Aus der stille

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Aus der Stille heraus

David Aldridge


AUS DER

STILLE HERAUS

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David Aldridge

„Kunst bildet nicht das Sichtbare nach, vielmehr macht sie erst sichtbar. Früher stellten wir lediglich die irdischen sichtbaren Dinge dar, Dinge, die wir entweder einfach gern angeschaut oder gern wahrgenommen hätten. Heute entfalten wir die Wirklichkeit, die hinter allem Lebendigen steht. Infolgedessen glauben wir, daß die sichtbare Welt in bezug auf das Ganze bloß ein abgegrenzter Fall ist. Und es gibt noch weit mehr solcher verborgenen Wirklichkeiten“. (Paul Klee)


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m Bereich der medizinischen Forschung kommen die meisten neuartigen Anstöße aus dem Bereich der Naturwissenschaft. Meiner Ansicht nach ist eine solche Forschung, wenn sie auf menschliches Verhalten angewandt wird, lückenhaft und mißachtet die wichtigen schöpferischen Elemente im Heilungsverlauf und in der Heilpraxis. Eine Verneinung des Wissenschaftlichen steht nicht in meiner Absicht, vielmehr will ich die Betonung auf das Ästhetische legen, in der Art, daß beides gemeinsam betrachtet werden sollte. Leider resultiert die Weigerung, beide Elemente menschlichen Lebens verstehen zu wollen, daraus, daß jeweils das eine oder das andere geleugnet wird. So stellt sich die derzeitige Situation in der modernen Medizin dar. Die fortdauernden Probleme chronischer Krankheiten und menschlichen Leidens aber drängen uns, über unseren ideologischen, parteilichen Glauben hinauszugehen und uns darauf zurückzubesinnen, wodurch wir wissen, wie und was wir wissen. Das ist wörtlich genommen ‘re-search’ - Forschung im Sinne von ‘re-search’ als Wieder-Betrachten (Wieder-Suchen) der Phänomene (Aldridge 1996). Das Problem, dem sich der Kliniker gegenübersieht, besteht darin, daß er oftmals zwischen den persönlichen Bedürfnissen des Patienten und den Erfordernissen der allgemeinen Gesundheitspolitik vermitteln muß. Diese Notwendigkeiten werden von verschiedenen Wissenslehren erfüllt. Ähnlich zeigt sich auch in der medizinischen Wissenschaft oft eine klare Trennung zwischen Forschern und Praktikern. Eine Gruppe betrachtet sich selbst als rational und peinlich genau und sieht die andere als zu empfindsam und befangen, aber als reduktionistisch und human an. Keiner dieser Standpunkte ist richtig, jede Sichtweise bietet Möglichkeiten. Die vorherrschenden Ideen der medizinischen Fachliteratur entstammen den Naturwissenschaften, deren statistische Daten auf dem laufenden gehalten werden. Die statistische Wissenschaft wurde im Frankreich des 18. Jahrhunderts als Teil des zentralistischen Staatsapparates entwickelt. ‘Statistik’ war als Staatswissenschaft die empirische, zahlenmäßige Darstellung der für den Staat verfügbaren Ressourcen und bildete die Bestandteile eines neuartigen Machtbewußtseins heraus. Gesundheitsfürsorge wurde somit, wie auch heute, ein genauso politisches wie persönliches Ziel. Gesundheit wird von jedem Mitglied der Gesellschaft als Aufgabe und Ziel betrachtet. Individuelle Bedürfnisse werden den Interessen der Gemeinschaft untergeordnet. Die

individuelle Ethik ist an einer ‘öffentlichen Ethik’ ausgerichtet, und objektive empirische Daten sind die Maßstäbe, nach denen Ziele formuliert werden. Diese Daten werden für die ökonomische Erneuerung der Gesundheitsfürsorge herangezogen (Gesundheit als Ware); öffentliche Ordnung (die Regulation von Abweichungen) und Hygiene (die Nahrungs- und Wasserqualität und die der örtlichen Gegebenheiten).

Wissenschaftliche Sichtweise

Individuelle Sichtweise

Staatlich gelenkte Gesundheitspolitik

Selbständiges Bemühen um die Her stellung der Gesundheit

Vorhersehbare Stabilität und Kontrolle: die Zukunft wird anhand von veralteten Daten vorhergesagt

Schöpferische Rationalität: Sein und Werden

‘Technologie’ des Körpers, Beobachtung, Untersuchung und Fallbeispiele

‘Techne’ des Selbst: (Aldridge 1996) Musik, Kunst, eigene Erzählungen, Dichtkunst

Objektive statistische Wirklichkeit, die sich auf instrumentell überwachte Daten stützt

Subjektive und symbolische Wirklichkeit, die sich auf die Sinne und das menschliche Bewußtsein stützt

Gesundheit des Körpers ist ein Imperativ des Staates

Erhält die eigene Identität aufrecht

Wissenschaftlich

Ästhetisch

Zeit als Chronos

Zeit als Kairos

Von diesen Standpunkten aus gewinnen wir einen Begriff der Gesundheitsfürsorge und das Wissen über staatliche Kontrolle. Objekte dieser Gesundheitsfürsorge (Patienten), ihre Praktiker (Kliniker und Studenten) und ihre Versorger (Kranken- und staatliche Versicherungen) sind durch diese eine Wissenslehre gekennzeichnet. Die Stärke der modernen Wissenschaft bestand darin, daß sie angesichts des stetig wachsenden metaphysischen Solipsismus im 18. Jahrhundert ein überschaubares Wissensgerüst bot. Von einem modernen wissenschaftlichen Standpunkt aus muß der menschliche Körper als ein Objekt des Staates ‘bedient’ werden, dessen Zielvorstellungen er dient. Der allgemeinen Akzeptanz dieses Vorgangs wird mit dem Fortschreiten der Klassifizierung und der Normalisierung gedient. Die Menschen werden überwacht, klassifi-

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ziert und als ‘Fälle’ analysiert, immer ihrer Abweichung von einer gegebenen Norm entsprechend. Leiden wird eher zu einer Kategorie unter vielen, als zur einzigartigen Erfahrung, die es eigentlich ist. Es gibt Arten der wissenschaftlichen Untersuchung von Personen in Form von Einzelfallstudien, in denen veränderliche Daten über einen Zeitraum gesammelt und Zufälligkeiten und somit Möglichkeiten für nicht vorformulierte Begriffe festgehalten werden. In dieser Praxis ist der Patient seine eigene Statistik (Aldridge 1993). Die Zeitreihenanalyse solcher Daten befindet sich jedenfalls noch in der Entwicklung. Die Epistemologie dieses normativen Prozesses ist die der Naturwissenschaft, die Vernunft, Stabilität und Vorhersehbarkeit betont. Im Angesicht des Todes und des Verfalls ist es Gebot der Gesundheit geworden, Kontinuität und Kontrolle zu wahren. Es ist eine philosophische Annahme, daß der positive Beleg einer Hypothese weiteren Belegen den Weg bereitet. Es gibt jedenfalls keine logische Notwendigkeit, die unseren Übergang von vergangenen zu zukünftigen Erfahrungen sichert. 4

So wie das moderne Leben immer mehr Angst produzieren wird, als auf Vorhersehbarkeit fußende wissenschaftliche Lösungen zu finden, und die versuchte Kontrolle der Natur mit Hilfe der Technologie fortschreitet, hält uns der Rückzug auf die Angst vor dem Sterben und die Betonung des Materiellen vom Verstehen des wahren Lebensprozesses zurück. Wie können wir so den Kranken und Sterbenden Trost und Hoffnung spenden? Eine phänomenologische Sichtweise befaßt sich mit dem ‘Coming into being’. Zu behaupten, die Zukunft werde genauso sein, wie die Vergangenheit war, ist ein kultureller Artefakt unserer herrschenden wissenschaftlichen Epistemologie. Wie können wir bei einer solch deterministischen Vergangenheitsvorstellung mit Wandel rechnen? Die Empiriker machen den Fehler, Daten über sinnliche Wahrnehmung als Objekte darzustellen, während der Bereich der Gefühle doch jenseits des Objektiven liegt und von uns selbst erforscht werden muß, wenn wir unsere eigene Erfahrung und die anderer verstehen sollen. Bewußtsein ist nicht Sache des „ich glaube, daß...“, sondern eine Angelegenheit des „ich kann“. Das ist das wichtige Element der Intentionalität: Sie kann nicht gemessen, nur gehört, gesehen und dargestellt werden, oder wie Merleau-Ponty (1962, S.329)

schreibt: „Durch meinen Körper kann ich andere Menschen verstehen, genau wie ich mit meinem Körper Dinge wahrnehme.“ Die Gesundheitspolitik und die ihr ergebene Medizintechnologie stellt die Existenz des Individuums in Frage. Persönliche Gesundheitsmerkmale aber haben mit der subjektiven Realität, die symbolisch ist, zu tun. Als Menschen sind wir der Selbstbestimmung fähig und die tiefsten Gründe dieser Bestimmung können nicht auf ‘objektive Kriterien’ verkürzt werden. In vielen Fällen sind wir uns selbst ein Geheimnis. Wir haben Eigenschaften, die etwas mit unserem ‘kreativen Wissen’ zu tun haben. Wie sollten wir also als Kliniker und Forscher die Schaffung einer nicht auf wissenschaftlichem Wissen vom Selbst im Verhältnis zur Gruppennorm basierenden Existenzethik, sondern die Schaffung einer Ethik, deren prinzipieller Akt schöpferischer Natur ist, in Angriff nehmen? Unsere Aufgabe besteht darin, uns selbst und dann unsere Patienten zu fragen: „Wie können wir uns selbst als Kunstwerk hervorbringen?“ Diese Betrachtungsweise der praktischen Forschung impliziert, daß wir Menschen ermutigen können, eine klare Sprache für das zu entwickeln, was an ausdrucksvoller Wahrnehmung aus ihnen herauskommt. Dies kann mit Musik, Bildern und Literatur geschehen. Wir können Menschen auffordern, ihre eigene Lebensgeschichte nicht nur als bloße Anhäufung materieller Quantitäten von Fleisch und Blut zu betrachten, sondern in Tönen, Worten und Bildern darzustellen. Zu diesem Zweck schlage ich eine Forschung von anderer, neuer Qualität vor, die Musik, Fotografie und persönliche Erzählung umfaßt. Am Ende einer solchen Forschungsreihe konnten die Mitwirkenden ihre Erlebnisreise darstellen, sei es als Fotobuch, illustrierter Text oder Tonbandaufnahme. Ihre Erfahrungen waren einzigartig und schöpferisch; stellten nicht nur eine Reihe festgehaltener Krankheitsdokumentationen und Leidenswege dar.


Fotografie

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ährend sich in der Musik das Wesen des ‘zeitlichen Zusammentreffens’ besonders manifestiert, ist die Fotografie die Praxis, durch die der Moment eingefangen wird. Mit der Fotografie können wir die Geschichte unseres eigenen Erlebens visuell artikulieren. Musik kommt aus der Stille und die Fotografie hält diesen Moment der Stille fest. Das Wohltuende beider Künste ist, daß sie keiner Interpretation bedürfen, sie stehen für sich. Im modernen ‘Psycho-blabla’ populärer großer Bewegungen und der religiösen New-Age-Bewegung gewinnt die Fotografie durch ihre sehr ruhige Wirkungsweise eine mächtige Position. Bei der Dokumentation eines Lebens bietet uns die Fotografie die Möglichkeit der Selbstreflexion über uns als Wesen, die einen Moment der Zeit besetzen. Während Musik nicht-materiell und dynamisch ist, ist die Fotografie materiell und statisch. Sie plant gewissermaßen eine Offensichtlichkeit, daß die Illusion der Beständigkeit nicht substanzlos ist, da sie einen punktuellen Moment innerhalb der Zeit erfaßt. Der fotografische Akt ist ein betrachtender Akt und stilles Zeugnis der Welt. Im Beobachtungsakt ist Ruhe erforderlich und das Erlauben dessen, was dort zum Vorschein kommt. Schon das Aufnehmen eines Fotos hat mit Komposition, Trennung und Auswahl zu tun. Diese grundlegenden Qualitäten müssen Menschen erwerben, wenn sie ihr Leben dokumentieren wollen, und es ist die Reflexion über diese Qualitäten, die Menschen nutzen müssen, um sich selbst zu ergründen. Die verborgenen Werte der Fotografie als Mittel der Forschung sind grundlegend und ästhetisch. Durch äußerliche offensichtliche

„Die Fotografie ist ein Sprößling der edlen Kunst der Alchemie. Erfolg ist in ihr, wie in der Dichtung, untrennbar von Moral und geistiger Größe, deren Ausgangspunkt kein anderer als die Liebe ist.“ (de Mandriaques 1985)

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Vorstellungen von Schönheit werden Menschen an ihre eigene Komposition erinnert. Noch sind diese Vorstellungen von Schönheit nicht die einer Popularkultur, die uns alle in eine Werbenorm zu pressen versucht. Der Prozeß der Fotografie ist auch wörtlich ein Prozeß der Erleuchtung. Zunächst ist dazu Stillhalten nötig; dann ist nach den idealen Bedingungen und der Erlaubnis zur Offenbarung zu suchen. Damit das Bild auf dem Film erscheint, bedarf es der Belichtung. Die fotografierende Person muß sich dieses kontrollierenden Prozesses der Belichtung sehr bewußt sein. Während der Vorgang an und für sich technisch sein mag, reicht er doch auch in andere Bereiche hinein.

Die derzeitige Herausforderung ist die Bemessung eines Wissenschaftsweges, der im Sinne einer Kooperation mit bereits etablierten Forschungsmethoden diese Forschung nach außen tragen kann. Es gibt viele Formen menschlichen Wissens, und es ist vielleicht in einer so turbulenten und durch unseren eigenen Mißbrauch an der Schwelle zum Abgrund stehenden Welt nötig, sich auf das Schöne zurückzubesinnen. Die unmittelbare Frage lautet: „Wer wird die Kräfte für die Realisierung eines solchen Projektes haben? Während Sponsoren gewöhnlich nur Bauwerke aus kaltem Stein fördern, gibt es auch solche, die eine Investition für das Streben nach dem Schönen fördern?“

Nach dem fotografischen Akt ist der aufgenommene Film zu entwickeln. Dies ist wiederum ein technischer Prozeß. Was auf dem Film festgehalten wurde, muß nun sichtbar gemacht werden. Was verborgen war, ist nun offenbar.

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Während Musik offensichtlich den nicht-materiellen Ausdruck der Zeit einfängt, nähert sich die Fotografie der Verneinung dieser besonderen Qualität. Zusammen bieten Musik und Fotografie kontrastierende schöpferische Ausdrucksmöglichkeiten der gelebten Dimension Zeit. Es ist anzunehmen, daß wir mit Sterbenden arbeiten können, um ihren eigenen ‘Prozeß durch die Welt’ in Selbstporträts, Familienund Landschaftsbildern zu dokumentieren. Für die, die sich nach einer chirurgischen Operation oder während der Behandlung wörtlich in ganz neuem Licht sehen müssen, bietet die Fotografie die Mittel, diesen Prozeß zu vervollständigen. Durch die Entwicklung des Desk-Top-Publishing gibt es für die Menschen keinen Hinderungsgrund mehr, ihre Lebensgeschichte in Form von Fotos und Gedichten selbst als Buch zu veröffentlichen. Auf diese Weise wird Krankheit zur im eigentlichen Wortsinne einzigartigen Erfahrung, dargestellt im künstlerischen Stil der Person, die sich auf diese Reise begibt. Für den Sterbenden ist dies ein menschliches Vermächtnis, nicht von Vermerken und Laborreports, sondern einer ge- und erlebten Zeit. Diese Ideen sind nicht voraussetzungslos entstanden. In der Tradition abendländischer Kunst haben Musik und bildende Kunst sich ein ähnliches Vokabular geteilt.

Erzählerische Struktur

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enn jeder von uns seine Lebensgeschichte erzählt, werden diese eine andere Substanz aufweisen als Forschungsberichte und nicht in einer quantifizierenden Wissenschaftssprache abgefaßt sein. Unser Leben findet dynamischen Ausdruck in einer lebendigen Sprache. Das Wesen der Sprache ist das einer musikalischen Form, die den Gehalt von Ideen verwirklicht. Leben ist eine unentwegt erzählte Geschichte und ein immerzu gesungenes Lied. Wenn wir die Erfahrung einordnen, begrifflich und wahrnehmbar machen wollen, gehen wir den klassischen Weg der Annäherung durch Beobachtung und Experiment. Wir können das in der Botanik, Meteorologie und Astronomie beobachten. Die Welt wird durch unsere Sinne oder durch speziell zu Zwecken der Beobachtung entwickeltes technisches Gerät begreiflich. Dies ist der Erklärungsmodus. Wann immer wir nach der Bedeutung von Erfahrungen suchen und diese zu manifestieren wünschen, können wir zwei Arten des Ausdrucks ändern. Das kann besonders am Prozeß des Geschichtenerzählens verdeutlicht werden. Geschichten werden nicht allein erzählt, sondern sind ja gerade zum spannenden, ausführlichen Erzählen und Zuhören da.


Der Inhalt einer Geschichte, wie in der bildenden Kunst, zeigt deren Gehalt nicht vordergründig (daher der Begriff ‘epische Dichtung’). Geschichten haben eine metaphysische Ebene und Form, die ein neues Seinsmodell schaffen, dessen Symptome eine metaphorische, wenngleich begrenzte Wirklichkeit darstellen. Geschichten verleihen uns das Verständnis für die Ordnung unseres Lebens. Sie sind eine Art der Wahrnehmung, des Fühlens, des Erzählens und des Seins. Während wissenschaftliche Pläne mit Nominalismus verbunden sind, sind Geschichten mit archetypischen Formen verwandt. Unsere Aufgabe als Forscher ist es nicht, den oft gehörten Geschichten der Psychotherapie über persönliche Realität Bedeutung beizumessen, sondern deren Bedeutung in der Wirklichkeit offensichtlich zu machen. Das fordert den Forscher genauso wie das Subjekt heraus, den Therapeuten wie den Patienten. Wir müssen Mittel entwickeln, mit denen Menschen lernen, ihre Geschichte frei zu erzählen. Unsere Aufgabe ist das Erleichtern dieses Erzählens. Der Gebrauch von Erzählungen stammt aus einer sehr alten Lehrtradition, sie war nicht immer Unterhaltungsmedium, wie wir sie heute kennen. Ein Großteil unserer Kultur ist heute mit Erzählungen, die ursprünglich zum Ansporn einer inneren Entwicklung gedacht waren, gesättigt. Bedauerlicherweise werden diese in einer Gesellschaft, die ihr geistiges Erbe mißachtet (und die die besondere Sprache, in der solche Inhalte transportiert werden können, verliert) als literarische Kuriositäten angesehen. Entweder ist es tatsächlich wie hier beschrieben, oder Geschichten werden als moralisierende Märchen für Kinder geeignet - verstanden, oft verdreht in einem modernen Sinne von ‘Schicklichkeit’. Geschichten sind durch ihre besondere Form Instrumente der Verständigung. Sie können mit herkömmlichen Methoden nicht enträtselt werden. Es ist beispielsweise nicht üblich, Wörter zu zählen und die Anzahl von Metaphern in einer Geschichte mit Steigerungen des Blutdrucks in Beziehung zu setzen und zu hoffen, daraus eine Bedeutung herauszulesen. Nun verbinden uns Geschichten mit einer nichtverbaIisierten Wahrheit jenseits herkömmlicher Grenzen unserer gewohnten Dimensionen (Shah 1983).

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Zusammenfassung

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ir müssen mit Entschlossenheit neue Wege der Forschungsarbeit beschreiten, während wir einen Dialog mit der herkömmlichen wissenschaftlichen Forschung vorantreiben. Diese Arbeit muß auf alltäglicher Praxis im Fotostudio, im Therapieraum oder zu Hause beruhen. Wir können Menschen dazu ermutigen, ihre Lebensreise nicht nur als Patient im Krankenhaus schöpferisch auszudrücken, sondern auch in ihrem täglichen Leben zu Hause und bei der Arbeit. In diesem Artikel ist das Wort ‘Patient’ bewußt - wo nur irgend möglich - vermieden worden. Wir vergessen oft, daß Menschen eine Vielzahl von Rollen haben und die Patientenrolle sozial beschränkend wirkt, wenn sie auch zeitweise erforderlich ist. Jeder, der nur für kurze Zeit im Krankenhaus gearbeitet hat, denkt vom Menschen nur als Patient und dann als Fall.


Die Annäherung an die Forschung stellt unsere Arbeit jenseits der Heilkultur und der Krankheit dar, um die breiteren Felder des real gelebten Lebens zu entdecken. Ein lebendiges Experiment war beispielsweise kürzlich das Weitergeben des Wandels in Osteuropa durch die Linse des Fotoapparates und durch die Literatur. Unsere moderne Geschichte ist nicht allein das kurz in den Massenmedien angeschnittene Thema, sondern wird auch still in den Herzen der Unterdrückten und Befreiten gelebt.

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Mittelpunkt dieser Arbeit ist der schöpferische Akt, das verwirklichte Leben, wie es gelebt und komponiert wird. Kreativer Ausdruck ist nicht mit katharsischem Ausdruck gleichzusetzen. Während persönlicher Ausdruck der erste Schritt im Heilungsprozeß ist, ist der wichtigste Schritt dieses Prozesses der des Artikulierens der ganzen Bandbreite menschlicher Gefühle. Während das leidenschaftliche Musizieren zu einer emotionalen Katharsis führen kann, mangelt es aber an hinreichender Form, die den Anfang der Artikulation des breiten Spektrums menschlicher Gefühle bildet. Mit dieser Ordnung menschlichen Handelns erreichen wir einen höheren Grad menschlicher Ausdrucksfähigkeit. Das ist der Heilungsprozeß; das Entkommen vom übersteigerten Fragmentalismus zum schöpferischen Handeln der Ganzheitlichkeit. Unserem inneren Leben wird mit seinen Zweifeln und seinem ganzen Reichtum Zusammenhang gegeben und es wird nach außen als gestaltete Form dargestellt. So motivieren wir die Menschen, ihre innere Wirklichkeit als etwas Schönes zu offenbaren. Der Vorteil der schöpferischen Künste ist, daß sie uns nicht allein die Erklärung unserer Pathologie erlauben, auf die sich viele orthodoxe und unorthodoxe Systeme mit ihrer unterschwelligen Verachtung konzentrieren, sondern auch das Darstellen von Potentialen ermöglichen. Diese Spannung zwischen dem ‘Gewordensein’ und dem ‘Werden’ kann im ästhetischen Kontext vereint werden. Das ist die Bedeutung, die hinter dem ‘Ästhetischen’ steht: das negative Anzeichen in einen positiven Schöpfungsvorgang umzuwandeln . Durch unsere kulturelle Tradition schließen sich Kunst und Wissenschaft aus. Das wurde in Deutschland durch die romantische Bewegung im späten 19. Jahrhundert, die auch die Rolle der Heilkünste als notwendiges Gegengewicht zum seelenlosen Fortschritt moderner technischer Medizin betonte, vorgedacht. Diese Ideen sind uns auch heute verfügbar. Wir müssen uns ständig vergegenwärtigen, daß wir die Nutznießer einer Forschung sind, die die Welt un-

serer Kultur widerspiegelt. Die Anwendung der Forschung ist Technologie und diese soll menschlichen Zielen dienen. Innerhalb dieser Kultur können wir aber auch zu anderen Betrachtungsweisen gelangen und sie weiter verbreiten. Zu Beginn des nächsten Jahrhunderts wird es immer noch die Probleme chronischer Krankheiten, des Todes und des Leidens geben. Das sind die menschlichen Bedingtheiten. Wir sollten unsere Studenten nicht allein mit Mitteln zur Krankheitsbekämpfung versehen, eine Handlung, die nur teilweisen Erfolg verspricht, sondern ihnen die Fähigkeit vermitteln, anderen zur kreativen Selbstverwirklichung zu verhelfen. Die Dokumentation des Fortschritts der von uns betreuten Menschen oder derjenigen, mit denen wir diese Reise aufnehmen, kann besser in Bildern, Musik und Geschichten Ausdruck finden. Eine Frau kam zu einem Kollegen in die Musiktherapie. Ihr Handgelenk war steif, und sie hatte ihre musikalische Stimme verloren. Ein halbes Jahr nach der Therapie schrieb sie über einen Traum. Sie stand inmitten des Alls, allein, aber nicht einsam. Sie sang. Schließlich fand sie ihre Stimme wieder. Wenn wir Kliniker eindeutige Aussagen wie diese nicht als gültigen Ausdruck eines bedeutenden Wandels annehmen, ist das der Armseligkeit unserer Kultur zuzuschreiben. Die elementarsten Belege menschlichen Geistes widerstreben dem Ausdruck, der sich aus der Stille heraus ausdrückt. Eines aber ist sicher, wir können anderen helfen, diese Belege zu artikulieren, niemals aber können wir sie messen oder quantifizieren.


Literatur Aldridge, D. (1993) Single case research designs. In G. Lewth und D. Aldridge (Hrsg.) Clinical research methodology for complementary therapies. London: Hodder and Stoughton.136-168. Aldridge, D. (1996) Music therapy research and practice in medicine. From out of the silence. London: Jessica Kingsley. de Mandriaques, A.P. (1985) Henri Cartier Bresson. Photoportraits. London: Thames and Hudson. Grohmann, W. (1987) Paul Klee. London: Thames and Hudson. Merleau-Ponty, M. (1962) The phenomenology of perception. London: Routledge and Kegan Paul. Shah, I. (1983) Learning how to learn. London: Octagon Press.

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