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IL VITTORIANO

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LA LINGUA ITALIANA

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Die Schlacht ums Kapitol

Wer die Skyline von Rom bewundert, kann es nicht übersehen: das Nationaldenkmal zu Ehren von Vittorio Emanuele II., dem ersten König von Italien. Das kolossale Bauwerk verdankt seine exponierte Lage der Nähe zum Kapitol, einem der sieben Hügel, auf denen Rom erbaut wurde. Der Standort führte im 19. Jh. zu einem erbitterten Streit zwischen Gegnern und Befürwortern.

TEXT RONALD KUIPERS

Aufschlagseite und rechts: Das Vittoriano. Unten: die befestigte Villa aus dem 16. Jh. von Papst Paulus III. auf dem Kapitol wurde Ende des 19. Jh. abgerisssen, um Platz zu machen für das Vittoriano (Aquarell aus der Serie „Roma sparita“). Die Soldaten des amerikanischen Generals Mark W. Clark, die 1944 nach Rom einfallen, trauen ihren Augen nicht. Die meisten hatten vor dem Krieg ihr Land noch nie verlassen und sind tief beeindruckt von den Tempeln, Säulen und Palästen, die von der ruhmreichen Vergangenheit zeugen. Dabei sind die GIs vor allem von jenem schneeweißen Bauwerk enormen Ausmaßes beeindruckt, das auf einem Hügel gelegen alle anderen überragt. Sie erkennen es aus Zeitungen und Kinonachrichten. Ist das nicht das Monument, das „the Duck“ (wie sie den

Duce Mussolini nennen) gerne als Theaterkulisse für seine bombastischen Reden verwendete? Die Glanzzeiten des Faschismus sind da längst vorbei. Das stolze Monument, wo zu Beginn des Krieges noch Tausende Italiener ihrem Führer zujubelten, diente 1943 und 1944 vor allem als Schutzkeller, als die Alliierten Bomben über Rom abgeworfen haben. Dass dieses Bauwerk das Nationaldenkmal ist, das im 19. Jh. dem ersten König Italiens gewidmet wurde, entgeht den meisten GIs. Dieser hörte auf den Namen Vittorio Emanuele II. und zeichnete für die italienische Einigung verantwortlich. „Das Kunstgebiss“, „die Schreibmaschine“ und „das Urinoir“ sind nur einige der vielen eher respektlosen Spitznamen, welche die amerikanischen Soldaten für das Vittoriano verwenden, wie das Denkmal seit jeher genannt wird. Seitdem haben die viele Millionen Touristen, die Jahr für Jahr die ewige Stadt besuchen und das hoch gelegene Denkmal als Orientierungspunkt verwenden, sich ihrerseits weitere Spitznamen ausgedacht. So auch viele Italiener, die jedoch auch von einem gewissen Stolz ergriffen werden, wenn das Vittoriano am Nationalfeiertag als zeremonielles Symbol für Freiheit und Verbundenheit glänzt. So wie es die britische Zeitung The Times einst formulierte: „Trotz seiner Banalität und Vulgarität bringt das Denkmal auch den Stolz des modernen Rom zum Ausdruck“. Es ist eine Hassliebe, die auf das 19. Jh. zurückgeht, als die Idee für Nationaldenkmal geboren wurde.

©ROESLER FRANZ “VERDWENEN ROME” (1884)

Verschwundenes Rom

Die italienischen Truppen, die am Morgen des 20 September 1870 bei der Porta Pia in die Stadt eindringen, sind euphorisch. Endlich konnten sie Rom, jahrhundertelang Teil des Kirchenstaats, einnehmen. Ein Jahr später wird die Stadt – als Krönung der Einigung – offiziell zur Hauptstadt des 1861 gegründeten Königreichs Italien. Dabei ist Rom als Hauptstadt eigentlich völlig ungeeignet. Die Stadt hat damals nur wenig mehr Einwohner als Freiburg im Breisgau heute. Neben Bettlern, die ihre Taschen gierig mit den Almosen christlicher Pilger füllen, handelt es sich dabei vor allem um Geistliche und Aristokraten im Ruhestand. Entlang der unkanalisierten Ufer des Tiber wechseln sich Strände und Häfen mit wuchernden Gärten und Getreidemühlen ab. Auf den Innenhöfen der Stadtwohnungen leben Schweine, während Hirten auf den Feldern zwischen den antiken Ruinen ihre Schafe und Kühe grasen lassen. Als König Vittorio Emanuele einige Monate nach der Eroberung Rom mit einem Besuch beehrt, überflutet ein

©ANP/SCHAPOWALOW/MASSIMO RIPANI

„Das Kunstgebiss“, „die Schreibmaschine“ und „das Urinoir“ gehören zu den Kosenamen

Hochwasser des Tiber weite Teile der Altstadt. Der stinkende Matsch, der zurückbleibt, erweist sich als hervorragender Nährboden für Malariamücken. Der König und seine Minister sehen, dass viel Arbeit vor ihnen liegt. Auf Grundlage des ambitionierten Plans „Roma Capitale“ soll Rom, ebenso wie Paris oder Berlin, in eine pulsierende Kapitale verwandelt werden. Der Tiber wird in eine Korsett von hohen Ufermauern gezwängt; breite Boulevards, Bahnlinien und Bahnhöfe regeln den zunehmenden Verkehr, neue Ministerien beschäftigen Tausende Beamte, während Fabriken und Mietskasernen die wachsende Menge an Arbeitern beherbergen. Anhänger des alten, unaufgeräumten Roms sind beunruhigt. Der italienische Maler Roesler Franz fotografiert die romantischen Plätze und Gassen, die pittoresken Häfen und die stattlichen Palazzi, ehe die Abrißbirne kommt. Auf Grundlage dieser Fotos erstellt er 120 nostalgische Aquarelle, die er später unter dem Titel Roma sparita („Das verschwundene Rom“) bündelt. Fehlstart

Die Umwandlung Rom in eine moderne Hauptstadt ist umfassend und schwerwiegend. Doch ihr fehlt ein ansprechendes Symbol, ein konkretes Projekt, das die Bevölkerung inspiriert und motiviert. Nach dem Tod von König Vittorio Emanuele II. sprechen sich einige Politiker für ein Nationaldenkmal zu Ehren des gerade gestorbenen Königs aus, dem Held der Einigung. Premier Agostino Depretis hält das für eine gute Idee und installiert sofort eine eigene Kommission zur für ein internationales Ausschreiben. Es kommen Hunderte Einsendungen aus dem In- und Ausland, sogar eine aus Japan. Doch als sich die Kommission für den Entwurf eines französischen Architekten entscheidet (eine halbrunde Säulenreihe gegenüber des >

Der renommierte Archäologe Rodolfo Lanciani schreibt: „Der Bau des Denkmals ist eine nationale Katastrophe“

Bahnhofs Termini mit einer Statue des Königs auf einer Säule), gibt es einen Sturm der Entrüstung. Ein Franzose, der das italienische Nationaldenkmal entwirft? Inakzeptabel! Als sich zudem herausstellt, dass der Sieger einen alten Entwurf aus der Schublade geholt hat, sieht sich die Kommission zu einer erneuten Ausschreibung veranlasst. Diesmal dürfen nur Italiener teilnehmen. Auch der Standort des Denkmals (der in der ersten Runde unbestimmt war) wird nun vorgeschrieben. Nachdem die Plätze vor dem Bahnhof Termini (Symbol der Modernität) und das Pantheon (mit dem Grab des Königs) in der Kommission scheitern, bleibt nur ein Ort übrig: das Kapitol, der wichtigste der sieben Hügel, auf denen Rom erbaut wurde. Vor allem Premier Depretis wirft sein ganzes politisches Gewicht in die Waagschale, um die Entscheidung durchzusetzen. Indem man auf dem heiligen Boden des Kapitol baut, das einst das politische und religiöse Zentrum des antiken Roms war, kann sich das neue Italien als legitimer Nachfolger des mächtigen Römischen Reiches vergangener Zeiten präsentieren. Zudem bietet die erhöhte Lage auf dem Hügel ein Gegengewicht zum Petersdom, der schon seit Jahrhunderten die Skyline Roms dominiert. Barbarische Wüste

Architekt Giuseppe Sacconi geht als Sieger hervor. Die Kommission und Premier Depretis haben ihren Frieden mit Sacconis klassischem, säulenreichen Entwurf, der sich über mehrere Terrassen auf der Nordflanke des Kapitols erstreckt. An die Vorderseite kommt eine riesige Bronzestatue des Königs, die Erinnerungen an die antike (ebenfalls auf dem Kapitol befindliche) Reiterstatue von Kaiser Mark Aurel weckt. Das gelbliche Gestein, das Sacconi ausgesucht hat, ist traditionelles römisches Travertin. Auf Gesuch der Kommission aber wird es durch Marmor aus der Gegend von Brescia ersetzt, sodass das Denkmal bereits beim geringsten Sonnenschein glänzt. Sacconis Entwurf allerdings hat auch dramatische Folgen für die bestehende Bebauung. Auf dem Kapitol muss das mittelalterliche Kloster Santa Maria in Aracoeli weichen (die Franziskanerkirche kann stehenbleiben), ebenso der „Turm“ aus dem 16. Jh, eine befestigte Villa von Papst Paul III. Am Fuße des Hügels sind die Folgen noch tiefgreifender. Um von der Via del Corso freie Sicht auf das Nationaldenkmal zu haben, wird auch ein Stadtviertel vollständig abgerissen. Für die Anlage der weitläufigen Piazza Venezia (benannt nach dem benachbarten Palazzo Venezia) müssen weitere Häuser weichen, worunter die historischen Wohnungen der Künstler Michelangelo, Giulio Romano und Pietro da Cortona, inklusive aller dazugehörigen Gassen, Plätze und Arkaden. Als Sacconis Plan publik wird, kommen die schon seit Jahren schleichenden Gefühle wieder auf, dass Rom einen hohen Preis für den Fortschritt zahlen muss. Historiker, Archäologen und andere Gelehrte aus dem In- und Ausland protestieren mit flammenden Reden gegen die mutwillige Zerstörung des historischen Erbes. Der einflussreiche Archäologe Rodolfo Lanciani schreibt: „Der Bau dieses Denkmals ist eine nationale Katastrophe!“ Doch auch mehreren italienischen Politikern gehen die Pläne zu weit. Laut Parlamentsmitglied Ruggiero Bonghi verändert der Kahlschlag Rom in eine „barbarische Wüste“, während Bürgermeister Leopoldo Torlonia die Regierung eindringlich bittet, einen anderen Ort zu wählen (dass sein schöner Familienpalazzo BolognettiTorlonia auch auf der Abrissliste steht, hat sich bestimmt auch darauf ausgewirkt).

Mammut

Einer der schärften Kritiker des Projekts ist der deutsche Kunsthistoriker Herman Grimm, der in Rom lebt. Gemeinsam mit seiner Frau schreibt er einen polemischen Essay mit dem viel sagenden Titel Die Zerstörung Roms, der übersetzt in mehreren europäischen Blättern erscheint. Er beschuldigt die italienische Regierung aus politischen Motiven vor allem auf das Erbe aus der Antike zu achten, während viele Gebäude aus dem Mittelalter und der Renaissance (als die Päpste das Zepter in der Hand hielten) abgerissen werden. Laut Grimm sind es vor allem die vielen historischen Epochen, die Rom so einzigartig machen – nicht nur für Italiener, sondern für die gesamte Welt. Trotz zahlreicher Unterstützer aus den höchsten politischen und kulturellen Kreise Europas, hält die italienische Regierung am Kapitol als Standort fest. Wohl aber gelobt sie, alle während des Baus gefundenen Relikte mit äußerster Vorsicht zu behandeln. Diese Zusage bereut die >

Nach dem Krieg haben viele Italiener das Vittoriano noch lange mit der faschistischen Vergangenheit assoziiert.

©SHUTTERSTOCK/KIEV VICTOR

Denkmal vor dem Vittorio Emmanuele II.

Zu Besuch im Vittoriano

Das Vittoriano ist heute zeremonieller Mittelpunkt an nationalen Feiertagen wie dem Befreiungstag (25. April) und dem Tag der Italienischen Republik (2. Juni), mit Kranzniederlegungen beim Grab des unbekannten Soldaten sowie Auftritten der Frecce Tricolori, dem Stunt-Team der Luftwaffe. Man kann das Vittoriano auch besuchen. Das Haus beherbergt unter anderem das Museum der Einheit (Risorgimento) und bietet Wechselausstellungen zu Kunst und Geschichte. Für einen der besten Blicke über Rom kann man die Terrazza delle Quadrighe (die Dachterrasse mit dem Vierergespann), über einen Aufzug auf der Rückseite erreichen. Oben wartet ein spektakuläres Panorama. vittoriano.beniculturali.it Regierung schon bald: Beim Abriss der vorhandenen Bebauung müssen Tausende Säulen, Kapitelle, Fresken und andere Gegenstände auf ihren historischen Wert überprüft und gegebenenfalls konserviert werden. Bei den Grabungsarbeiten werden Marmorstatuen, Münzen, Terracottakunst und Mosaike gefunden - und sogar das vollständige Skelett eines Mammuts. Der archäologische Dienst Roms hat alle Hände voll zu tun. Als Teile der Serbischen Mauer freigelegt werden, eine Verteidigungslinie aus dem 4. Jh. v. Chr., muss seine Spezialkonstruktion errichtet werden, um die Mauer zu erhalten. Durch all die Arbeiten ist der ursprüngliche Zeitplan für das Projekt, mit dem 1885 begonnen wurde, schon schnell nicht mehr als ein wertloses Stück Papier. Ähnlich verhält es sich mit dem Budget, das schon vor Baubeginn mehrere Male gesprengt wurde. Architekt Sacconi ist täglich auf der Baustelle, um zahllose Ad-Hoc-Entscheidungen zu treffen und akute Probleme zu beheben. Da muss sein größter Albtraum erst noch kommen. Löchriger Käse

Als die Gräben für die Fundamente ausgehoben werden, die das bleischwere Denkmal tragen sollen, entdecken Sacconi und seine Ingenieure zu ihrem Schrecken, dass das Kapitol von Tunneln durchzogen ist, die alle zu einer großflächigen Tuffsteingrube aus der Zeit von Kaiser Trajan gehören. Es ist, als hätte sich ein riesiger Wurm durch den so massiv wirkenden Hügel gegraben und diesen in einen Schweizer Käse verwandelt. Um die erforderliche Stabilität dennoch zu gewähren, müssen die Fundamente viel tiefer als ursprünglich geplant in den Boden reichen. Auch muss der gesamte Entwurf modifiziert werden. Als Sacconi 1905 stirbt, ist das Nationaldenkmal noch nicht vollendet. Auch 1911, als das Vittoriano ein halbes Jahrhundert nach der Gründung des Königreichs Italien feierlich geweiht wird, fehlen noch immer viele symbolische Dekorationen, welche die Geschichte der Einigung erzählen. Erst 1935, als bereits die ersten Instandsetzungsarbeiten am Fundament ausgeführt wurden, ist das Vittoriano endgültig fertig. Mittlerweile haben Diktator Mussolini und seine Getreuen Italien übernommen und das Nationaldenkmal wird als theatralische Kulisse für große Aufmärsche der Faschisten. Als die Alliierten einige Jahre später Rom zu bombardieren beginnen, erweisen sich die Tunnel unter dem Vittoriano als gute Schutzkeller, inklusive improvisierter Krankenstationen, Latrinen und Wasserversorgung. Nach dem Krieg assoziieren viele Italiener das Vittoriano noch lange mit der faschistischen Vergangenheit. Dazu trägt auch bei, dass die Bevölkerung nach der jahrelangen Kollaboration des Königshauses mit den Faschisten 1946 per Referendum entscheidet, aus Italien eine Republik zu machen. Kann ein Bauwerk, das einst der Monarchie gewidmet war, da weiterhin als Nationaldenkmal fungieren? Erst Jahrzehnte nach dem Krieg, mit dem Abklingen der historischen Kontroversen, übernimmt das Vittoriano langsam seine Rolle . Nach einer ausführlichen Renovierung um die Jahrhundertwende erklärt Präsident Ciampi 2003: „Dieses Denkmal erlebt seine zweite Jugend. Wir entdecken es wieder als Symbol für das Erbe der Werte, die frühere Generationen an uns weitergegeben haben: die Einheit des Vaterlands und die Freiheit der Bürger“. Schöne Worte, auch wenn das Vittoriano seine schmählichen Kosenamen wahrscheinlich nie mehr los wird. •

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