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DIE SCHÖNSTE CANTINA DER WELT
Die26Generationen Winzer von Marchesi Antinori
Albiera Antinoris Reich erstreckt sich weltweit über 2.600 Hektar Weinberge, zahlreiche Restaurants und einen futuristischen Weintempel. Das Italien Magazin sprach mit der Präsidentin des alten Weinguts Marchesi Antinori über das Unternehmen, die Familie und den Lockdown, der das Land für zwei Monate zum Erliegen brachte.
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TexT paola van dam foTos
matteo rossi
Vorherige Seiten: Die Weinberge in den Chianti-Hügeln. Unten: Eingang mit Restaurant. Rechts: Albiera Antinori auf der spektakulären Wendeltreppe.
Selbst mit einem Navigationssystem kann man sich in der toskanischen Chianti-Region leicht verirren. Kurvenreiche Wege durch endlose olivenhaine und Weingärten, bergauf, bergab, ab und an ein
Bauernhaus wie aus einem kitschigen
Bilderbuch mit Steintreppe im Freien,
Geranien, einem Brunnen und hölzernen
Fensterläden. Von Zeit zu Zeit eine unscheinbare Kreuzung... Da ich spät dran bin, fahre ich sehr zügig Richtung
Bargino, wo ich eine Verabredung habe in der schönsten Wein-Cantina der Welt; mit Albiera Antinori, der Präsidentin des berühmten Weinguts. Plötzlich erspähe ich aus dem Augenwinkel etwas
Ungewöhnliches, etwas, das ich in dieser ländlichen Umgebung nicht erwartet hätte. Eine hypermoderne Auffahrt, die eher nach Kalifornien gepasst hätte, mit einer nach hinten geneigten Wand mit rötlichen Cottoplatten und dem Schriftzug „Marchesi Antinori - nel Chianti Classico“ in großen Metallbuchstaben. Daneben liegt ein riesiger Empfang mit einem einsamen Pförtner hinter einer Glaswand, der in diesem futuristischen Dekor etwas verloren wirkt, das, wie ich später an diesem Tag feststellen werde, nur die Spitze dieses architektonischen Eisbergs ist. Es ist bekannt, dass die Antinoris Innovationen mögen. Bereits 1942 schockierte Großvater Niccolo Antinori die gesamte Toskana, indem er die Rezeptur des Chianti-Weins änderte und auch französische Rebsorten einbezog, ein wahrer Skandal für die traditionell und bodenständig eingestellten Toscani. Dessen Sohn Piero wiederum ließ sich von den 1963 eingeführten DoC-Vorschriften (Denominazione di origine Controllata) nicht davon abhalten, mit neuen Methoden der Weinbereitung und „internationalen Trauben“ zu experimentieren. Dass diese
Weine nicht mehr Chianti genannt werden durften, störte ihn nicht. Es war ihm wichtiger, den Geschmack zu verbessern. Die Tatsache, dass seine Solaia und Tignanello ein großer Erfolg wurden und jetzt als die besten Weine der Welt unter dem Namen „Super Tuscans“ verkauft werden, zeigt, dass der Marquis wusste, was er tat.
Design Dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt, wird deutlich, als ich etwas später mit Albiera (1966) - weiße Bluse, luftige Hosen und klassische Gesichtszüge ohne Schminke - in einem geräumigen Raum aus Glaswänden sitze. Sie erzählt mir, dass sie diejenige in der Familie war, die den Bau eines modernen und ökologischen Weinkellers initiiert hat. „Eigentlich lag bereits ein traditionelles Projekt vor, aber ich kam zufällig mit dem Florentiner Architekten Marco Casamonti in Kontakt. Er hat schon früher Weinkeller entworfen und seine Arbeitsweise, bei der sowohl die Umwelt, als auch die Landschaft im Mittelpunkt stehen, hat mich wirklich angesprochen. Alles soll so gut wie möglich in die Umgebung passen. Ich schlug meinem Vater vor, mit Casamonti zu sprechen, und es lief so gut, dass er sofort mit einem Skizzenentwurf beginnen konnte. Als er uns einige Wochen später seinen Entwurf vorlegte, waren wir einmütig überzeugt.“ Das Ergebnis ist einfach beeindruckend. Der auf einer Fläche von 26.000 m 2 verteilte Komplex liegt fast vollständig unter der Erde und besteht aus natürlichen Materialien wie Tonfliesen, Metall, Holz und Glas. Er beherbergt einen hochmodernen Produktionskeller mit „schwebenden“ Glasräumen, in denen Besucher Wein verkosten können, geräumige Büros (die
Im Uhrzeigersinn: einer der Weinberge; begeisterter Mitarbeiter im Laden; Skulptur des argentinischen Künstlers Tomás Saraceno. Rechts: die neuen Weinkeller mit „schwebenden“ Weinverkostungsräumen hinter Glas.
ES IST SCHoN BEEINDRUCKEND, MIT WIE VIEL LEIDENSCHAFT UND LIEBE SIE üBER DETAILS SPRICHT, WäHREND SIE FüR EINE RIESIGE PRoDUKTIoN VERANTWoRTLICH IST.
früher auf die verschiedenen Weingüter verteilt waren), eine Weinhandlung mit allen AntinoriWeinen, ein Museum, ein Auditorium und ein Restaurant. Alles in allem ein Design-Prunkstück, das seinen Glanz auf die AntinoriDynastie wirft , allein schon wegen der unglaublichen 100 Millionen Euro, die das Traumprojekt gekostet hat. Als ich Albiera danach frage, verzieht sie das Gesicht. „Ich kann Ihnen sagen, dass ich während der Renovierung viele schlaflose Nächte hatte, vor allem, weil ich die Bauarbeiten von Anfang bis Ende begleitet habe. Wenn man jedoch erheblich in die Zukunft investieren möchte, muss man Risiken eingehen. Wir fühlen uns dafür verantwortlich, das Rad am Laufen zu halten, und zwar nicht nur innerhalb der Familie, sondern auch für die Menschen, die seit Generationen für uns arbeiten und mit denen wir uns sehr verbunden fühlen. Wissen Sie, dass wir zur Eröffnung nur Anwohner aus der Region und unsere festangestellten Mitarbeiter eingeladen hatten?“
Mut, Geduld und Liebe Als ich später mit Albiera durch die endlosen Reihen der Weinranken gehe und sie mich auf das tiefe Purpur der Trauben hinweist, erklärt sie auch, was an dem Mikroklima, mit dem die ChiantiRegion gesegnet ist, so ideal ist. Es ist schon beeindruckend, mit wie viel Leidenschaft und Liebe sie über Details spricht, während sie letztendlich für eine Produktion von 23 Millionen Flaschen pro Jahr verantwortlich ist. „Es ist ein Beruf, der viel Geduld erfordert: Wenn Sie jetzt etwas anpflanzen, können Sie zehn Jahre lang keinen Wein daraus machen. Es ist eine langfristige Planung ohne unmittelbare Ergebnisse. Die Ernten können >
Im Uhrzeigersinn: ein Weinfass; der Familien-Stammbaum; aus der Luft ist deutlich zu erkennen, dass der Komplex größtenteils unterirdisch angelegt ist; das Familienwappen der Antinoris. Rechts: Albiera Antinori.
anders ausfallen als erwartet, besser oder schlechter. oder man muss sich mit etwas Schrecklichem wie einer Pandemie auseinandersetzen, bei der der Umsatz – wegen der Schließung von Hotels und Restaurants weltweit – fast völlig einbricht. Es bleibt unvorhersehbar und diese Faktoren machen es zu einem Geschäft, das Mut, Geduld und Liebe erfordert.“ Als ich dann nach den Monaten
frage, in denen ganz Italien aufgrund der Coronamaßnahmen gezwungen war, zu Hause zu bleiben, zögert Albiera. „Einerseits war es natürlich schrecklich. Wir waren alle sehr besorgt, sowohl um unser Unternehmen, als auch um die Gesundheit aller um uns herum und die Situation weltweit. Andererseits hat es auch etwas Schönes hervorgebracht. Da wir alle,
meine Eltern, meine beiden Schwestern und ich, ein Landhaus in Bolgheri haben und wir einstimmig beschlossen hatten, die Zeit dort zu verbringen, konnten wir jeden Abend zusammen essen. Als Familienoberhaupt wählte mein Vater jeweils ein Thema, über das wir an dem Abend sprechen konnten, und ließ dabei jedes seiner fünf Enkelkinder etwas erzählen. >
Meistens ging es um die Wirtschaft, aber es gab auch Diskussionen über die Weltpolitik, die Bekämpfung des Corona-Virus oder oberflächliche Angelegenheiten wie bestimmte Fernsehprogramme. Aber egal, worum es ging: Alle kamen zu Wort und wir verbrachten viel Zeit miteinander. Es war also eine sehr beunruhigende Zeit, die ich persönlich trotz allem in gewisser Weise schätze.“
Traditionelle Pflicht Die langfristige Planung spiegelt sich in der Entscheidung ihres Vaters Marchese Piero Antinori wider. 2013 nahm er Anteilshaber mit ins Boot, was den Fortbestand der Firma für die kommenden 90 Jahre sichert. Einer der Treuhänder ist der enge Familienfreund Ferruccio Ferragamo, Präsident des Modehauses Salvatore Ferragamo, das 2011 an die Börse ging. Albiera: „Für unsere Art von Unternehmen wäre ein Börsengang nicht geeignet. Aktionäre wollen sofort Ergebnisse und das können wir nicht liefern. Außerdem sind wir die 26. Generation von Antinoris, die in der Weinherstellung tätig sind“, sagt sie und blickt auf die sanften Hügel, die sich von Florenz bis Lucca erstrecken. „Ich denke, es ist daher meine Pflicht, diese Tradition innerhalb der Familie fortzusetzen, und zum Glück bin ich mir darin mit meinen Schwestern und Kindern einig.“ Auf die Frage, ob ihr Vater (Albieras Mutter, Prinzessin Francesca Boncompagni Ludovisi, kümmert sich nicht um das Geschäft) stolz auf sie ist, lacht sie. „Kein Zweifel, aber er ist nicht der Typ Mann, der das offen ausspricht. Ich muss es zwischen den Zeilen lesen.“ Nach einer kurzen Pause: „Es war eine überraschung für ihn, dass seine Töchter vom Familienunternehmen
Bijschriften bijschriften Bijschriften bijschriften
FüRCHTET ER NICHT, DASS DER NAME ANTINoRI ZU VERSCHWINDEN DRoHT? LäCHELND SCHüTTELT SIE DEN KoPF.
fasziniert waren. Als wir klein waren, ging er tatsächlich davon aus, dass wir, mit Herz und Seele eine Familie gründen würden. Das war vor 30 oder 40 Jahren, als Menschen hier nicht sehr emanzipiert waren, nicht in Italien und schon gar nicht in der toskanischen Weinwelt. Frauen, die nicht arbeiten mussten, taten das auch nicht. Dass meine Schwestern und ich unseren Platz im Unternehmen gefunden haben, macht ihn glücklich, ebenso wie die Leidenschaft meiner Kinder für das Geschäft.“ Fürchtet er nicht, dass der Name Antinori mit drei Töchtern eines Tages verschwindet? Albiera schüttelt lächelnd den Kopf. „Wahrscheinlich haben unsere Kinder bald einen Doppelnamen.“ Und nach einer kurzen Pause: „Seien wir ehrlich: Dieser Nachname ist die beste Visitenkarte in unserem Geschäft.“ • Linke Seite im Uhrzeigersinn: der äußere Ring des Komplexes; der Laden; Blick auf die Cantina vom Weinberg. Oben: Ein Mitarbeiter zwischen den Weinranken neben der Cantina.
MARTIN ZÖLLER
martin zöller ist autor von „madonna, ein blonder! ganz und gar nicht alltägliche geschichten aus rom“
MARIEKE VAN DITSHUIZEN ILLUSTRATION
In Italien bist du jung
Wir haben es immer schon geahnt, aber es ist wirklich so: Italien hält jung. Natürlich, das gesunde Essen, das Meer, die Sonne, Fisch, Olivenöl…. Sie kennen das alles, die gefühlte Wahrheit einerseits, aber auch die wissenschaftlich belegte Lobpreisungen zum Beispiel der mediterranen Küche andererseits. Direkt erfahrbar ist die Jungbrunnen-Dusche meist schon kurz nach Grenzübertritt. Die Dusche besteht aus dem einen Wort „ragazzi“ und dem ständigen Duzen. „Ragazzo“ heißt „Junge“, „ragazza“ heißt „Mädchen“ und folgerichtig kennt das dicke klassische Wörterbuch „lo Zingarelli“ vor allem Anwendungen von „ragazza/o“,die etwas mit „jung“ zu tun haben. So steht auf Seite 1474 meiner Ausgabe für „ragazzo“ unter anderem „heranwachsend“ und „jung“, „jugendlich“ oder „unerfahren“. Und jetzt kommt’s: wie wird man als Reisender jeden Alters angesprochen, wenn der Barista in der Kaffeebar kurz hinter Bozen die Bestellung erwartet? Eben, nämlich so „Was wollt ihr, ragazzi?“. Und wenn man zu schnell auf das „vaporetto“ in Venedig steigt: „Wartet noch, ragazzi!“. Oder im Bus, wenn alle durcheinander stürzen? Dann sagt die Busfahrerin: „Ragazzi, festhalten, wenn es über das Kopfsteinpflaster geht!“ Hören Sie genau hin beim nächsten Italien-Aufenthalt, wie oft Sie unter die „ragazzi“ gemischt werden. Jedes Mal dürfen Sie sich zurecht ein Jahr jünger fühlen. Was noch zusätzlich für ein jugendliches Gefühl in Italien sorgt, ist natürlich, dass man ständig überall geduzt wird - aber nicht im Sinne eines unterkomplexen „Du-müssen-bezahlen“, sondern als Geste der Freundschaft und des sozialen Unterhakens. Der Kellner im Restaurant sagt eben nicht nur „ragazzi“ zur Reisegruppe, sondern auch „was wollt ihr essen“ oder „was willst Du trinken“. Als Polizisten einmal eine Straße absperrten, ich stand ganz vorne, rief ein Motorradfahrer neben mir einem Polizisten zu: „Hey entschuldige mal, seid ihr bescheuert?“ und zeigte auf
die gesperrte Straße. Und der Polizist sagte nur: „Pazienza, ragazzi“, „Jungs, Geduld“. Sowohl das „Bescheuert“ wie das „Jungs“ sind nicht gerade Wörter, die man in Deutschland in Gesprächen mit Polizisten verwendet oder verwenden sollte. Probieren Sie es mal, beim nächsten Italien-Urlaub einfach jemanden zu duzen, den Sie normalerweise nicht duzen würden. Zum Beispiel die Busfahrerin in Rom: „Dimmi, quando si esce per Piazza Navona“? (“Sag mal, wo muss man raus für die Piazza Navona?”). Die Antwort wird garantiert nicht sein: „Wir kennen uns doch gar nicht, wer sind Sie denn?“, sondern eher: „Carissimo, mancano due fermate!“ („Liebster, in zwei Haltestellen!“) oder Ähnliches. Ist das schnelle „Du“ schon ein Zeichen freundschaftlicher Nähe, ist es im nächsten Schritt das Küsschen auf die Wange, der „bacio“ bzw. „bacietto“. Für kaum ein Volk wird es in CoronaZeiten so schwer sein, sich nur zurückhaltend unter Freunden zu begrüßen, wie für die Italiener. Schließlich lief es bislang in Italien ungefähr so, wenn man Freunde getroffen hat: „Ciao!“, Bussi links rechts, „ciao!“, Bussi links rechts, „ciao!“ Bussi links rechts und so weiter und so fort bis alle Freude durch waren. Je weiter man südlich lebt in Italien, desto mehr hält man eigentlich seine Wange jedem hin: Männern, Frauen und auch allen Menschen die einem eben erst vorgestellt wurden. Und jetzt? Kürzlich stand in einer süditalienischen Zeitung der Rat, wie man denn mit den „Baci“ umgehen soll in CoronaZeiten: „Nicht ablehnen, das ist unhöflich, aber selbst keins geben!“. Denn so würden auch unverbesserliche Baci-Verteiler irgendwann eingebremst. Irgendwann wird der Bacio sein großes Comeback feiern, das hat sogar schon der Premierminister gesagt: „Heute auf Abstand, damit wir uns morgen wieder umarmen können!“. Und „ragazzi!“ sagen kann man auch auf Abstand und duzen kann man sich auch. Der Jungbrunnen Italien bleibt also. Gott sei Dank. •