Cruiser im Mai 2016

Page 1

cruiser

MA I 2 0 16

CHF 7.50

XXX XXX

DAS GRÖSSTE SCHWEIZER GAY-MAGAZIN

Die grosse CruiserReportage: Sofort schlank & schön

Warmer Mai

Trend

Checkpoint

Alle Infos über das Kulturspektakel

Wandern steht hoch im Kurs

Wir testen das Angebot

1


3

Editorial Liebe Leser Diesen Monat geht es Schlag auf Schlag: Ein LGBT*-Event folgt auf den anderen. Einerseits steht der «Warme Mai» mit einem umfangreichen Kulturangebot in den Startlöchern, andererseits finden die letzten Vorführungen im Rahmen des «Pink Apple» in Frauenfeld statt. Und – nicht zu vergessen: Der ESC aka «Gay-Olympics» (wir haben in der letzten Ausgabe ausführlich darüber berichtet) in Stockholm wird wieder für viel Amüsement und herrlichen Trash sorgen. Weniger amüsant war es in den letzten Wochen auf der CruiserRedaktion: Mein Vorgänger, Kollege und Redaktionsmitarbeiter Martin Ender starb plötzlich und überraschend. Er wird im Cruiser-Team eine grosse Lücke hinterlassen. Den Nachruf von Dani Diriwächter findest du auf Seite 9 und einige persönliche Gedanken von Michi Rüegg auf Seite 19. Als ehemaliger Zirkusartist würde Martin Ender bestimmt sagen: «The Show Must Go On». In diesem Sinne: Viel Spass mit der neuen Ausgabe. Haymo Empl Chefredaktor

T I M M A S N I E M E G E L L A T ! Z T S JE T E T V I H M U Z N R E N T DEN SEXPAR FÜR NUR 10.–* IM M A I

inhalt

5   Thema Schnell schön & schlank

23   Special Die queere Seite von Shakespeare

9   NAchruf von Martin Ender 10   News National & International

25   Kolumne Pia Spatz

12   Reportage Cruiser beim Checkpoint

26   Ratgeber Dr. Gay

15   Kultur Update

27   Serie Ikonen von Damals

17   Kolumne Bötschi klatscht

29   Kolumne Thommen meint

18   Kultur Update

30   Special Kulturfestival Warmer Mai

19   Kolumne Michi Rüegg 20   Aktuell Wandern, der neue Trend? 21   Serie Sexualität in Geschichte & Literatur

31   Umfrage Wie war Break The

Chains 2016?

32   Aktion Cruiserabo für CHF 60.–

impressum

*Teststellen und weitere Informationen unter:

C R U I S E R M A I 2 0 16

breakthechains.ch

CRUISER MAGAZIN PRINT ISSN 1420-214X Herausgeber & Verleger Haymo Empl, empl.media Infos an die Redaktion redaktion@cruisermagazin.ch

WEMF beglaubigte Auflage 11 539 Exemplare Druck Druckerei Konstanz GmbH Wasserloses Druckverfahren

Chefredaktor Haymo Empl Bildredaktion Haymo Empl, Nicole Senn Bilder Bilddatenbank. Alle Bilder, soweit nicht anders vermerkt, mit Genehmigung der Urheber. Art Direktion Nicole Senn Redaktion Print Vinicio Albani, Anne Andresen Thomas Borgmann, Bruno Bötschi, Daniel Diriwächter, Andreas Faessler, René Gerber, Moel Maphy, Michi Rüegg, Alain Sorel, Pia Spatz, Tanja & Jenny, Peter Thommen, Korrektorat | Lektorat Birgit Kawohl Anzeigen anzeigen @ cruisermagazin.ch

REDAKTION UND VERLAGSADRESSE empl.media, Haymo Empl Winterthurerstrasse 76, 8006 Zürich redaktion @ cruisermagazin.ch Telefon 044 586 00 44 (vormittags) CRUISER MAGAZIN ONLINE Herausgeber & Verleger Haymo Empl, empl.media Infos an die Online-Redaktion online @ cruisermagazin.ch C R U I S E R M A I 2 0 16


4

THEMA Schnell schön, schl ank & stark. Sofort!

THEMA Schnell schön, schl ank & stark. Sofort!

VON Haymo Empl & Team Cruiser

Schnell schön, schlank & stark.

Sofort!

Fäden im Gesicht, Hyaluron am Penis und gegen Fett eine Spritze. Die grosse Cruiser-Reportage berichtet über die aktuellen Beautytrends oberhalb und unterhalb der Gürtellinie.

I

rgendwann werden die Lachfältchen tiefer. Das kann charmant sein, aber viele stört es und beim Blick in den Spiegel sind es dann keine Lachfältchen mehr, sondern – in der Dramaversion – ein hängendes, faltiges Gesicht. Mittlerweile steht eine Armada von plastischen Chirurgen, Beautyberatern und Spezialisten für jedes optische Problem(chen) bereit; entsprechend unüberschaubar sind die Behandlungsmethoden. Cruiser hat vor rund einem Jahr die damals angesagten Schönheitseingriffe für Männer vorgestellt und guckte jetzt, was es denn aktuell alles so auf dem Markt gibt. Wichtiges Kriterium: Schnell soll es gehen, wirksam soll es sein und man sollte möglichst schnell wieder einsatzfähig sein. «Beauty To Go»; aber bitte ohne Skalpell & Blut! Viele Männer – und es sind längst nicht mehr nur die Gays – beugen sich einem oft selbst auferlegten Schönheitsdiktat. «Männer lassen sich vor allem am Gesicht behandeln», stellt Robinson Morett, Inhaber der Zürcher Klinik «Body Esthetic», fest.

Fäden für straffe Haut

Body Esthetic ist eine der führenden Praxen rund um «nicht invasive Beauty» in der Schweiz und daher stets am Puls der Zeit (und des Trends). Aber wie geht eine solche Männergesichtsverjüngung vonstatten? Beispielsweise mittels Fadenlifting. Das klingt spektakulär und ist es auch. Hierbei werden spezielle Fäden, welche mit kleinen Wider-

haken einen Zug auf das Gewebe in die gewünschte Richtung erwirken, unter der Haut durchgezogen. Cruiser probierte das aus; der Eingriff dauerte weniger als 40 Minuten und war dank der örtlichen Betäubung praktisch schmerzfrei. Die Widerhaken piekten zwar etwas – ähnlich wie das Gefühl beim Augenbrauenzupfen (was Mann ja mittlerweile auch macht), aber sonst war wenig zu spüren. Klar, angenehm war es nicht, aber das erwartete auch niemand. Die eingesetzten Fäden sind synthetisch, es handelt sich um dasselbe Material,

«Bei dieser Methode kann exakt auf das individuelle Bedürfnis der Patienten eingegangen werden.»

welches auch seit Jahrzehnten in der Chirurgie zum Nähen «unter der Haut» eingesetzt wird. Diese Fäden lösen sich nach 3–6 Monaten auf – jedoch bleibt das neu gebildete Kollagengerüst unter der Haut (als Reaktion des Gewebes auf das Fadenmaterial) länger bestehen – im Idealfall bis zwei Jahre. Je nachdem wie viele Fäden verwendet werden, können so auch «Hamsterbacken» oder ein Doppelkinn gestrafft werden. Bei «Body Esthetic» werden alle Eingriffe von Dr. Alvarez

ANZEIGE

Ein Traum für Frischverliebte und für solche, die es immer bleiben möchten! Wir bieten die perfekte Wohnung für Individualisten und Leute, die das Harmonische, Schöne und Lustvolle schätzen und Ihre Kreativität und Vielseitigkeit an einem besonnenen Ort ausleben möchten. Lichtdurchflutete Räumlichkeiten, Blick auf den Zürichsee und absolute Privatsphäre sind nur einige Vorteile der bezaubernden Attika-Wohnung.

C R U I S E R M A I 2 0 16

• 132 m2 Wohnfläche • 2.5 Zimmer • Grundrissänderung möglich • Individueller Ausbau • Beratung einer Inneneinrichterin Alles zu einem Preis von CHF 1‘700‘000 Mehr Infos unter www.tris-staefa.ch

und Dr. Aslan durchgeführt. Dieser erklärt: Bei dieser Methode kann exakt auf das individuelle Bedürfnis der Patienten eingegangen werden; ist die Haut beispielsweise sehr schlaff, braucht es mehr Zug als bei jüngerer, noch strafferer Haut. Wir versuchen aber in jedem Fall, ein möglichst natürliches Ergebnis zu erzielen.» Die Kosten richten sich nach der Anzahl der Fäden; je mehr gezogen/gestrafft werden soll, desto mehr Fäden werden gebraucht. Die benötigte Fadenanzahl hängt von der zu behandelnden Zone. Bei den Wangen können problemlos zwei Fäden auf jeder Seite «gelegt» werden, bei der Stirn greifen die Ärzte eher lediglich zu einem Faden auf jeder Seite. Beim Hals sieht es wiederum anders aus, dort gibt es Patienten, welche beispielsweise vier Fäden wünschen. Auch hier spielt das Alter und der Hautzustand jeweils eine Rolle. In unserem Fall waren das lediglich zwei Fäden und diese kosteten CHF 790.–.

Männer und Schönheit

Dass Männer sich für (die eigene) Schönheit interessieren, ist nichts Neues. Bereits bei den Ägyptern war es üblich, dass die Männer sich beispielsweise die grauen Haare färbten. Wie sie das gemacht haben, ist im «Papyrus Ebers» nachzulesen. Die nach seinem Erstbesitzer benannte Rolle von knapp 19 Meter Länge zählt mit ihren ca. 880 Einzeldiagnosen und -rezepten zu den umfangreichsten Handschriften aus dem pharaonischen Ägypten, daneben zu den ➔

5


THEMA Schnell schön, schl ank & stark. Sofort!

Die Fäden, welche mit der neuen Methode für ein straffes Gesicht sorgen sollen.

Bilder: Team Cruiser

6

Die Fäden werden unter der Haut durchgezogen, der Eingriff ist nahezu schmerzfrei.

bedeutsamsten medizinischen weltweit. Dort steht allerhand über Schönheit geschrieben. Die Männer haben damals gerne zu einer «Haarmaske» aus Blei und Essig gegriffen. Das machte die Haare schön dunkel und deckte auch erstes Grau ab. (Dummerweise verursachte das hochgiftige Blei aber auch Augenentzündungen, Kopfschmerzen und gratis dazu gab es noch dunkles Zahnfleisch). Heute geht es komfortabler und vor allem sicherer. Nebenwirkungen beim Fadenlifting sind so gut wie ausgeschlossen, allerdings kann man zwischen zwei bis vier Wochen die mikroskopisch kleinen Einstichstellen sehen. Dr. Alvarez spricht vom «Entrypoint» und vom «Exitpoint». Spüren tut man das aber kaum; in unserem Fall «drückte» es lediglich die erste Nacht etwas und beim exzessiven Gähnen konnte man die kleinen Widerhaken der Fäden spüren. C R U I S E R M A I 2 0 16

Die Spritze gegen das Fett

Wenn das Gesicht schon (schön?) straff ist, muss der Bauch das natürlich auch sein. Auch hier sollte es schnell gehen, denn der Sommer naht. Passenderweise gibt es seit einiger Zeit die «Fettwegspritze». Bei der so genannten Lipolyse wird ein spezieller Wirkstoff direkt in das Fettpölsterchen gespritzt. Aqualyx nennt sich das und hat im Kanton Zürich als einzige «Fettwegspritze» eine entsprechende Zulassung. Bei der Anwendung lösen sich die Wände der Fettzellen auf, das Fett tritt aus und verursacht eine entzündliche Reaktion, die die Haut strafft. Gleichzeitig wird das Fett durch Lymphe und Leber abgebaut. Das klingt sensationell … Aber: Wenn man danach nicht auf die Ernährung schaut, ist das Fett wieder da, bevor der Sommer überhaupt kommt. Die Behandlung dauert keine zehn Minuten und weil an den Fettstellen beim Bauch wenig

durchblutet ist, ist der Eingriff ebenfalls praktisch schmerzfrei. Diese Behandlung eignet sich vor allem für kleinere Fettpolster, welche gezielt angegangen werden. In unserem Fall opferte sich unser jüngster Mitarbeiter (mit sowieso nur wenig Fett). Sein Fazit einen Monat nach der Behandlung: «Die Fettpölsterchen sind kleiner geworden. Um diese aber effektiv zu eliminieren, müssten wohl noch weitere Behandlungen erfolgen.» Und Dr. Alvarez ergänzt: «Bis das finale Ergebnis zu sehen ist, können noch einige Wochen vergehen.» Die Spritze kostet je nach Areal zwischen CHF 400.– und CHF 500.–

Hyaluron für den Penis

Der absolute Knüller ist die Penisvergrösserung. Und die funktioniert wirklich! Wobei mit «Vergrösserung» der Umfang gemeint ist. Es ist also eher eine Penisverdickung. Dies geschieht mit Hyaluronsäure. Durch ➔ C R U I S E R M A I 2 0 16


THEMA Schnell schön, schl ank & stark. Sofort!

NAchruf von Martin Ender

Manege frei für

Martin Ender Testperson Mark lässt für Cruiser eine Penisverdickung machen, das Ergebnis ist sofort sichtbar.

Auch «Love-Handles» lassen sich mit der Fettwegspritze behandeln.

das Einspritzen von Hyaluronsäure gewinnt der Penis an Umfang, also nicht in erster Linie an Länge. Die gelartige Substanz kommt auch bei der Aufspritzung von Lippen zum Einsatz. Auch diese Methode haben wir bereits letztes Jahr getestet und nun erneut ausprobiert. Dieses Mal allerdings mit einer externen Testperson – damit die Objektivität gewährleistet ist. Unsere Testperson ist an sich gut bestückt, wollte aber noch etwas mehr. Während die Testperson – nennen wir sie Mark – wartete, bis die anästhesierende Creme wirkte, erläutert Dr. Alvarez: «Viele Männer haben aus ganz unterschiedlichen Gründen Probleme mit ihrer Penisgrösse. Hierbei sind sie in vielen Fällen nicht einmal

Dr. Roger Alvarez ist seit über acht Jahren bei BodyEsthetic tätig und führte die Penisverdickung durch. C R U I S E R M A I 2 0 16

von den gesellschaftlichen Vorstellungen geprägt, sondern sie fühlen sich einfach nicht wohl mit der Grösse beziehungsweise mit der Dicke ihres Penis.» Unser Test-Mark hat eigentlich diesbezüglich keine Probleme, aber es ist bekannt, dass die Behandlung auch einen erheblichen Lustgewinn verspricht. Derweil der Arzt mit der Spritze die gewünschte Menge (es war ziemlich viel!) in die Eichel injiziert. Der Eingriff dauert nur wenige Minuten, das Ergebnis ist sofort sichtbar. Allerdings muss das gute Stück dann nach der Behandlung etwas Ruhe haben. Einziger Nachteil: Das Hyaluronsäure-Gel baut sich langsam und kontinuierlich ab. Da Hyaluron ein natürlicher Hautbe-

standteil ist, schadet diese Behandlung dem Körper nicht und wirkt sich auch nicht negativ auf das Immunsystem aus. Die Kosten der Behandlung liegen – je nach gewünschtem Volumen – zwischen 300 und 400 Franken, je nach gewünschtem Volumen. Dr. Alvarez führte bereits viele solcher Behandlungen durch, für ihn ist das nichts Besonderes. Er stellt aber fest, dass die Nachfrage stetig zunimmt. Dabei scheint es keinen Unterschied zu machen, ob schwul oder hetero. «Es ist aber eine Tatsache, dass es für viele Männer ein sehr persönliches Thema ist und sich viele schwertun, ein Beratungsgespräch zu vereinbaren. Dies scheint mir die grösste Hürde zu sein …»

Cruiser: Dr. Alvarez – wie seriös ist eine solche Aufspritzung? Alvarez: Ich bin immer wieder an diversen Fachkongressen. Dort werden neue Methoden vorgestellt, aber auch bestehende Methoden diskutiert. Die Verdickung ist nichts Neues, neu ist aber die steigende Nachfrage. Dies bestätigen auch meine Arztkollegen.

dass viele sich nicht wirklich trauen, nach einem Termin zu fragen. Dabei ist dies als Arzt ein Eingriff wie jeder andere auch. Ich verstehe daher die Zurückhaltung diesbezüglich nicht ganz.

Cruiser: In der Schweiz hat man bisher aber wenig davon gehört, lediglich wir im Cruiser haben vor gut einem Jahr die Methode vorgestellt. Alvarez: Nach dem Artikel im «Cruiser» stellten wir fest, dass die Nachfrage leicht anstieg. Das Problem scheint aber zu sein,

Cruiser: Was für Männer kommen zu Ihnen in die Praxis für eine solche Aufspritzung? Alvarez: Männer jeden Alters und mit unterschiedlichstem sozialen Background. Die persönlichen Gründe sind verschieden, aber für viele wird eine Unsicherheit beseitigt – manche machen es auch, weil der Lustgewinn höher wird und wieder andere möchten es einfach mal ausprobiert haben.

Bilder: Team Cruiser

8

VON Daniel Diriwächter

D

er Name Martin Ender ist in der hiesigen Gay-Szene – und darüber hinaus – beinahe untrennbar mit dem Cruiser verbunden, war Martin doch rund 15 Jahre dessen Chefredaktor. Er leitete die Zeitung wie ein ehrwürdiges Dampfschiff neben Yachten und Nussschalen durch wilde Gewässer, denn zu jener Zeit änderte sich der Zeitungsmarkt als auch die Gay-Community gewaltig. Und nicht wenige Male wurde der Cruiser damals abgeschrieben. Aber Martin wusste mit diesen Stimmen umzugehen, blieb unbeirrbar und setzte auf sein Konzept. Die Freude am Zeitungsmachen blieb stets an erster Stelle. Martin hätte mehrmals Gelegenheit gehabt, seine Erfahrung und seine glitzernde Vergangenheit mit heroischer Zielstrebigkeit ins Feld zu führen. Er hätte mit Recht wie ein Löwe in seinem Revier auftreten können, doch daran lag ihm herzlich wenig. Manche würden von einem Understatement sprechen – oder dem Vergnügen, unterschätzt zu werden. Folgende Zeilen sollen aber seine vielen Talente ins Scheinwerferlicht rücken. Martin war das jüngste von vier Geschwistern in einer angesehenen und katholischen Familie aus Muri im Kanton Aargau. Sein Vater war Rektor; die Mutter stammte aus einer Ärztefamilie. Zusammen mit seinem Bruder musste Martin beim eigenen Vater die Schulbank drücken – was unter Kollegen nicht gerade für Beliebtheitspunkte sorgte, dafür Bestnoten brachte. Mit einem Abschluss vom Kollegium Sarnen in der Tasche, zog es Martin an die Universität Zürich, um Germanistik zu studieren. Doch so sehr er die Sprache liebte, so sehr missfiel es ihm, die gleiche Karriere wie sein Vater anzustreben. Folglich brach Martin das Studium ab. Viel gewonnen hat er in dieser Zeit

trotzdem: 1967 traf er in einigen Vorlesungen auf Walter Lindor Joss, einen aufstrebenden Tänzer der Ballettakademie. Es war Liebe auf den ersten Blick. Zunächst legte Martin aber den Grundstein für seine Karriere als Schreiberling und startete in Zürich als Werbetexter durch, während Walter sich als Tänzer und Artist in der österreichischen Zirkusszene einen Namen machte. 1975 drehte Martin der Werbung jedoch den Rücken zu, um näher bei seinem Freund zu sein, der damals mit dem Bruder gewagte Luftnummern im Zirkus Sarrasani aufführte. Martin hätte wohl in der Pause auch Würstchen verkauft, doch das Schicksal hatte andere Pläne: Als in den ersten Wochen der Sprechstallmeister ausfiel, sprang Martin kurzfristig ein. Seine Stimme kam an, insbesondere seine Art der Ankündigung, in welcher er auf jegliche Art der Superlative verzichtete, sondern charmant und souverän die Kollegen auf die Bühne rief. Neugierig wie er war, dauert es nicht lange und er kannte alle Abläufe im Zirkus wie kein anderer. Als 1981 der Bühnenpartner von Walter bei einer Nummer verunfallte (und mit 26 Brüchen relativ «glimpflich» davon kam), fühlte Martin sich bei Walter «zu Höherem berufen»: Gemeinsam wollten sie im Zirkus Roncalli eine neue Luftnummer zum Besten geben: Ohne Sicherheitsnetz sollten beide hoch über den Zuschauern ihre Pirouetten drehen. Walter war skeptisch – aber auch beeindruckt, denn sein Freund erwies sich als äusserst hart im Nehmen. Es benötigte ein dreimonatiges Training und der erste Auftritt vor Publikum geriet zur Sensation. Martin und Walter waren sprichwörtlich ganz oben angekommen und traten nicht nur in diversen Arenen auf, sondern auch im Fernsehen. Über zehn Jahre hinweg wirkten sie als Coaches vor einem Millionenpublikum bei der Show «Stars in der Manege» mit und trafen dort auf Grössen wie den Schauspieler Peter Fonda, den Politiker Franz Josef Strauss oder die Diva Zsa Zsa Gabor – um nur wenige zu nennen. So war Martin fast zehn Jahre hinweg in der Luft ebenso zuhause, wie auf dem roten Teppich. Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen, auch im übertragenen Sinne abzuheben, aber er

Nachruf auf den ehemaligen CruiserChefredaktor Martin Ender, 1945 – 2016 und Walter behielten auch oben in den Seilen die Bodenhaftung. Gegen Ende der 1980er Jahre erkannten beide, dass sie ihre Luftnummern nicht mehr toppen würden und sagten fast ohne Reue dem Zirkusleben Adieu. Trotz vieler Jahre auf Tournee fand Martin wieder Anschluss in der Werbung. Es war die Zeit, als in Zürich das T&M und das Polygon für Furore sorgten und Martin deren Inserate gestaltete, während Walter eine neue Aufgabe als Kostümschneider der jeweiligen Travestie-Shows verfolgte. Es war auch jene Zeit, als mit dem Cruiser ein unscheinbares Szene-Blättchen auf den Markt kam. Und durch die Inserate, die Martin dafür kreierte, kam er mit den Jahren der Zeitung immer näher, bis er schliesslich als deren Chefredaktor die Zügel selbst in der Hand hielt. Martin erwies sich als Glücksfall für den Cruiser. Er achtete die verschiedenen Richtungen innerhalb der Szene und gab jenen eine Stimme, die sie verdienten. Er scheute sich nicht, brisante wie politische Themen zu behandeln, auch wenn das bedeutete, gewisse Inserenten und Persönlichkeiten würden Zeter und Mordio schreien. Beim Blick auf die Vergangenheit wird klar: Wer sich hoch über dem Boden behaupten kann, den haut in den Niederungen der Presse nichts um. Seinen Mitarbeitern gegenüber war er immer loyal, offen und zu jeder Zeit ein verständnisvoller und interessierter Freund – oftmals auch fernab der Schreiberei. Ende 2014 beschloss er, sich mehr auf sein Privatleben zu konzentrieren und das Zepter des Chefredaktors an Haymo Empl zu übergeben. Sporadisch wollte er noch Artikel schreiben, aber es zog ihn immer öfter ins Bündnerland. Dort hatte er ein Haus, das er selbst mitrenovierte. Seit drei Jahren mit Walter in registrierter Partnerschaft eingetragen, gab es für ihn noch viele schöne Dinge, die er tun wollte. Das Schicksal aber hatte wiederum andere Pläne. Martin verstarb unerwartet am 16. April 2016. Als sein ehemaliger Stellvertreter werde ich Martin als Weggefährten und Freund von ganzem Herzen vermissen und bin von grosser Dankbarkeit erfüllt, wenn ich an ihn denke. Manege frei, lieber Martin, lebewohl.  C R U I S E R M A I 2 0 16

9


10

NEWS National & International

NEWS National & International

NEWS Die HAZ wandert auch

Erfolg für neue Party-Reihe

Einreiseverbot für ESC-Star

Es scheint, als ob die Wanderei wieder neu entdeckt (und geliebt) wird: Nicht nur die «Laceteroses» (siehe Artikel auf Seite 20) marschieren über Stock & Stein; auch die Homosexuellen Arbeitsgruppen Zürich (HAZ) tun das. Und zwar am 22. Mai. Im mehreren Etappen geht’s vom Zürichsee zum Bodensee; das Schwierigkeitslevel wird mit T1 angegeben, Kondition beziffert die HAZ mit K2. Wir guckten auf der HAZ-Homepage nach und wurden schlau: T1 «Weg gut gebahnt. Falls vorhanden, sind exponierte Stellen sehr gut gesichert. Absturzgefahr kann bei normalen Verhalten weitgehend ausgeschlossen werden.» Da sind wir beruhigt! Und K2: Da werden ca. 400 – 800 Höhenmeter in vier bis fünf Stunden zurückgelegt.

Die Party «Voulez-Vous Vol. 1» letzten Monat war ein voller Erfolg. Die Zürcher Location «Adagio» ist normalerweise ja eher ein gediegener und gemütlicher Club - dessen Stil mit mittelalterlichem Charme besticht. «Voulez-Vous» war in eben diesem Club zu Gast und hat den Laden gehörig aufgemischt. Eine schrille, bunte und heisse Nacht mit viel Glitzer, Federboas und verrückten Outfits begeisterten auch diejenigen, die sonst eher zurückhaltender feiern. Die Outfits der Gäste wurden durch zwei Dragqueens vor Ort begutachtet (sofern man das wollte) und das ausgefallenste Outfit schliesslich mit einer Flasche Prosecco belohnt. Die DJ›s Groovemaster (T&M), Marc S. (T&M) und Pierre-Alain (T&M und AAAH) haben die Partygäste mit ihren spektakulären Mixen aus Disco, Pop, Dance Music, Happy-Trance und Gay-Party Music begeistert. Wie in der Ankündigung der Party versprochen, waren von ABBA bis Pet Shop Boys über Madonna und Kylie so ziemlich alles dabei. Und weil die neue Party so gut angekommen ist, folgt sinnigerweise «Voulez-Vous Vol. 2».

Hovi Star tritt am ESC für Israel an. Der offen schwule Sänger wurde zu einer ESC-Party nach Moskau eingeladen, doch weiter als zum Moskauer Flughafen kam er gemäss einem Bericht des Portals «ESC Fanbase» nicht. Denn am Grenzübergang wurde der Sänger scharf kontrolliert und letztendlich blöd angemacht. Der Sänger vermutet klar Homophobie. Hovi selbst sagt gemäss «ESC Fanbase» dazu Folgendes: «In Moskau haben Leute wie ich eine sehr schwere Zeit, vielleicht, weil ich schwul bin, vielleicht weil ich mich so anziehe, vielleicht weil ich Make-Up trage – ich weiss es nicht. Als ich in Moskau ankam, hatte ich Probleme mit der Grenzkontrolle, die mir sagte, dass ich nicht einreisen darf. Sie schauten auf meinen Pass, haben ihn zerrissen und mich ausgelacht.» Dennoch macht er deutlich, dass er nichts gegen Russland habe. Er werde auch weiterhin für die Gleichberechtigung kämpfen und lege den Vorfall zu den Akten, so der Sänger weiter. Hovi Star tritt am 12. Mai 2016 im zweiten Semifinale des ESC 2016.

Weitere Informationen und Anmeldung unter: www.haz.ch/Outdoor.htm

Wandern kann so sexy sein.

«Voulez-Vouz Vol II» im Adagio, Gotthardstr. 5, 8001 Zürich am 25. Juni 2016. Tickets online für CHF 25.– unter www.voulez-vouz.ch

Sänger Hovi Star ist offen schwul, das passte Russland offenbar nicht.

Die schwulen Geier Immer wieder hübsch sind Nachrichten aus dem schwulen Tierreich. Dieses Mal von zwei schwulen Geiern, die Isis und Nordhorn heissen und sich kurzerhand entschlossen haben, ebenfalls Nachwuchs heranzuziehen. Aber der Reihe nach: Wie der Spiegel berichtete habe das Geier-Weibchen Lisa in einem Tierpark ein Ei auf einem Ast gelegt. Das Ei fiel zwei Meter tief, landete im Matsch und blieb heil. Eine Tierpflegerin beobachtete die beiläufige Geburt und brachte das Ei in eine Brutmaschine. Um eine Fehlprägung auf Menschen auszuschliessen, kam eine Handaufzucht für den Tierpark nicht in Frage. Da Geier-Dame Lisa auch keine Anstalten machte, ein Nest zu bauen, vertrauten die Pfleger das Ei kurzerhand Isis und Nordhorn an. Unter den fünf Geiern des Parks ist das schwule Pärchen das einzige in einer festen Beziehung – und mit einem hübschen Nest. (Das stellte der «Spiegel» fest, nicht wir vom Cruiser.)

C R U I S E R M A I 2 0 16

Voulez-Vous: Die Party-Reihe wird fortgesetzt.

ANZEIGE

Body ESthEtic GMBh – KoMpEtEnzzEntruM Für äSthEtiSchE BEhandlunGEn

Geier gucken immer mürrisch. Egal ob schwul oder hetero. «Sie haben sich dann prompt draufgesetzt», erklärte Tierpark-Sprecherin Ina Deiting. Ob das Ei wirklich befruchtet ist, wisse man nicht. Spätestens Ende der Woche soll das Ende der Brutzeit erreicht werden. Dann zeigt sich, ob Isis und Nordhorn Papas werden.

Faltenbehandlung mit natürlicher hyaluronsäure penisverdickung 400.– nasolabialfalte / lippen 400.– Faltenbehandlung mit Botulinumtoxin pro zone ab 180.– bis 200.– Kombi angebot für 3 zonen 540.– Kombi angebot 3 zonen Botulinumtoxin und 1 Filler 740.– Fadenlifting ab 790.– aqualyx – die Fettwegspritze ab 400.– cavitation (Fettabbau) ab 199.– dauerhafte haarentfernung mit Shr technologie ab 69.– hautverjüngung mit neuester lasertechnologie ab 200.–

Öffnungszeiten Montag – Freitag 7.30 – 20.00 Uhr Samstag 8.30 – 18.00 Uhr alle Behandlungen unter ärztlicher leitung Seefeldstrasse 75 8008 Zürich Telefon 044 381 20 20 www.bodyesthetic.ch

11


Reportage Cruiser beim Checkpoint

Reportage Cruiser beim Checkpoint

VON Birgit Kawohl und Haymo Empl

Der Fingerpiks tut

«

Schwule und andere Männer, die mit Männern Sex haben, sollen in der ganzen Schweiz Zugang zu schwulenspezifischen Gesundheitszentren erhalten. Der Bund unterstützt entsprechende private Initiativen», schrieb im Jahr 2006 die Schweizerische Nachrichtenagentur SDA. Und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) forderte im Juli 2011 im hauseigenen Newsletter «spectra»: «Eine Zukunftsvision sieht ein Netz von fünf schwulen Gesundheitszentren in Basel, Bern, Genf, Waadt und Zürich vor.» Was damals noch als «Zukunftsvision» galt, ist mittlerweile Realität. Die Gesundheitszentren stehen und haben sich etabliert – die besondere Mischung aus medizinischen, psychologischen Angebot und Prävention ist das Kennzeichen für Checkpoint und das scheint anzukommen.

nicht weh Seit 10 Jahren bietet der Checkpoint ein breites Angebot im Bereich Gesundheit und Prävention für Männer, die Sex mit Männern haben, an. Cruiser war vor Ort und hat Blut gelassen.

Allumfassende Beratung

In Zürich ist der Checkpoint beim Hauptbahnhof an der Konradstrasse. Das Gebäude wirkt unauffällig, der Eingang ist diskret und schon beinahe unscheinbar. Nicht so aber das Gesundheitszentrum an sich im ersten Stock – es wirkt hell und einladend und ist grösser als der Eingang es vermuten lässt. Erste Anlaufstelle im «Checkpoint» am heutigen Tag ist Markus, er sitzt am Empfang, begrüsst freundlich und durch seine höfliche, aber nicht anbiedernde Art verfliegen allfällige Ängste sofort. Kompetent klärt Empfang-Markus (wir werden gleich noch den Berater-Markus kennenlernen) ab, was genau das Anliegen oder Problem ist. «Wir bieten ja nicht nur HIV-Tests an, sondern versuchen, möglichst ganzheitlich zu handeln», erklärt Empfang-Markus.

Ganzheitlich heisst, dass unter anderem auch Tests und Beratungsgespräche für andere (sexuell übertragbare) Krankheiten angeboten werden – nebst dem ganzen HepatitisImpfprogramm. Es ist ein offenes Geheimnis, dass beispielsweise Syphilis, Tripper oder Chlamydien auf dem Vormarsch sind.

Bunter Altersmix

In der Regel wird nach dem kurzen Gespräch und einer Bedürfnis-Abklärung ein anonymisierter Fragebogen am Computer ausgefüllt. «Oft ergeben sich dadurch noch weitere Fragen», erklärt Markus. In unserem Fall – wir haben das ganze Prozedere im Sinne dieser Reportage ausprobiert – interessieren uns die diversen Testmöglichkeiten. Daher werden wir von Berater-Markus ins Sprechzimmer gebeten. Es folgen weitere ➔

ANZEIGE

, Vo N w eG eN wArm e r m Ai:

d i e s e r mA i wi rd h e i ss !

50% r A b At t Checkpoint Zürich: Seit 10 Jahren eine Erfolgsgeschichte

C R U I S E R M A I 2 0 16

* bis zu 50% rabatt auf gekennzeichnete artikel.

12

AU F h e iss e s L e de r, h e i ss eN G Ummi & h e i ss e F e ti s ch-A rti ke L * AUF dAs übriG e so rtim e Nt Gibt e s

sAt te 10% ! Vorbe is c h AU eN Lo h Nt sich !

on A k t3i. b i s

vo m 16 Ai 20 31. m CRUISER mAeNNerzoNe.com

M A I 2 0 16

13


Reportage Cruiser beim Checkpoint

KULTUR Update

KULTUR Die neue Weiblichkeit des Seins

Am Empfang folgt bereits eine erste Bedürfnisabklärung.

Fragen zum eigenen Sexualverhalten und dann holt Berater-Markus diverse Teststreifen aus einem Schrank und los geht’s. Es wird mittels Fingerpiks etwas Blut genommen (irgendwie hat diese Fingerpikerei früher mehr weh getan – entweder liegt’s an einer neuen Stechmethode oder aber an Berater-Markus, der etwas äusserst Beruhigendes ausstrahlt). Der Bluttropfen kommt auf einen Teststreifen und wir wollen von Markus wissen, was denn so für Leute beim Checkpoint vorbeischauen. «Durchs Band gemischt. Wir haben wirklich alle Altersgruppen mit allen nur erdenklichen sexuellen Präferenzen.» Vielleicht redet man da-

«Wir haben wirklich alle Altersgruppen mit allen nur erdenklichen sexuellen Präferenzen.»

her auch im Checkpoint von «Männern, die Sex mit Männern» haben, kurz: MSM. «Schwul» würde wohl zu sehr eingrenzen. Zu MSM gehören beispielsweise auch männlichen Sexworker, welche heterosexuell sind (und in einigen Fällen sogar verheiratet sind), oft Escorts aus dem Ausland, die nach Zürich zum «Anschaffen» gekommen sind … und das Angebot des Checkpoint ebenfalls in Anspruch nehmen. «Wir sind C R U I S E R M A I 2 0 16

«Berater-Markus» nimmt Blut … und der Teststreifen zeigt nach 20 Minuten das Resultat an.

froh, wenn diese Gruppe unsere Leistungen in Anspruch nimmt», erklärt BeraterMarkus, während wir auf das Resultat des Bluttests warten.

Kranke Schwule?

Schwule Männer sind im Durchschnitt gesundheitlich stärker angeschlagen als heterosexuelle Männer. Dies zeigten eine Studie von Dialogai Genf und der Uni Zürich sowie die zweijährliche Befragung «GAYSURVEY» der Uni Lausanne. Die Tendenz ist negativ – insbesondere in Bezug auf die seelische Gesundheit (siehe auch «Cruiser» September 2015: «Wie gesund sind wir eigentlich»). Auch hier bietet der Checkpoint Hilfe an – nebst dem breiten Testangebot finden sich auch Psychologen und Psychiater in den Räumen und sind zu Gesprächen bereit. Diese können auch helfen, mit einem möglichen positiven HIV-Testresultat fertig zu werden. Das Konzept der allumfassenden Beratung und des breiten Testangebotes, wie es die Checkpoints in den diversen Städten anbieten, ist erfolgreich: «Die Niederschwelligkeit unseres Angebotes kommt an», stellt Berater-Markus fest. Auf dem Teststreifen tut sich weiterhin nichts. Wie lange dauert es, bis ein Resultat sichtbar ist? Und wie wird die (quälende) Wartezeit normalerweise überbrückt? «Genau so, wie wir das jetzt machen. Ich versuche in den zwanzig Minuten mit dem Patienten im Gespräch herauszufinden, wo er steht und was ein positives Resultat für ihn bedeuten würde … und wie

er damit umgehen könnte.» Das braucht viel Gefühl und entsprechende Erfahrung. Beides hat Berater-Markus, als ausgebildeter Psychiatriepfleger hat er gelernt, schnell die Situation zu erfassen und entsprechend einzuschätzen. «Manche vermuten ja schon, dass sie positiv sind und sind entsprechend gefasst, andere fallen aus allen Wolken. Je nachdem ist dann auch direkt im Anschluss eine enge Begleitung notwendig, sowohl medizinisch als auch psychologisch», erklärt Markus. Eins konnten wir jedenfalls feststellen: Im Checkpoint wird unkompliziert und kompetent Hilfe geleistet, sodass niemand vor einem Besuch Angst haben muss. Ganz im Gegenteil!

Bild: Katja Kuhl

Die beiden Markus im Wartezimmer. So ruhig ist es sonst nie.

Ein Mann und seine Lieblingssängerin. Viele Männer und ihre Abendkleider. Und schlussendlich ein Superweib mit Schneid – wie kann man(n) da widerstehen?

Bilder: Team Cruiser

14

Dass unser Goldjunge ein erklärter Fan der Sängerin Paola Felix ist, ist ein offenes, ja schamlos nacktes Geheimnis. Michael von der Heide, seit 25 Jahren im Geschäft, eroberte längst selbst seinen Platz im Schweizer Musikolymp. Doch «Blue Bayou» oder «Cinema», Hits seines grossen Idols, waren immer auf seinem Radar. Eine «unschuldige Liebe» kann man es nennen, diese Bindung zwischen Michael und Paola. Die Sängerin, die vor 25 Jahren dem Musikgeschäft den Rücken kehrte, könnte sich heute in ihren goldenen Schallplatten gelassen spiegeln, wäre da nicht Michael von der Heide, der seine Hingabe an Paolas Schaffen jetzt demonstriert sowie zementiert: Der Entertainer veröffentlicht Ende April sein neues Album «Paola», passend zu seinem Bühnenjubiläum. Ein Album mit 17 Songs als

ANZEIGE

Die jährlich wiederkehrende Kampagne «Break The Chains» für Männer, die Sex mit Männern haben, will die Anzahl der Neuinfektionen mit HIV senken. Jeweils im Monat April heisst dann die Devise: Kein Risiko eingehen, Safer Sex praktizieren und im Mai gemeinsam mit dem Sexpartner zum Test.

Michael von der Heide bei einer Säule, an der sich schon Paola anlehnte Hommage an seine erste grosse musikalische Liebe. Und nicht nur das: Ab dem 4. Mai tritt er mit den neuen Songs im Zürcher Theater am Hechtplatz auf. Paola selbst ist hingerissen: «Früher war Michael von

der Heide ein Fan von mir. Heute bin ich ein Fan von ihm.» (dd) Michael von der Heide: Paola Theater am Hechtplatz: Seit 4. Mai

15


16

KULTUR Update

KOLUMNE Bötschi kl atscht

Was brachte das Outing

Arcados wird 39 Der Arcados Buchladen ist ein Kind der Schwulenbewegung in den 70ern, die auf Literatur und Infos angewiesen war. 2017 werden es 40 Jahre persönliches Engagement sein – dann ist genug! Zurück bleibt ein umfangreiches Archiv, das an der Rheingasse 67 in Basel zur Nutzung aufbereitet wird. Arcados wäre aber nichts ohne Peter Thommen, dem Mann hinter dem Buchladen. Wie er selbst sagt, sei er «von Jugend an ausgeprägt gleichgeschlechtlich orientiert gewesen». Später wurde er (und ist er noch!) eine Art Dokumentarist der schwulen Szene in Basel und anderswo und hat einen rosa Blick auf Geschichte und Tagesaktualitäten. Nachzulesen in seiner Kolumne – jeden Monat im

Arcados Inserat von 1982.

Cruiser. Obschon er – wie er selbst sagt – «im Kopf immer mal den Briefkasten mit dem Papierkorb verwechselt», hat er sich fleissig durchs schwule Leben geschrieben

von Aeschbi? Vor 25 Jahren outete Rosa von Praunheim Hape Kerkling und Alfred Biolek als schwul. Sechs Jahre später machte der «SonntagsBlick» das Gleiche mit Kurt Aeschbacher. Zwei Skandale und viel Geschrei.

und findet auch in alten Büchern immer wieder überraschend Aktuelles. Wir gratulieren Arcados und Thommen! Weitere Infos auf www.arcados.ch

Fetisch Farbe «Wer hat Angst vor Hugo Wolf?» Ein schrillbunter Liederabend von Herbert Fritsch.

VON BRUNO BÖTSCHI

E

VON Anne Andresen

Prall glänzend wie frisch aufgetragener Lippenstift provozieren die geometrischen Formen ihren Betrachter und führen erst einmal minutenlang sich selbst auf. Für das Bühnenbild übertrug Regisseur Herbert Fritsch das Gemälde «Who’s afraid of red, yellow and blue» von Barnett Newman in die Dreidimensionalität. Newmans Werk soll Galeriebesucher zu ungewöhnlich aggressiven Reaktionen getrieben haben – an Fritschs aalglatter Oberfläche perlt jeder Angriff schonungslos ab. Nach all der Verausgabung der Darstellerinnen glänzt sie beim Applaus weiter, als wäre nichts gewesen. Und dabei war da so viel: Sieben Frauen deklamieren, singen und kalauern sich durch die Gedichtvertonungen von Hugo Wolf, begleitet von einem funkelnden Rockabilly-Pianisten. Über den Zusammenhang zwischen Newmans Kunstwerk, Wolfs Komposition und Fritschs Ensemble kann man abseits von Metadaten der Titel nur mutmassen. Ein Liederabend auf der grossen Bühne? Ja! Fritsch und seine Frauen nutzen die Lieder und Gedichte, die sich genauso um die romantische Liebe wie um explizit sexuelle Inhalte drehen, als Steilvorlage zu eigenwilligen Auseinandersetzungen und starken theatralen Bildern, die eigene kleine Episoden erzählen. C R U I S E R M A I 2 0 16

Gewohnt poppig und schrill beginnt der Abend und greift voller Lust mit beiden Händen ganz tief in die Klischeekiste der erotischen Mann-Frau-Konstellationen. Da wird die Flöte zum Fetisch und der Rattenfänger zum Film Noir-Bösewicht, der hinter dunklen Ecken lauert. Zu Beginn im Smoking, souverän männliche Coolness performend, später in gleicher Konstellation und mit ähnlichen Moves genauso souverän weiblich im poppigen Kostümchen und mit Stewardessencharme, lassen die sieben Frauen Geschlecht fluid werden, indem sie ausschliesslich knallharte Klischees reprodu-

zieren. Mit dem musikalischen Material geht das Ensemble so frei um, wie es den Stimmen, dem szenischen Vorgang und der Komik dient und befreit das Kunstlied von jeglichem Kitsch. Bewusste Plattitüden da, wo sonst die Musik allzu gefühlselig wird. Von rauchigen Jazztiefen bis klassischen Höhen ist deshalb alles dabei – und ja, manchmal muss man ein an sich beglückendes Gefühl fernab vom schönen Gesang mit aller Wut herausschreien. Hauptsache Theater und Hauptsache komisch! www.schauspielhaus.ch

s war der Skandal im Fernsehjahr 1991: Filmemacher und Schwulenaktivist Rosa von Praunheim outete die zwei TV-Lieblinge Hape Kerkeling und Alfred Biolek gegen ihren Willen in der RTL-Show «Explosiv – Der heisse Stuhl». Bären- oder Freundschaftsdienst? So oder so: Es war der Auslöser für eine heftige Debatte. Das Outing sei ein Verzweiflungsschrei auf dem Höhepunkt der Aidskrise gewesen, sagte von Praunheim später. Dass er es getan hat, bereut nicht. «Ich habe keine hilflosen Wesen geoutet.» Zudem hätten sich «trotz dieses Tabubruchs Biolek und Kerkeling im Nachhinein versöhnlich zu seiner Aktion geäussert, die er heute nicht mehr wiederholen würde». Hierzulande sorgte sechs Jahre danach die «SonntagsBlick»-Story «Aeschbi und sein Freund - warum war es ein Tabu?» für Aufsehen. Kurt Aeschbacher wurde zwar zitiert («Seit ich 20 Jahre alt bin, wissen meine Eltern und Freunde, dass ich schwul bin.»), trotzdem blieb unklar, ob der Artikel ein gezieltes Outing war. Der Autor will nichts mehr dazu sagen, in einer Mail schreibt er: «Das wäre fürwahr eine spannende Geschichte, zu der ich mich aber nicht mehr äussern möchte.» Aeschbi machte gute Miene (zum bösen Spiel?), liess sich in seiner Fernsehsendung als «der Mann» ankündigen, «von dem die Schweizer Frauen alles wollen ausser Sex».

Hape Kerkeling äusserte sich ein Jahr nach seinem Outing im «Spiegel»: «Sensiblere Naturen als ich hätten sich in einer Kurzschlusshandlung womöglich mit dem Fön in die Badewanne gelegt.» Doch das Publikum habe «irre normal reagiert». «Sogar in der tiefsten bayerischen Provinz bin ich nie dumm angequatscht worden.»

«Es ist eine Privatangelegenheit, ob man schwul ist oder nicht.»

Die Outing-Geschichte sei wichtig für die Gesellschaft gewesen, ist Rosa von Praunheim überzeugt: «Auf jeden Fall änderte sich die einseitig negative Berichterstattung über Schwule zum Besseren.» Andere Stimmen meinen: «Es ist eine Privatangelegenheit, ob man schwul ist oder nicht.» Hetis verkündeten ja auch nicht proaktiv ihre Lebensform. Oder schreibt irgendjemand vom «heterosexuellen Bundesrat Alain Berset»? Wie sieht es heute mit dem Outing und Coming-out von Prominenten aus? Im Showbusiness und in der Politik scheint der Umgang mit der sexuellen Orientierung lo-

ckerer, die Akzeptanz grösser geworden zu sein. Corine Mauch, Sven Epiney, Daniel Forler: Sie alle haben es getan. Und Mut bewiesen. Das öffentliche Outing bekannter Persönlichkeiten sollte vielen Menschen in dieser Gesellschaft Mut machen. Anders sieht es im Sport aus: Schwule Fussballer fürchteten, aus der Mannschaft ausgeschlossen zu werden. Nicht zu Unrecht, wie eine Äusserung von Marco Streller nach dem Outing des ehemaligen deutschen Nationalspielers Thomas Hitzlsperger vor zwei Jahren erahnen lässt: «Er verdient meinen allerhöchsten Respekt für dieses Outing. Leider ist es immer noch ein heikler Schritt. Fussball ist immer noch ein Machosport.» Streller selber hätte kein Problem, wenn sich ein Mitspieler outen würde. Fazit der Geschichte: Skandal hin oder her, von Praunheims Verzweiflungsschrei hat den Schwulen geholfen. Trotzdem bleibe ich dabei, es darf niemand zu einem Outing gedrängt werde. Wer es tun möchte, soll es machen können. Und zwar ohne sich vor Konsequenzen und dummem Geschwätz fürchten zu müssen. Keine Probleme mit Gerede hat George Clooney: «Ich denke nicht daran, mich darüber zu empören, dass es immer wieder heisst, ich sei schwul. Das wäre meinen schwulen Freunden gegenüber nicht nur unfair, sondern auch unfreundlich. www.brunoboetschi.ch C R U I S E R M A I 2 0 16

17


18

KULTUR Update

KOLUMNE MICHI RÜEGG

Auf Wiedersehen,

Yvonne, die Burgunderprinzessin

Martin

Es war vielleicht die Sensation der letzten Saison, als Regisseurin Barbara Fey das Stück «Yvonne, die Burgunderprinzessin» im Schiffbau-Theatersaal inszenierte und erwähnte Prinzessin hat stehen lassen, einfach so. Die Hauptfigur, ein schweigendes Mädchen, hat in der Inszenierung des Stücks von Witold Gombrowicz nicht viel zu melden; nichts mehr als ihre aussergewöhnliche Anwesenheit, mit der sie den Hof von König Ignaz mächtig durcheinanderwirbelt. Soweit so gut, würde da nicht Frey, selbst bekannt für ihre geliebten Turnschuhe, die weiblichen Figuren mit Männern besetzen und diese in High-Heels rumstolzieren lassen. Das wirkt niemals tuntig – aber auch niemals fremd. Der ganz grosse Wurf blieb aus, aber die Szenen bleiben im Gedächtnis. Insbesondere Markus Scheumann als Königin mit Turmfrisur in bester «Mars Attacks»-Manier ist begehrenswert unheimlich. (dd) Wiederaufnahme seit 28. April im Schiffbau www.schauspielhaus.ch

Film-Special in der Pride-Woche Khadar, Naeem und Fadi sind seit Jahren beste Freunde. Sie sind jung, schwul, Palästinenser und leben in Tel Aviv. Es ist das Jahr 2014 und der Israel-Gaza-Konflikt ist in vollem Gange. Das macht die Suche der drei nach ihrer nationalen und sexuellen Identität nicht einfacher. Statt Wut mit Wut zu vergelten, bilden sie die gewaltfreie Widerstandsgruppe Qambuta. Mit selbstgedrehten Videos, die sie im Internet über die sozialen Plattformen streuen, kämpfen sie für gesellschaftliche Gleichheit und soziale Anerkennung. Sich selber sehen sie als «neue Generation» von Arabern, die in Israel lebt. Der Dokumentarfilm zeichnet ein intimes Porträt dreier junger Männer, die es leid sind, entwurzelt im eigenen Land zu leben. Er zeigt auf subtile Weise die Zerrissenheit und Hilflosigkeit einer jungen Generation – sowohl in politischer als auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Trotz dem ernsten Thema strömt der Film viel Optimismus aus. Der Film ist ein Porträt über drei junge, schwule Palästinenser in Tel Aviv, die C R U I S E R M A I 2 0 16

zwischen Ideologie, Tradition und Realität ihren Weg suchen. Organisiert wird die Vorführung von «Pink Apple» in Zusammenarbeit mit den Veranstaltern der Zürich Pride.

ORIENTED Arthouse Kino Uto Kalkbreitestrasse 3 8004 Zürich am 8. Juni um 20.30 Uhr

Michi Rüegg nimmt Abschied von dem Menschen, der schuld ist, dass er jeden Monat in die Tasten hauen muss.

VON Michi Rüegg

A

uf Martin Ender war immer Verlass. Wenn ich wieder das Abgabedatum für meine Kolumne verpasst hatte, stöberte er mich im Dschungel irgendeiner Tropeninsel auf und erinnerte mich sanft daran, dass die Druckpresse bereits laufe und ich doch so nett sein solle, ein paar Zeilen zu liefern. Fand er mich mal nicht, tat er nichts dergleichen und stellte einfach das Heft um. In gewisser Weise – so unpassend dieser Gedanke ist – passt sein plötzlicher Tod zur Art, wie er all die Jahre mit seinem unzuverlässigsten Mitarbeiter umgegangen war. Ich hatte mir nämlich das ganze Wochenende über Gedanken gemacht, was ich hier schreiben sollte. Nichts wollte mir einfallen. Dann kam die Nachricht, dass Martin gestorben ist. Damit war das Thema gesetzt. Er rettete mir einmal mehr den Arsch. Denn es wäre undenkbar, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Martin ist der Grund, weshalb ich seit zehn Jahren für den Cruiser schreibe. Nachdem mich das Vorgängerheft des Vorgängerhefts des «Display» rausschmiss, um meine Kolumne durch die originelle Rubrik «Ein Tag im Leben von» zu ersetzen, bot Martin meinen Buchstaben Asyl. Ich traf ihn ein erstes Mal im «Odéon», dort erzählte er mir Brocken aus seiner Lebensgeschichte. Sie war um so vieles spannender als meine. Dabei war er einst am selben Ort gestartet wie ich: als Werbetexter.

Als ich nach Jahren der Abstinenz beschloss, auf die Bühne zurückzukehren, und mit «Comeback» eine abgehalfterte Ex-Opernsängerin zu spielen, waren Martin, sein Partner Walter und der ebenfalls im Hause wohnhafte Vivat zur Stelle: Sie fummelten mich zurecht, behängten mich mit Klunkern und brachten einen glitzernden Vorhang aus ihrer Garage, der früher in einem Travestieschuppen in der Zürcher Altstadt gehangen hatte.

«Häufig schiebt man Vorhaben vor sich hin, bis es nichts mehr zu schieben gibt. Stars in der Manege, Martin mittendrin.»

Ein bisschen Glamour musste sein. Glamour hatte Martin einst über die Massen genossen, als er zusammen mit seinem Partner einige Zeit ein gefeierter Zirkusartist war. Stars in der Manege, Martin mittendrin. Sass man bei den beiden zuhause im Aargau, auf dem vom Hund malträtierten Sofa, war von dieser Glitzerwelt nicht viel zu spüren. Einzig das Funkeln in ihren Augen zeugte von ihrer schillernden Vergangenheit. Und die Geschichten, die in der Regel

Walter zum Besten gab, gelegentlich sekundiert durch ein paar Sätze des stets ruhig wirkenden Martin, hörten sich an wie ein Best of aus zehn Jahren Gala und Bunte. Das Fiese am Tod ist, dass er häufig relativ unerwartet auf den Plan tritt. Seit einiger Zeit nämlich hatten Martin und ich darüber geredet, uns mal wieder zu treffen und ausgiebig zu unterhalten. Hier bei mir, bei ihm oder im Ferienhaus in den Bergen, wo er die Zivilisationsflucht übte. Häufig schiebt man Vorhaben vor sich hin, bis es nichts mehr zu schieben gibt. Das ist beklagenswert, aber schuld daran ist man letztlich selber. Man hätte ja gekonnt, aber tat einfach nichts. Bis es zu spät war. Das ärgert mich. Ja. Aber noch mehr als ärgern, macht es mich traurig. Vielleicht sollte ich mich mal wieder an den Tisch setzen und eine Liste machen mit Dingen, die ich schon lange tun möchte. Schliesslich führt mir Martins allzu frühes Ableben auch vor Augen, dass mein eigenes irdisches Dasein irgendwann zu Ende ist. Es geht nicht darum, jeden Scheiss auszuprobieren. Es geht darum, die Dinge zu tun, die einem wirklich etwas bedeuten. Bevor es zu spät dafür ist. Nun, Martin. Ich werde gelegentlich eine sehr gute Flasche Wein auf dich aufmachen. Dass du mir deine Hälfte des Flascheninhalts überlassen wirst, überrascht mich nicht wirklich. Es zeugt von deinem Wesen. Dem Wesen eines Menschen, dem andere wichtiger waren als er sich selbst.  C R U I S E R M A I 2 0 16

19


20

Aktuell Wandern – der neue Trend?

SERIE Homose xualität in Geschichte & Literatur

Lustvoll

Heimatlos, schwul – von

Seit nunmehr 25 Jahren existiert die schwule Wandergruppe «Lacetroses». Diesen Monat wird das Jubiläum gefeiert.

Er fühlte sich selber nie wohl in seiner Haut, war ein Rast- und Ruheloser. In seinen Gedichten und Balladen befasste sich August Graf von Platen mit Schönheit und Tod, aber auch etwa mit einer eigentümlichen Begegnung zweier Männer in einer Schlacht. Wegen seiner Homosexualität wurde er von einem anderen Dichter angefeindet.

Männern abgewiesen

wandern

VON Alain Sorel

E Die Wandergruppe unterwegs im Kanton Argau.

Kurt Hofmann ist Präsident von «Lacetroses».

VON Haymo Empl

W

andern steht für viele Gays nicht gerade zuoberst auf der «To Do»-Liste. Oder doch? Kurt Hofmann ist der Präsident von «Lacetroses» und stellt sich im Interview den wichtigsten Fragen rund um das grosse Jubiläum. Cruiser: Lacetroses, die coole Wandergruppe – so euer Slogan. Was ist denn besonders cool an euch? Kurt Hofmann: Cool ist, dass jeder einen Platz hat in unserer Gruppe und dass es auch in der heute doch sehr hektischen Welt noch eine Gruppe gibt, die kein Verein ist und sich selbst ehrenamtlich organisiert. Was für Männer wandern bei euch mit? Passend zum Thema Wandern: Ich würde sagen, es ist wie ein bunter Blumenstrauss: Vom Manager bis hin zum Tellerwäscher ist alles dabei. Immer mehr kommen auch Frauen auf unsere Wanderungen mit, wir haben uns diesbezüglich schon länger geöffnet. Dabei entstehen dann auch wunderbare Gespräche und Freundschaften – das ist auch das Schöne an der Gruppe. Letztendlich verbindet uns die Liebe zur Natur. C R U I S E R M A I 2 0 16

Wie sieht ein typischer Wandertag eurer Gruppe aus? Wir treffen uns an einem vereinbarten Treffpunkt mit dem Wanderleiter. Im Sommer jeweils in luftiger Höhe mit Picknick, im Winter dann eher mit einem feinen Essen in einem Restaurant. Wir führen aber auch ganze Ferienwochen durch, beispielsweise auf Malta oder Sylt. Und über Neujahr findet jeweils ein «Neujahrslager» statt, seit Jahren ist dieses sehr beliebt.

Lacetsroses» (Rosarote Schnürsenkel). Zu Beginn waren das nur eine Handvoll Männer. Man traf sich in der Regel an einem Bahnhof und das Erkennungszeichen waren rosarote Schnürsenkel. Damals war halt alles noch viel weniger offen als heute, durch die Schnürsenkel war dann aber jeweils klar, wer zur Gruppe gehört. Bald wurden es immer mehr Männer, ich erinnere mich an eine Wanderung mit 60 Männern.

Was gibt dir das Wandern persönlich? Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen, so richtig mit Tieren und allem Drum und Dran – ziemlich abgelegen in wilder Natur. Früher versuchte ich auch, an meine körperlichen Grenzen zu gehen und bin auf 4000er Berge geklettert. Heute geniesse ich es weniger verbissen. Mich faszinieren aber immer noch die Blumen, die Tiere und der Geruch der Pflanzen und Bäume. Heute lebe ich am Stadtrand von Bern, habe aber immer noch meinen Gemüsegarten und bin schnell in der Natur!

25 Jahre ist eine lange Zeit: Was hat sich in dieser Zeit verändert? Kurz: Uns fehlt es an Nachwuchs. Wir stellen aber fest, dass Wandern wieder im Trend ist – bei uns ist alles auf freiwilliger Basis, es gibt kein Muss. Das heisst aber auch, dass wir immer auf der Suche nach Freiwilligen sind, beispielsweise als Wanderleiter.

Wie kam es zur Gründung dieser Gruppe? Im Mai 1991 gründete Heinz Rubin «Les

Alle Infos auf www.lacetsroses.ch oder per E-Mail unter: lacetsroses @ gmx.ch

Lust zum mitwandern?

r fühlte sich selber nie wohl in seiner Haut, war ein Rast- und Ruheloser. In seinen Gedichten und Balladen befasste sich August Graf von Platen mit Schönheit und Tod, aber auch etwa mit einer eigentümlichen Begegnung zweier Männer in einer Schlacht. Wegen seiner Homosexualität wurde er von einem anderen Dichter angefeindet. Zwei Männer stehen im Mittelpunkt – kein Freundes-, sondern ein Feindespaar. Auch das gibt es: Feinde, die der Hass eng miteinander verbindet. Omar ist der eine; soeben hat der Fürst von Medina an der Spitze seiner Araber das persische Sassanidenreich in Schutt und Asche gelegt. Harmosan ist der andere; ein persischer Satrap, ein Statthalter des unterlegenen Königs, der gekämpft hat bis zum Schluss und jetzt in Ketten vor Omar steht.

Einen Becher Wein für ein Leben

Diese Situation ist der Ausgangspunkt einer Ballade des deutschen Dichters August Graf von Platen, deren Titel schlicht und einfach «Harmosan» lautet. Eine Ballade muss man sich vorstellen wie einen Thriller in Versform. Eine Ballade ist ein Gedicht, in dem alles auf einen dramatischen Höhepunkt zuläuft. Und das geschieht auch hier. Omar verhöhnt Harmosan. Dieser, die Hinrichtung vor Augen, hat eine letzte Bitte: einen Becher Wein. Die Achtung vor dem besiegten, dem wehrlosen Feind ist im Krieg eigentlich üblich. Und so bekommt Harmosan seinen Becher Wein, scheut aber jäh vor dem ersten Schluck zurück; er befürchtet Gift. Da be-

ruhigt ihn der siegreiche Gegner: «(…) Nicht eher sollst du sterben, Freund, als bis du dies getrunken hast!» Und jetzt zeigt Harmosan kaltblütige Geistesgegenwart, Schlagfertigkeit auf seine Weise: Er leert den Becher aus, schüttet das Getränk auf einen Stein. Er wird diesen Wein also nie trinken und darf folglich eigentlich nicht getötet werden, wenn Omars Versprechen etwas wert sein soll. Harmosan nimmt Omar beim Wort. Der spürt einen Ebenbürtigen, wohl einen Wesensverwandten, zeigt Grösse und wehrt seinen Soldaten, die den reaktionsschnellen Harmosan töten wollen: «Er lebe fort! / Wenn was auf Erden heilig ist, so ist es eines Helden Wort!» Die Ballade, noch heute lesenswert wegen dieser Mentalität, eine dem Gegner, dem Feind, ge-

gebene Zusage einzuhalten und ihn notfalls vor Übergriffen der eigenen Truppen zu schützen, hört an dieser Stelle auf. Aber eine Fortsetzung lässt sich leicht denken, jene nämlich, dass sich die Einstellung der beiden Männer zu Krieg und Frieden und vielleicht auch gegenseitig durch diese Begebenheit positiv verändert hat. Kriege zwischen Völkern und Staaten blieben August Graf von Platen selbst nicht fremd. Am 24. Oktober 1796 in Ansbach (Bayern) geboren, wuchs er in einer Zeit heran, in welcher der Kaiser der Franzosen, Napoleon, in Europa die Vorherrschaft erlangte und den Kontinent politisch und militärisch nach seinen Vorstellungen ummodelte. Karl August Georg Maximilian Graf von ➔ C R U I S E R M A I 2 0 16

21


22

SERIE Homose xualität in Geschichte & Literatur

Pink Apple Interview

Schön wie der Heilige Sebastian

August von Platen (Gemälde von Moritz Rugendas, um 1830)

August Graf von Platen befasste sich unter anderem auch mit einer eigentümlichen Begegnung zweier Männer in einer Schlacht.

Platen-Hallermünde – so sein voller Name – schlug trotz ausgeprägter literarischer Neigungen zuerst eine Militärlaufbahn ein.

keine Rücksicht auf die Würde des anderen nahm. Und ebenfalls keine Erfüllung fand der Getriebene in der Freundschaft zum Chemiker Justus von Liebig, dem späteren Schöpfer eines berühmten Fleischextrakts.

Von Männern zurückgewiesen

Napoleons Stern begann zu dieser Zeit schon langsam zu sinken. Es kamen die Jahre 1814/15. Trotz Teilnahme am Frankreich-Feldzug wurde Platen nicht in Kampfhandlungen verwickelt. Aber es waren Wochen und Monate, in denen er im Feld bei der Truppe war. Es war wohl kein Zufall, dass er sich zu diesem Zeitpunkt seiner Homosexualität bewusst wurde. Sie sollte sein weiteres Leben prägen. Von sexueller Befreiung, von Autonomie in erotischen Dingen und gesellschaftlicher Akzeptanz seiner Neigungen war seine Epoche weit entfernt. Platen spürte das und geriet in ein letztlich unauflösliches Dilemma: Er wollte sein wie die Mehrheit – und kam doch nicht gegen seine Vorliebe an. Er versuchte verzweifelt, Liebesbeziehungen zu Männern aufzubauen, wurde dabei zum Teil derart schroff zurückgewiesen, dass er seelische Verletzungen erlitt – und entschuldigte aufgrund seines Selbsthasses die andern erst noch. Graf Platen fasste eine heftige Zuneigung zu seinem Studienkollegen Eduard Schmidtlein, der aber seine Gefühle überhaupt nicht erwiderte und in seiner Reaktion C R U I S E R M A I 2 0 16

«Als er im Feld bei der Truppe war, wurde er sich seiner Homosexualität bewusst.»

In die Dichtkunst legte August Graf von Platen, der eine Zeitlang die Rechtswissenschaften studierte, sich dann aber der Sprache und der Literatur zugewandt hatte, die Nöte seiner sexuellen Orientierung. Typisch für ihn, der nicht zu sich zu stehen vermochte, war, dass er sich in seinem Gedicht «Tristan» hinter der berühmten Sagenfigur dieses Namens versteckte, den eine unauflösliche Liebe mit einer Frau, mit Isolde, verband. Aber verklausuliert sagt Platen: Wer von einem Pfeil des Liebesgottes Amor getroffen worden ist, erkrankt für immer und ewig an einer Liebeswunde – längst nicht nur bei einer heterosexuellen Leidenschaft, sondern auch bei einer homosexuellen.

Graf von Platen ist Tristan, aber diesem Tristan gefallen jene, die dem eigenen Geschlecht angehören. Eine solche Liebe bedeutet oft Marter, Amors Bogenschüsse können sehr schmerzhaft sein. Vor Platens innerem Auge nimmt sein Tristan bezeichnenderweise die Figur eines jungen, muskulösen Mannes an, den die Kunst häufig dargestellt hat: den Heiligen Sebastian, von Pfeilen durchbohrt den christlichen Märtyrertod erleidend. Sebastian ist schön. Der Tristan, den Platen, dieser hervorragende Lyriker, besingt, hat ebenfalls die Schönheit eines Menschen erblickt und ist in Liebe zu ihm entbrannt. Die Schauer der Liebe, die Bereitschaft, für sie zu sterben, und der Schauder vor dem Tod, den die Liebe oft im Gefolge hat, fallen zusammen. «Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / Ist dem Tode schon anheimgegeben, / Wird für keinen Dienst auf Erden taugen, / Und doch wird er vor dem Tode beben,  /  Wer die Schönheit angeschaut mit Augen! (…)» Platens sexuelle Neigung wurde ihm zum Vorwurf gemacht – von keinem geringeren als dem Dichterkollegen Heinrich Heine. Allerdings hatte der Graf Heine zuvor wegen dessen jüdischer Herkunft verunglimpft. Diese «Platen-Affäre» war schade. Zwei Angehörige von Minderheiten waren nicht auf die Idee gekommen, zusammenzuhalten, nach dem von Friedrich Schiller formulierten Prinzip zu handeln: «Verbunden werden auch die Schwachen mächtig.» Platen selbst lebte, seiner Heimat Deutschland entfremdet, in den letzten Jahren vorwiegend in Italien. In Syrakus auf Sizilien nahm er aufgrund eines heftigen Kolikanfalls, den er für ein Symptom der Cholera hielt, in Panik eine Überdosis Medikamente. Er starb am 5. Dezember 1835 und fand in dieser Stadt seine letzte Ruhestätte. August Graf von Platen hatte, im Unterschied zu Harmosan, den bitteren Kelch bis zur Neige geleert.

Homosexualität in Geschichte und Literatur Mehr oder weniger versteckt findet sich das Thema Männerliebe in der Weltgeschichte, der Politik, in antiken Sagen und traditionellen Märchen – aber auch in Wissenschaft, Technik, Computerwelt. Cruiser greift einzelne Beispiele heraus, würzt sie mit etwas Fantasie, stellt sie in zeitgenössische Zusammenhänge und wünscht bei der Lektüre viel Spass – und hie und da auch neue oder zumindest aufgefrischte Erkenntnisse. In dieser Folge: der Dichter August Graf von Platen, der schwer an sich litt.

Meister des

Doppeldeutigen Vor 400 Jahren starb der englische Dramatiker und Dichter William Shakespeare. Martin Mühlheim hat im Rahmen des Pink Apple-FilmFestivals die queere Seite seiner Werke ausgeleuchtet.

von Michi Rüegg

Was macht Shakespeare und seine Werke aus schwuler und lesbischer Sicht eigentlich so interessant? Im Wesentlichen drei Punkte: das Spiel mit Theatralität, die damalige Aufführungspraxis und der enorme kulturelle Stellenwert von Shakespeares Werk. Beginnen wir mit der Theatralität. Ein Thema, das Shakespeare immer wieder fasziniert, ist das Spannungsfeld zwischen Schein und Sein: Liebe, Begehren und Geschlechteridentitäten sind immer wieder Teil dieses Spiels mit Sein und Schein. Und die Aufführungspraxis? Zu Shakespeares Zeiten wurden alle Frauenrollen von sogenannten Boy Actors gespielt. Wenn Romeo und Julia sich also Liebesschwüre zuhauchten, sah das Publikum eigentlich ein Männerpaar, einer davon in Drag. Das taucht auch im Mainstream-Kassenschlager «Shakespeare in Love» von 1998 auf. Dort verliebt sich der Dramatiker in eine Frau, von der er eigentlich meint, sie sei ein Mann. Ja, das Drehbuch zum Film stammt von Tom Stoppard, einem Theaterautor, der unter anderem mit «Rosencrantz and Guildenstern Are Dead», einer Variation zu «Hamlet», berühmt wurde. Stoppard kennt sich also gut aus mit Shakespeare, und die Cross-Dressing-Konventionen der Komödien greift er sicher ganz bewusst auf. Und wie bei Shakespeare, so bei Mainstream-Hollywood: am Ende gibt‘s trotz allem ein Heteropaar. Bleibt noch der kulturelle Stellenwert. Der ist eben auch aus lesbischschwuler Sicht so interessant, weil die Werke mit so un-

Stoff für homoerotische Träume: Im Film «Were the World Mine» gehts um eine Inszenierung von Shakespeares «Ein Sommernachtstraum». Die Werke des bedeutendsten englischen Dramatikers haben schon viele Filmemacher inspiriert, auch schwule und lesbische.

glaublich viel Prestige behaftet sind: Sie gehören zum Kernbestand der «Hochkultur». Wenn man nun zeigen kann, dass dieser Kern viel queerer ist, als einige es wahrhaben möchten, dann eröffnet sich eine interessante

Diskussion über kulturelle Wertvorstellungen, aber auch über angestrengtes Wegschauen. Anders gesagt: Man kann den normalisierten, rein heterosexuellen Shakespeare als Resultat einer sorgfältigen ➔ C R U I S E R M A I 2 0 16

23


24

Pink Apple Interview

historischen Konstruktionsarbeit entlarven und so die Frage aufwerfen, welche Auslassungen das gängige Geschichtsbild sonst noch beinhalten könnte. Und die homoerotischen Anspielungen, von denen immer wieder die Rede ist? «Anspielungen» ist fast ein zu schwacher Ausdruck. Nehmen wir Celia und Rosalind, zwei weibliche Figuren aus «As You Like It», zu Deutsch «Wie es euch gefällt». Zu Beginn des Stücks sagt Celia zu Rosalind: «liebe keinen Mann im Ernst, auch zum Spass nicht weiter». Als Rosalind am Ende des ersten Aktes vom Hof verbannt wird, ist für Celia klar: «Sag, was du magst, ich will mit dir gehen.» Das ganze Stücke hindurch ist Celia völlig auf Rosalind konzentriert, und erst zum Schluss, sozusagen aus dem Nichts, heiratet sie einen Mann, den sie vorher kaum je beachtete – denn am Ende einer Shakespeare-Komödie muss, trotz Geschlechterverwechslung und -verwirrung zwischendurch, eine heterosexuelle Beziehung stehen. Hauptsache, die Kirche bleibt im Dorf. Ja. Ein weiteres Beispiel sind die Sonette. Von den 154 Sonetten richten sich 126 an einen schönen jungen Mann, und nur die restlichen konzentrieren sich auf eine mysteriöse «dark lady». Das hört sich dann so an: «Mein guter Engel ist ein schöner Mann, / Ein Weib mein böser, fast zu schwarz zum Lieben.» Oder, an den Jüngling gerichtet: «Ist es dein Wille, der mich wachen heisst / in müder Nacht dein Bildnis anzuschauen?» Ist es nur eine homoerotische Anspielung, wenn ein männlicher Sprecher beschreibt, wie er des Nachts das Bild eines anderen Mannes betrachtet? Das Pink Apple hat in seinem Schwerpunkt «Queer Shakespeare» einige Filme gezeigt. Zum Beispiel Léa Pools «Lost and Delirious» oder Tom Gustafsons «Were the World Mine». Sind die typisch für Filme über Shakespeare-Stoffe? «Lost and Delirious» ist in dem Sinn nicht ganz untypisch, dass lesbischschwule Filme aus dem englischen Sprachraum, die an Schulen oder in Internaten spielen, sich sehr häufig auf Shakespeare beziehen. «Dead Poets Society» oder «Get Real» sind weitere Beispiele – wobei «Dead Poets Society» sozusagen ungeoutet schwul ist, nämlich in der Figur des Todd, der von Ethan Hawke gespielt wird. Der Grund für die Häufigkeit dieser Bezüge ist einfach: Shakespeare ist an angelsächsischen Schulen Pflichtstoff und deshalb ein Bezugspunkt, den mehr oder weniger alle im Publikum verstehen. Bei «Lost and Delirious» ist allerdings die Bandbreite der Bezüge ausC R U I S E R M A I 2 0 16

KOLUMNE PIA SPATZ

sergewöhnlich: Nicht weniger als fünf verschiedene Stücke werden ausführlich zitiert oder zumindest erwähnt. Dabei ist die Haltung Shakespeare gegenüber eine ambivalente: Einerseits findet eine der Hauptfiguren, Paulie, dank Shakespeares Texten eine Möglichkeit, ihre lesbische Leidenschaft in kraftvolle Worte zu fassen; andererseits ist ihr Selbstmord von Shakespeare-Vorlagen inspiriert. Shakespeare ist in diesem Film also doppelgesichtig – was historisch durchaus passt: grossartige, leidenschaftliche Poesie, aber auch ein Symbol für konservative kulturelle Autorität, von Männern geprägt und oft ohne Raum für Frauen, die sich nicht in eine patriarchale, heterosexistische Ordnung einfügen wollen. Was ist mit «Were the World Mine»? Hier wird vor allem der Camp-Aspekt der Shakespeare-Komödien – die Künstlichkeit, die extreme Stilisierung – hervorgehoben. Auch dafür gibt es Vorläufer, Typisch ist ausserdem, dass viele explizit queere Adaptionen nicht schon im Titel als Shakespeare-Verfilmungen erkennbar sind. Das gilt für «Lost and Delirious» und «Were the World Mine» ebenso wie für «My Own Private Idaho» oder den Kurzfilm «Le baiser». Aus deiner Sicht als Forscher: War Shakespeare selber schwul? Das interessiert mich nicht besonders. Shakespeare ist tot. Beschäftigen wir uns mit dem, was noch da ist, nämlich seinen Texten! Die Frage wäre übrigens auch nicht ganz einfach zu beantworten. Eine explizit schwule oder bisexuelle Identität hatte Shakespeare sicher nicht, da diese beiden klar fassbaren Rollen im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert noch nicht existierten. Zudem muss man immer bedenken, dass Männer und Frauen ihre Gefühle für Menschen des gleichen Geschlechts damals auf andere Weise in Worte fassten als heute. Will heissen, Schwulsein war damals noch nicht erfunden? Quasi. Die Interpretation historischer Quellen ist deshalb schwierig. Stellen wir uns – als erfundenes Beispiel – einen Brief vor, den wir im Archiv finden, von einem Mann an einen anderen: «Ich versichere dir meine unauslöschliche Liebe. Oft denke ich an die Zeit zurück, als wir das Bett miteinander teilten, voller Sehnsucht nach deiner Gesellschaft.» Aus heutiger Sicht mag das nach einem Liebespaar klingen. Historisch wäre diese Interpretation nicht zwingend richtig. Es war beispielsweise nicht unüblich, dass man das Bett mit anderen teilte. Aber man darf keine vorschnellen, anachronistischen Schlüsse ziehen.

Wie hat das Publikum von damals auf die Geschlechteranspielungen in den Stücken reagiert? In der Regel kennen wir auch hier keine Einzelheiten. Shakespeare liebte es, Zweideutigkeiten, Anzügliches und Derbes in seine Stücke einzubauen. Gleichzeitig gab es auch subtilere Doppelbödigkeiten – etwa, wenn eine Frauenfigur, die sich in einem Stück als Mann verkleidet, den Namen Ganymed annimmt. Das Theaterpublikum zu Shakespeares Zeit kam aus sehr verschiedenen Schichten, und während einige Gebildete den mythologischen Ganymed als homoerotisches Codewort verstanden, ergötzten sich andere an den Kalauern der Boy Actors in Frauenkleidern. Beides muss beim Publikum gut angekommen sein, denn Shakespeare war als Mit-Aktionär am «Globe Theatre» immer auf finanziellen Erfolg bedacht. Heute gelten Shakespeares Texte als Weltliteratur, die grossen Theater der Welt zeigen sie rauf und runter. War das zu seinen Lebzeiten auch eine so ernste Angelegenheit? Ja und nein. Auf der einen Seite ist es typisch für Shakespeare, dass Komödien sehr tragische Figuren und Momente enthalten können. Doch auch in den Tragödien wird recht munter herumgewitzelt, denken wir an die Szenen mit Julias schlagfertiger Amme in «Romeo and Juliet». Gleichzeitig war das Theater an sich ein ernstzunehmendes Medium der öffentlichen Debatte: Unterhaltung, natürlich – aber auch politisch potenziell gefährliches Kommunikationsinstrument im elisabethanischen London. Deshalb gab es eine strenge politische Kontrolle. Also eine permanente Gratwanderung? Genau. Shakespeare war ein Meister darin, subversiv zu sein, ohne sich wirklich zu exponieren; zum Beispiel legte er die besonders provokativen Ansichten oft in den Mund des Bösewichtes. Gespielter Ernst oder ernsthafte Spielereien? Auch hier verwischt Shakespeare die Grenze zwischen Sein und Schein.

Martin Mühlheim Der 38-Jährige studierte Sprach- und Literaturwissenschaft, Geschichte und Filmwissenschaft. Seine Doktorarbeit schrieb er zum Thema «Fictions of Home». Fürs diesjährige Pink Apple hielt er im Rahmen des Schwerpunkts «Queer Shakespeare» ein Referat.

Ein Herz für

den Mai Pia hat keine Rosen zu vergeben, hält aber Wissenswertes für den Wonnemonat bereit.

VON PIA SPATZ

I

hr Lieben, willkommen im Wonnemonat «according to Pia»! Die Tage werden länger und die Weichen werden gestellt. Und da das Sechseläuten einen miserablen Sommer vorausgesagt hat, gilt es nun, den Mai umso intensiver zu geniessen. Nicht nur, dass wir dank dem Pink Apple-Festival das Beste aus der queeren Filmwelt serviert bekommen, auch musikalisch dürfen wir dank dem Eurovision Song Contest in Partituren des glitzernden Geschmacks schwelgen. Trotz den uns gebotenen Traumwelten sollen wir aber die Bodenhaftung nicht verlieren – wir sind ja äusserst standhaft, nicht? Die Kampagne «Break The Chains» befindet sich in der finalen Phase – oder erlebt den Höhepunkt, ganz wie ihr wollt. Im Mai könnt ihr euch für nur zehn Franken auf HIV testen lassen – quasi ein Schnäppchen zum Wohle der Gesundheit. Zur Erinnerung: Um HIV-Neuinfektionen zu verhindern, sollte im April konsequenterweise auf alle Risiken verzichtet werden. Nicht in Watte gehüllt, wohl aber im Gummi, haben ich und meine Jungs vom Checkpoint die letzten Wochen für dieses Anliegen geweibelt, um nun die Ernte einzu-

fahren – und diese fällt hoffentlich dürftig aus! Ihr trefft mich mit den Jungs vom mobilen Checkpoint den ganzen Mai über bei angesagten Partys, in den tollsten Bars oder den heissesten Saunas der Stadt. Und wer weder das eine noch das andere bevorzugt, kann uns natürlich direkt im Checkpoint

«Die Kampagne ‹Break The Chains› befindet sich in der finalen Phase.»

besuchen. Immer noch wird der HIV-Test anonym gemacht, Hemmschwellen gibt’s also keine und eine Top-Beratung liegt erst noch drin. Ich freu mich auf euch! Nicht nur sind HIV-Tests eine Herzensangelegenheit unserer Arbeit, sondern auch das Herz an sich. Ich meine nicht das umworbene Liebeszentrum, sondern unser wichtigstes Organ, das ganz im Fokus des nächsten «Checkpoint im Gespräch» steht: «HIV und Herz», so das Thema, beleuchtet am 19. Mai,

ob Herzkreislauf-Erkrankungen bei einer HIV-Infektion häufiger vorkommen. Tatsächlich weisen einige Studien darauf hin, es gibt aber auch Stimmen, die andere Faktoren wie etwa das Rauchen ins Feld führen. Denn Pumpen und Paffen verträgt sich bekanntlich nicht. «Herzliche» Informationen präsentiert uns die Oberärztin Helen Kovari – wie immer im Restaurant Bubbles. So ihr Lieben, es wartet ein toller Monat auf uns. Und nicht vergessen: Am 17. Mai geht der Internationale Tag gegen Homophobie und Transphobie, kurz IDAHOT genannt, wieder über die Bühne. Bleibt zu hoffen, er wird ein weiterer Meilenstein für uns alle.

Gut zu wissen Break The Chains: Alle Informationen und Daten unter www.mycheckpoint.ch Checkpoint im Gespräch, Restaurant Bubbles, 19. Mai, ab 18 Uhr Alles über IDAHOT unter www.idahot.ch C R U I S E R M A I 2 0 16

25


26

RATGEBER Dr. Gay

IKONEN VON DAMALS

Ikonen von

Dr. Gay

damals Wann ist eine PEP nötig?

VON Vinicio Albani

HIV-Risiko durch Sperma im Mund? Ich hatte in meinen Ferien Oralverkehr. Leider kam er in meinem Mund. Ich habe sein Sperma danach ausgespuckt und den Mund mit Wasser gespült. Fünf Tage danach bekam ich Halsschmerzen und Schnupfen, was aber schon wieder abklingt. Muss ich mir Sorgen machen? Marius (33)

Dr. Gay ist eine Dienstleistung der Aids-Hilfe Schweiz. Die Fragen werden online auf www.drgay.ch gestellt. Ein Team von geschulten Beratern beantwortet dort deine Fragen, welche in Auszügen und anonymisiert im «cruiser» abgedruckt werden. C R U I S E R M A I 2 0 16

Hallo Tobias

Sperma im Mund ist ein mögliches HIVRisiko, jedoch ein sehr viel kleineres als zum Beispiel ungeschützter Analverkehr. Du hast richtig reagiert und das Sperma ausgespuckt. Die Anzeichen einer Primoinfektion sind vielfältig und können sehr stark oder so gut wie gar nicht vorkommen. Dazu zählen je nachdem Fieber, Abgeschlagenheit, Nachtschweiss, Hautauschlag oder geschwollene Lymphknoten. Schlüsse aus deinen Beschwerden kann man daher nicht ziehen. Am besten, du machst einen HIVTest, dann bist du beruhigt. Im Rahmen der Break The Chains-Kampagne gibt es den HIV-Test im Mai bei ausgewählten Teststellen für nur 10 Franken. Die Teststellen findest du auf breakthechains.ch.

PEP steht für Post-Expositions-Prophylaxe und ist eine medizinische Notfall-Behandlung, um eine HIV-Ansteckung nach einer Risikosituation zu verhindern. Sie wird in der Regel bei ungeschütztem Analverkehr (z.B. bei gerissenem Kondom) oder bei Sperma im Mund empfohlen, wenn der Partner unbehandelt HIV-positiv ist, also wenn HI-Viren im Blut nachweisbar sind. Wenn der Serostatus unbekannt ist, der Partner aber einer Gruppe mit hoher HIV-Prävalenz angehört (wozu auch schwule Männer zählen), kann bei einem Hochrisikokontakt eine PEP erwogen werden. Ob schlussendlich eine PEP angebracht ist oder nicht, muss aber immer im persönlichen Gespräch abgeklärt werden, denn jede Situation ist individuell. Wichtig: Eine PEP muss spätestens 48 Stunden nach der Risikosituation begonnen werden. Je früher, desto besser die Erfolgschancen. Wenn du also nach einem Unfall unsicher bist, rufe am besten bei einer PEP-Notfallstelle an. Besser einmal zu viel anrufen als einmal zu wenig. PEP-Notfallkontakte in deiner Nähe findest du auf drgay.ch.

Alles Gute, Dr. Gay

Alles Gute, Dr. Gay

Hallo Marius

DR. GAY

Ich habe vor, in Zukunft mehr anonymen Sex zu haben und möchte mich über die sogenannte PEP informieren. Ich habe zwar vor, nur Safer Sex zu machen, aber es kann ja immer mal etwas passieren. Daher meine Frage: Nach welchen Risikosituationen wird eine PEP empfohlen? Tobias (23)

In unserer Serie stellen wir Ikonen und Persönlichkeiten aus vergangenen Dekaden vor, berichten über gefallene Helden und hoffnungsvolle Skandalsternchen, aber auch über mutige Vorkämpfer. Boy George ist alles davon.

VON Moel Maphy

A

ls Boy George mit seiner Band Culture Club 1982 die internationalen Showbühnen eroberte, rieben sich MTV-Moderatoren und Millionen Zuschauer die Augen und fragten sich: Boy or Girl, Männlein oder Weiblein? Die Medien einigten sich auf das populäre Attribut «androgyn». «Do You Really Want to Hurt Me?», fragte das androgyne Wesen. Die NZZ betitelte Boy George als «eine Kreuzung aus Madamme Butterfly und Rasta-Boy». Kimono traf auf Dreadlocks, in England huldigten

«Der Boy war eine Bitch.»

die New Romantics dem Make-up und Boy George machte auf fernöstliche Sphinx. Die konnte honigsüss lächeln und im selben Moment austeilen. Besonders Madonna und George Michael bekamen ihr Fett ab, Madonna wegen exzessiven Joggings, George Michael, weil er sich (noch) nicht zu seinem ➔

Boy George in den 80ern: Androgyn, mutig und erfolgreich.

C R U I S E R M A I 2 0 16

27


28

IKONEN VON DAMALS

kolumne thommen meint

1. Mai : Warum dieser Tag für

Gays wichtig ist

Am Maifeiertag fand auch dieses Jahr eine mehr oder weniger politische Demonstration statt. Die Gays hielten sich wie gehabt zurück. Warum eigentlich?

Boy George heute: Seine Karriere hat wieder Schwung bekommen, was ihm auch optisch bekommt. der Sänger offenbar HIV-positiv sei. Die Karriere war am Ende, übrig blieben zwei Hits und eine Menge Schulden. Das Schicksal vieler 1980er Jahre Stars, wie der aufmerksame Cruiser-Leser mittlerweile aufgrund dieser Rubrik weiss …

Brutaler Absturz

Nach der Karriere dann der Absturz. Schwulsein bekannte. Die NZZ resümierte: «Der Boy war eine Bitch.» Der zweite Superhit, «Karma Chameleon», wiederholte im Refrain die Zeile «You come and go, you come and go». Der Weltruhm von Culture Club und Boy George schwand ebenfalls, der Look kam aus der Mode. Es folgte der totale Absturz: «Bravo» musste entsetzt feststellen, dass Boy George offenbar heroinsüchtig war und wenig später folgte die Schlagzeile, dass C R U I S E R M A I 2 0 16

1995 rechnete er in seiner Autobiografie «Take It Like a Man» schonungslos mit sich selber ab, doch die Rechnung ging vorläufig nicht auf, es folgten weitere Abstürze und Drogenentzüge. Schliesslich dann die zündende Idee: Boy George wurde DJ und brachte tatsächlich rund um den Globus die Menschenmengen zum Tanzen. Auch in der Schweiz war DJ Boy George gefragt; er legte an der Streetparade auf, im Kaufleuten und an allen grösseren Musikfestivals. 2005 verknurrte ihn ein New Yorker Gericht wegen Kokainbesitzes zu einem geringfügigen Bussgeld und fünf Tagen Sozialdienst. 2008 wurde George Alan O’Dowd in London neuerlich rechtskräftig verurteilt, weil er einen norwegischen Callboy festgehalten und mit einer Metallkette auf ihn eingeschlagen hatte. Heute gibt sich der 54-Jährige geläutert, und so sieht er auch aus. Der neue Lifestyle tut nicht nur Boy George gut, sondern auch seiner Karriere. Er ist Jurymitglied bei «The Voice» in England und sorgt dort regelmässig für Lacher – Boy George zeigt sich

dort weniger bissig und dafür humorvoller. Beim Jury-Gespräch in der TV-Show stellte sich die Frage, wer mit den grössten Produzenten zusammenarbeitet: Sängerin und Jury Mitglied Paloma Faith prahlte mit ihrer Kooperation mit Prince, Boy George: «Vergiss es Schätzchen, ich habe mit ihm geschlafen». Ein gefundenes Fressen für die britische Klatschpresse … Kurz darauf ruderte der Sänger notabene zurück und räumte ein, dass früher lediglich einmal ein Poster von Prince an seiner Wand gehangen hätte. Nach dem Tod von Prince zeigte sich Boy George dann gar nicht mehr angriffig und twitterte «Today is the worst day ever. I am crying.» Dennoch (oder gerade deshalb): Boy George findet zu seinem Starsein zurück; der Musiker lässt ab Sommer sein Leben dokumentieren, unter anderem seinen Umzug von London nach Hollywood. «Wenn Marge Simpson Dolly Parton trifft und mit Ziggy Stardust tanzen geht, dann ist das noch gar nichts im Vergleich mit dem, was ihr zu sehen bekommen werdet», verspricht Boy George. Die Show wird von denselben Machern produziert, die sich auch für die Erfolgssendung «Keeping Up With The Kardashians» verantwortlich zeigen. Und – passenderweise – wird auch gerade (mal wieder) ein Revival von Boys Georges Band «Culture Club» angekündigt. Wir sind gespannt. Vielleicht schafft er es dieses Mal ja.

VON PETER THOMMEN

O

bwohl jeder Schweizer vor dem Gesetz gleich ist, wie es in der Bundesverfassung hiess, wurden Schwule und Lesben ab 1942 bis zum vollendeten 20. Altersjahr «vor Verführung geschützt». Auch das Bundesgericht schützte diese Ungleichheit gegenüber den Heteros (die nur bis 16. Altersjahr)! Nicht mal die Diskussion, wer nach wiederholter «Unzucht» denn noch verführt werden konnte, änderte etwas. Am 28. November 1974 ist die Charta der Menschenrechte in der Schweiz in Kraft getreten. Es änderte sich für Schwule nichts. In der Bundesverfassung von 1999 sind sie später eingearbeitet worden. Das Gesetz hat immer einen politischen Vorlauf und wird später «politisch korrekt» angewendet. Das haben Bürgerliche nie begriffen! Eine Bemerkung auf Facebook hat mich in diese politische Realität zurückgeführt! Jemand schrieb sinngemäss: «Emanzipierte Schwule brauchen keine Ideologie!» Klar, dass das gegen die politische Linke gerichtet ist. Und ich habe den Eindruck, dass politische Realitäten gerne verschwiegen und geleugnet werden. Dies im Sinne einer anderen Ideologie – zum Beispiel der Ehe und Familie. Eine SP-Nationalrätin hat 1991 berichtet, dass in den Kommissionen und im Parlament eigentlich keine Bürgerlichen gegen die Revision des Sexualstrafrechts gewesen sind. Sie haben den Vorschlägen einfach zu-

gestimmt. Fieserweise sind es aber die Linken gewesen, die das vorher zum Thema gemacht haben! (sh.: arcados > «Schwul, aber ein guter Freisinniger!») Wenn nun Bürgerliche daherkommen und sich «liberal» geben, als hätten sie nie etwas gegen Homosexuelle gehabt, dann ist das nur die halbe historische Wahrheit. Ganz zu schweigen von den kirchlichen Kreisen. Angéline Fankhauser (SP, NR 1983-1999): «Bei der Eintretensdebatte, die recht lang ist, wurde in beiden Räten das Wort Homosexualität kein einziges Mal gebraucht. Und ich weiss, als wir das erstemal in der Kommission das Wort artikuliert haben (F. Auers Antrag! (FDP), sah ich, dass man sich nicht so wahnsinnig gern damit auseinander setzte, das verlässt man bald mal wieder!» (In diesen Satz legte sie all ihren welschen Charme! ;))

«Emanzipierte Schwule brauchen keine Ideologie!» Das erinnert mich an die erste Bundesrätin. Die Bürgerlichen wollten damals plötzlich die Ersten damit sein und schnappten den Linken diese Historie weg. Allerdings war Frau Kopp (FDP, 1984-89) auch die Einzige, die öffentlich von der «sexuellen Selbstbestimmung» statt vom «Schutzalter» gesprochen hat. Wie wir gesehen haben, sind 2015 auch bürgerliche Parlamentskandidaten aufgetaucht, die ihr Coming-out hatten, und haben sich in unseren Medien in Szene gesetzt – ähm ins gemachte Nest. Bei der aktuellen gesellschaftlichen Debatte, die andauert, wird das Wort Sexua-

lität kaum einmal gebraucht. Mann/Frau setzt sich nicht so wahnsinnig gern damit auseinander! Das findet dann im Internet, also ausserhalb der Gesellschaft und der Familien statt. Schon die heterosexuelle Familie hat es geschafft, Begriffe für ihre Erscheinungen zu kreieren, die namentlich nichts mit Sexualität zu tun haben, obwohl sie ohne gar nicht möglich sind: Vater werden, Familie gründen, Kinder bekommen, in Erwartung sein – findet alles ‹ohne Sex› statt. Diese Geisteshaltung scheint auch unter den «Gleichgeschlechtlichen» und den «Buchstabenmenschen» Kreise zu ziehen! In allen monotheistischen Schriften wurde nie die Liebe diskriminiert, es war der sexuelle Akt, der männliche vor allem! Das hat am 1. August keinen Platz! Und in der Telearena 1978 wurde von Bürgerlichen moniert: «Ihr habt noch nie dem Bundesrat Gnägi (ehem. Militärdepartement) einen Sohn geliefert!» So wie die Linken seit den 30er Jahren ihre Einstellung zu Frauen und später zu Schwulen aufarbeiten mussten, so muss jetzt auch die bürgerliche Politik endlich ihre Familien-Ideologie aufarbeiten. Und es ist unredlich, den Homosexualitätsvorwurf an Migranten und Moslems zu erheben und dabei die eigene christlich-jüdische Vergangenheit zu verschweigen! Die neueste Party in Basel heisst «Die Sau rauslassen!». 1989 hiess es in Berlin noch: «Die Rechte des Arsches erkämpfen!» (Volker Beck, Tageszeitung 24. Juni 1989). Und ein paar Wenige nur machen heute lauthals Politik mit der Forderung nach «Öffnung der Ehe für alle». Im «Nachseptember-Magazin» du & ich schrieb die Redaktion 1971: «Wollt Ihr Minderheitenpflege oder Integration?» Was jetzt nun?  C R U I S E R M A I 2 0 16

29


30

Special Warmer Mai

umfrage Break The Chains

«warmer mai» – inzwischen weit über Zürich

hinaus gewachsen

Von den Eurogames 2000 bis zur Europride 2009 dauerte die erste Blütezeit des Kulturmonats «warmer mai». Und nun gewinnt der Event wieder so richtig an Schwung.

Blitzumfrage: Kennst du die Kampagne

Break The Chains

Seit geraumer Zeit begleitet Cruiser die Kampagne «Break The Chains» für Männer, die Sex mit Männern haben. Wir wollten wissen, ob die Botschaft auf der Strasse auch angekommen ist.

VON Team Cruiser

D

ie jährlich wiederkehrende Kampagne will die Anzahl der Neuinfektionen mit HIV senken. Jeweils im Monat April heisst die Devise: Kein Risiko

Tarek, nach der Arbeit auf dem Weg von Oerlikon ins «Tip-Top»

VON Oliver Fritz

W

as mit einem kulturellen Rahmenprogramm zum sportlichen Grossanlass begann, entwickelte sich zu einem jährlichen Hort von hochklassiger und zugleich alternativer und innovativer Kunst und Kultur, in der sich die LGBT-Gemeinschaft finden und begegnen konnte. Seit gut drei Jahren lebt nun der «warme mai» mit vereinfachter Trägerschaft unter dem Dach der HaZ wieder auf, bleibt aber seinem Ursprungsprogramm treu: Vielfalt, Nischen, Unbekanntes, aber auch Mainstream, Tradition und Qualität. Neu ist vor allem, dass Events aus anderen Städten der (Deutsch-)Schweiz mit ins Programm genommen wurden und entsprechend beworben werden können. Es gibt sogar «schweizweite» Anlässe im Programm, wie beispielsweise das Konzert von Olga Tucek unter dem Namen «Stimmung», welches sowohl im Theater Ono in Bern als auch im Keller 62 in Zürich stattfindet.

Die Highlights

Höhepunkte aus den über 60 verschiedenen C R U I S E R M A I 2 0 16

Events auszusuchen, fällt nicht leicht. Dennoch: für die Kennerinnen und Kenner sind sowohl «Kamillas Literaturclub» wie auch der legendäre Opernführer (diesmal ein Operettenführer) dabei. Auch «Auftritt bitte!» und diverse Schnuppertage bei etablierten Chören und Kursveranstaltern (von Kochen bis Gleitschirmfliegen) sind Teil des Programms. Von einem der bekanntesten Schweizer Künstler, Michael von der Heide, bis zu «Underground» durch Mary Orcher im Frauenraum der Reitschule Bern spannt sich der Regenbogen der Vielfalt des «warmen mai» 2016. Besonders hervorzuheben ist der massiv gestiegene Einbezug von Veranstaltungen mit Bezug zu Transmenschen und ihren spezifischen künstlerischen Ausdrucksformen. Auch der alle klassischen Kategorien negierende Begriff «queer» taucht häufiger auf als früher. So sollen ein breites Publikum erreicht, durch Vielfalt Vorurteile abgebaut und alle Offenen und Interessierten zu spannenden und gehaltvollen Kulturevents eingeladen werden.

«Dieses Jahr habe ich die Kampagne bewusster wahrgenommen, aber richtig damit beschäftigt habe ich mich damit nicht, da ich in einer monogamen Beziehung lebe.» Olga Tucek tritt in Bern und in Zürich auf. Der «warme mai» ist nun wieder ein Sammelbecken für Veranstaltungen aller Art mit Bezug zur grossen und immer breiter werdenden «Community». Kunst und Kultur als nachhaltige Vermittler der Wirklichkeit sind und bleiben aktuell; alle sind willkommen, sich auf die Reise in neue Welten, zu neuen Ideen, aber auch gern zu Altbekanntem einzulassen. Alle Informationen und Details auf www.warmermai.ch

Christoph, zusammen mit Tarek unterwegs (aber nicht sein Partner …)

«Ich gehe selten aus und weiss ehrlich gesagt nicht wirklich, um was es geht. Da ich aber sowieso nur Safer Sex praktiziere, muss mich diese Kampagne, glaub’s auch nicht wirklich interessieren.»

eingehen, Safer Sex praktizieren und im Mai gemeinsam mit dem Sexpartner zum Test. Die Kampagne finanziert vom Bundesamt für Gesundheit (BAG), realisiert von der Aids-Hilfe Schweiz (AHS) und durchgeführt von den fünf schwulen Gesundheitszentren in der Schweiz, den Checkpoints, hat zum Ziel die Community für die Primoinfektion zu sensibilisieren. Denn die Primoinfektion, die erste Phase nach einer Infektion mit dem Virus HIV, ist die ansteckendste. Experten gehen davon aus, dass eine Mehrheit der HIV-Infektionen in den wenigen Wochen der Primoinfektion stattfinden.

José, auch an der Arbeit, bei «Renos Relax»

«Ich spreche zwar nicht so gut Deutsch, aber auch ich habe dieses Jahr die Kampagne intensiver miterlebt als andere Jahre und daher ist die Aufforderung klar: 30 Tage Safer Sex und danach zum HIV Test.»

Paul, am Empfang bei der Sauna «Moustache»

«Es ist ja fast unmöglich in meinem Job, nicht zu wissen, um was es geht bei der Kampagne. Aktuell ist diesen Monat nun der gemeinsame HIV Test angesagt.»

Nicht wenige Neuinfektionen mit HIV entstehen durch Männer, die glauben, sie seien HIV-negativ. Und unter Freunden ist man vertraut und verzichtet auf das Kondom. Dass dabei ein Risiko eingegangen wird, ist vielen nicht bewusst. Break The Chains will dem entgegenwirken, entsprechend wird die Zielgruppe in der Kampagne sensibilisiert und in der Szene auch direkt angegangen. Wir vom «Cruiser» haben relativ wahllos und wie üblich etwas unkoordiniert einige Leute auf der Strasse bzw. in der Szene gefragt, ob und wie die Kampagne durchgedrungen ist und was «Break The Chains» überhaupt ist.

Melchior, in seinem Shop «Männerzone»

«Es ist ja bekannt, dass viele Neuinfektionen entstehen, weil oft geglaubt wird, der Partner sei HIV-negativ. Dass dabei ein Risiko eingegangen wird, ist vielen nicht bewusst. Die Break The ChainsKampagne will unter anderem dieser Tatsache entgegenwirken.»

Stephan, begeisterter «Cruiser» Leser

«Wer in den letzten Monaten einmal ein Szene-Blatt wie den «Cruiser» gelesen hat, der ist an der Kampagne «Break The Chains» kaum vorbeigekommen. Ich finde, die Botschaft ist dieses Jahr klarer und einfacher formuliert und daher weiss ziemlich sicher jeder, worum es geht.» C R U I S E R M A I 2 0 16

31


DAS GRÖSSTE SCHWEIZER GAY-MAGAZIN

Lass ihn zu dir kommen!

und zWar reGeLmÄssiG in deinen BrieFkasTen. abonniere jetzt den Cruiser – das grösste Gay magazin der schweiz. zehn ausgaben pro Jahr für nur ChF 60.– statt ChF 75.– Du erhältst den Cruiser in neutralem Umschlag per Post direkt zu dir nach Hause. Einfach Coupon ausfüllen und einschicken oder online bestellen unter www.cruisermagazin.ch

Name | Vorname

E-Mail

Strasse | Nr. Land

Geburtsdatum

PLZ | Ort | Land

Unterschrift

meine abo-Bestellung Cruiser-Jahresabo für CHF 60.– Ausland-Abo für Euro 80.– Gönner-Jahresabo für CHF 250.– einsenden an empl.media Winterthurerstrasse 76, 8006 Zürich www.cruisermagazin.ch


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.