Leben als jazz

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LEBEN ALS JAZZ David Aldridge

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n diesem Kapitel wird ein Überblick über die Musiktherapie und ihre Leistungen bei der Rehabilitation gegeben.

Eine geläufige Metapher für Heilung in der modernen Kultur setzt den Körper mit einer Maschine gleich. Ist jemand krank, wird dieser Körper zur Reparatur gebracht, und nach entsprechender Behandlung ist der Defekt behoben. Ich setze diesem mechanistischen Bild entgegen, daß der Mensch gleich einem Musikstück komponiert ist.Wir sind in der Welt als biologische, psychologische und soziale Organismen, welche in einem ständigen Ereignisfluß improvisierend auf innere und äußere Anforderungen des täglichen Daseins treffen. Jeder von uns hat ein kompositorisches Thema - seine Identität - und diese stellt ein Repertoire an Möglichkeiten des Seins dar. Mit diesem Repertoire gehen wir in die Welt und passen es immer wieder improvisierend den augenblicklichen Erfordernissen des Lebens an. Unsere Aufgabe als Musiktherapeuten ist es nun, diese Anpassungsprozesse dadurch zu erleichtern, daß wir - im übertragenen und wörtlichen Sinne - dieses ‘Improvisations’-Repertoire erweitern, um so auf umwälzende Veränderungen zu reagieren, oder auch ein neues Repertoire zu entwickeln, wenn das Leben durch einen unglücklichen Umstand erheblich gestört wird.

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Leben als Jazz, als Improvisation, meint diesen immer wieder neu aus dem Augenblick heraus schöpfenden und gestaltenden Menschen, der auf die Themen des alltäglichen Lebens in spontaner Weise reagiert. Es bietet sich der Vergleich mit Jazz-Musikern an, sie hören auf Ihre Mitmusiker und können auf deren Einfälle improvisierend reagieren. Zudem tun sie es auf ihre ganz eigene, charakteristische Art und Weise. Bei Musikproduktion und Musikrezeption ist nicht nur von Bedeutung, daß für jemanden musiziert wird, sondern Musik erhält darüber hinaus dadurch eine zusätzliche Dimension, daß diese Person mit jemandem zusammen musiziert. Es kommt gerade auf diese aktive Teilnahme an, die auf einer weiteren vernachlässigten menschlichen Fähigkeit basiert: dem aktiven Zuhören. Dabei sind Zuhören und Teilnehmen eng miteinander verbunden.

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Das menschliche Dasein gleicht einer Symphonie. Es ist nicht wie ein Mechanismus, sondern wie ein Kammermusikstück organisiert, bei dem die Stimmen der einzelnen Instrumente zusammengefügt sind und miteinander harmonisieren. Es lassen sich zwar unterschiedliche, einzelne Stimmen heraushören, diese müssen aber als Ganzes organisiert werden, und eben in dieser Organisation des Ganzen begründet sich die Identität der Musik. Man weiß nicht, wo diese Koordination stattfindet, aber sie existiert als Organisation.Weitergehend läßt sich sagen, daß die Leistungen der Musiktherapie für die kognitive Entwicklung von Kindern, die Entwicklung der kindlichen Kommunikationsfähigkeit, die Erhaltung von Fähigkeiten bei Patienten mit Dementia, die Genesung post-komatöser Patienten sowie die Ermutigung Sterbender da liegen, wo es um die Ebene der Organisation und Koordination verschiedener Teile geht (Aldridge 1993a, 1993b). Wie aus den folgenden Beispielen ersichtlich wird, gehen wir von der Frage aus, über welche Fähigkeiten die Person verfügt und wie diese gefördert werden können, anstatt nach den Einschränkungen zu fragen und die Person dann entsprechend zu klassifizieren. Die Grundidee bei dieser Form der Musiktherapie liegt darin, die potentiellen Fähigkeiten des Patienten zu erkennen und zu fördern. Durch Impro-

visation läßt sich auch der kleinste musikalische Ansatz in ein Lied oder sogar eine Symphonie verwandeln. Ich plädiere daher auch für die Entwicklung einer Disziplin in der klinischen Forschung, die sich bemüht herauszufinden, mit welchen Medien wir klinisch beobachtbare Veränderungen dokumentieren und zum Ausdruck bringen können. Diese Mittel können sowohl ästhetischer als auch wissenschaftlicher Natur sein, wodurch die Parallelen der Kunst des Heilens zur Wissenschaft des Heilens deutlich werden würden. Wenn man anderen Menschen den Nutzen der Musiktherapie erklären will, ist es wichtig zu wissen was passiert, wenn Menschen zusammen musikalisch improvisieren. Durch die Beschäftigung mit der Wissenschaft und auch mit der Kunst lassen sich jeweilig bestimmte Erkenntnisse über die Welt gewinnen. Beim Studium des menschlichen Verhaltens, insbesondere der Bedeutung von Kranksein, Gesundung und dem Durchleben des Sterbensprozesses, sind beide Formen der Annäherung, ob künstlerisch oder wissenschaftlich, notwendig, um klinische Veränderungen einschätzen zu können. In unserer Kultur sind sowohl Musik als auch die Medizin als Wissenschaften anerkannt, unsere Aufgabe besteht nun darin, diese beiden Ansätze zusammenzubringen. Ich möchte auch zu bedenken geben, daß es sich bei der Wissenschaft, d.h. dem Schaffen von Wissen, um eine Tätigkeit handelt, so wie auch beim Musizieren, der Gesundung und dem Prozeß des Heilens. Dies wird jedoch nicht nur von denen geleistet, die wir Wissenschaftler nennen, auch die Künste stellen einen Weg zur Erkenntnis dar. In diesem Sinne sollte es nicht heißen „Ich denke, also bin ich“, sondern „Ich gestalte, also bin ich“. Eine grundlegende Tätigkeit sowohl in der Wissenschaft als auch in der Musik besteht darin, einer Idee durch eine Form Ausdruck zu verleihen. Einem Gefühl Ausdruck zu verleihen ist eine grundlegende Tätigkeit in unserem Leben. Ein Kind zu erziehen heißt, es ‘zu formen’ und ist grundlegend für die Fortpflanzung des Menschen. Das Formulieren eines Wortes stellt für einen Men-


schen, der unter Aphasie leidet, einen entscheidenden Schritt in die Welt der Konversation dar. Die Gestaltung einer Geste stellt einen wichtigen Schritt in die Welt des Bewußtseins dar.iDie Gestaltung eines Klangs und einer Geste wird zu Musik. Im Zusammenhang mit Kommunikation gibt es ein Paradoxon: Kommunikation existiert auch ohne Worte. Als Akademiker benötige ich Worte, um zu kommunizieren.Wir gebrauchen die Medien, um mit Worten zu kommunizieren. Wir bedienen uns der Worte, um zu sagen, wie gern wir jemanden haben.Wir bedienen uns ebenso der Worte, um zu lügen.Viele unserer Patienten jedoch kommunizieren ohne Worte. Der Gebrauch von Worten stellt für sie einen ständigen Kampf dar. Bei dem Versuch, den ‘Sprachlosen’ Sprache zu verleihen, sollten wir uns zuerst einmal vor Augen führen, daß die Grundlage für Kommunikation nicht die Worte selbst bilden.

Musik und Form

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s ist bekannt, daß sowohl bei der biologischen als auch der musikalischen Form wichtige Merkmale zu finden sind: Zeit, Phrasierung, Tonhöhe, Rhythmus und melodische Form (Aldridge 1989b). Ähnliches gilt für Studien zur Kommunikation. Die präverbalen Grundlagen der menschlichen Kommunikation werden Suprasegmente genannt; dies sind Zeit, Phrasierung, Rhythmus,Tonhöhe und Stimmfärbung (genauer gesagt,Timbre). Diese Merkmale werden von den Musiktherapeuten herangezogen, wenn es um die Bewertung von improvisierter Musik aus Therapiesitzungen geht, die auf Tonkassetten aufgenommen werden.

Ein weiterer Aspekt bei der Musiktherapie ist die wechselseitige Gestaltung eines Dialogs durch die Teilnehmenden. „Der Körper des Sprechenden tanzt im Takt zu seiner Rede. Auch der Körper des Zuhörenden tanzt im Rhythmus zu dem Sprechenden!“ (Condon und Ogston 1966, S. 338). Diese Situation finden wir auch in einem Gespräch. Im Gegensatz zur Mehrheit der Kommunikationstheoretiker, die sich mit dem Verstehen des Gesprächsinhaltes beschäftigen, bemühen wir uns um ein tiefergehendes, grundlegendes Verstehen, z.B. darum, wie ein Dialog aufgebaut ist. Der Inhalt ist zwar von Bedeutung, jedoch stellt der Aufbau einer dialogischen Struktur, durch die eine inhaltliche Bedeutung erst möglich wird, den ersten wichtigen Schritt zur Kommunikation dar; ‘Klang ohne Worte.’ Nach Fais (1994) bedeutet Konversation eine simultan stattfindende, gemeinschaftliche Leistung der Teilnehmenden, und nicht nur die Schaffung von Inhalt durch abwechselnde Einzelbeiträge. Es wird später noch näher darauf eingegangen, wie aufbauend musikalisches Improvisieren für Kinder ist. Das simultane, gemeinschaftliche Hervorbringen von Klängen oder musikalischen Äußerungen bildet eine wichtige Stufe bei der Entwicklung einer differenzierteren Kommunikation. Die wichtigste Feststellung ist also die, daß die Grundlagen der Kommunikation von musikalischen Komponenten gebildet werden. Der vorrangige Aspekt bei Kommunikation ist der Rhythmus, in welchem wir mit uns und mit anderen in Beziehung treten. Kommunikation versteht sich in diesem Sinne nicht nur als Informationsübermittlung, sondern als Aufbau und Gestaltung von Beziehungen (Penn 1983). Unter diesem Aspekt stellt sich Musik als wirkungsvolles und dabei subtiles Kommunikationsmittel dar, das isomorph dem Lebensprozeß ist (Aldridge 1989a, 1991;lPenn 1983). In den Arbeiten von Condon (1966, 1975, 1980) wird die Integration von Verbalverhalten und Gestik deutlich. Sprache und Bewegung weisen eine selbstsynchrone Organisationsform auf, die im wesentlichen rhythmisch ist. Rhythmus stellt die Mittel zur Verfügung, mit denen Verhalten organisiert wird.

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Condon (1980) schreibt weiter, daß alle menschlichen Wesen auch mit anderen kommunizieren. Er bezeichnet dies als ‘interaktionale’ Synchronisation. Wir sind aktiv an der Kommunikation beteiligt. Beim Zuhören bewegen wir uns synchron zu der Artikulationsstruktur des Sprechenden. Bewegt sich der Sprechende zu seiner Rede, so bewegt sich der Zuhörende entsprechend. In einem so geordneten Kommunikationsablauf lassen sich ‘Senden’ und ‘Empfangen’ nicht voneinander trennen. Dies unterstreicht die Vorstellung, daß Therapeut und Patient ‘in der Musik vereint’ sind, wie sie von einigen Musiktherapeuten vertreten wird. Dazu Condon (1980): „Was sie durchfließt entspricht jedoch einer ähnlichen Ordnung; das Gesendete und das Empfangene werden von Sprechendem und Zuhörendem verstanden und geteilt. Bei allen Aspekten dieses Prozesses finden sich die Verbreitung und Annahme einer Ordnung. In einer kontinuierlichen Abfolge gibt es kein ‘dazwischen’ “ (S. 56). Jeder synchronisiert die Rhythmen erst für sich, dann geht der Zuhörer auf die rhythmische Struktur des Sprechenden, Singenden bzw. Spielenden ein. Beobachtet man die Körperbewegungen des Zuhörenden und dielArt, wie dieser spielt, kann man eine gewisse Vorstellung davon entwickeln, wie sie mit ihrer Wahrnehmung involviert sind.

Kindliche Entwicklung und rhythmische Interaktion

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ie Entwicklung von Sprache und Sozialisation ist bei einem Säugling abhängig vom Erlernen des rhythmischen Musters der Synchronisierung (Kempton 1980). Ein Säugling verfügt von Geburt an über eine genetische Grundlage für die Entwicklung einer individuell abgestimmten Physiologie, d.h. einer Eigensynchronisation. Der Sozialisationsprozess und der Gebrauch der Sprache sind jedoch abhängig von einer Anpassung dieser Rhythmen an die anderer Menschen, d. h. von einer interaktionalen Synchronisation des ‘Chronos’. Diese interaktionale Synchronisation spiegelt jene neuralen Zeitabstimmungsmechanismen wieder, die eine Grundlage der Kommunikation darstellen. Interaktionale Kreisläufe von Aufmerksamkeit und Affekt werden mit den Gleichgewichtsmechanismen des Nervensystems abgestimmt (Linden 1987). Lester et al. (1985) untersuchten die Synchronisierung der Bewegungen Neugeborener mit den sprachlichen Lauten, wenn ein Erwachsener mit ihnen sprach. Nach ihrer Auffassung beruht die Fähigkeit des Kleinkindes, soziale Stimuli zu erkennen, auf seinem Vermögen zur Selbstregulation. Kreisläufe rhythmischer Interaktion zwischen Kleinkindern und Ihren Müttern spiegeln die zunehmende Fähigkeit des Kindes wieder, kognitive und affektive Erfahrungen innerhalb der von den Eltern vorgegebenen rhythmischen Struktur zu organisieren. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um ein einseitiges Phänomen. Säuglinge zeigen Äußerungen und Gesten, bei denen es sich nicht um eine Imitation mütterlicher Verhaltensweisen handelt (Murray und Trevarthen 1986;Trevarthen 1985). Sowohl das Baby als auch die Mutter lernen die rhythmische Struktur des anderen kennen und modifizieren ihre eigene Verhaltensweise, um sie dieser Struktur anzupassen. Erregung,iAffekt und Aufmerksamkeit werden im Rhythmus einer Beziehung gelernt. Eben diese Methode wird in der Musiktherapie eingesetzt. Der Therapeut lernt die rhythmische Struktur des Patienten kennen und begegnet ihm dann innerhalb dieser Struktur. Stern et al. (1975) untersuchten das nonverbale Verhalten von Müttern und Kindern. Sie stellten dabei zwei parallele Kommunikationsmodi fest.


Eine Art der Kommunikation bildet die Co-Aktion. Hierbei sprechen oder singen die Mutter und das Kind gemeinsam. Die Autoren sehen hierin ein frühes Verhaltensmuster, das von Struktur und Funktion her vergleichbar ist mit gegenseitigemlAnschauen,lAngleichung der Körperhaltung und Aufnahme des Rhythmus des anderen. Man findet die Co-Aktion bei Zuständen starker Erregung, die von Emotionen bestimmt sind. Bei Erwachsenen findet man diesen Kommunikationsmodus auf der zwischenmenschlichen Ebene in Erregungssituationen wie Wut,Traurigkeit, Freude oder in der Sexualität. Die andere Form der Kommunikation ist die alternierende. Dieser Kommunikationsmodus findet sich in einem Gespräch, wobei Sprecher und Zuhörer abwechselnd diese Rollen einnehmen. Es handelt sich um eine dialogische Struktur, die für den Austausch symbolischer Information von Bedeutung ist. Der alternierende Modus dient dem Erwerb von Sprache.Von einer Person werden Informationen gesandt, die von der anderen verarbeitet werden. Die Struktur unterscheidet sich von der Co-Aktion insofern, als hier nicht der Vorgang der Kommunikation an sich, sondern der kommunikative Gehalt im Vordergrund steht. Simultanes Sprechen oder Singen fördert gegenseitige Erfahrung und könnte für die Entwicklung von Bindungen und das Erleben eines Zugehörigkeitsgefühls von entscheidender Bedeutung sein. Diese beiden, strukturell unterschiedlichen Kommunikationsformen finden sich in der improvisierten Musik wieder.

Musiktherapie und Intensivpflege „...unabhängig vom Ausmaß der organischen Beeinträchtigung ... besteht gleichermaßen die Möglichkeit der Reintegration durch die Kunst, durch Gemeinschaft, durch Öffnen der menschlichen Seele, selbst in einem Fall, der vom neurologischen Standpunkt aus hoffnungslos erschien.“ (Sacks 1986)

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er Neurologe Oliver Sacks mahnt uns, die notwendige Balance bei der medizinischen Arbeit mit Patienten zu halten. Nur zu oft sind wir damit beschäftigt, den Patienten auf seine Defizite zu testen. Wir suchen nach Möglichkeiten, diese beheben, messen und einschätzen zu können.

Wir sollten daher die narrative und symbolische Organisation des Patienten betrachten, um so seine Möglichkeiten und Fähigkeiten zu erkennen. Durch diese Sichtweise erscheint dann das, was vorher beeinträchtigt, unorganisiert oder chaotisch zu sein schien, als komponiert und fließend. Genau dies ist die Leistung der schöpferischen Künste: durch Kunst und Spiel erkennen wir das Selbst des anderen, ohne daß wir auf Messungen oder Einschätzungen zurückgreifen müssen.lAußerdem wird bei künstlerischen Aktivitäten der Zeit eine besondere Qualität abgewonnen, die ‘intentional’ ist, die vom Wollen des Patienten abhängig ist und geistige und seelische Kraft freisetzt. Angesichts der schwierigen Situation eines Intensivpatienten, der beeinträchtigt, verwirrt, intubiert, an eine Maschine angeschlossen, dabei oft bewußtlos und nicht in der Lage ist zu kommunizieren, müssen Mittel und Wege gefunden werden, mit diesen Patienten Kontakt aufzunehmen. In diesem Abschnitt gehen wir davon aus, daß das Bewußtsein in der Zeit existiert, wobei die subjektive Gegenwart die verschiedenen Pulse des Körpers organisiert. Dabei ergeben sich bei komatösen Patienten Fragen nach der Lokalisierung des Selbst, nach der Art von Kommunikation und Fragen, die die Medizin herausfordern, den menschlichen Körper als einen ‘wissenden Körper’ anzuerkennen. Die aktive, schöpferische Musiktherapie basiert auf dem bereits genannten Prinzip, daß der Mensch nicht wie ein Mechanismus organisiert ist, sondern wie eine musikalische Form, d.h. er ist ein harmonisches Gebilde aus interaktiven Rhythmen und melodischen Formen. Um unsere Kohärenz als lebendige Wesen in der Welt aufrechtzuerhalten, müssen wir auf kreative Weise unsere Identität anpassen. Anstatt nach einer ‘Zentraluhr’, die unsere Chronobiologie regelt, zu suchen, sollten wir uns an dem nicht-mechanistischen Konzept der Vorstellung einer musikalischen Organisation orientieren. Musiktherapie ist ein Medium, durch welches eine kohärente Organisation wiedergewonnen wird, d. h. Gehirn, Körper und Geist werden miteinander verbunden. Sacks (1986) schreibt dazu: „die Stärke von Musik oder einer erzählenden Form liegt darin, eine Organisation zu schaffen“ (S. 177). Durch Musik oder eine Erzählform wird das Erkennen von Beziehungen zwischen verschiedenen Elementen organisiert, und zwar nicht intellektuell, sondern direkt und unmittelbar. Bei Patienten im Koma las-

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sen sich Anzeichen für Aktivitäten, oft maschinell unterstützt, erkennen, wobei diese jedoch vollkommen unorganisiert sind. Die Person existiert in einem, auch vegetativ genannten, Zustand, der kaum als ‘Leben’ bezeichnet werden kann.

einen solchen Kontext bietet. Durch einen grundlegenden Zeitkontext lassen sich die Bewegungsmuster koordinieren. Und eben diese Muster sind erste sichtbare Anzeichen dafür, daß ein Patient, mit dem gesungen wird, aus dem Koma erwacht.

Parncutt (1987) nennt die Klänge, die durch den mütterlichen Herzschlag und ihre Schritte vermittelt werden, als die wichtigsten zur Konditionierung der Wahrnehmung von Rhythmus. Durch die Wahrnehmung solcher Pulsschläge als Ereignisse wird die Grundlage gebildet, auf der eine rhythmische Struktur entsteht. Dabei, so Parncutt, handelt es sich nicht um eine strukturelle Eigenschaft des Gehirns, sondern um einen Ausdruck dafür, wie wir mit unserer Umgebung interagieren. Ein Puls wird durch zwei Faktoren bestimmt. Der eine ist die Periodendauer, d. h. das Zeitintervall zwischen zwei aufeinanderfolgenden Ereignissen. Der andere Faktor ist die Phase, d.h. die Zeit, die tatsächlich während eines Ereignisses vergeht, bezogen auf eine Referenzzeit.

Auf einer anderen Ebene dagegen finden sich die chronologisch festgelegten Pulse von Maschinen. Geht man davon aus, daß menschliche Aktivitäten auf Pulsen basieren, so zeichnen sich diese durch einen variablen Reaktivitätsbereich aus. Diese Pulse sind lebendig und werden im Zusammenspiel mit anderen Pulsen zu Rhythmen. Bei Maschinen ist dies nicht möglich, da sie nicht über eine Reaktivitätsbreite verfügen. So wird das, was bei menschlichen Aktivitäten variabel ist (das Tempo variierender Pulse), bei diesen Patienten zu einer Konstante. Die Aufgabe besteht nun darin, durch eine koordinierte Abwechslung Heilung zu erreichen; eine Aufgabe, die Maschinen bis jetzt noch nicht leisten können.Vielleicht liegt der Schlüssel zur Heilung darin, daß das Bewußtsein des Patienten durch das Bewußtsein des Therapeuten stimuliert wird, und dieses Bewußtsein läßt sich nicht von der lebendigen, rhythmischen Realität unserer Physiologie trennen.

Periodizität stellt einen wichtigen Schlüssel zum Verstehen von Patienten im Koma dar. Um einen musikalischen Puls als solchen wahrzunehmen, muß er innerhalb einer bestimmten Zeitspanne liegen. Die zeitliche Dauer, die vom Kurzzeitgedächtnis noch als psychologische Gegenwart erlebt wird, ist auf Sekunden beschränkt. Gerstner (1994) hat an Säugetieren gezeigt, daß die Zeitspanne etwa drei Sekunden beträgt, in der aufeinanderfolgende Ereignisse noch in eine ‘subjektive Gegenwart’ integriert werden können. Für das komplexe motorische Verhalten und Bewegungsmuster des Menschen ist eine koordinierende Tätigkeit auf der Basis von Pulsen erforderlich, da durch diese eine rhythmische Struktur aufgebaut wird. Um komplexe Bewegungsmuster aufbauen zu können, müssen komatöse Patienten erst wieder eine rhythmische Struktur aufbauen. Dies ist auch die Grundlage jeder musikalischen Aktivität, wobei es sich, wie bereits erwähnt, nicht nur um eine Hirnaktivität, sondern um eine Interaktion zwischen der Person und ihrer Umgebung handelt. Weiterhin müssen Pulsschläge, damit sie als rhythmische Abfolge wahrgenommen werden können, in ungleichmäßigen Abständen aufeinanderfolgen. Daher können ‘Maschinengeräusche’ auch keinen rhythmischen Kontext bilden, in dem sich Menschen als gegenwärtig erleben und ihre Bewegungen dadurch koordinieren. Indem man mit dem Patienten singt oder musiziert, erhält man eine Zeitstruktur, die

Wenn man Körpersysteme sowohl als proaktiv als auch als reaktiv versteht, ist für absichtsvolles Verhalten und Bewußtsein vielleicht der Kontext menschlicher Kommunikation erforderlich. Nehmen wir an, daß die verschiedenen Körperrhythmen durch einen komatösen Zustand oder nach einem größeren chirurgischen Eingriff gestört sind. Dabei stellt sich wieder die Frage, wie sich diese Verhaltensweisen integrieren lassen, und wo diese Integration stattfindet. Integration erscheint so als ein Merkmal der gesamten Organisation im Verhältnis zur Umwelt und nicht stofflich an eine Zelle oder ein Organ gebunden. Innerhalb der Umgebung des Patienten bildet der menschliche Kontakt eine wesentliche Komponente, und es besteht Grund zu der Annahme, daß auch dieser Kontakt auf Rhythmus basiert. Die Frage, die sich uns als Ärzten und Wissenschaftlern bei der Behandlung von Patienten im Koma oder einem andauernden vegetativen Zustand immer wieder stellt, lautet: „Wo befindet sich die Person und wie kann ich mit ihr Kontakt aufnehmen?“ Daraus ergibt sich für uns als (Mit)Menschen die Frage: „Wo bin ich?“


Welcher Teil des Therapeuten tritt mit dem bewußtlosen Patienten in Kontakt? Wenn es möglich ist, daß wir durch unsere musikalische Ausdrucksform, z. B. durch Singen, dem Patienten näherkommen, können wir dann nicht auch darauf achten, wie wir mit dem Patienten in seinem Atmungsmuster sprechen und wie wir ihm dann bei der Pflege mit der eigentlichen Form unserer Körper entgegentreten? Die Möglichkeit, mit bewußtlosen Patienten zu kommunizieren, wirft auch die ethische Frage nach der Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen auf, wenn das Gehirn und die Person nicht länger als ein und dasselbe betrachtet werden (Mindell 1989). Wenn Patienten keine Reaktionen zeigen, so kann das daran liegen, daß wir Ihnen nicht die menschlichen Bedingungen bieten, unter denen bzw. mit denen sie reagieren können.Wir als Therapeuten stellen die Rahmenbedingungen dar, die eine Heilung ermöglichen.

Diskussion

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ie grundlegenden Elemente menschlicher Kommunikation sind musikalischer Natur. Physiologische, psychologische und soziale Aktivitäten finden in einem zeitlichen Kontext statt, der dynamisch und von musikalischer Struktur ist. Menschliche Aktivitäten sind grundlegend als Hierarchie rhythmischer Anpassungsprozesse organisiert, und zwar innerhalb des Individuums als Selbstsynchronisation und in Beziehungen als interaktionale Synchronisation. Wie wir bereits im Zusammenhang mit komatösen Patienten gesehen haben, ist es die Koordination von Pulsen zu einer musikalischen Gestalt, die der Heilung zugrunde liegt, und die vielleicht sogar die Grundlage zu höherer Erkenntnis bildet. Während bei einem physikalisch-medizinischen Ansatz nach einem materiellen Zeitgeber oder einem Ort, an dem eine solche Koordination stattfindet, geforscht wird, sollten wir vielleicht einer musikalischen Metapher den Vorzug geben, die auf Prozeßstabilität ausgerichtet ist. Eine solche Prozeßstabilität ist nicht-materiell; sie geschieht.Wir können das Ergebnis von Organisation sehen, aber der Ort, wo sie stattfindet, läßt sich nicht lokalisieren. Es bedarf eines derartigen Verständnisses von Phänomenen wie Prozessen und Organisation, als in die Zeit eingebundene Strukturen, will man die Heilkräfte der Musik verstehen.

Bei einem Zusammenbruch der Synchronisation des Verhaltens, tritt das Pathologische hervor. Die Einschränkung bezüglich musikalischer Aspekte der Kommunikation, also Tonhöhe, Betonung, Artikulation, Timbre und Flüssigkeit, scheint auf einen psychopathologischen Zustand zu deuten.Verbessern sich diese Qualitäten, scheint dies auf eine Gesundung, aber auch auf den Fortbestand einer kohärenten Identität zu deuten. Man kann annehmen, daß eine Therapie mit improvisierter Musik (Nordoff/Robbins 1977) ein wirksames Mittel darstellt, um Kommunikation im Sinne einer personellen und interpersonellen Integration zu fördern. Es könnten alternative, kreative Dialoge innerhalb der einzelnen Person gefördert werden, damit sie nicht von sich selbst oder von anderen Personen entfremdet werden. Zudem sollten Kliniker unabhängig davon, aus welchem Fachbereich sie kommen, dazu angeregt werden, den musikalischen Komponenten der Kommunikation Beachtung zu schenken. Auf diesem Wege könnten die Künste wie auch die Wissenschaft die medizinische Praxis bereichern. Eine kreativ gestaltende Musiktherapie bietet die Möglichkeit, auf dynamische Weise das Individuum als ganzheitliches Selbst, auch in Beziehung zu einer anderen Person, zu hören.Wir können hören, wie die Person in ihrem Dasein zutage tritt, indem er oder sie eine Beziehung in der Zeit aufbaut. Durch die Musiktherapie erhalten die beteiligten Personen außerdem die Möglichkeit, sich konkret als Selbst in der Zeit zu erfahren; sie hören, im wahrsten Sinne des Wortes, ihr Selbst im Sein. Wenn das Überleben des Menschen bestimmt wird von dem Repertoire an flexiblen Reaktionen, um innere Bedürfnisse und äußere Anforderungen zu bewältigen, dann wird vielleicht beim musikalischen Improvisieren auf akustischem Weg die Kreativität vermittelt, mit der eine Person diese Anforderungen bewältigt.Vielleicht kann man Krankheit als einen Zustand beschreiben, bei dem die Person in ihren Möglichkeiten eingeschränkt ist, kreativ zu improvisieren (d.h. neue Lösungen für ein Problem zu entwickeln) oder nur ein begrenztes Repertoire an Bewältigungsformen besteht. Durch die Förderung der Entwicklung von kreativen Reaktionsformen ließen sich dann die Möglichkeiten für eine Genesung schaffen. Sie basieren auf den kreativen Fähigkeiten der gesamten Person und fördern ihre Autonomie. Die Katalysierung der Selbstheilungskräfte ist ein zentraler Punkt in der medizinischen Heilkunst, die im ‘Konzert’ mit der medizinischen Wissenschaft gelingen kann.

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„Der Körper des Sprechenden tanzt im Takt zu seiner Rede. Auch der Körper des Zuhörenden tanzt im Rhythmus zu dem Sprechenden!“

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