KOMMUNIKATION, HERZTÄTIGKEIT UND MUSIKALISCHER DIALOG

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KOMMUNIKATION, HERZTÄTIGKEIT UND MUSIKALISCHER DIALOG David Aldridge & Lutz Neugebauer

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ieser Artikel befaßt sich mit einer physiologischen Untersuchung während einer musikalischen Improvisations-Situation, die der Musiktherapie nachgestellt ist. Im Mittelpunkt des Interesses steht dabei das physiologische Geschehen bei zwei Menschen, während sie miteinander musizieren.Aktive Musiktherapie ist ein dialogischer Prozeß, bei dem sowohl Therapeut als auch Patient Teil eines musikalischen Prozesses sind. In der Auswertung musiktherapeutischer Situationen wird die Bedeutung dieses musikalischen Prozesses häufig in den Vordergrund gestellt..Es bleibt aber auch die Frage bestehen, welche physiologischen Auswirkungen dieser musikalische Dialog auf den Körper des Patienten hat. In der vorliegenden Untersuchung gehen wir einen Schritt weiter, indem wir die Frage stellen, welche Auswirkungen (während der musikalischen Vorgänge) auf beide Partner des Dialoges zu beobachten sind, während Sie gemeinsam improvisieren. Eine solche Untersuchungsperspektive ist keineswegs so naheliegend wie es scheint. Unsere Erwartung ist, daß eine therapeutische Beziehung sowohl den Patienten als auch den Therapeuten beeinflußt.lAm Ende unserer Ausführungen werden wir auch auf die mögliche Bedeutung unserer Ergebnisse für andere Arbeitsfelder eingehen. Um darstellen zu können, weshalb Musiktherapie sinnvoll und hilfreich ist, ist es entscheidend zu wissen, was sich während einer musikalischen Improvisation ereignet. Unsere Intention ist deshalb, eine Möglichkeit aufzuzeigen, körperliche Veränderungen beim Patienten während der Musiktherapie darzustellen. Hieraus könnte man ableiten, nicht nur jene Auswirkungen anzuerkennen, die Musiktherapie auf

das seelisch/geistige Befinden hat, sondern auch solche, die bei einem Patienten auf der körperlichen Ebene auftreten.lAber selbst wenn gezeigt werden kann, daß Musik direkte Auswirkungen auf den Körper hat, ist es die gesamtkörperliche Organisation, der nicht-materielle Aspekt, der entscheidend für die Kommunikation ist, sowohl innerhalb einer Person als auch zwischen mehreren Personen (Aldridge 1996). Wie dem auch sei, unsere Sichtweise fußt auf der Überzeugung, daß Musik in der Lage ist, physiologische Veränderungen im Körper hervorzurufen. Ein Verständnis, das in unserer Kultur schon seit der Antike besteht (Aldridge 1993). 1

Herztätigkeit und Kommunikation

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m die Veränderungen, die in der Musiktherapie auftreten, zeigen zu können, suchten wir nach einem einfachen physiologischen Indikator. Aus einer vorausgegangenen Literaturrecherche und Durchsicht zum Thema Kommunikation boten sich angemessene Parameter aus Studien zur Veränderung der Kreislauf- und Herztätigkeit an. Die wesentlichen Untersuchungen bei diesen Arbeiten waren solche, die sich mit der Veränderung des Blutdrucks und der Pulsfrequenz befaßten. Für die vorliegende Untersuchung entschieden wir uns für die Pulsfrequenz, da sie als Parameter relativ leicht zu beobachten und zu erfassen ist. Wie die Musik entwickelt diese sich im zeitlichen Verlauf und läßt sich als solcher darstellen.Was aber vielleicht noch wichtiger für diese Entscheidung ist: sie ist ein Parameter, der für die medizinische Wissenschaft akzeptabel ist, mit der wir als therapeutische Disziplin in einen Dialog treten wollen.


Die wesentlichen präverbalen Grundlagen menschlicher Kommunikation - Suprasegmentale genannt - sind:lZeit, Phrasierung, Rhythmus,Tonhöhe und der Klang der Stimme. Eben diese genannten Qualitäten werden auch von Musiktherapeuten betrachtet, wenn sie die Auswertung von Improvisationen in der Musiktherapie anhand der Tonbanddokumentationen vornehmen.

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Auf diese genannten Faktoren der Kommunikation wurden wir zunächst aufmerksam, als wir uns mit der Literatur zu koronaren Herzerkrankungen und der sogenannten Typ A-Persönlichkeit befaßt haben (Aldridge 1989; Dielmann et al. 1987; Dimsdale und Stern 1988; Friedmann et al. 1982; Linden 1987; Lynch et al. 1981; Smith und Rhodewalt 1986). Menschen, die an Herzkrankheiten litten, wurden in Terminologien beschrieben, die sich auf eine musikalische, ebenso wie auf eine physiologische Sichtweise beziehen ließ. Laute, schnelle Sprache mit einer begrenzten Bandbreite an Klangmodulation sowie Sprachmuster, welche die Erwiderungen des Gesprächspartners unterbrachen, schienen etwas wiederzugeben, was Musiktherapeuten in ihren Beschreibungen von musikalisch schöpferischen Improvisationen ebenfalls hörten und ausführten. In der Musiktherapie stehen wir in einer Situation, die durch die gleichzeitige Entstehung eines Dialoges zwischen zwei Partnern gekennzeichnet ist. Diese Situation trifft auch auf ein Gespräch zu.Während der überwiegende Teil der Kommunikationstheorien im wesentlichen fokussiert, wie wir die Bedeutung des Gesagten in einem Gespräch herleiten und verstehen können, steht für unse-

re Betrachtungen die Frage im Mittelpunkt, wie ein Dialog gestaltet wird, damit er Verständnis ermöglicht. Zugegebenermaßen ist die Bedeutung wichtig. Das Entstehen einer Dialogstruktur, die es ja erst ermöglicht, eine Bedeutung zu vermitteln, ist aber der erste wichtige Schritt jeder Kommunikation. Fais (1994) schreibt dazu, Kommunikation sei eine simultane Koproduktion der beteiligten Personen, nicht nur eine Konstruktion von Bedeutungen durch alternierende Beiträge.

Zeit

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in zentrales, aber umstrittenes Feld in der Forschung zu koronaren Herzerkrankungen ist das der zuvor bereits erwähnten Typ A-Persönlichkeitsstrukturen. Diese lassen sich dadurch charakteristisch beschreiben, wie die jeweilige Person auf Umfeldanforderungen reagiert bzw. diese hervorruft. Helmann (1987) bezieht sich in seiner Begründung koronarer Herzerkrankungen auf kulturelle Zusammenhänge, in die auch die „einzigartigen und symbolischen Charakteristiken eines westlichen Zeitverständnisses“ (S. 969) eingewoben sind. Diese Sichtweise ver-

steht uns als „die Verkörperung (im wörtlichen und übertragenen Sinne) der Wertvorstellungen der Gesellschaft“ (S. 971). Jeder einzelne stehe in einem Konflikt von Selbstanforderung und gesellschaftlichen Anforderungen, einem Widerspruch, der für manche Menschen sogar pathogen wirken kann. Im Mittelpunkt dieser kulturellen Gesamtkonstruktion (Helmann 1985) steht die Auffassung von Zeit. Der westliche Zeitbegriff ist im wesentlichen linear und monochron geprägt. Eine Zeitauffassung, die jeden einzelnen in eine von außen gegebene Ordnung einbindet und ihm eine äußere Struktur aufprägt. Dieses chronologische Zeitverständnis hat sich aus den Notwendigkeiten einer modernen Industriegesellschaft entwickelt, in der eine allgemeingültige öffentliche Ordnung existiert, aus der heraus Produktionsmittel ebenso koordiniert werden können, wie die Handlungen vieler Einzelpersonen. In diesem Zeitverständnis müssen Termine eingehalten werden, die Entwicklung verläuft linear und ihre Messung ist quantitativ. Ein solches Zeitverständnis wird als ‘Chronos’ bezeichnet. Es existieren aber durchaus andere Konzepte von Zeit. Solche, die eher als persönlich, denn als öffentlich bezeichnet werden könnten: Zeit als ‘Kairos’. Dieses Zeitkonzept ist polychron und näher am wachsenden biologischen Verständnis der physiologischen Zeiten orientiert, welche sich rhythmisch koordinieren und einfügen (Johnson und Woodland-Hastings 1986), ein Konzept, das sich nicht an einer äußeren Uhr,lsondern an der einzelnen Person als Gesamtorganismus ausrichtet. Zeit ist in dieser Konzeption in einem Zustand ständigen Fließens;


sie richtet sich nach der Flexibilität und Konvergenz multipler Aufgaben. Diese Konzepte sehen Zeit als etwas, das aus dem ‘Selbst’ heraus entsteht. Sie verstehen den kairologischen Moment als einen Augenblick der Entscheidung und des Auswählens. Hierin liegt der Bezug zu unseren Ideen zur Improvisation innerhalb der Musiktherapie - gemeinsam zu improvisieren bedeutet für die beteiligten Personen immer, sich innerhalb der Therapiesituation musikalisch zu entscheiden und diese Entscheidungen auch umzusetzen. Diese Sichtweise entspricht einer Konzeption, die man auch hinsichtlich von Krisensituationen haben kann. Krisen als Zeiten, in denen man sich entscheiden muß. Ein solches Zeitkonzept, eines der richtigen Entscheidung zur richtigen Zeit, das den Entscheidungsprozeß beinhaltet, paßt besser zur Musiktherapie als dasjenige, das eine mechanische von außen vorgegebene Zeit widerspiegelt. Abgesehen von diesen Anmerkungen begegnet uns Zeit in verschiedenen qualitativen Zuständen, je nachdem, ob wir beten, meditieren, lieben oder tanzen. Den meisten Menschen ist der Gegensatz einer Stunde, die man mit einem geliebten Menschen verbringt und die nur Minuten zu dauern scheint und einer Stunde, z.B. in einem Verwaltungstreffen, das sich wie Tage dahinzieht, aus eigener Erfahrung bekannt. Einige Autoren (Dossey 1982 und Helman 1987) vermuten eine physiologische Beteiligung, wenn man versucht, die äußerlich vorgegebene mit der inneren Zeit in Einklang zu bringen. „Es ist ein einzigartiger Versuch der westlichen Gesellschaft, eine Verbindung von Uhrzeit und der individuellen Phy-

siologie zu erzwingen - zwischen den Abläufen der Bewegung, Sprache, Gestik., Herzschlag und Atmung - und kleinen Maschinen, die wir uns ans Handgelenk binden oder an Wänden aufhängen. Rush-hour,lAbgabefristen, Terminkalender,Verabredungen und Stundenpläne, all dies wirkt sich auf die Physiologie des modernen Menschen aus und es gibt ihm Hilfen für seine Weltanschauung und sein Selbstverständnis“ (Helman 1987, S. 974). Es können Spannungen zwischen der eigenen und der öffentlichen Zeit auftreten, als Resultat können Streß und Angst entstehen. In der Musik ist es möglich, diese verschiedenen Aspekte der Zeit zu erfahren, wenn sie in ihrer Verschiedenartigkeit nahtlos ineinandergreifen. Die Spannung zwischen persönlicher und öffentlicher Zeit treten uns in der Musik vielleicht sogar hörbar entgegen; einmal abgesehen davon, daß Musik die Möglichkeit bietet, diesen Unterschied zu erleben und daraus die oben genannte konzeptionelle Dimension zugänglich zu machen, kann in der Musiktherapie auch die Erfahrung einer zeitlosen und qualitativen Realität ermöglicht werden.

Kommunikation und kardiovasculäre Veränderungen

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ynch (Friedmann et al. 1982; Lynch 1977 et al. 1981) hat sorgfältig die Beziehung zwischen menschlicher Kommunikation - im wesentlichen des Sprechens - und Veränderungen des Blutdrucks und der Pulsfrequenz untersucht. Lautes Lesen oder das Sprechen zu einer anderen Person ruft rasche und signifikante Anstiege der Pulsfrequenz hervor. Ausgehend von diesen Untersuchungsergebnissen stellt er die Hypothese auf, daß bestimmte Personen mit Bluthochdruck Kommunikationsschwierigkeiten erleben und daß ein erhöhter Blutdruck als manifestes Symptom solcher Probleme verstanden werden kann. Derar tige Kommunikationsprobleme wurden dann von ihm in bezug zu Persönlichkeitsstrukturen gesetzt, den sogenannten Typ A-Persönlichkeiten, die koronaren Herzkrankheiten zugeordnet werden. Als Typ APersönlichkeit eingestufte Patienten - so wurde beobachtet - sprächen laut, schnell, hätten die Tendenz, zu unterbrechen und nutzten unterstützende Gesten. Friedmann und andere (1982) stellen heraus, daß das Tempo und die Lautstärke wesentliche Charakteristika für Kommunikation seien. Auch wenn Tempo und Lautstärke mit den kardiovasculären Veränderungen korrelierten, wäre diese Korrelation nicht abhängig von dem affektiven Gehalt der Kommunikation und - so läßt sich folgern - deshalb unabhängig von kognitiven Prozessen. Dieses Ergebnis ist bedeutsam für die Musiktherapeuten, die nach den von Nordoff und Rob-

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bins (1977) entwickelten Grundlagen arbeiten und die behaupten, daß es auch körperliche Veränderungen während der Musiktherapie gibt. Sie vertreten den Standpunkt, daß Veränderungen in der Musiktherapie nicht notwendigerweise ausschließlich mit psychotherapeutischen Konzepten zu erklären seien.

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Aufgrund der erwähnten Untersuchungen gab man Patienten mit Bluthochdruck die Empfehlung, ihre Sprachgewohnheiten und ihre Lautstärke durch gezielte Atemtechniken und eine Kontrolle des Kommunikationsstils zu ändern. Wenn - wie ausgeführt - kardiovasculäre Auswirkungen aber Prozesse außerhalb des bewußten Einflusses sind, werden kognitive Ansätze vermutlich nur teilweise erfolgreich sein. Musiktherapie, mit den der Musik innewohnenden Faktoren Tempo und Lautstärke, könnte sich in der direkten musikalischen Ausübung als geeigneter erweisen, diesen Kommunikationsstil zu beeinflussen, als sogenannte verbale Therapien. Weitere Methoden für die Erfassung der Typ A-Persönlichkeit und deren physiologischer Reaktionen wurden aus der Auswertung strukturierter Interviews hergeleitet (Dimsdale und Stern 1988). Unglücklicherweise ist hierbei ein eher negatives Persönlichkeitsprofil, das diese Menschen als wettbewerbsorientiert, ehrgeizig, durchsetzungsfähig, ungeduldig und häufig als feindselig beschrieb, abgeleitet worden. Auch in diesen Beschreibungen finden wir Klassifikationskategorien, die sich auf den Sprachstil beziehen. Diese Spracheigenheiten lassen sich eher objektivieren und wirken weniger wie persönliche Wertungen. Für unser Anliegen

lassen sie sich in die musikalischen Begriffe Tempo, Phrasierung und Dynamik übersetzen. Einige Wissenschaftler (Dielmann et al. 1987; Linden 1987; Siegmann et al. 1987) beschrieben folgende Charakteristika für ein allgemeines Typ A-Persönlichkeitsverhalten: Lautstärke der Stimme Sprachtempo Temposteigerung am Ende von Aussagen Länge der Pausen mit Stille Länge der Erwiderung auf etwas Gesagtes Unterbrechendes und nichtunterbrechendes gleichzeitiges Sprechen Latenzzeit bis zur Erwiderung Stimmklang Stimmqualität

Sie untersuchten auch die Muster für die Interaktion, die sie dann als Feindlichkeit und verbalen Ehrgeiz beschrieben. Dieser sprachliche Ehrgeiz zeigt sich als „Tendenz, den Gesprächsverlauf zu bestimmen, die Leitung vom Interviewer zu übernehmen, indem der Proband unterbricht, unnötige Zwischenfragen stellt, indem er selber lauter spricht, um die Einwürfe des Interviewers zu übertönen“ (Dielmann et al. 1987). Diese stilistischen Qualitäten und Interaktionsmuster lassen sich auch in musikalischen Improvisationen finden, ohne daß sie

notwendigerweise eine negative soziale Wertung erfahren. Auch muß man sich vergegenwärtigen, daß in einem sprachlichen Interview der Inhalt einiger Fragen tatsächlich konfrontativ oder herausfordernd sein kann. Sprechtempo und Lautstärke kann man genau erfassen; Feindseligkeit, Ungeduld und Ehrgeiz sind hingegen subjektive Einschätzungen, deren Beurteilung immer eine geringe Interrater-Reliabilität aufweisen wird. Aus den beschriebenen Forschungsansätzen scheinen sich zwei generelle Kategorien von Wahrnehmungstypologien herauszubilden: - Zunächst die der feldunabhängigen Persönlichkeit, die scheinbar eigene körperliche Signale eher wahrnimmt als andere Personen und die in der Lage ist, genaue Urteile über die Umwelt aus ihrer Wahrnehmung herzuleiten; selbst dann, wenn die Wahrnehmungsinhalte Ablenkungen beinhalten. Für diese Personen gibt es eine hohe Übereinstimmung zwischen dem, was sie sagen, was sie fühlen und ihren körperlichen Reaktionen. - Die zweite Gruppe ist die der feldabhängigen Personen, die eher dazu tendieren, ihre Urteilsbildungen auf die ablenkenden Informationen zu gründen. Diese Gruppe zieht auch in hohem Maße die von außen an sie herantretenden Informationen heran, um sich über ihre eigene Situation ein Urteil bilden zu können. Die Bedeutung dieser Ergebnisse für die Musiktherapie besteht darin, daß man die Charakteristik dieser Feldabhängigkeit bzw. Feldunabhängigkeit in dem musikalischen Ausdruck der Patienten hören wird. Einige


Patienten werden beispielsweise über ein ausgedehntes Repertoire verschiedener Spielweisen verfügen, werden in der Lage sein, melodisch oder rhythmisch zu gestalten, während sie sich selbst, dem Therapeuten und der Musik in ihrem Gesamtzusammenhang zuhören. Andere verfügen vielleicht nur über ein begrenztes Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten und werden im Bezug zur Musik nur einzelne Parameter (z. B. die Lautstärke oder das Tempo) verändern können. Unsere Hypothese ist, daß man das Repertoire der Bewältigungsstrategien im musikalischen Ausdruck hören kann - und das dieses hörbare Phänomen qualitativ differenzierte physiologische Response abbildet und widerspiegelt. Diese Beziehung wollen wir mit unseren physiologischen Untersuchungen aufzeigen. Uns ist dabei wichtig, darauf hinzuweisen, daß man die beobachtbaren Strukturen sowohl physiologisch als auch musikalisch betrachten kann. Wir beabsichtigen weder, zu belegen, daß man seelische Zustände auf diese Weise abbilden und beschreiben kann, noch Wege dafür aufzuzeigen. Sandman interessierte sich besonders für ein paradoxes Phänomen in der Gruppe der feldunabhängigen Menschen: als Antwort auf Streßsituationen reagieren diese mit einem deutlichen Abfallen der Herzfrequenz. Er konnte nachweisen, daß eine erlernte Frequenzabsenkung eine Verbesserung der Aufmerksamkeit und der Wahrnehmung für die Umwelt zur Folge hatte. Daraus folgerte er, daß die Wahrnehmung durch die Möglichkeit, die Herzfrequenz aktiv zu beeinflussen, verändert werden kann.

Dieses Wachsein für die Umgebung wird zum Teil durch das Zusammenspiel von Herz und Hirnfunktion reguliert. War die Herzfrequenz niedrig, nahmen Versuchspersonen Reize signifikant besser wahr, als wenn sie hoch war. Diese Ansicht wurde durch Hinweise darauf unterstützt, daß eine vermehrte Hirndurchblutung stattfindet, wenn die Herzfrequenz absinkt. Es schien eine „glückliche oder absichtsvolle Synchronisation zwischen physiologischen Systemen“ (Sandman 1984 b, S. 118) vorzuliegen und darüber hinaus erschien es so, daß die Hemisphären des Gehirns durch das kardiovasculäre System ‘eingestimmt’ werden (Sandman 1984 a;lWalker und Sandman 1979, 1982).

Diese Ergebnisse stellten das herkömmliche Verständnis in Frage, daß intellektuelle Fähigkeiten ausschließlich dem Gehirn zuzuordnen seien und lösten weitere Untersuchungen zur Verbindung von Psyche und Körper und den Einflüssen des kardiovasculären Systems auf das Gehirn und das Ver-

halten aus. So bestehe bei manchen Patienten „eine unerschütterliche Beziehung zwischen dem Gehirn und dem kardiovasculären System, die als biologischer Marker für psychische Zustände herangezogen werden könnte“ (Safranek, Koshland und Raymond 1982). Eben diese Forscher stellten die Hypothese auf, daß die Herztätigkeit einen direkten Einfluß auf das Bewußtsein und das Wachsein hat. Diese Auswirkungen der Herztätigkeit sind dynamisch und bewegen sich zwischen Aktivierung und Abdämpfung der rechten und der linken Hemisphäre des Gehirns. Steige die Pulsfrequenz an, so sei dies ein Hinweis auf kognitive Verarbeitung und die Unterdrückung von Umweltreizen. Sinke sie ab, so zeige diese Veränderung ein Umschalten hin zur umweltorientierten Aufmerksamkeit. Das kardiovasculäre System bildet also die Intention eines Menschen ab, Informationen aufzunehmen. Wenn diese Annahme richtig ist, so erweist sich Musiktherapie als ein sensibles Wahrnehmungsinstrument für den physiologischen Status einer Person als Gesamtheit. Dieses Instrument wird nicht durch die Notwendigkeit technischer Meßeinrichtungen fragmentiert, die zwischen Beobachter und Beobachteten stehen und die Möglichkeit der Reaktion auf ein mechanisches Spektrum einengt. Wir gehen davon aus, daß es hörbar ist, wie sich Veränderungen in musikalischen Improvisationen in der Herzfrequenz von Patienten widerspiegeln. Ob ein Patient nur sich selbst gegenüber aufmerksam ist und die Bezüge zu anderen in seiner Improvisation nicht wahrnimmt, kann sich in dessen schneller Herztätigkeit oder der Beschleunigung der Herzfrequenz zeigen.

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Wenn, wie in den zuvor genannten Arbeiten ausgeführt, die intellektuellen Fähigkeiten nicht ausschließlich im Gehirn initiiert und ausgeführt werden, sondern ein gesamtkörperlicher Vorgang sind, dann ist das aktive Musizieren von Patienten in der Musiktherapie von eminenter Bedeutung. Der Patient ist ganzkörperlich (wahrnehmend, verarbeitend und handelnd) in diese Therapie einbezogen, er sitzt nicht lediglich ruhig vor einem Fragebogen oder verharrt während eines Untersuchungsvorgangs weitgehend unbeweglich. Er oder sie soll spielen. Die Gestaltung der Musik in der Improvisation bezieht also Soma und Psyche ein. Musik z. B. rhythmisch zu gestalten, ist eine Aktivität der gesamten Person und Persönlichkeit. Mit jemandem zeitweise diese musikalische Gestaltung zusammen auszuführen, ist eine Erweiterung, welche diese Aktivität um den vitalen und lebenswichtigen Aspekt der Beziehung bereichert. Wie schon früher angemerkt, sind Sprachvariablen signifikant mit koronaren Problemen bei Typ A-Persönlichkeiten verknüpft. Diese Variablen müssen aber nicht in einer provokanten oder herausfordernden Art und Weise aufgedeckt werden (Siegmann et al. 1987). Kurze Respons- und Latenzzeiten bzw. ein beschleunigtes Sprachtempo können auch schlicht der Ausdruck von Angst und Unsicherheit sein. Musiktherapie bietet einen Kontext der Kommunikation. Sie ist nicht provokativ in einem negativen Sinne und birgt die Möglichkeit, alle der Sprache innewohnenden Elemente ohne die affektiven Komponenten des Gesprächsinhaltes zu beobachten. Diese Elemente werden selbst dann hörbar, wenn man musikalische Äußerungen abseits

vokaler Aktivitäten untersucht. So ist ja auch sprachliche Kommunikation nicht ausschließlich auf die sprachlichen Elemente reduziert; sie bezieht vielmehr auch gestische und mimische Elemente ein, welche die Sprache begleiten. Condon (1975) nennt diese koordinierten sprachlich-gestischen Äußerungen die Quanten des Verhaltens oder auch ‘linguistic-kinesics’. Musiktherapie, in dem hier verstandenen aktiven und schöpferischen Sinne, hängt auch von der Beziehung zwischen Patient und Therapeut - einer intentionalen Synchronität - ab. Vielleicht ist gerade dies ein entscheidender Aspekt der Kommunikation, den viele Untersuchungen vernachlässigen: es geht nicht nur um die Fähigkeit, sich klanglich mitzuteilen, sondern in gleichem Maße um die Fähigkeit, Klängen zuzuhören und angemessen darauf reagieren zu können. Smith und Rhodewalt (1986) untersuchen in ihren Arbeiten genau diesen zirkulären Prozeß von Hören und (Re-)Agieren. Sie schlagen eine interaktionelle Sichtweise vor,lin der Typ A-Persönlichkeiten nicht nur auf bestimmte Weisen reagieren, sondern auch Situationen schaffen, die es ihnen erlauben, ihre charakteristische Art einzubringen.

Gemeinsam Spielen

F

ür unsere Untersuchung wollten wir einen Zustand schaffen, die der klinischen Situation einer musiktherapeutischen Behandlung so weitgehend wie möglich entspricht. Unsere eigenen wesentlichen Anforderungen bestanden darin, daß unsere Untersuchungen nicht in unzulässiger Weise die Partner der Improvisation beeinflussen oder gar physisch in ihrer Spielmöglichkeit einschränken sollten.iAußerdem sollte eine musikalische Auswertung der Improvisation möglich bleiben.Wir haben uns für die Aufzeichnung der Herzfrequenz entschlossen, weil dies ein Parameter ist, der einerseits einen unmittelbaren Bezug zum zeitlichen Element der Musik hat, andererseits innerhalb vieler verschiedener klinischer Disziplinen anerkannt ist und eine diagnostische oder anamnestische Bedeutung hat.lAußerdem ist die Herzfrequenz - wie zuvor deutlich wurde - schon vielfach als Faktor für Kommunikationsuntersuchungen herangezogen worden. Innerhalb der beschriebenen Studie improvisierte ein Musiktherapeut mit 11 gesunden Versuchspersonen als Serie von Einzelfalluntersuchungen (Aldridge 1996). Jede Sitzung war hinsichtlich verschiedener Kommunikationsphasen eindeutig strukturiert. In einer Ruhephase und einer darauffolgenden verbalen Konversation wurden Basisdaten erhoben. Auf diese Ruhe- bzw. Gesprächsphase folgten eine Phase der Instrumentalimprovisation, in denen der Therapeut Klavier spielte,während die Versuchsperson Percussions-Instrumente spielte und eine Gesangsphase, in denen der Therapeut die Versuchsperson nur begleitete oder mit ihr sang.


Jede Versuchssituation wurde sowohl in einer Audio- als auch in einer Videodokumentation festgehalten. Gleichzeitig wurde eine zweite Videoaufzeichnung gemacht, bei der mit Hilfe der Mehrspurtechnik des Recorders die Pulsfrequenzen beider in der Improvisation beteiligten Personen auf dem Band festgehalten wurden. Hierdurch wurde es möglich, die physiologischen und musiktherapeutischen Prozesse in Relation zur realen Zeitentwicklung sowie zueinander in bezug zu setzen, ohne daß diese sich gegenseitig beeinflußten. In beiden Videoaufzeichnungen war eine Uhr eingeblendet, um das Bildmaterial im nachherein mit den physiologischen Messungen korrelieren zu können.

b) Physiologische Auswertung Für die physiologische Auswertung wurde für beide improvisierenden Personen aus den Aufzeichnungen der r-r-Intervalle die Herzfrequenz errechnet. Diese Berechnungen wurden dann in einer grafischen Darstellung auf einer Zeitachse abgebildet (s. Abb. 1). Um die Komplexität der Information übersichtlicher zu gestalten, wurden diese Kurven mit Hilfe von ‘moving averages’ über 5 Herzschläge geglättet, wobei die wesentlichen Informationen, welche auflVeränderungen in der Zeit hindeuten, erhalten blieben. Die musikalisch-kommunikativen und die physiologischen Ergebnisse wurden unabhängig voneinander bewertet. Jeder Aus-

wertungsschritt war dabei hinsichtlich der Signifikanz von Ereignissen im anderen Auswertungsschritt unabhängig. Ein Physiologe betrachtete zunächst die physiologischen Daten, um zu entscheiden, welche Vorgänge ihn innerhalb des Zeitverlaufes interessieren würden. Gleichzeitig führte ein Musiktherapeut die musikalischen Auswertungen durch und markierte auf einem Indexblatt die musikalischen Ereignisse, die ihm interessant erschienen. Durch eine grafische Überlagerung wurde es möglich, beide Auswertungsschritte miteinander zu vergleichen und herauszufinden, ob sich irgendwelche Überlagerungen signifikanter Ereignisse von beiden Datenauswertungen ergeben würden. In Abb. 2 werden gemeinsame Interaktionsmuster, die häufiger auftauchten, schematisch dargestellt. 7

Auswertung

Herzfrequenz

a) Die musiktherapeutische Auswertung Die Betrachtung der musikalischen Aspekte dieser Improvisationen wurde unabhängig von den physiologischen Auswertungen der Herzfrequenzen vorgenommen. Kriterien für die Beurteilung der musiktherapeutischen Bedeutung wurden entweder aus der kommunikativen Interaktion oder aus musikalischen Ereignissen, wie z. B. Entwicklung der musikalischen Beziehung, Initiativen für musikalische Veränderungen, gemeinsame Änderungen bei beiden Spielenden,Veränderungen des Tempos, der Dynamik oder der Stimmung hergeleitet.

100 bpm Therapeut 50 bpm

100 bpm Proband 50 bpm

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Zeit in Min

Abb.1: Darstellung der Herzfrequenz von Therapeut und Patient über einen Zeitraum von 15 Minuten


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Abb. 2a

Abb. 2b

Abb. 2c

Abb. 2d

Beide Herzschläge sind parallel, deuten auf Synchronizität

Beide Herzschläge in synchron gespiegelter Gegenbewegung. Eine Spitze zeigt sich auf einer Linie, während ein Tal simultan auf der anderen Linie erscheint

In einer der beiden Linien erscheint eine Spitze nach einem kurzen Anwachsen der Pulsrate, gefolgt von einem rasanten Abfall der Herzschläge

In beiden Linien zeigen sich Spitzen innerhalb des gleichen Zeitrahmens

Abb.2: Schematisch dargestellte Muster der gegenseitigen Herzschlagbeziehungen

Im musikalischen Instrumentalspiel sind beide Pulsfrequenzen synchronisiert (s.lAbb. 2a). Diese Synchronisation besteht manchmal in einer genauen Spiegelung der Pulsverläufe, zu den Zeiten, in denen musikalisch signifikante Veränderungen stattfinden (s. Abb. 2b). Die Spitzenwerte, die in der Herzfrequenz eines Teilnehmers sichtbar werden, treten immer zu den Zeitpunkten auf, wenn diese Person eine Initiative im musikalischen Dialog übernimmt. In Fortsetzung dieses Phänomens sinkt die Pulsfrequenz eines

Partners immer dann ab, wenn er sich eindeutig auf das, was gespielt wird, einstellt und die Aufmerksamkeit sich dem anderen zuwendet (s.lAbb.l2c). Gelegentlich treten Momente auf, in denen beide Personen gleichzeitig auflVeränderungen in der Musik mit einem Spitzenwert in ihrer Pulsfrequenz reagieren, der bei beiden durch einen rapiden Abfall der Frequenz gefolgt wird (s.lAbb. 2d). Selbstverständlich treten während aller Untersuchungen auch Zeiten auf, in denen die Herzfrequenzen nicht koordiniert sind.

Das Zusammenspiel zweier Herzen

B

etrachtet man den strukturellen Aufbau der Untersuchung, ergibt sich daraus die offensichtliche Evidenz, daß der physiologische Prozeß sich in Abhängigkeit zu der Beziehungs- oder Kommunikationsweise ändert. Die Pulsfrequenzkurven beider Personen verändern sich mit den unterschiedlichen Aktivitäten, Ruhe, Sprechen, Spielen


Gespräch

Ruhe

0 Minuten

1

2

Ruhe

0 Minuten

3

9

10

1

2

3

2

Singen

4

5

6 10

Spielen

Gespräch

1

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Spielen

Gespräch

Ruhe

0 Minuten

Singen

Spielen

3

4

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Singen

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9

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Proband Therapeut

Abb. 3: Drei Beispiele der Herzschläge des Therapeuten und der Versuchsperson (Darstellung gemittelt über 5 Schläge); gezeigt sind vier Versuchsphasen: Ruhe, zusammen sprechen, gemeinsam improvisieren, gemeinsam singen

oder Singen (s. Abb. 3). Dieses Ergebnis ansich ist schon beachtlich. Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, daß wir lange Phasen koordinierter und synchronisierter Herzfrequenzaktivität beider Versuchspersonen in den Perioden musikalischer Aktivität finden können und zwar unabhängig von der Veränderung oder Entwicklung musikalischer Stilistik. Es wurde zu keiner Zeit der Versuch unternommen, innerhalb der Untersuchungszeit bewußt beruhigende Musik zu spielen. Diese synchronisierten Perioden sind Sequenzen der Improvisationen, in denen die musikalische Entwicklung von den Initiativen beider Spieler abhängt. In Abb. 4 sehen wir eine solche Sequenz, in der beide Musiker im spanischen Musikstil improvisieren. Anfangs beginnt der Musiker, der die Rolle des Therapeuten übernimmt, spontan zu singen. Er bringt hiermit eine Initiative in die Musik ein, die mit einem Anstieg seiner Pulsfrequenz korreliert, wobei wir die gleiche Entwicklung bei der Versuchsperson sehen können. Unmittelbar nach seiner Aktivität fällt seine Pulsfrequenz ab und deutet an, daß sich seine Aufmerksamkeit dem anderen zuwendet, um herauszuhören, was sein Partner als Respons auf seine Initiative tun wird. Obwohl die Musik sich unmittelbar im Anschluß an diesen Moment verändert und der Charakter sich wandelt, bleiben die Pulsfrequenzen beider Personen synchron. Eine Wiederholung dieses Musters finden wir in Abb. 5. Beide Herzfrequenzkurven verlaufen zunächst parallel zueinander. Graduell steigt die Herzfrequenz beider Personen, als sie eine Veränderung in der Musik innerlich vorwegnehmen. Hier spielt nun die Versuchsperson die Zimbel und

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Abb. 4:Wechselseitige Herzschlagmuster während gemeinsamer Improvisation

Abb. 5: Auf eine musikalische Initiative folgt ein Wechsel des Herzschlages, bezogen auf das Hören

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Abb. 6: Dialogisches Singen.Veränderungen im Herzschlag zeigen sich gespiegelt als

Abb. 7: Gemeinsames Singen zeigt vokale Initiativen und zusammentreffende Herzschlagveränderungen


plötzlich - gleichzeitig - sinkt die Herzfrequenz des Therapeuten ab. Er hört hier aufmerksam zu, was als nächstes passieren wird. Eine neue Sequenz von Musik entwickelt sich. Auch während des Singens können wir die Koordination beider Herzfrequenzen sehen. Hier sind die Kurven oft gegenläufig zueinander, während die erste Person singt, hört die zweite ihr zu und ergreift dann die Initiative. In Abb. 6 sehen wir eine Periode dialogischen Singens. Beide Partner singen nacheinander.lWährend der eine singt, steigt seine Pulsfrequenz. Er wird sich seiner selbst bewußt und konzentriert sich auf das, was er singt. Gleichzeitig hört der andere zu. Sein Fokus ist auf den Sänger gerichtet. Dies deutet klar auf eine Umweltorientierung hin. Wenn er allerdings im Gesang auf den ersten antwortet, steigt seine eigene Pulsfrequenz an, während gleichzeitig die des Partners absinkt. Auch Abb. 7 zeigt genau dieses Muster. Hier sehen wir allerdings zwei Personen, die unisono miteinander singen. Der Dialog ist also nicht in einer alternierenden, sondern in einer gemeinsamen Vokalisierung (Aldridge 1996; Stern et al. 1975).Wir sehen in Abb. 7 eine Phase, in der musikalische Veränderungen während des Singens auftreten, indem eine Person musikalische Initiativen übernimmt. Dabei steigt ihre Herzfrequenz. Obwohl der Therapeut ebenfalls singt, einen liegenden unterstützenden Ton, sinkt dessen Herzfrequenz ab. Kurz danach ereignet sich eine Phase paralleler musikalischer Entwicklung, gefolgt von zwei musikalischen Initiativen, die wiederum von einer Parallelphase

gefolgt werden.Am Ende der Abbildung sehen wir einen graduellen gemeinsamen Anstieg der Herzfrequenz. Die musikalische Stimmung verändert sich hier, die Herzfrequenz verbleibt in der Parallelbewegung. In der Tat scheint es, als wenn zwei Herzen wie eines schlagen würden.

Diskussion und Schlußfolgerungen

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usik ist eine spezielle Form des Dialoges, die vollständig andere Möglichkeiten gegenüber verbalen Therapien bietet. Der Dialog in der Musik leitet sich nicht wie im Gespräch aus zwei Sinngehalten ab, die aufeinandertreffen und zusammenwirken. Der musikalische Dialog entsteht aus dem ursprünglichen Element des Dialoges; einem Sinn, der sich zwischen den Menschen bildet, einem Sinn, der verbindet. Die Improvisation von Musik bietet eine Struktur für gleichzeitige und gemeinsam gestaltete Kommunikation. Mit Bezug auf die Therapie erkennen wir, daß musikalische Aktivitäten innerhalb des Beziehungsrahmens einer gemeinsam aktiv gestalteten Improvisation Auswirkungen auf den Parameter der Herzfrequenz haben. Die Physiologie wird durch die aktive musikalische Gestaltung beeinflußt. Wir können aus diesen Beobachtungen und früheren Arbeiten von Physiologen herleiten, daß nicht nur die Herzfrequenz verändert wird, sondern daß es einen korrespondierenden Einfluß auf hirnorganische

Regulationen und somit auf die emotionale Lage gibt (Aldridge 1996). Über diese intraindividuellen Vorgänge hinaus können wir eine ‘externe’ Koordination der Herzfrequenz beobachten, wenn zwei Menschen miteinander musizieren. Während einer musikalischen Beziehung entsteht also auch eine gemeinsame physiologische Beziehung. Sie ist vielleicht die Grundlage für Empathie - wenn zwei Herzen sich aufeinander einschwingen. Maturana undlVerden-Zöller (Ruiz 1996) beziehen sich auf dieses Phänomen als die ‘Biologie der Liebe’ - bedingungslose Akzeptanz - wobeilVerhaltensweisen auftreten können, die individuell und gleichzeitig coexistent mit anderen sind. In der Tat wird aus systemischer Sicht deutlich, daß die Musiktherapie beide Partner eines musikalischen Dialoges als aktive Mitgestalter akzeptiert. Auch der Beobachter ist ein aktiver Teilnehmer in der Welt, die er gestaltet. Was als Musik hörbar wird, ist ein Beziehungsphänomen, welches die Dynamik der Interaktion beinhaltet. Man kann also die Kommunikation nie an einem der beiden Partner festmachen oder beobachten, weil sie sich in beider Interaktion entfaltet. Wie aus der Literatur ersichtlich, traten Anstiege der Pulsfrequenz auf, wenn musikalische Initiativen vorbereitet wurden. Diese Anstiege deuteten auf kognitive Vorgänge hin. Ebenso trat während des aktiven Zuhörens, verbunden mit einer Zunahme der umweltorientierten Aufmerksamkeit, ein Absinken der Pulsfrequenz auf. Das Kardiovasculäre System reflektierte die Intention zur Informationsaufnahme. Diese beiden Phänomene werden dadurch miteinander verbunden, daß Anstiege und Abfallen

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während der Aktivität gemeinsam zwischen zwei physiologischen Einheiten und der Musik stattfinden. Dies bedeutet, daß die Physiologie und die musikalischen Vorgänge isomorphe Prozesse sind. Ein solches Verständnis wird Auswirkungen auf die Musiktherapie haben müssen und auch darauf, wie wir Krankheit und Gesundheit verstehen.

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Innerhalb des westlichen Medizinsystems werden für die Beschreibung von Krankheitsvorgängen Zeitkonzepte von akut und chronisch benutzt. Gerade das Auftreten chronischer Krankheiten verursacht zahlreiche Probleme für das gesamte westliche Gesundheitssystem und löst Diskussionen darüber aus, wie wir am Ende des 20. Jahrhunderts mit solchen Krankheiten umgehen sollen.Vielleicht sind es aber gerade die Konzepte von akuten und chronischen Dimensionen in ihrer linearen Abbildung der Zeit, die sich begrenzend auf Lösungen für diese Krankheitsvorgänge auswirken; vielleicht wird es notwendig werden, den Zeitbegriff des Kairos für Krankheitsgeschehen einzubinden. ‘Kairologische Krankheiten’ würden den Versuch der Persönlichkeit, ihre Identität aufrechtzuerhalten und sich mit den von außen auferlegten Veränderungen auseinanderzusetzen. ebenso mit einbeziehen. So verfahren Familiensystemtherapeuten schon heute, wenn sie darüber sprechen, daß ein Problem innerhalb der Ökologie der Familienmitglieder, der kulturellen Konstruktion und der individuellen Biographie auftritt (Aldridge 1984, 1988a, 1988b; Aldridge und Rossiter 1985; Bloch 1987). Die Konzepte von Zeit (im Sinne von Entwicklung) und Raum (im Sinne von Beziehung) sind fundamental für unsere Kultur in allen ihren Ausprägungen, sei es in der Wissenschaft oder

in der Kunst. In den vorangegangenen Beispielen haben wir gesehen, daß die menschliche Physiologie zeitlich strukturiert ist. Im ersten Kapitel dieses Buches führt Aldridge aus, daß die biologische Zeit strukturiert ist wie improvisierte Musik. Das Leben ist Jazz. Die Grundlage für die Improvisation ist die Entscheidung im jeweiligen Moment; Zeit als Kairos.

Unsere Ergebnisse haben Bedeutung für solche Kollegen, die im Feld der psychosomatischen Medizin arbeiten. Sie können zeigen, daß das gemeinsame Improvisieren von Musik von deutlichen physiologischen Veränderungen begleitet ist. Jenseits der Grenzen der Musik gibt es Hinweise für den Einfluß, den wir aufeinander ausüben, wenn wir auf nonverbale Weise miteinander kommunizieren. Kommunikation ist immer ein gemeinsamer Prozeß und bindet beide Partner in einen Dialog ein. Diese Erkenntnis befreit uns von linear kausalen Denkstruktu-

ren. Es gibt eine Gemeinsamkeit in der gegenseitigen Beeinflussung. Eine weitere und vielleicht abschließende Schlußfolgerung aus dieser Arbeit, die gezeigt hat, daß Musiktherapie die physiologischen Parameter beider in die Kommunikation eingebundener Partner beeinflußt, ist, daß Musiktherapeuten wachsam für den Einfluß sein müssen, den ihre Arbeit auf sie selber hat.Vielleicht ist dies ein Grund für das ‘Burn-out-Syndrom’ in Therapieberufen, daß diese hochgradig auf der Fähigkeit der Empathie beruhen.lWie wir zeigen konnten, hat Empathie auch eine physiologische Grundlage. Wie jeder Kliniker, der lange Zeit mit chronisch Kranken gearbeitet hat, aus seinem Arbeitsfeld weiß, wird man nach einer Zeit beginnen, die Symptome der betreuten Personen nachzuempfinden und an sich selber zu beobachten. Diese Erfahrung beruht auf der einfachen Komponente physiologischer Mitempfindung und der menschlichen Psyche - aber wie wir zeigen konnten, tritt auch hier ein gemeinsam empathischer Dialog auf. Vielleicht sollten wir als Kliniker gerade diesen Situationen, in denen wir Einflüssen ausgeliefert sind, die auf uns selber negativ wirken könnten, mehr Aufmerksamkeit schenken. Abschließend könnte man aus dieser Untersuchung auch herleiten, daß das Phänomen der Übertragung - im Sinne einer psychotherapeutischen Perspektive - auch im Verständnis der von uns durchgeführten physiologischen Untersuchung erläutert werden kann. Vielleicht ist also wirklich die Zeit gekommen, in der wir lernen müssen, die Trennung von Körper, Seele und Geist aufzugeben und diese als Einheit zu verstehen.

Unter dem Titel „Musik als Dialog“ erschien ein ähnlicher Artikel - mit anderer Schwerpunktsetzung - in der Musiktherapeutischen Umschau, Bd 19/1 (1998).


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