DIE ENTWICKLUNG EINER MELODIE IM VERLAUF EINER IMPROVISATION Spontane Ausdrucksmöglichkeiten in der Musiktherapie mit einer Brustkrebspatientin 1
Gudrun Aldridge as vorliegende Thema befaßt sich mit der Frage, welchen Beitrag die Musiktherapie und insbesondere die melodische Improvisation für Brustkrebspatientinnen während ihrer frühen rehabilitativen Phase, nach einer Mastektomie, leisten kann. Insbesondere wird der musikalische Aspekt der Melodie diskutiert, in der Rolle, die er spielt, um Expressivität zu ermöglichen und zu erleichtern.
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Aus der Literatur ist bekannt, daß es insbesondere für Brustkrebspatientinnen wichtig ist, sich ausdrücken zu können.
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Es ist bekannt, daß der Aspekt der Melodie in unserer modernen Gesellschaft und Kultur eine wichtige Form der Ausdrucksmöglichkeit darstellt.
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Wenn Expressivität ein wichtiger Faktor für Brustkrebspatientinnen und Melodie eine wichtige Form musikalischen Ausdrucks ist, macht es einen Sinn, in der Musiktherapie das melodische Spiel von Brustkrebspatientinnen zu entwickeln.
nungslosigkeit, Gedanken über den Tod und der Ungewißheit der Zukunft assoziiert sind. Patientinnen, die an dieser Krankheit leiden, müssen eine Reihe von physischen, sozialen und emotionalen Belastungsfaktoren ertragen, die den Gebrauch von Coping- Mechanismen erforderlich machen, um ihr inneres Gleichgewicht aufrechterhalten zu können. Die meist zitierten Indikatoren sind: Depression, Angst, Ärger, Fatigue,Verzweiflung und Unsicherheit.
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Die Diagnose Krebs ist ein traumatisches Ereignis mit signifikantem Impakt auf Patienten und ihre Familien. Sie kann fundamentale Ängste hervorrufen, die mit Empfindlichkeit, Verletzlichkeit, Hoff-
Aus der Literatur wird ersichtlich, daß Musiktherapie einen positiven Effekt auf ähnliche Parameter auszuüben vermag, die auch durch psychosoziale Interventionen eine Verbesserung aufweisen. Mit ihrer individuell angelegten Methode unterstützt sie Ergebnisse verschiedener Langzeitstudien, die demonstrieren, daß auch weniger emotional leidende Patientinnen mit sehr unterschiedlichen Einstellungsprofilen zu ihrer Krebserkrankung besonders von individuell gemessenen psychosozialen Interventionen profitieren (Nelson et al. 1994). Von einer holistischen Perspektive aus gesehen kann Musiktherapie einen Beitrag leisten, den Bedürfnissen der Patientinnen während der verschiedenen Krankheitsphasen zu begegnen. Im Sinne der Forderungen mehrerer Langzeitstudien könnte sie als rezeptive und aktive Intervention:
Musiktherapie und Krebsbehandlung
Die Krankheit im Kontext rustkrebs ist unter den rund 200 verschiedenen Krebsarten die verbreiteste unter Frauen mit steigender Tendenz. Gleichwohl werden bei ihr die höchsten Überlebensraten festgestellt.
die insbesondere auf die emotionalen Belastungsfaktoren einwirken kann, an Bedeutung gewonnen.
edingt durch den besonders hohen, streßvollen Charakter der Krebserfahrung verlangt die Krebsbehandlung eine komplexe Behandlungsmethode, die über das rein Medizinische hinaus psychologische, psychosoziale und soziale Aspekte mit einbezieht (Aldridge 1987; Aldridge 1993a; Aldridge 1993b; Aldridge 1993c; Aldridge 1995) . In diesem Zusammenhang hat auch die Musiktherapie,
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1. physische Entlastung bringen (Reduzierung von Müdigkeit und Kraftlosigkeit, Ablenkung von Schmerzen), 2. psychologisch auf emotionale Stressfaktoren eingehen und impulshaft auf innerliche Beweglichkeit einwirken, im Sinne einer Transformation der Gefühlspole vom negativen zum positiven, 3. durch den Dialog in der Musik die kommunikativen Ausdrucksmöglichkeiten erweitern und soziale Schwierigkeiten, bzw. Hemmnisse abmildern, 4. soziale Schwierigkeiten durch die Anregung interpersonellen Kontakts verringern und Isolation reduzieren.
Zur Bedeutung von Melodie s läßt sich behaupten, daß die Melodie als wichtiger Teilaspekt der Musik für viele Menschen eine Bedeutung hat. Sie ist mit inneren Erlebnissen und dem Erinnerungsvermögen verbunden und kann als intimer Begleiter der verschiedenen Lebensstadien und -situationen fungieren. Mit Melodien vermag man sich zu identifizieren. Es ist weiter anzunehmen, daß die Melodie, in welcher Erscheinungsform auch immer, der geläufigste und verbreiteste Aspekt der Musik während aller Zeiten und Kulturen war und heute noch ist. Sie ist das Element der Musik, an dem die allgemeine Qualität der Musik gemessen wird und sich die künstlerische Qualität des Komponisten offenbart. Die Frage, warum uns die eine Melodie mehr anspricht als die andere, sie in uns weiterlebt und unter Umständen auch zu einem quälenden Ohrwurm werden kann, ist generell kaum möglich zu beantworten. Ähnliche Unklarheiten und Zweifel bezüglich grundsätzlicher Aussagen zur Bedeutung und Funktion der Melodie lassen sich nachweisen, wenn man einen Blick auf die historische Entwicklung der Melodie wirft. Diese offenbart, daß wir es mit einer paradoxen Disziplin zu tun haben, denn das einzig Unveränderliche in ihrer Entwicklung, die Jahrtausende zurückreicht, scheint die Klage darüber zu sein, daß es sie nicht oder noch nicht gebe. (Abraham & Dahlhaus 1982, S.10) .
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Johann Mattheson beschreibt diese Tatsache mit folgenden Worten: „Diese Kunst, eine gute Melodie zu machen, begreifft das wesentlichste in der Music. Es ist dannenhero höchstens zu verwundern, daß ein solcher Haupt- Punct, an welchem doch das größeste gelegen ist, bis diese Stunde fast von jedem Lehrer hintangesetzet wird. Ja man hat so gar wenig darauf gedacht, daß auch die vornehmsten Meister, und unter denselben die weitläufigsten und neuesten, gestehen müssen: es sey fast unmöglich, gewisse Regeln davon zu geben, unter dem Vorwande, weil das meiste auf den guten Geschmack ankäme; da doch auch von diesem selbst die gründlichsten Regeln gegeben werden können und müssen.“ (Mattheson 1739, S.133).
Das Konzept von Melodie muß also in seinem historischen Kontext betrachtet werden. Melodie ist nicht nur von den musikalischen Entwicklungsperioden beeinflußt, sondern sie setzt sich aus diesen essentiell zusammen.
Melodiebegriff der Antike nser Verständnis des heutigen Melodiebegriffs, das von unserem allgemeinen Musikverständnis der Musik des 18./19. Jh. geprägt ist, trägt auch die Merkmale des älteren und weitgespannten Melodiebegriffs der Antike, der zwei Perspektiven von Melodie, eine weitreichende und enge, zum Ausdruck bringt. Die weitreichende Perspektive von Melodie beinhaltet drei Momente:
von Neuheit und Außergewöhnlichkeit. Diese Vorstellungen und Erwartungen über das, was Melodie beinhalten soll, sind wiederum Auswirkungen einer Ästhetik, die den Faktor Melodie im 18./19. Jahrhundert besonders hervorhob. Der Gedanke der Originalität läßt sich auf die Inspirationsästhetik des 19. Jh. zurückführen, die schroff zwischen dem melodischen Einfall, der Inspiration, die nicht lehrbar ist, und der kunstverständigen, satztechnisch - formalen Ausarbeitung unterschied.
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Harmonia (das Zusammenstimmen der Töne), Rhythmos (die Zeitgliederung) und Logos (die Sprache, der Text). Die engere Perspektive definiert Melodie als eine Sequenz von Tönen, die sich durch ihre Höhe unterscheiden, bekannt als Diastematik, der horizontalen Anordnung der Töne.
Merkmale des kontemporären Melodiebegriffs nach Riemann as Zitat von Riemann (Dahlhaus & Eggebrecht 1979) hebt den Aspekt der Formhaftigkeit und Gestalt hervor und läßt sich durch die Attribute selbständig, geschlossen, gegliedert, singbar, einstimmig und einprägsam ergänzen, die im alltäglichen Sprachgebrauch in Verbindung mit den Adjektiva melodisch, melodiös und unmelodisch eine Wertung erlangen können:
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Desweiteren erwartet man von einer Melodie Originalität und Expressivität, d.h. neben dem Moment des Gleichmaßes und der Konvention einen Anteil
Expressivität as Merkmal der Expressivität läßt sich auf ästhetische Vorstellungen des 19. Jahrhunderts zurückführen, die die musikalische Expressivität am deutlichsten in der Melodie ausgedrückt sahen. Beeinflußt wurde dieser Gedanke durch Hegels Musikästhetik, die hervorhob, daß der Mensch in der Melodie sein Inneres, seine Seele auszudrücken vermag und dadurch auch gleichzeitig in der Lage ist, sich von einem möglichen Freudens - oder Leidensdruck zu befreien. Für Hegel ist das Innere des Menschen nicht nur in sich selbst versunken, sondern steht gleichsam neben sich. Indem ein Gefühl zugleich gegenwärtig und ferngerückt erlebt wird, kann es befreiend wirken. Diesen Doppelcharakter des Gefühls (zugleich emphatisch und distanziert) sieht Hegel in der bestimmbaren Beziehung der Melodie zur Taktrhythmik und tonalen Harmonik des 17. bis 19. Jahrhunderts begründet.Auch er hebt in Verbindung mit Expressivität die für die Melodie wesentlichen Elemente Rhythmik und Harmonik hervor. In den Regeln und Strukturen dieser beiden Elemente sieht er weniger einen Zwang, als einen Halt, auf den sich die Melodie stützen kann, um nicht ins Gestaltlose zu verfließen. Dieser von Hegel formulierte Doppelcharakter des melodischen Gefühlsausdrucks, die Gleichzeitigkeit von Versunkensein und Darüberstehen hängt mit einem Grundzug des Musikempfindens im 19. Jahrhundert zusammen.
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Kulturelle Voraussetzungen ie heute übliche Trennung der Musik in die Parameter: Rhythmus, Melodie und Harmonie, die wir generell heranziehen, wenn wir Musik analysieren, wird auch von Benzon (Benzon 1993) aufgegriffen. Allerdings begründet er dieses von einer kulturgeschichtlichen Perspektive aus, in dem er kulturelle Gegebenheiten artikuliert. Benzon behauptet, und er stützt sich dabei auf vorangegangene Studien, daß unsere Grunderfahrungen von Musik, wie auch alle unsere Elementarerfahrungen, holistisch sind.Auf die Musik bezogen bedeutet dieses, daß wir sie zunächst undifferenziert als Ganzheit wahrnehmen und erst allmählich in der Lage sind, unseren musikalischen Gesamteindruck in Rhythmus, Melodie und Harmonie zu differenzieren. Er argumentiert weiter, daß sich nur durch den langen Prozeß der kulturellen Entwicklung die Elemente Rhythmus, Melodie und Harmonie klar unterscheiden konnten und schlägt, indem er sich auf die Diskussionen Wioras beruft, folgende Entwicklungsstadien vor, die hier nur verkürzt wiedergegeben werden.
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Kulturgeschichtliche Entwicklungsstadien der Musik \
Stadium I Kultur: rhythmisch orientiertes Stadium (die ersten Kulturen und Gemeinschaften von den Sprachanfängen beginnend bis zur Entwicklung der Schrift; Musik der einheimischen Kulturen Nord -, Südamerikas und Afrikas).
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Stadium II Kultur: melodisch orientiertes Stadium (die hohen Zivilisationen der Antike mit Schriftsystemen, Städtebau und einer permanenten Agrikultur; Musik des Nahen und Fernen Ostens und des mittelalterlichen Europas).
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Stadium III Kultur: harmonisch orientiertes Stadium (Zeit der Renaissance und der Industriellen Revolution; Musik der Klassik und Romantik)
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Stadium IV Kultur: Klangfarben orientiertes Stadium (die sich noch im gegenwärtigen Arbeits - und Entwicklungsprozeß bewegenden Künste und Wissenschaften).
Jedes ‘Stadium’ hat seine eigenen charakteristischen Wege der Entwicklung einer besonderen Aufführungspraxis, die aus dem jeweiligen, speziellen Material (Rhythmus, Melodie oder Harmonie) hervorgeht: \
Stadium I: Rhythmus, Entwicklung zur Phrase.
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Stadium II: Melodie, Entwicklung zur Führung, bzw. führenden Stimme.
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Stadium III: Harmonie, Entwicklung zur Architektonik.
Festzuhalten ist, daß diese Ordnung in der Sache selbst begründet ist. Benzon erläutert dieses, indem er feststellt: „Musik entfaltet sich in der Zeit.Wie kann man Kontrolle über die Melodie erlangen, ohne zuvor die Kontrolle über die zeitliche Entwicklung, den Rhythmus erfahren zu haben? Und wie kann man über die Kontrolle gleichzeitig erklingender Stimmen - d.h. der Harmonie verfügen, ohne zuvor die Kontrolle über Tonhöhenmuster individueller Melodielinien, nämlich die Melodie erlangt zu haben?“ (Benzon 1993, S.279)
Fallstudie nhand des Beispiels einer melodischen Improvisation soll im folgenden demonstriert werden, daß der Aspekt Melodie Möglichkeiten für die Patientin bereitzuhalten vermag, ihre eigene individuelle Ausdrucksform zu finden. Drei Fragen sind für die vorliegende Fallstudie relevant:
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Wie entwickelt die Patientin ihr melodisches Spiel im Kontext der melodischen Improvisation?
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Welches sind die relativen Nuancen ihrer emotionalen Expressivität?
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Was bedeutet es für die Patientin, sich durch das Wesen der Melodie ausdrücken zu können?
Für die musikalische Analyse wird es notwendig sein, das Zusammenwirken der beteiligten musikalischen Einzelelemente wie rhythmisches, melodisches Motiv oder Zelle, harmonische Struktur oder dynamische Vielfalt zu erkennen und das zu beschreiben, was durch den kreativen Prozeß der Patientin als neu Geschaffenes hervorgebracht worden ist. Therapeutisch bedeutet dieses, immer wieder neu zu sehen, auf welche Art und Weise sich die Patientin mit der melodischen Improvisation individuell auszudrücken vermag und auf welche Weise sie ihren Ausdruck in eine für sie gemäße Form bringen kann. Das folgende Beispiel stammt aus der sechsten Sitzung mit einer Mammakarzinompatientin, die sich nach dem chirurgischen Eingriff einer Mastektomie während ihrer kurzen nachoperativen Rehabilitationsphase im Krankenhaus aufhielt. Die ersten vier Notationsbeispiele folgen aufeinander, während die Beispiele fünf und sechs aus dem späteren Verlauf der Improvisation stammen.
Patientin:
Metallophon, harmonische Skala c-moll,Tonumfang c1- as2
Therapeutin:
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‘Gangart’, die sie durch die Improvisation führt und die für alles Folgende den Maßstab abgibt.
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Zusammenfassend kann das erste Beispiel als klangliche Orientierung im harmonischen Bereich von c-moll bezeichnet werden. Die Patientin beginnt auf dem Grundton, findet ganz natürlich ihren Weg über die höher gelegene Quinte, Oktave und Quarte. Nach den ersten vier Takten führe ich ein melodisches Element ein.
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Beispiel 2
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Hier geht es nicht mehr länger um eine Orientierung im tonalen Raum, sondern um bewußtere Wahrnehmung und bewußteres Einhören in die Tonbeziehungen, was hörbar wird durch die differenzierte Anschlagsart der Patientin. Ihre Wahrnehmung des harmonischen Tonraums wird durch die Hervorhebung der zentralen Töne Grundton und Quinte deutlich. Es sind für sie harmonische Orientierungspunkte, von denen sie ausgehen und wieder zurückkehren kann. Gegenüber der melodisch hervortretenden Stimme des Klaviers sucht sie sich als Kontrast eine harmonische Mittelstimme. Im letzten Takt des Beispiels entwickelt sie eine auftaktige Figur, die zum nächstfolgenden Beispiel führt.
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Beispiel1 Das Beispiel beginnt mit einem Auftakt. Ein rhythmisches Motiv ist erkennbar, das, man könnte es mit einem kleinen Keim vergleichen, in sich die Möglichkeit zur Entwicklung birgt. In der Verslehre der hellenistischen Zeit (Aristoxenos ‘RhythmikFragmente’) ist es ein Jambus.
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Diese rhythmische Zelle ist in zweifacher Hinsicht von Bedeutung: 1. Sie gibt der Patientin Halt und Stabilität innerhalb ihrer Spielaktivität, um die melodische Seite der Musik zu entdecken.
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2. Gleichzeitig ist sie ein Bewegungsimpuls, der ihr ermöglicht, den harmonischen Tonraum von c-moll zu erfahren. Meiner Erfahrung nach ist für die Entdeckung und Entwicklung des melodischen Sinns in der Musik das Vorhandensein eines Gefühls für den Rhythmus ausschlaggebend. Der von der Patientin formulierte ‘Klangfuß’ ist die von ihr eingeschlagene
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Beispiel 4
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In diesem Beispiel ist die Melodie stärker ausgeformt: nach dem auftaktigen Oktavsprung aszendiert und deszendiert sie in Zwei-Takteinheiten, wobei sie konsequent den Grundton hörbar macht.
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In Beispiel 5 betont sie jeweils den Taktbeginn, was ihrer deszendierenden Skalenbewegung entgegenkommt. In Beispiel 6 variiert sie die Skalenbewegung in horizontaler Linienführung durch eine Art Umspielung der zentralen harmonischen Töne. Der Rhythmus besteht aus völlig gleichen Notenwerten (Achtelnoten), d.h. seine Bedeutung tritt hinter die der Tonhöhengestaltung zurück. Der Sinn ihres Spiels liegt hier in der Gestaltung der horizontal bewegten Diastematik.
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die Entfaltung eines Taktmotivs zu 2-Takt-Phrasen.
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die Entfaltung der melodischen Struktur, der Diastematik.
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die Entwicklung von tonaler Einheit durch Rückkehr zu harmonisch zentralen Tönen. die experimentelle Erfahrung im unmittelbaren, gegenwärtigen Spiel, Musik in Form zu bringen.
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Beispiel 3 In diesem Beispiel beginnt die Patientin ihr Spiel melodisch zu formen. Die Tonhöhenstruktur (Diastematik) steht im Vordergrund, sie ist nicht nur geformt, sondern zeigt gleichzeitig rhythmische Vielfalt. Beide Elemente, das melodische und rhythmische korrespondieren miteinander und gehen eine Symbiose ein. Jeder Ton steht in Beziehung zu den nächst folgenden, wie es sich anhand der Phrasierungsbögen darstellen läßt. In diesem Beispiel sehen wir die Entwicklung formaler Prinzipien der Musik:
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Beispiele 5 und 6
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Die im Spiel der Patientin hörbare emotionale Qualität läßt sich nicht von dem, von ihr entwickelten musikalischen Material eliminieren, da es aktiv und lebendig ist.
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Es wird hier deutlich, daß das Erlebnis einer sich auf diese Weise entfaltenden Melodie ein Erlebnis einer sinnvollen Ganzheit ist. Die deskriptive Psychologie zieht für diesen Tatbestand den Begriff der Gestalt heran (Blume 1989), ein Gebilde, das mehr Eigenschaften besitzt als die Summe ihrer einzelnen Elemente ausmachen würde. Die Gestaltqualitäten lassen sich am vorliegenden Beispiel anhand der Anschaulichkeit seiner Form, der Synthese seiner Einzelelemente und der Möglichkeit seiner Transponierbarkeit nachweisen. Der im Spiel der Patientin hörbar werdende harmonische Bezug, insbesondere der zum Grundton, läßt vermuten, daß sie einen Weg des Ausdrucks gefunden hat, der sie zum einen zentriert und ihr zum anderen eine Neuorientierung gibt.Therapeutisch bedeutet dies für mich, daß die Patientin für sich eine Möglichkeit fand, ihrer inneren Expressivität Form zu geben. Für Brustkrebspatientinnen, die sich nach der Operation im Prozeß neuer Orientierung und Identifikationsfindung befinden, ist dieses besonders wertvoll.
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Betrachtet man die Bewegung im Detail, so entdeckt man, ausgehend von der ursprünglichen rhythmischen Zelle, typische Motivbildungen: Im 8.-9. Takt von Beispiel 3 sequenziert sie dieses Motiv in Aufwärtsrichtung. In den Takten 8-10 von Beispiel 4 gibt sie ihm durch seine Wiederholung mehr Bedeutung. Erkennbar wird die Korrespondenz ihrer Melodieteile, die häufig 4 Takte umfassen. Das von mir angebotene harmonische Gerüst übernimmt die tektonische Funktion, über der sich die melodische Inspiration der Patientin frei variierend entfalten kann.
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enn wir auf Benzon`s Entwicklungsstadien der Kultur schauen, auf die vorher verwiesen wurde, können wir bei dieser Improvisation feststellen, wie die harmonische Struktur der Musik die Architektur der therapeutischen Beziehung bereitstellt. Innerhalb dieser Architektur entwickelte die Patientin eine Vorwärtsbewegung, die auf eine einfache rhythmische Zelle gegründet ist: dem Jambischen Versfuß. Dieses von ihr erlebte und als Spaziergang beschriebene Fortbewegen führt sie durch die Improvisation und bestimmt den Ausdruck und Tonfall der sich entfaltenden melodischen Entwicklung. Ausgehend von der Stabilität dieses rhythmischen Impulses, den sich die Patientin selber gibt, entwickeln sich rhythmische Formen. Das melodische Motiv, das aus der rhythmischen Figur hervorgeht, weitet sich zu einer melodischen Linie aus. Diese leitet nicht nur in eine größere musikalische Form über, sondern führt auch zur einer intrapersonellen Beziehung und entwickelt somit eine neue expressive Identität. Der persönliche Ausdruck erscheint innerhalb der kulturell akzeptierten Form. Musiktherapie ermöglicht also eine Architektur, um eine neue persönliche Identität innerhalb eines sozialen Kontextes zu finden, der als solcher Gültigkeit und Bedeutung innerhalb des angebotenen kulturellen Kontextes hat.
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Diese Beispiele verdeutlichen, daß die Patientin in der Lage war, sich als Person in einer melodischen Form auszudrücken. Ihre Bemerkung nach dieser melodischen Improvisation war, daß sie sich in einem wunderbaren Spaziergang durch die sonnigen Straßen von Paris erlebt hätte.
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