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Strategien für das Unplanbare

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TEXT UND FOTOS: PETRA KIRZENBERGER

In der Friesischen Teestube in Schwabing gehen die Uhren anders. Man fühlt sich wie aus der Zeit gefallen: gemütliche Sofas statt Hektik und Stress. Perfekt, um bei einer Tasse Tee den Lärm der Welt zu vergessen. Und genau der richtige Ort für ein Treffen mit THOMAS VON WITTERN: Gründer der Wunderbau, einer Gesellschaft für gemeinwohlorientiertes Bauen und Leben, und Mitglied des Cradle-to-Cradle-Vereins.

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Wir haben mit ihm über Veränderung, Wertschöpfung und die Stadt der Zukunft gesprochen.

Erzähl uns ein bisschen von dir! Wie würdest du dich selbst beschreiben? Ich hab das Glück gehabt, mir ein Studium Generale gönnen zu können: Ich hab Sport studiert, Kunstgeschichte, Medizin, Volkswirtschaft und Bauingenieurwesen. Das hat eine selektive Wahrnehmung gefördert. In einem System der Spezialisierungen schafft man Inselbegabungen. Es ist aber wichtig, dass es Generalisten gibt – oder eben auch so Hefte wie das eure – wo man sich fachübergreifend mit einer Thematik auseinandersetzt. Es gibt wahnsinnig viele Betrachtungsweisen und Perspektiven, um ein Thema zu behandeln!

Eines der Themen, mit denen du dich beschäftigst, ist das Cradle-toCradle-Prinzip (C2C). Was ist das genau? C2C ist eine Gedankenschule, die Anhaltspunkte liefert, Sachen richtig zu machen. Wir denken uns eine Wirklichkeit, die nicht schadet: von Energie- und Ingenieurwesen über Technik bis hin zu Produkten, die keinen negativen Impact haben. Die Funktion eines Toasters beispielsweise verändert sich nicht, wenn ich ihn so entwickle und baue, dass er komplett in seine Bestandteile zerlegbar ist. Du kannst ihn reparieren und die Teile wieder hernehmen. Oder aber das Produkt bleibt Eigentum vom Hersteller. Man mietet z. B. eine Waschmaschine. Nach x Waschgängen kriegst du eine neue – die alte wird zerlegt und refurbisht. In bestimmten Industriezweigen funktioniert das schon so.

Bei C2C schaffen wir Raum – beispielsweise im Stadtlabor – wo sich Leute begegnen und neue Ideen besprechen können. Architekten und Bauleute, die versuchen, weniger Müll zu erzeugen. Das ist ein großer Impact! Wir wollen Systeme umdrehen, zu Rückgewinnungssystemen machen, damit nichts umsonst ist. Es geht darum, Rücknahmesysteme zu schaffen und Organisationen zu beraten, wie das funktionieren kann – biologisch, technisch usw. ►

DIE NATUR SELBST ARBEITET NUR IN ZYKLEN. DAS IST, WAS DEN LEUTEN HOFFNUNG GIBT: IN EINEM KREISLAUF VERLIERT MAN NICHTS. ES VERÄNDERT SICH NUR TEMPORÄR.

Dafür braucht es aber den Mut zur Veränderung. Veränderung ist wichtig. Das erhält uns am Leben. Wir sollten diesen Wechsel zulassen. Den Mut haben und daran glauben, dass uns genau DAS stärker und nachhaltiger macht. Wenn wir die Stadt neu erfinden wollen, müssen wir neue Wege gehen. München als Stadt der Erneuerung! Das ist doch geil!

Wo stehen wir aktuell in diesen Entwicklungen? Wir haben 98% schon erreicht.

What?! Ein Auto wird heutzutage schon zu 94 Prozent rezykliert. Das ist viel! Klar, ich brauch viel Energie, um es herzustellen, aber das Material ist nicht verloren. Wir haben in Sachen erneuerbare Energien unglaublich viel geschafft: Wind, Thermosolar usw. Vieles wird noch nicht genutzt, aber es ist da.

Über das Internet kann ich z.B. jeden Menschen an jedem Ort erreichen und ihm Zugang zu Information gewähren. Das gab es noch nie! Wir haben Sensorik, mit der wir genau sehen, was wann auf unserer Erde passiert. Es ist alles da. Es ist nur falsch verteilt. Und warum legen wir dann nicht einfach los? Blockieren wir uns selbst? Wir bewegen uns in einer Fake-Welt momentan, in der uns Medien, Werbung und Co. mit suggestiven Welten zuballern. Es ist im Grunde alles unecht, was uns täglich trifft. Unser natürlicher Sensor für Wahrheit geht dadurch teilweise oder ganz verloren. Wir sind durch unser Denken eigentlich ermächtigt. Und zugleich sind wir machtlos, weil wir diese Ermächtigung zum Selbstdenken in die Ohnmacht abstürzen lassen. Dabei hatte keine Generation jemals so viel Wissen frei zur Verfügung wie jetzt! Und was machen wir aktuell daraus? Panik. Aber die Katharsis gehört wohl zu den Phasen des menschlichen Bewusstseinsprozesses dazu.

Zwingt uns nicht der Klimawandel zum zeitnahen Handeln? Klimawandel hat es schon öfter gegeben. Wir haben sowas wie ein Dinosaurierproblem: Die mussten sich auch plötzlich mit neuen Gegebenheiten konsolidieren. Das haben sie nicht geschafft, darum sind sie ausgestorben. Auch wir müssen uns mit dem Wandel auseinandersetzen. Was wir 50 Jahre lang schön und toll gefunden haben – all die Urlaube und unsere Lebensweise – wird es so nicht mehr geben. Die Party ist vorbei. Die Frage ist: Wie setze ich mich damit auseinander? Kann ich der Natur helfen? Die Natur ist zu großen Teilen in der Lage, die Scheiße, die wir bauen, zu kompensieren. Wir müssen aber dazu beitragen, die Balance wiederherzustellen.

Dinge wie der Klimawandel, Migrantenwellen und dergleichen zeigen uns auch, wo unsere Systeme haken. Das sind Warnings, die Fragen aufwerfen: Wie gehen wir mit der Veränderung um? Menschlich, psychisch, logistisch, infrastrukturell. Der Klimawandel ist ein Wandel des Klimas – und zwar des gesellschaftlichen und menschlichen Klimas.

Welche nächsten Schritte sind nötig? Was können wir tun? Wir müssen vollkommen neue Lösungsansätze finden und eine Alternative schaffen – wie auch immer die aussieht. Ich bin kein Wahrsager, aber ich glaube, wir können es schaffen. Stellt man die richtigen Fragen, folgen die richtigen Antworten. Wenn man das Geld dafür bereitstellt, neuartige Gedanken unterstützt und Forschung ermöglicht, kann das funktionieren.

WIR BRAUCHEN STRATEGIEN FÜR DAS UNPLANBARE. ES FEHLT HALT LEIDER OFT AM RICHTIGEN ZUGRIFF UND AN DER NÖTIGEN INSPIRATION. DIE IDEE VON C2C IST HIER EIN ANFANG: MAN ENTWICKELT PRODUKTE, DIE EINEM KREISLAUF ENTSPRECHEN.

Dazu muss man erst mal Geld in die Hand nehmen. Man forscht nicht für ein weiteres Krebsmittel, weil man weiß: Bei dem Dreck, den wir in die Luft blasen, ist der Krebs unausweichlich. Das ist falsch sortiertes Geld. Warum nicht das gleiche Geld dafür ausgeben, dass der Dreck gar nicht erst in die Luft kommt?

Es braucht eine politische Initiative, die das fordert. Fridays for Future lässt das schon anklingen, der normale Mensch muss das einfordern. Die Lösung aber ist eine politische Entscheidung. ►

Man kann sowas schaffen – das merken wir beim Kohleausstieg: Das hat viel Geld gekostet, aber beispielsweise Nordrhein-Westfalen zu einem Land gemacht, in dem man die Luft wieder atmen, wo man leben kann. Und das innerhalb von einer Generation!

Wir brauchen also noch deutlichere Bewegungen in Richtung direkte Demokratie: Bürgerbegehren, Volksbegehren, Initiativen usw. Ziviles Engagement bedeutet, dass man sich dieser Möglichkeiten bewusst wird und sich fragt: Gibt es eine Lösung? Was kann ich tun?

Es läuft nur grad eine Menge schief in der Politik. Man hat nicht den Eindruck, dass da auch nur ein einziger NICHT korrupt ist ... In der Politik ist Korruption besonders unehrenhaft. Die anderen sind gekaufte Korrupte: Der Manager von Siemens – gekauft von Siemens – muss machen, was Siemens hustet. Der Einzige, der Geld dafür kriegt, dass er nicht korrumpiert, ist der Politiker. Der kriegt aber von der Allgemeinheit sein Geld und auch für kurze Amtszeiten eine Pension, die ein anderer nicht mal für 45 Jahre Arbeit kriegt. Das sind so Subsysteme, die Politiker komplett korrumpieren. Will man was ändern, muss man hier ansetzen: Die Funktionsträger von Bundes- und Länderparlamenten haben einen Eid auf dieses Land geschworen. Man kann verlangen, dass sie nicht korrupt sind.

Wie sieht das Leben in der Zukunft für dich aus – in der Stadt und global? Wir haben eine partizipativ-zirkuläre Ökonomie, wir übernehmen Verantwortung – in Sachen Konsum, aber auch durch die Sachen, die wir schaffen, erzeugen und tun. Es gibt mehr direkte Demokratieprozesse und mehr Generalisten. Die Probleme der Stadt lösen keine Spezialisten – das sieht man ja.

IN DER ZUKUNFT LEBEN WIR EINE ORGANISCHE VERBINDUNG ZWISCHEN LAND UND STADT – VOR ALLEN DINGEN FÜR DIE SELBSTVERSORGUNG.

Wie eine Art digitale Großmarkthalle: Der eine Bauer liefert seinen Gemüsekorb in die Herzogstraße, der andere fährt seine Kartoffeln nach Haidhausen – das ist alles offen! Was für Systeme man mit unserer Technik generieren kann – die wären von der Logistik, der Wertschöpfung etc. viel besser als das jetzt! Keine Zwischenhändler, die Leute lernen sich kennen – ois easy! Die Maschinenproduktivität in Deutschland ergibt jährlich eine Wertschöpfung von insgesamt fast zwei Billionen Euro. Wenn ich die besteuere und verteile – was total legitim wäre – dann hätte jeder im Monat 1500 Steine partizipatives Einkommen in der Tasche. Die Schweizer haben das so geregelt: Die soziale Unterstützung beträgt bis zu 3400 Franken, das ist nichts Soziales, das ist absolut menschenwürdig. Missbrauch jedoch wird damit bestraft, dass du das nie wieder beziehen darfst. Jeder kann und darf mal in die Situation kommen, die überfordert, keine Frage! Die Gemeinschaft hilft und er darf sich da wieder rausarbeiten.

Eine schöne Vorstellung! Meine Vision ist, dass jeder Respekt und Achtung vor dem anderen hat – und vor unserer Gemeinschaft. Ob das ein Deutscher ist, ein Afrikaner oder einer mit Down-Syndrom, also fernab von Nationalitäten oder sonstigem. Dann wird das Unmögliche lebbar!

Was willst du den curt-LeserInnen noch mit auf den Weg geben? Nimm so viele Möglichkeiten wahr wie nur irgend möglich! Sei Generalist statt Spezialist. Inspiriere so viele Menschen wie möglich durch dein Tun. Lass uns Momente der Begegnung und Berührung schaffen und möglichst offen gestalten – durch Events, Kunst, Kultur – bei denen sich alle Menschen eingeladen fühlen und niemand ausgegrenzt wird. Man muss den Leuten das Gefühl vermitteln, dass sie auch was ge winnen, einen Vorteil haben. Es macht vielleicht Spaß, etwas Neues zu gestalten! Weg vom Mainstream, raus aus dem „boring capitalism“. Was brauchst du schon wirklich? Ein paar gute Schuhe, ein paar Klamotten und so viel Pulver, dass du deine Miete zahlen kannst. ▪

Die große Standuhr in der Friesischen Teestube tickt. Was sie anzeigt, ist erstaunlich: Während unseres spannenden Gesprächs sind drei Stunden wie im Flug vergangen. Vielleicht sollten wir das öfter tun: die Zeit ein wenig verlangsamen, uns der Dinge besinnen, die wir bereits erreicht haben. Zurücktreten vom Lärm der Welt und fragen: Was ist wichtig? Wie siehst du das? Oder: Brauchen wir das wirklich?

CRADLE-TO-CRADLE (C2C) ist eine Bewegung, die Rohstoffe zu ihrem Ursprung zurückführen und wieder nutzbar machen will. Tatsache ist: Nichts auf unserem Planeten ist jemals wirklich weg. Es ist nur woanders, in einer anderen Form gebunden. Alles, was produziert wird, ist irgendwann Müll – oder eben nicht. Die Gedankenschule des C2C: Häuser zu bauen und Produkte herzustellen, sich in ihre Einzelteile zerlegen und wieder verwerten lassen. So gehen Rohstoffe nicht verloren, sondern sind kompostierbar, regenerierbar, rückbaubar … Für diese Art von Recycling muss neu gedacht und kreativ designt werden: Die aktuell am Markt befindlichen Produkte sind nur mit großer Mühe zu sortieren und schlecht bis gar nicht zerlegbar. Die Rohstoffe wieder in Umlauf zu bringen ist sehr aufwändig – oder schlicht unmöglich. Produkte müssen anders geplant und gefertigt werden: für eine höhere Lebensdauer, bessere Qualität und Reparaturmöglichkeiten, die langfristig die Ressourcen unseres Planeten schonen. Mehr Info und Mitmach-Möglichkeiten findet ihr hier ►c2c-ev.de BUCHTIPP: CRADLE TO CRADLE Michael Braungart, William McDonough

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