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GENIESSEN
SLOW FOOD ERFOLG
IM SCHNECKENTEMPO
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Von Italien in die Welt und damit freilich auch ins Oberland. Nachhaltigkeit statt Verschwendung, regional statt von irgendwo her, Handwerk und Genusskultur statt Einheitsbrei und Convenience, transparent statt anonym, Tradition statt Hektik und Netzwerk statt Konkurrenz. Statt Fast Food eben Slow Food. Eine bedächtige Genussreise durchs Oberland
TEXT HEIKE HOFFMANN
s brodelte schon lange in Küchen, Kellern und Vorratskammern und vor allem in den Herzen von Genießern. Traditionsgaststätten und handwerkliches Können verschwanden, auf den Speisekarten dominierten Packerlsoßen und Fertigprodukte. Schlimmer noch: In den Zentren der Städte eröffneten immer mehr Filialen von Kettenrestaurants, die Essen anboten, das man sich im Stehen, im Vorbeieilen nebenher und meistens alleine einverleiben kann. Fast Food eben, das meist aus Fleisch zwischen Brötchenhälften geklemmt oder Pseudo-Pizza besteht, müde Salatblättchen als Vitamin-Alibi dazu.
Der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, fiel 1986 mit der Eröffnung der Filiale des US-amerikanischen Fast-Food-Giganten McDonald‘s mitten im Herzen von Rom, direkt an der wunderschönen Spanischen Treppe gelegen. Die friedlichen Kämpfer um den italienischen Aktivisten Carlo Petrini schlossen sich zusammen, um zu retten, was noch zu retten war. Slow Food war geboren. Ihre Ziele waren einfach: Sie wollten für regionale Traditionen und kulinarischen Genuss eintreten. Inzwischen hat sich die Bewegung zu einem umfassenden Konzept für Lebensmittel entwickelt, das die engen Verflechtungen zwischen Ernährung, Natur, Politik und Kultur berücksichtigt. Heute ist Slow Food eine weltweite Bewegung geworden, mit Millionen Mitgliedern in über 160 Ländern, darunter bereits seit 1992 auch in Deutschland und in unseren Nachbarländern Schweiz und Österreich.
Gut – sauber – fair Warum gerade Essen so wichtig ist, scheint in den reichen Industrieländern zunächst überraschend, doch es ist diejenige Alltagshandlung, die auf den Globus den allermeisten Einfluss hat. Rund 100.000 Mahlzeiten nimmt jeder Mensch durchschnittlich im Lauf seines Lebens ein. Damit wird auch schnell klar: Jede einzelne Person kann viel bewirken. Mit jedem Einkauf und mit jeder Mahlzeit stimmen wir quasi mit Messer und Gabel ab, ob wir nachhaltig produzierte Lebensmittel oder eine fragwürdige Nahrungsmittelindustrie mit all ihren Skandalen und chemischen Zusatzstoffen unterstützen wollen.
Wie wir uns ernähren, hat nicht nur Auswirkungen auf unser Leben und unsere Gesundheit, sondern auch auf Landwirtschaft, Klima, Wirtschaft, Umwelt und nicht zuletzt auf ganze Kulturlandschaften. Gut, sauber und fair sollen Slow-Food-Lebensmittel sein. Gut, weil frisch aus der Region, nachhaltig und im
Franz Inselkammer und Carlo Petrini genießen Ayinger Bier
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Viele Familienbetriebe liefern Heumilch an die Naturkäserei.
Inge Bias-Putzier und Heiner Putzier kümmern sich um Slow Food Pfaffenwinkel Einklang mit der Natur produziert, mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der Menschen, der Tiere und der Umwelt. Fair bedeutet: vernünftige Preise für Erzeuger, angemessene Löhne im Handel und in der Gastronomie. Massentierhaltung ist selbstverständlich verpönt, hingegen werden bäuerliche Betriebe unterstützt, die regional und ökologisch produzieren.
Genussregion Oberland Hierzulande präsentiert sich Slow Food als Verein, unterteilt in sogenannte „Convivien“, was so viel wie „Tischgemeinschaften“ bedeutet. Gemeint sind regionale Gruppen von Mitgliedern; sie gibt es in den Städten wie München oder Augsburg, auf dem Land im Allgäu, im Chiemgau und Rosenheimer Land sowie im Fünfseenland und im Pfaffenwinkel. Allerlei genießerische Events werden gemeinsam organisiert. Man besucht beispielsweise eine regionale Käserei, verkostet Milch und lernt dabei, wie unterschiedlich sie schmecken kann, je nachdem, was die Kühe zu fressen bekamen und – ebenso wichtig – wie und ob die Milch nach dem Melken behandelt wurde. So stammt die Milch, die von der Naturkäserei TegernseerLand verwendet wird, von Tieren, die im Sommer auf der Weide leben und im Winter Heu zu fressen bekommen, erklärt Sophie Obermüller. Die Milch ist naturbelassen und nicht in Bezug auf Eiweiß- oder Fettgehalt „eingestellt“. Daher schmeckt sie nicht immer gleich, und sie wird von vielen Menschen vertragen, die auf industriell veränderte Milch mit Unverträglichkeiten reagieren. Die Käserei, die eine Vielzahl von Käsesorten produziert, zählt neben einer stattlichen Anzahl anderer Betriebe zu den Förderern von Slow Food. Mit dem Geld werden Projekte unterstützt, die sich mit Lebensmittelqualität und nachhaltiger, regionaler Produktion beschäftigen, wie beispielsweise sozial und ökologisch innovative Betriebsformen in der Milchwirtschaft oder auch der Fleischerzeugung. Die Genossenschaft in Kreuth hat durch ihre Gründung
CLAUDIA GROSS
vor wenigen Jahren das Überleben kleiner, bäuerlicher Familienbetriebe gesichert.
Gewachsene ländliche Strukturen zum Wohle der Region zu erhalten, gelingt auch mit der Erzeugung von bayerischem Bier nach dem Reinheitsgebot. Die Brauerei in Aying von Franz Inselkammer ist seit Mai 2000 Slow-Food-Mitglied. Der Senior war seinerzeit die treibende Kraft für den Beitritt zu der Vereinigung. Sein Credo lautete immer schon: „Heimatverbundenheit, Bodenständigkeit, Ehrlichkeit, beste Zutaten und handwerkliche Braukunst machen die Qualität eines Produkts aus.“ So hat Slow Food in der engagierten Bräufamilie einen Förderer par excellence gefunden, dem die „Lobby für den Geschmack“ ein Herzensanliegen ist. „Wo, wenn nicht in Aying“, so der Betrieb stolz, „wird sinnlich greifbar, welch erfolgreiche Alternative ein ganzheitliches regionales Konzept für ein mittelständisches Familienunternehmen in Zeiten der Globalisierung und der zunehmenden Konzentration in der deutschen Brauereilandschaft sein kann.“ Slow-Food-Gründer Carlo Petrini habe es sich nicht nehmen lassen, das Unternehmen in dem malerischen Ort, südöstlich von München gelegen, persönlich zu besichtigen: Am 20. Februar 2004 besuchte er Brauerei und Brauereigasthof und war, so berichtet Inselkammer mit großer Freude, sehr beeindruckt.
Betriebe, die nach der Philosophie von Slow Food arbeiten, finden wir hier bei uns im Oberland in den letzten Jahren immer mehr. Es lohnt sich also, sich in der Nachbarschaft umzusehen, „denn häufig“, so Heiner Putzier, der zusammen mit seiner Frau Inge das Convivium Pfaffenwinkel von Weilheim aus betreut, „ist zu wenig bekannt, welch Vielfalt die Region bietet“. Adressen von nachhaltig arbeitenden Unternehmen, ökologischer Landwirtschaft mit Direktvermarktung, Märkten und Läden sowie Gasthöfen findet man auf der Internetseite des Vereins.
Noahs Arche, neu bestückt Was ein Miteinander in der Region bewirken kann, dafür ist die Rettung des Murnau-Werdenfelser Rindes ein Beispiel. Aufgrund der Industrialisierung der Lebensmittelbranche drohen viele Nutztierrassen, Gemüsesorten, handwerkliche Zubereitungsarten oder traditionelle Produkte verloren zu gehen, weil sie aufgrund ihrer aufwendigen Herstellung oder Aufzucht als unrentabel gelten. Slow Food hat deshalb die sogenannte „Arche des Geschmacks“ ins Leben gerufen.
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Murnau-Werdenfelser Rinder waren kurz vor dem Aussterben. Engagierte Bauern züchten die robuste heimische Rinderrasse inzwischen wieder
Neben Nutztieren findet man hier auch samenfeste alte Gemüse und Feldfrüchte oder beinahe vergessene Obstsorten sowie handwerklich hergestellte Produkte oder traditionelle Verfahren.
Einer dieser Arche-Passagiere aus dem Oberland ist das Murnau-Werdenfelser Rind. Industrielle „Fleischerzeugung“ greift nur auf wenige Turbo-Rassen zurück; das kleine, aber robuste Rind war massiv vom Aussterben bedroht, die Bestände sind heute noch kritisch. Es ist bestens an hiesige Bedingungen angepasst, kommt mit Moorlandschaften genauso zurecht wie mit Steillagen. Es diente den Bauern in vorindustrieller Zeit als sogenanntes „Dreinutzungsrind“, nämlich als Arbeitstier und zusätzlich als Milch- ebenso wie Fleischlieferant. Die Qualität der Milch der MurnauWerdenfelser Kühe ist hervorragend, ebenso wie die des Fleisches. Es wird von einigen guten Metzgereien angeboten, und Gerichte daraus finden sich auf den Speisekarten von Gasthäusern der Region. Doch in der „Arche des Geschmacks“ befinden sich auch andere hiesige Tierrassen wie das Alpine Steinschaf, das Augsburger Huhn oder das Schwäbisch-Hällische Landschwein. Viele von diesen Tieren werden übrigens im Freilichtmuseum Glentleiten, zwischen Kochel und Murnau gelegen, gehalten und können im Sommer besucht werden.
Der Sonntagsbraten „Retten durch Aufessen“ heißt der Slogan; es mag paradox klingen, doch wer Artenvielfalt erhalten möchte, muss den Absatz ankurbeln und Genießer finden, die für qualitätsvolles Biofleisch einen angemessenen Preis bezahlen. Ein simpler Rat, wie man sich teureres Fleisch ganz einfach leisten kann: weniger Fleisch essen und dafür auf Tierwohl und Qualität achten. Slow Food plädiert für die Wiedergeburt des Sonntagsbra-
Fleisch ist ein wertvolles Lebensmittel, das als Sonntagsbraten wertgeschätzt werden soll
tens, der liebevoll zubereitet wird und eben eins ist: etwas Besonderes. Unter der Woche könnten doch die Fleischportionen viel kleiner ausfallen oder auch mal ganz durch vegetarische Gerichte ersetzt werden. Die Vielfalt ist groß, auch in bayerischen Landen, wo Wirtshausküche immer noch häufig aus „Fleisch mit Beilagen“ besteht. Doch man sollte sich daran erinnern, dass unser Fleischverzehr noch vor wenigen Jahrzehnten etwa die Hälfte der heutigen Menge ausmachte und Kartoffeln, Nudeln, Gemüse oder Mehlspeisen zum Alltag gehörten.
Diese Sonntagsbratenkultur findet man beispielsweise beim „Moarwirt“ in Hechenberg, beim „Jägerwirt“ in Kirchbichl bei Bad Tölz oder beim „Il Plonner“ in Oberpfaffenhofen. Noch mehr SlowFood-Gasthöfe verzeichnet der Genussführer des Vereins, der eigentlich im Zwei-Jahres-Takt erscheint; diesen Herbst wäre der Band 2021/2022 erschienen, wäre nicht Corona dazwischengekommen. Die Auswahl der Betriebe erfolgt durch die Mitglieder, die die Restaurants mehrmals testen und hinter die Küchenkulissen schauen. Doch dies war heuer schlechterdings nicht möglich. Damit allerdings kein Stillstand eintritt und die Slow-Food-Gastronomie unterstützt wird, gibt es den aktuellen Führer im Buchhandel zum halben Preis.
Gemeinsamkeit: Gärtnern und zusammen kochen gehören zu den Aktivitäten von Slow Food Pfaffenwinkel
Gemeinsam genießen und Jam-Kochen Manchmal treffen sich die gemächlichen und fröhlichen Genießerinnen und Genießer auch einfach zum gemeinsamen Kochen, Ratschen, Rezepte austauschen. „Jam-Kochen“ nennen sie es, also Kochen mit dem, was da ist. Denn hoch im Kurs steht auch gemeinsames Gärtnern, sei es, indem man Pfl anzen für den eigenen Garten tauscht, eine Solawi-Gärtnerei (Solawi = Solidarische Landwirtschaft) unterstützt oder im nächstgelegenen „Sonnenacker“ von der Solidargemeinschaft „Unser Land“ Biogemüse anbaut. Die Ziele der Solidargemeinschaft ähneln in vielen Bereichen denen von Slow Food, sodass man gerne zusammenarbeitet. „Nur gemeinsam geht was vorwärts, mit Konkurrenzdenken blockiert man sich doch nur gegenseitig!“, so Inge Bias-Putzier von Slow Food Pfaffenwinkel.
SLOW FOOD DEUTSCHLAND Slow Food Deutschland ist ein Verein, 1992 als erster außerhalb Italiens gegründet. Er hat rund 14.000 Mitglieder, die in 80 regionale Gruppen, darunter das Slow Food Youth Netzwerk, gegliedert sind. Diese Gruppen nennen sich „Convivien“, also Tischgemeinscha en. In der Region aktiv sind die Convivien Pfaff enwinkel, Fünfseenland und natürlich München. Wer Slow Food in der Region Tegernsee, Tölzer Land und Zugspitzregion unterstützen möchte, kann sich gerne an Heiner Putzier wenden, der für den Pfaff enwinkel zuständig ist. www.slowfood.de; www.slowfood.de/pfaffenwinkel
Nächste Veranstaltungen:
14. 11. Milchverkostung beim Albrechthof in Polling 21. 11. „Jam-Kochen“ in der Gärtnerei Sonnenwurzel in Reichling
AUF DEN GESAMTEN EINKAUF* BIS 9. JANUAR 2021
ALLES NEU, KEMMT S VORBEI!