterirdischen Welten ihrer Computerspiele. Aber heute ist das Abenteuer dreidimensional, ich bewege mich mit den eigenen Beinen, ohne Maus oder Joystick. Hunderte Meter Stollen und Seitengänge, größtenteils finster. Hier und dort eine Neonröhre, die durch Schleier aus Spinnweben ein grünliches Licht verbreitet, weil Algen darauf wachsen. In ihrem fahlen Schein, aber auch in der Düsternis stehen seltsame Maschinen. Rostige Würfel, zwei mal zwei Meter lang. Manche balancieren auf ihrer Spitze, andere auf der Seite. Hebel stechen hervor, aber ich traue mich nicht, sie umzulegen. Wer weiß, was ich damit in Bewegung setzen würde. Der Inhalt kommt mir bekannter vor: Weinflaschen. Später verstehe ich, dass diese Würfel alte Geräte sind, welche dieChampagnerflaschen jeden Tag einen Viertelschlag gedreht haben. In diesem Falle Sektflaschen, denn ich bin nicht in der Champagne. Ich streiche durch diese unterirdische Welt und entdecke abgebrochene Säulen und hier und da ein Kapitell. Ein Lichtkegel fällt auf ein eingestürztes Gewölbe, weiter hinten auf einen kompletten gotischen Bogen – wo bin ich in Himmels Namen? In der Cathédrale Engloutie, der versunkenen Kathedrale. Die Idee stammt von Patrice Monmousseau, >

Mehr als einen Kilometer über die Grenzen von Doué-la-Fontaine hinaus erstrecken sich unterirdische Räume, oft höher als manch eine Kirche.

Vallée Troglodytique des Goupillières: Authenthischer Bauernweiler an der Loire.

Villaines ist ein Höhlendorf, in dem bis heute Korbfl echter leben. Einige haben ihre Werkstätten unter der Erde, weil die Weidenruten im feuchten Raumklima schön biegsam bleiben.

Die Höhlen von Doué-laFontaine liegen nicht nur unter den umliegenden Feldern, sondern auch unter dem Ort selbst. Im Sommer stehen hier Rosen! - Auch ein Produkt der Loire, genau wie Wein. In der kühlen Luft dieser unterirdischen „Messehallen“ bleiben die Blumengebinde länger frisch. Leiter des Weinhauses BouvetLadubay in Saumur, der scheinbar etwas zu tief in die Perlen in seinem Sekt geschaut hat. Ihm gefiel der Gedanke, in seinen Weinkellern in der alten Kalksteingrube eine versunkene Kirche zu zaubern. Also bat er einen befreundeten Bildhauer darum. Dieser meißelte Teile der Wände und Ecken weg, so dass Säulen und Bögen entstanden. In der stillen Finsternis erhebt sich nun unvermittelt der Gesang einer Frau. Dann fällt ein Chor ein, die Stimmen erklingen aus allen Gängen zugleich. Als ob sich ein Tor zum Himmel öffnet und Engelsstimmen hinab schwebten in diese Unterwelt. Dann brechen Schritte den Zauber, eine Führerin zeigt einer Gruppe Touristen die Reste der unterirdischen Kathedrale. Sie hatte per Knopfdruck die Musik eingeschaltet. Eine Dame erspäht meine Umrisse in der Dunkelheit und stößt einen Schrei aus. Die düstere Kathedrale macht eindeutig befangen. Besonders, wenn man den Besuch nicht mit einer Weinprobe beendet, sondern ihn damit beginnt. Auch woanders ist Erfolg garantiert: Die Hélice Terrestre (ErdHelix) in Les Orbières. Der Bildhauer Jacques Warminski hat hier die letzten Jahre seines Lebens einem Gesamtkunstwerk gewidmet, dass man in einem Atemzug mit dem Palast des Postboten Cheval oder Gaudis Sagrada Familia nennen darf. Nur, dass die Helix unterirdisch liegt. Ich gehe durch die Eingeweide eines riesigen Biestes, so scheint es mir. Dessen Innenseiten sind mit prächtigen organischen Strukturen und Reliefs bedeckt. Kinder brauchen sich nicht mit den künstlerischen Werten aufzuhalten, in den Sälen und Stollen wähnen sie sich glattweg in einem IndianaJonesFilm. Der spannendste Teil beginnt weiter hinten. Dort endet die Beleuchtung, aber in der Wand gähnt ein Eingang. Wer sich dort tastend hinein wagt, stößt nach einer Weile auf einen Abzweig, ohne zu ahnen, dass es derselbe Gang ist, der eine 8 bildet. Die Kinder verstehen nicht, dass sie auf jeden Fall immer sicher zurückfinden und dürfen sich wie verirrte Entdeckungsreisende in den tiefsten Windungen der Erde fühlen. Über der Erde setzt sich die Helix fort, aber nicht mehr im Kalkstein, sondern in ergänzendem Beton. Oberund Unterwelt sind Spiegelbilder, die Räume bilden jeweils ihr Negativ. Oben endet das Kunstwerk am Rande einer Art Vulkantrichters, der eine weite Aussicht über das Land bietet. Mir wird klar, dass diese unauffälligen Äcker entlang der Loire ganz schön viel verbergen können. Die Felder rund um das Dorf DouélaFontaine sind diesbezüglich der Gipfel. Bis zu einem Kilometer außerhalb des Dorfes erstrecken sich unterirdische Säle, 20 Meter hoch, vier Meter breit und zig Meter lang, oftmals miteinander zu hunderte Meter langen Anlagen verbunden. Größer also als manch eine Kirche. Diese flaschenförmigen Räume erinnern an das Innere von Kirchen. Darüber liegt ein halber

e. Ein allzu steifes Museum kann das Interesse an Geschichte auch schädigen. Wo doch ein Kind, dass hier gewesen ist, bestimmt später Archäologe werden möchte!

Meter Erdboden, auf dem die Bauern mit ihren Treckern fahren, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass unter ihren Rädern mehr Luft als Boden liegt. Es waren deren Großeltern, die ein Loch in den Boden trieben. Sobald sie tiefer kamen, meißelten sie auch zu den Seiten hin, daher die Flaschenform. So krochen sie immer tiefer unter ihre eigenen Äcker, die Steine verkauften sie als Nebenverdienst. Es entstand ein unterirdisches Labyrinth so groß wie eine Stadt und ein Teil dieser Caves Cathédrales ist unter dem Namen Mystère des Faluns zu besichtigen. Betritt man eine solche „Kathedrale“ gerät der Besucher kaum noch aus dem Staunen heraus, denn effektvoll installiertes Licht verstärkt den Eindruck noch.

Blumen und Giraffen

Die unterirdischen Räume und Gänge liegen nicht nur unter den Feldern, sondern auch unter der Stadt. Mitten im Sommer stehen hier massenhaft Blumen, denn das LoireTal bringt nicht nur Wein, sondern auch Rosen hervor. Die unterirdischen Räume dienen als eine Art Messehallen. In der kühlen, feuchten Luft bleiben die Blumengestecke während der gesamten Messewoche frisch. Wo eine unterirdische Blumenschau schon verrückt ist, da ist ein Zoo es erst recht. Die Tiere, die nicht von Natur aus in Höhlen leben, haben im Bioparc von Doué eine Art Krater als Lebensraum,

Darüber liegt ein halber Meter Erdboden, auf dem die Bauern mit Treckern fahren, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass unter ihren Rädern mehr Luft als Boden liegt.

Abzweige in die Tiefe der Erde dienen als Schattenspender oder Schlafplatz. Der Park bekam 2020 den Titel des zweitbesten Tierparks Europas. Da er so tief in der Erde liegt, ist die Einrichtung des Parks ungewöhnlich: Zäune sind kaum nötig und der Besucher kann sich auf verschiedenen Ebenen bewegen. Zum Beispiel auf Augenhöhe mit den Giraffen, die bei Hitze die unterirdischen kühlen Plätzchen aufsuchen. Franzosen nennen unterirdische Räume Troglodytes und wer dafür eine Schwäche hat, ist ein Troglo. AnneCatherine Sailly, Besitzerin der kleinen Bierbrauerei Brasserie des Fontaines, ist so jemand. Auch wenn es ihr nicht gelungen ist, eine unterirdische Wohnung zu ergattern, gleicht der Boden unter ihrem Haus einem Schweizer Käse. Eigentlich ist es eher schwer, in der Umgebung von DouélaFontaine eine Stelle zu finden, wo das nicht der Fall ist. Unter dem gesamten Dorf liegen Mergelgruben und ehemalige Schutzbunker. Es gibt also kaum ein modernes Haus – oder Garten, die nicht unterhöhlt wären, auch wenn die Besitzer es oft >

nicht einmal wissen. Aber AnneCatherine hat es gut getroffen. Ein Teil ihres Gartens brach ein, in dem Tagesbruch kamen nicht nur ein spätmittelalterlicher Schutzbunker mit Kornkammer und gotischer Kapelle zum Vorschein, sondern auch eine SarkophagWerkstatt aus dem 5. Jahrhundert. Nachdem Archäologen alles kartiert hatten, machte sie ihren Garten der Öffentlichkeit zugänglich: La Cave aux Sarcophages.

Links: Winzer Hervé Gourmain im Weinkeller seines Château du Marconnay. Rechts: Europas tiefster trockener Schlossgraben führt zu dem Schloss unter dem Schloss Brézé. Der Höhlenteil ist doppelt so groß wie der überirdische Teil.

In Stein geschlagene Häuser

Doué ist zwar löcherig wie ein Käse, aber ein unterirdisches Dorf ist es nicht. Das Künstlerdorf Turquant ist es hingegen schon. Es liegt am alten Steilufer der Loire, wo sich der Fluss in das Mergelgestein hineingefressen hat, so dass eine steile Wand entstand. Hier hinein wurden die Häuser geschlagen. Sie haben normale Fassaden, reichen aber tief in den Felsen. So entstanden einzigartige Galerien, Ateliers und Restaurants. Es gibt auch ein unterirdisches Dorf und zwei Weiler, die vollkommen unter der Erde liegen. Das Dorf LouresseRochemenier liegt in einem im Mergelgestein gegrabenen Krater mit Wohnungen in den Seitenwänden. Die unterirdische Kapelle bekam später eine „echte“ Kirche über Tage. Rochemanier ist spannend, aber nicht lebendig, eher ein Museumsdorf. Die Weiler La Foss Troglodyte in der Nähe von Forges und das Vallée Troglodytique des Goupillières unweit von AzayleRideau wirken wesentlich authentischer, denn hier streifen Bauernhoftiere umher und die Orte sind lebendig. Ersterer ist wie im 19. Jahrhundert gestaltet, der zweite Weiler wie im Mittelalter.

Unterirdischer Adel

Die Loire ist das Land der Schlösser, also war ich auch nicht sonderlich überrascht, von einem unterirdischen Schloss zu hören. Das Château de Brézé ist einer der faszinierendsten Höhlenbauten der LoireRegion. Erst in der Zeit der luxuriösen LoireSchlösser wurde über dem HöhlenSchloss ein kleineres überirdisches Exemplar errichtet. Hier wohnte Comte de Colbert. Ermutigt von Höhlenfreunden ließ er den Komplex unter seinem Schloss untersuchen und restaurieren, so dass er seit 2001 öffentlich zugänglich ist. Später ergänzte er einige der Räume um eine riesige dreidimensionale Diaschau. Während der Schau kann der Besucher mit oder ohne Führer umherstreifen und virtuell Höhlenbauten in aller Welt besichtigen. „Manche Archäologen kritisieren meine Freunde“, erzählt der Baron begeistert. „Sie haben das Fach zwar nicht studiert und bei der Ausführung ihrer kreativen Ideen ist der ein oder andere historische Fakt unter den Tisch gefallen. Aber ein allzu steifes Museum kann das Interesse an Geschichte auch schädigen. Wo doch ein Kind, dass hier gewesen ist, bestimmt später Archäologe werden möchte! Seit dieser frische Höhlenwind über – besser gesagt unter meinem Landgut weht, fühle ich mich zwanzig Jahre jünger.“ ■ >

In den Caves de la Genevraie in LouresseRochemenier sind Fouaces die Spezialität. Hotel Demeure de la Vigole hat zwei Höhlensuites.

Tipps & Adressen

Sämtliche unten genannten Adressen liegen (teilweise) unter der Erde.

Übernachten

☛ Hôtel Demeure

de la Vignole

Stilvolles mit dem Rücken an die Felsen gebautes Hotel fast am Ufer der Loire mit zwei HöhlenSuiten und -Zimmern. Es gibt auch gewöhnliche Zimmer und ein Appartement, das teilweise Höhle ist. Besonders prächtig gestaltet ist das Höhlen-Schwimmbad. 3, Impasse Marguerite d’Anjou, Turquant.demeure-vignole.com

☛ Hôtel Troglododo Angenehmes Hotel mit sechs Zimmern, die teilweise Höhlen sind. Buchen Sie das Richtige, denn es gibt auch gewöhnliche Zimmer. Schöner Garten und Terrassen. Route des Granges, Azay-leRideau. troglododo.com

☛ B&B La Farfadine Unser Favorit ! Es liegt ganz und gar in den Caves Cathédrales von Doué. Es sind vier Unterkünfte: zwei Zimmer, eine Suite und ein Appartement. Außergewöhnlich ist die Suite La Cachete de Basile, besonders abends bei Kunstlicht. Es punktet auch mit seinem eigenen Wellnessbereich, dem leuchtenden, riesigen Jacuzzi. 21, Rue de la Croix de Fer, Doué-la-Fontaine. farfadine.fr

☛ Weitere Höhlen-

Unterkünfte

anjou-tourisme.com/fr/preparerson-sejour/ou-dormir/ hebergements-insolites/ hebergements-troglos

Essen & Trinken

☛ Restaurant Les

Cathédrales de la Saulaie.

Der Speisesaal ist sehr hoch und erinnert an eine Kathedrale. Es werden Fouace (eine Art PitaBrot, auf dem Holzfeuer im Höhlenofen gebacken) und Galipettes (Pilze) serviert. Nach der Mahlzeit sollte man sich unbedingt die angrenzenden Räume anschauen. 412, Rue de Montfort, 49700 Doué-la-Fontaine. lescathedralesdelasaulaie.com

☛ Restaurant L’Hélianthe Hier reicht die Küche viel weiter als Fouace und Galipettes, man serviert feine Speisen. Das Dorf Turquant ist mit seinen zahlreichen Höhlenhäusern und Künstlerläden hübsch, ja ein wenig schick. Versuchen Sie einen Tisch im Zwischengeschoss (Mezzanine) zu bekommen. Ruelle Antoine Cristal, Turquant. restaurant-helianthe.fr

☛ Restaurant La Table

des Fouées

Allein schon wegen der Inneneinrichtung lohnt es sich. Die Kombination von modernem Design mit einer Grotte ist beeindruckend. Auch hier gibt es Fouaces (auch Fouées genannt), nicht besser als woanders. Mit Bar und Weinprobe. 29, Rue Ackermann, SaintHilaire-Saint-Florent. latabledesfouees.fr

☛ Weitere Höhlen-

Restaurants

anjou-tourisme.com/fr/preparerson-sejour/manger-deguster/ restaurants-gastronomiques/ restaurants-troglodytiques Ausflüge ☛ Cathédrale Englouti bouvet-ladubay.fr/visiter-vousreunir/visitez-nos-caves ☛ Hélice Terrestre heliceterrestre.canalblog.com ☛ Mystère des Faluns le-mystere-des-faluns.com ☛ Journées de la Rose journeesdelarose.com ☛ Tierpark Bioparc bioparc-zoo.fr ☛ La Cave aux Sarcophages troglo-sarcophages.fr ☛ Höhlendorf Louresse-

Rochemenier

troglodyte.fr ☛ Höhlenweiler La Fosse

Troglodyte

maisonstroglo.com ☛ Vallée Troglodytique des

Goupillières

troglodytedesgoupillieres.fr ☛ Château de Brèze

(unterirdisches Schloss)

chateaudebreze.com ☛ Weitere Höhlen-

Sehenswürdigkeiten

anjou-tourisme.com/fr/voirfaire/que-visiter/troglodytes

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