Musiktherapie

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Musiktherapie David Aldridge, Gudrun Aldridge & Lutz Neugebauer


Kapitel 1. Leben als Jazz

Kapitel 2. Musiktherapie in Krankenhäusern

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Kapitel 3. Kommunikation, Herztätigkeit und musikalischer Dialog David Aldridge & Lutz Neugebauer 24 Kapitel 4. Spontane Ausdrucksmöglichkeiten in der Musiktherapie mit einer Brustkrebspatientin Gudrun Aldridge 37 Kapitel 5. Musiktherapie und die Alzheimer-Krankheit David Aldridge & Gudrun Aldridge 44 Kapitel 6. HIV & AIDS-betroffene Menschen

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Kapitel 7.Schöpfersiche Musiktherapie bei Patienten mit chronischem Tinnitus Lutz Neugebauer

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LEBEN ALS JAZZ David Aldridge

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n diesem Kapitel wird ein Überblick über die Musiktherapie und ihre Leistungen bei der Rehabilitation gegeben.

Eine geläufige Metapher für Heilung in der modernen Kultur setzt den Körper mit einer Maschine gleich. Ist jemand krank, wird dieser Körper zur Reparatur gebracht, und nach entsprechender Behandlung ist der Defekt behoben. Ich setze diesem mechanistischen Bild entgegen, daß der Mensch gleich einem Musikstück komponiert ist.Wir sind in der Welt als biologische, psychologische und soziale Organismen, welche in einem ständigen Ereignisfluß improvisierend auf innere und äußere Anforderungen des täglichen Daseins treffen. Jeder von uns hat ein kompositorisches Thema - seine Identität - und diese stellt ein Repertoire an Möglichkeiten des Seins dar. Mit diesem Repertoire gehen wir in die Welt und passen es immer wieder improvisierend den augenblicklichen Erfordernissen des Lebens an. Unsere Aufgabe als Musiktherapeuten ist es nun, diese Anpassungsprozesse dadurch zu erleichtern, daß wir - im übertragenen und wörtlichen Sinne - dieses ‘Improvisations’-Repertoire erweitern, um so auf umwälzende Veränderungen zu reagieren, oder auch ein neues Repertoire zu entwickeln, wenn das Leben durch einen unglücklichen Umstand erheblich gestört wird.

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Leben als Jazz, als Improvisation, meint diesen immer wieder neu aus dem Augenblick heraus schöpfenden und gestaltenden Menschen, der auf die Themen des alltäglichen Lebens in spontaner Weise reagiert. Es bietet sich der Vergleich mit Jazz-Musikern an, sie hören auf Ihre Mitmusiker und können auf deren Einfälle improvisierend reagieren. Zudem tun sie es auf ihre ganz eigene, charakteristische Art und Weise. Bei Musikproduktion und Musikrezeption ist nicht nur von Bedeutung, daß für jemanden musiziert wird, sondern Musik erhält darüber hinaus dadurch eine zusätzliche Dimension, daß diese Person mit jemandem zusammen musiziert. Es kommt gerade auf diese aktive Teilnahme an, die auf einer weiteren vernachlässigten menschlichen Fähigkeit basiert: dem aktiven Zuhören. Dabei sind Zuhören und Teilnehmen eng miteinander verbunden. Das menschliche Dasein gleicht einer Symphonie. Es ist nicht wie ein Mechanismus, sondern wie ein Kammermusikstück organisiert, bei dem die Stimmen der einzelnen Instrumente zusammengefügt sind und miteinander harmonisieren. Es lassen sich zwar unterschiedliche, einzelne Stimmen heraushören, diese müssen aber als Ganzes organisiert werden, und eben in dieser Organisation des Ganzen begründet sich die Identität der Musik. Man weiß nicht, wo diese Koordination stattfindet, aber sie existiert als Organisation.Weitergehend läßt sich sagen, daß die Leistungen der Musiktherapie für die kognitive Entwicklung von Kindern, die Entwicklung der kindlichen Kommunikationsfähigkeit, die Erhaltung von Fähigkeiten bei Patienten mit Dementia, die Genesung post-komatöser Patienten sowie die Ermutigung Sterbender da liegen, wo es um die Ebene der Organisation und Koordination verschiedener Teile geht (Aldridge 1993a, 1993b). Wie aus den folgenden Beispielen ersichtlich wird, gehen wir von der Frage aus, über welche Fähigkeiten die Person verfügt und wie diese gefördert werden können, anstatt nach den Einschränkungen zu fragen und die Person dann entsprechend zu klassifizieren. Die Grundidee bei dieser Form der Musiktherapie liegt darin, die potentiellen Fähigkeiten des Patienten zu erkennen und zu fördern. Durch Impro-

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visation läßt sich auch der kleinste musikalische Ansatz in ein Lied oder sogar eine Symphonie verwandeln. Ich plädiere daher auch für die Entwicklung einer Disziplin in der klinischen Forschung, die sich bemüht herauszufinden, mit welchen Medien wir klinisch beobachtbare Veränderungen dokumentieren und zum Ausdruck bringen können. Diese Mittel können sowohl ästhetischer als auch wissenschaftlicher Natur sein, wodurch die Parallelen der Kunst des Heilens zur Wissenschaft des Heilens deutlich werden würden. Wenn man anderen Menschen den Nutzen der Musiktherapie erklären will, ist es wichtig zu wissen was passiert, wenn Menschen zusammen musikalisch improvisieren. Durch die Beschäftigung mit der Wissenschaft und auch mit der Kunst lassen sich jeweilig bestimmte Erkenntnisse über die Welt gewinnen. Beim Studium des menschlichen Verhaltens, insbesondere der Bedeutung von Kranksein, Gesundung und dem Durchleben des Sterbensprozesses, sind beide Formen der Annäherung, ob künstlerisch oder wissenschaftlich, notwendig, um klinische Veränderungen einschätzen zu können. In unserer Kultur sind sowohl Musik als auch die Medizin als Wissenschaften anerkannt, unsere Aufgabe besteht nun darin, diese beiden Ansätze zusammenzubringen. Ich möchte auch zu bedenken geben, daß es sich bei der Wissenschaft, d.h. dem Schaffen von Wissen, um eine Tätigkeit handelt, so wie auch beim Musizieren, der Gesundung und dem Prozeß des Heilens. Dies wird jedoch nicht nur von denen geleistet, die wir Wissenschaftler nennen, auch die Künste stellen einen Weg zur Erkenntnis dar. In diesem Sinne sollte es nicht heißen „Ich denke, also bin ich“, sondern „Ich gestalte, also bin ich“. Eine grundlegende Tätigkeit sowohl in der Wissenschaft als auch in der Musik besteht darin, einer Idee durch eine Form Ausdruck zu verleihen. Einem Gefühl Ausdruck zu verleihen ist eine grundlegende Tätigkeit in unserem Leben. Ein Kind zu erziehen heißt, es ‘zu formen’ und ist grundlegend für die Fortpflanzung des Menschen. Das Formulieren eines Wortes stellt für einen Men-

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schen, der unter Aphasie leidet, einen entscheidenden Schritt in die Welt der Konversation dar. Die Gestaltung einer Geste stellt einen wichtigen Schritt in die Welt des Bewußtseins dar.iDie Gestaltung eines Klangs und einer Geste wird zu Musik. Im Zusammenhang mit Kommunikation gibt es ein Paradoxon: Kommunikation existiert auch ohne Worte. Als Akademiker benötige ich Worte, um zu kommunizieren.Wir gebrauchen die Medien, um mit Worten zu kommunizieren. Wir bedienen uns der Worte, um zu sagen, wie gern wir jemanden haben.Wir bedienen uns ebenso der Worte, um zu lügen.Viele unserer Patienten jedoch kommunizieren ohne Worte. Der Gebrauch von Worten stellt für sie einen ständigen Kampf dar. Bei dem Versuch, den ‘Sprachlosen’ Sprache zu verleihen, sollten wir uns zuerst einmal vor Augen führen, daß die Grundlage für Kommunikation nicht die Worte selbst bilden.

Musik und Form

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s ist bekannt, daß sowohl bei der biologischen als auch der musikalischen Form wichtige Merkmale zu finden sind: Zeit, Phrasierung, Tonhöhe, Rhythmus und melodische Form (Aldridge 1989b). Ähnliches gilt für Studien zur Kommunikation. Die präverbalen Grundlagen der menschlichen Kommunikation werden Suprasegmente genannt; dies sind Zeit, Phrasierung, Rhythmus,Tonhöhe und Stimmfärbung (genauer gesagt,Timbre). Diese Merkmale werden von den Musiktherapeuten herangezogen, wenn es um die Bewertung von improvisierter Musik aus Therapiesitzungen geht, die auf Tonkassetten aufgenommen werden.

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Ein weiterer Aspekt bei der Musiktherapie ist die wechselseitige Gestaltung eines Dialogs durch die Teilnehmenden. „Der Körper des Sprechenden tanzt im Takt zu seiner Rede. Auch der Körper des Zuhörenden tanzt im Rhythmus zu dem Sprechenden!“ (Condon und Ogston 1966, S. 338). Diese Situation finden wir auch in einem Gespräch. Im Gegensatz zur Mehrheit der Kommunikationstheoretiker, die sich mit dem Verstehen des Gesprächsinhaltes beschäftigen, bemühen wir uns um ein tiefergehendes, grundlegendes Verstehen, z.B. darum, wie ein Dialog aufgebaut ist. Der Inhalt ist zwar von Bedeutung, jedoch stellt der Aufbau einer dialogischen Struktur, durch die eine inhaltliche Bedeutung erst möglich wird, den ersten wichtigen Schritt zur Kommunikation dar; ‘Klang ohne Worte.’ Nach Fais (1994) bedeutet Konversation eine simultan stattfindende, gemeinschaftliche Leistung der Teilnehmenden, und nicht nur die Schaffung von Inhalt durch abwechselnde Einzelbeiträge. Es wird später noch näher darauf eingegangen, wie aufbauend musikalisches Improvisieren für Kinder ist. Das simultane, gemeinschaftliche Hervorbringen von Klängen oder musikalischen Äußerungen bildet eine wichtige Stufe bei der Entwicklung einer differenzierteren Kommunikation. Die wichtigste Feststellung ist also die, daß die Grundlagen der Kommunikation von musikalischen Komponenten gebildet werden. Der vorrangige Aspekt bei Kommunikation ist der Rhythmus, in welchem wir mit uns und mit anderen in Beziehung treten. Kommunikation versteht sich in diesem Sinne nicht nur als Informationsübermittlung, sondern als Aufbau und Gestaltung von Beziehungen (Penn 1983). Unter diesem Aspekt stellt sich Musik als wirkungsvolles und dabei subtiles Kommunikationsmittel dar, das isomorph dem Lebensprozeß ist (Aldridge 1989a, 1991;lPenn 1983). In den Arbeiten von Condon (1966, 1975, 1980) wird die Integration von Verbalverhalten und Gestik deutlich. Sprache und Bewegung weisen eine selbstsynchrone Organisationsform auf, die im wesentlichen rhythmisch ist. Rhythmus stellt die Mittel zur Verfügung, mit denen Verhalten organisiert wird.

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Condon (1980) schreibt weiter, daß alle menschlichen Wesen auch mit anderen kommunizieren. Er bezeichnet dies als ‘interaktionale’ Synchronisation. Wir sind aktiv an der Kommunikation beteiligt. Beim Zuhören bewegen wir uns synchron zu der Artikulationsstruktur des Sprechenden. Bewegt sich der Sprechende zu seiner Rede, so bewegt sich der Zuhörende entsprechend. In einem so geordneten Kommunikationsablauf lassen sich ‘Senden’ und ‘Empfangen’ nicht voneinander trennen. Dies unterstreicht die Vorstellung, daß Therapeut und Patient ‘in der Musik vereint’ sind, wie sie von einigen Musiktherapeuten vertreten wird. Dazu Condon (1980): „Was sie durchfließt entspricht jedoch einer ähnlichen Ordnung; das Gesendete und das Empfangene werden von Sprechendem und Zuhörendem verstanden und geteilt. Bei allen Aspekten dieses Prozesses finden sich die Verbreitung und Annahme einer Ordnung. In einer kontinuierlichen Abfolge gibt es kein ‘dazwischen’ “ (S. 56). Jeder synchronisiert die Rhythmen erst für sich, dann geht der Zuhörer auf die rhythmische Struktur des Sprechenden, Singenden bzw. Spielenden ein. Beobachtet man die Körperbewegungen des Zuhörenden und dielArt, wie dieser spielt, kann man eine gewisse Vorstellung davon entwickeln, wie sie mit ihrer Wahrnehmung involviert sind.

Kindliche Entwicklung und rhythmische Interaktion

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ie Entwicklung von Sprache und Sozialisation ist bei einem Säugling abhängig vom Erlernen des rhythmischen Musters der Synchronisierung (Kempton 1980). Ein Säugling verfügt von Geburt an über eine genetische Grundlage für die Entwicklung einer individuell abgestimmten Physiologie, d.h. einer Eigensynchronisation. Der Sozialisationsprozess und der Gebrauch der Sprache sind jedoch abhängig von einer Anpassung dieser Rhythmen an die anderer Menschen, d. h. von einer interaktionalen Synchronisation des ‘Chronos’. Diese interaktionale Synchronisation spiegelt jene neuralen Zeitabstimmungsmechanismen wieder, die eine Grundlage der Kommunikation darstellen. Interaktionale Kreisläufe von Aufmerksamkeit und Affekt werden mit den Gleichgewichtsmechanismen des Nervensystems abgestimmt (Linden 1987). Lester et al. (1985) untersuchten die Synchronisierung der Bewegungen Neugeborener mit den sprachlichen Lauten, wenn ein Erwachsener mit ihnen sprach. Nach ihrer Auffassung beruht die Fähigkeit des Kleinkindes, soziale Stimuli zu erkennen, auf seinem Vermögen zur Selbstregulation. Kreisläufe rhythmischer Interaktion zwischen Kleinkindern und Ihren Müttern spiegeln die zunehmende Fähigkeit des Kindes wieder, kognitive und affektive Erfahrungen innerhalb der von den Eltern vorgegebenen rhythmischen Struktur zu organisieren. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um ein einseitiges Phänomen. Säuglinge zeigen Äußerungen und Gesten, bei denen es sich nicht um eine Imitation mütterlicher Verhaltensweisen handelt (Murray und Trevarthen 1986;Trevarthen 1985). Sowohl das Baby als auch die Mutter lernen die rhythmische Struktur des anderen kennen und modifizieren ihre eigene Verhaltensweise, um sie dieser Struktur anzupassen. Erregung,iAffekt und Aufmerksamkeit werden im Rhythmus einer Beziehung gelernt. Eben diese Methode wird in der Musiktherapie eingesetzt. Der Therapeut lernt die rhythmische Struktur des Patienten kennen und begegnet ihm dann innerhalb dieser Struktur. Stern et al. (1975) untersuchten das nonverbale Verhalten von Müttern und Kindern. Sie stellten dabei zwei parallele Kommunikationsmodi fest.

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Eine Art der Kommunikation bildet die Co-Aktion. Hierbei sprechen oder singen die Mutter und das Kind gemeinsam. Die Autoren sehen hierin ein frühes Verhaltensmuster, das von Struktur und Funktion her vergleichbar ist mit gegenseitigemlAnschauen,lAngleichung der Körperhaltung und Aufnahme des Rhythmus des anderen. Man findet die Co-Aktion bei Zuständen starker Erregung, die von Emotionen bestimmt sind. Bei Erwachsenen findet man diesen Kommunikationsmodus auf der zwischenmenschlichen Ebene in Erregungssituationen wie Wut,Traurigkeit, Freude oder in der Sexualität. Die andere Form der Kommunikation ist die alternierende. Dieser Kommunikationsmodus findet sich in einem Gespräch, wobei Sprecher und Zuhörer abwechselnd diese Rollen einnehmen. Es handelt sich um eine dialogische Struktur, die für den Austausch symbolischer Information von Bedeutung ist. Der alternierende Modus dient dem Erwerb von Sprache.Von einer Person werden Informationen gesandt, die von der anderen verarbeitet werden. Die Struktur unterscheidet sich von der Co-Aktion insofern, als hier nicht der Vorgang der Kommunikation an sich, sondern der kommunikative Gehalt im Vordergrund steht. Simultanes Sprechen oder Singen fördert gegenseitige Erfahrung und könnte für die Entwicklung von Bindungen und das Erleben eines Zugehörigkeitsgefühls von entscheidender Bedeutung sein. Diese beiden, strukturell unterschiedlichen Kommunikationsformen finden sich in der improvisierten Musik wieder.

Musiktherapie und Intensivpflege „...unabhängig vom Ausmaß der organischen Beeinträchtigung ... besteht gleichermaßen die Möglichkeit der Reintegration durch die Kunst, durch Gemeinschaft, durch Öffnen der menschlichen Seele, selbst in einem Fall, der vom neurologischen Standpunkt aus hoffnungslos erschien.“ (Sacks 1986)

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er Neurologe Oliver Sacks mahnt uns, die notwendige Balance bei der medizinischen Arbeit mit Patienten zu halten. Nur zu oft sind wir damit beschäftigt, den Patienten auf seine Defizite zu testen. Wir suchen nach Möglichkeiten, diese beheben, messen und einschätzen zu können.

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Wir sollten daher die narrative und symbolische Organisation des Patienten betrachten, um so seine Möglichkeiten und Fähigkeiten zu erkennen. Durch diese Sichtweise erscheint dann das, was vorher beeinträchtigt, unorganisiert oder chaotisch zu sein schien, als komponiert und fließend. Genau dies ist die Leistung der schöpferischen Künste: durch Kunst und Spiel erkennen wir das Selbst des anderen, ohne daß wir auf Messungen oder Einschätzungen zurückgreifen müssen.lAußerdem wird bei künstlerischen Aktivitäten der Zeit eine besondere Qualität abgewonnen, die ‘intentional’ ist, die vom Wollen des Patienten abhängig ist und geistige und seelische Kraft freisetzt. Angesichts der schwierigen Situation eines Intensivpatienten, der beeinträchtigt, verwirrt, intubiert, an eine Maschine angeschlossen, dabei oft bewußtlos und nicht in der Lage ist zu kommunizieren, müssen Mittel und Wege gefunden werden, mit diesen Patienten Kontakt aufzunehmen. In diesem Abschnitt gehen wir davon aus, daß das Bewußtsein in der Zeit existiert, wobei die subjektive Gegenwart die verschiedenen Pulse des Körpers organisiert. Dabei ergeben sich bei komatösen Patienten Fragen nach der Lokalisierung des Selbst, nach der Art von Kommunikation und Fragen, die die Medizin herausfordern, den menschlichen Körper als einen ‘wissenden Körper’ anzuerkennen. Die aktive, schöpferische Musiktherapie basiert auf dem bereits genannten Prinzip, daß der Mensch nicht wie ein Mechanismus organisiert ist, sondern wie eine musikalische Form, d.h. er ist ein harmonisches Gebilde aus interaktiven Rhythmen und melodischen Formen. Um unsere Kohärenz als lebendige Wesen in der Welt aufrechtzuerhalten, müssen wir auf kreative Weise unsere Identität anpassen. Anstatt nach einer ‘Zentraluhr’, die unsere Chronobiologie regelt, zu suchen, sollten wir uns an dem nicht-mechanistischen Konzept der Vorstellung einer musikalischen Organisation orientieren. Musiktherapie ist ein Medium, durch welches eine kohärente Organisation wiedergewonnen wird, d. h. Gehirn, Körper und Geist werden miteinander verbunden. Sacks (1986) schreibt dazu: „die Stärke von Musik oder einer erzählenden Form liegt darin, eine Organisation zu schaffen“ (S. 177). Durch Musik oder eine Erzählform wird das Erkennen von Beziehungen zwischen verschiedenen Elementen organisiert, und zwar nicht intellektuell, sondern direkt und unmittelbar. Bei Patienten im Koma las-

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sen sich Anzeichen für Aktivitäten, oft maschinell unterstützt, erkennen, wobei diese jedoch vollkommen unorganisiert sind. Die Person existiert in einem, auch vegetativ genannten, Zustand, der kaum als ‘Leben’ bezeichnet werden kann.

einen solchen Kontext bietet. Durch einen grundlegenden Zeitkontext lassen sich die Bewegungsmuster koordinieren. Und eben diese Muster sind erste sichtbare Anzeichen dafür, daß ein Patient, mit dem gesungen wird, aus dem Koma erwacht.

Parncutt (1987) nennt die Klänge, die durch den mütterlichen Herzschlag und ihre Schritte vermittelt werden, als die wichtigsten zur Konditionierung der Wahrnehmung von Rhythmus. Durch die Wahrnehmung solcher Pulsschläge als Ereignisse wird die Grundlage gebildet, auf der eine rhythmische Struktur entsteht. Dabei, so Parncutt, handelt es sich nicht um eine strukturelle Eigenschaft des Gehirns, sondern um einen Ausdruck dafür, wie wir mit unserer Umgebung interagieren. Ein Puls wird durch zwei Faktoren bestimmt. Der eine ist die Periodendauer, d. h. das Zeitintervall zwischen zwei aufeinanderfolgenden Ereignissen. Der andere Faktor ist die Phase, d.h. die Zeit, die tatsächlich während eines Ereignisses vergeht, bezogen auf eine Referenzzeit.

Auf einer anderen Ebene dagegen finden sich die chronologisch festgelegten Pulse von Maschinen. Geht man davon aus, daß menschliche Aktivitäten auf Pulsen basieren, so zeichnen sich diese durch einen variablen Reaktivitätsbereich aus. Diese Pulse sind lebendig und werden im Zusammenspiel mit anderen Pulsen zu Rhythmen. Bei Maschinen ist dies nicht möglich, da sie nicht über eine Reaktivitätsbreite verfügen. So wird das, was bei menschlichen Aktivitäten variabel ist (das Tempo variierender Pulse), bei diesen Patienten zu einer Konstante. Die Aufgabe besteht nun darin, durch eine koordinierte Abwechslung Heilung zu erreichen; eine Aufgabe, die Maschinen bis jetzt noch nicht leisten können.Vielleicht liegt der Schlüssel zur Heilung darin, daß das Bewußtsein des Patienten durch das Bewußtsein des Therapeuten stimuliert wird, und dieses Bewußtsein läßt sich nicht von der lebendigen, rhythmischen Realität unserer Physiologie trennen.

Periodizität stellt einen wichtigen Schlüssel zum Verstehen von Patienten im Koma dar. Um einen musikalischen Puls als solchen wahrzunehmen, muß er innerhalb einer bestimmten Zeitspanne liegen. Die zeitliche Dauer, die vom Kurzzeitgedächtnis noch als psychologische Gegenwart erlebt wird, ist auf Sekunden beschränkt. Gerstner (1994) hat an Säugetieren gezeigt, daß die Zeitspanne etwa drei Sekunden beträgt, in der aufeinanderfolgende Ereignisse noch in eine ‘subjektive Gegenwart’ integriert werden können. Für das komplexe motorische Verhalten und Bewegungsmuster des Menschen ist eine koordinierende Tätigkeit auf der Basis von Pulsen erforderlich, da durch diese eine rhythmische Struktur aufgebaut wird. Um komplexe Bewegungsmuster aufbauen zu können, müssen komatöse Patienten erst wieder eine rhythmische Struktur aufbauen. Dies ist auch die Grundlage jeder musikalischen Aktivität, wobei es sich, wie bereits erwähnt, nicht nur um eine Hirnaktivität, sondern um eine Interaktion zwischen der Person und ihrer Umgebung handelt. Weiterhin müssen Pulsschläge, damit sie als rhythmische Abfolge wahrgenommen werden können, in ungleichmäßigen Abständen aufeinanderfolgen. Daher können ‘Maschinengeräusche’ auch keinen rhythmischen Kontext bilden, in dem sich Menschen als gegenwärtig erleben und ihre Bewegungen dadurch koordinieren. Indem man mit dem Patienten singt oder musiziert, erhält man eine Zeitstruktur, die

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Wenn man Körpersysteme sowohl als proaktiv als auch als reaktiv versteht, ist für absichtsvolles Verhalten und Bewußtsein vielleicht der Kontext menschlicher Kommunikation erforderlich. Nehmen wir an, daß die verschiedenen Körperrhythmen durch einen komatösen Zustand oder nach einem größeren chirurgischen Eingriff gestört sind. Dabei stellt sich wieder die Frage, wie sich diese Verhaltensweisen integrieren lassen, und wo diese Integration stattfindet. Integration erscheint so als ein Merkmal der gesamten Organisation im Verhältnis zur Umwelt und nicht stofflich an eine Zelle oder ein Organ gebunden. Innerhalb der Umgebung des Patienten bildet der menschliche Kontakt eine wesentliche Komponente, und es besteht Grund zu der Annahme, daß auch dieser Kontakt auf Rhythmus basiert. Die Frage, die sich uns als Ärzten und Wissenschaftlern bei der Behandlung von Patienten im Koma oder einem andauernden vegetativen Zustand immer wieder stellt, lautet: „Wo befindet sich die Person und wie kann ich mit ihr Kontakt aufnehmen?“ Daraus ergibt sich für uns als (Mit)Menschen die Frage: „Wo bin ich?“

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Welcher Teil des Therapeuten tritt mit dem bewußtlosen Patienten in Kontakt? Wenn es möglich ist, daß wir durch unsere musikalische Ausdrucksform, z. B. durch Singen, dem Patienten näherkommen, können wir dann nicht auch darauf achten, wie wir mit dem Patienten in seinem Atmungsmuster sprechen und wie wir ihm dann bei der Pflege mit der eigentlichen Form unserer Körper entgegentreten? Die Möglichkeit, mit bewußtlosen Patienten zu kommunizieren, wirft auch die ethische Frage nach der Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen auf, wenn das Gehirn und die Person nicht länger als ein und dasselbe betrachtet werden (Mindell 1989). Wenn Patienten keine Reaktionen zeigen, so kann das daran liegen, daß wir Ihnen nicht die menschlichen Bedingungen bieten, unter denen bzw. mit denen sie reagieren können.Wir als Therapeuten stellen die Rahmenbedingungen dar, die eine Heilung ermöglichen.

Diskussion

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ie grundlegenden Elemente menschlicher Kommunikation sind musikalischer Natur. Physiologische, psychologische und soziale Aktivitäten finden in einem zeitlichen Kontext statt, der dynamisch und von musikalischer Struktur ist. Menschliche Aktivitäten sind grundlegend als Hierarchie rhythmischer Anpassungsprozesse organisiert, und zwar innerhalb des Individuums als Selbstsynchronisation und in Beziehungen als interaktionale Synchronisation. Wie wir bereits im Zusammenhang mit komatösen Patienten gesehen haben, ist es die Koordination von Pulsen zu einer musikalischen Gestalt, die der Heilung zugrunde liegt, und die vielleicht sogar die Grundlage zu höherer Erkenntnis bildet. Während bei einem physikalisch-medizinischen Ansatz nach einem materiellen Zeitgeber oder einem Ort, an dem eine solche Koordination stattfindet, geforscht wird, sollten wir vielleicht einer musikalischen Metapher den Vorzug geben, die auf Prozeßstabilität ausgerichtet ist. Eine solche Prozeßstabilität ist nicht-materiell; sie geschieht.Wir können das Ergebnis von Organisation sehen, aber der Ort, wo sie stattfindet, läßt sich nicht lokalisieren. Es bedarf eines derartigen Verständnisses von Phänomenen wie Prozessen und Organisation, als in die Zeit eingebundene Strukturen, will man die Heilkräfte der Musik verstehen.

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Bei einem Zusammenbruch der Synchronisation des Verhaltens, tritt das Pathologische hervor. Die Einschränkung bezüglich musikalischer Aspekte der Kommunikation, also Tonhöhe, Betonung, Artikulation, Timbre und Flüssigkeit, scheint auf einen psychopathologischen Zustand zu deuten.Verbessern sich diese Qualitäten, scheint dies auf eine Gesundung, aber auch auf den Fortbestand einer kohärenten Identität zu deuten. Man kann annehmen, daß eine Therapie mit improvisierter Musik (Nordoff/Robbins 1977) ein wirksames Mittel darstellt, um Kommunikation im Sinne einer personellen und interpersonellen Integration zu fördern. Es könnten alternative, kreative Dialoge innerhalb der einzelnen Person gefördert werden, damit sie nicht von sich selbst oder von anderen Personen entfremdet werden. Zudem sollten Kliniker unabhängig davon, aus welchem Fachbereich sie kommen, dazu angeregt werden, den musikalischen Komponenten der Kommunikation Beachtung zu schenken. Auf diesem Wege könnten die Künste wie auch die Wissenschaft die medizinische Praxis bereichern. Eine kreativ gestaltende Musiktherapie bietet die Möglichkeit, auf dynamische Weise das Individuum als ganzheitliches Selbst, auch in Beziehung zu einer anderen Person, zu hören.Wir können hören, wie die Person in ihrem Dasein zutage tritt, indem er oder sie eine Beziehung in der Zeit aufbaut. Durch die Musiktherapie erhalten die beteiligten Personen außerdem die Möglichkeit, sich konkret als Selbst in der Zeit zu erfahren; sie hören, im wahrsten Sinne des Wortes, ihr Selbst im Sein. Wenn das Überleben des Menschen bestimmt wird von dem Repertoire an flexiblen Reaktionen, um innere Bedürfnisse und äußere Anforderungen zu bewältigen, dann wird vielleicht beim musikalischen Improvisieren auf akustischem Weg die Kreativität vermittelt, mit der eine Person diese Anforderungen bewältigt.Vielleicht kann man Krankheit als einen Zustand beschreiben, bei dem die Person in ihren Möglichkeiten eingeschränkt ist, kreativ zu improvisieren (d.h. neue Lösungen für ein Problem zu entwickeln) oder nur ein begrenztes Repertoire an Bewältigungsformen besteht. Durch die Förderung der Entwicklung von kreativen Reaktionsformen ließen sich dann die Möglichkeiten für eine Genesung schaffen. Sie basieren auf den kreativen Fähigkeiten der gesamten Person und fördern ihre Autonomie. Die Katalysierung der Selbstheilungskräfte ist ein zentraler Punkt in der medizinischen Heilkunst, die im ‘Konzert’ mit der medizinischen Wissenschaft gelingen kann.

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„Der Körper des Sprechenden tanzt im Takt zu seiner Rede. Auch der Körper des Zuhörenden tanzt im Rhythmus zu dem Sprechenden!“

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LITERATUR ZUR MUSIKTHERAPIE IN KRANKENHÄUSERN David Aldridge

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n der Medizinischen und in der Pflegepresse hat es in Form von Briefen oder ganzen Artikeln eine Reihe von Überblicken zur Musiktherapie gegeben. Die Hauptbetonung liegt auf der beruhigenden Wirkung von Musik und ihrer Notwendigkeit als Gegenmittel zum übermäßig technologischen medizinischen Kurs (Bailey 1985; Brody 1988; Carlisle 1990; Frampton 1986; Frampton 1989; Jacob 1986; Morris 1985; Olivier 1986; Parent-Bender 1986; Pouget 1986; Rowden 1984; Schei 1989; Stern 1989;lThiebaud 1986;lWein 1987). Die meisten Berichte beschäftigen sich mit passiver Musiktherapie und dem Vorspiel von Musikaufnahmen für die Patienten. Ornstein und Sobel (1989) betonen die Notwendigkeit gesunder Vergnügen wie Musik, Aroma und schöne Anblicke, um Streß zu reduzieren und das Wohlbefinden zu steigern. Ihr Anliegen ist, darauf hinzuweisen wie wichtig es ist, einen Mindestbedarf an sinnlichem Vergnügen zu erhalten. Dieses Argument für das Vergnügen ist nicht hedonisch gedacht, sondern um herauszustellen, daß das moderne Leben unsere sinnliche Umgebung aus der Bahn wirft. Aus dieser Perspektive ist unsere sinnliche Umgebung

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verseucht und Aktivitäten wie Musikhören haben eine wohltuende Wirkung auf unseren Körper. Die Verbindung zwischen musikalischen Formen, humaner Physiologie und Biologie wird als eine Erweiterung des Nordoff-Robbins Ansatzes (Nordoff und Robbins 1977) auch an anderer medizinischliterarischer Stelle betont (Aldridge 1996).

Musik im Krankenhaus

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ach dem zweiten Weltkrieg wurde die Musiktherapie intensiv in amerikanischen Krankenhäusern entwickelt (Schullian und Schoen 1948). Seitdem haben einige europäische Krankenhäuser, insbesondere auf dem Kontinent, die Musiktherapie in ihre Praxis aufgenommen (Goloff 1981; Jedlicka und Kocourek 1986; McCluskey 1983) und die europäische Tradition der Forschung und Praxis in Krankenhäusern weitergeführt (Leonidas 1981). Der Pflegeberuf, besonders in den USA, hat den Wert der Musiktherapie erkannt und sich für ihren Einsatz als eine wichtige pflegerische Intervention engagiert (Cook 1986; Fletcher 1986; Frandsen 1989; Frank 1985; Glynn 1986; Grimm und Pefley 1990; Keegan 1987, 1989; Marchette, Main und

Redick 1989; McCaffery 1990; McCluskey 1983; McLellan 1988; Moss 1987; Mullooly, Levin und Feldman 1988; Prinsley 1986; Sammons 1984; Updike 1990a; Walter 1983), selbst wenn keine Musiktherapeuten zurlVerfügung stehen (Cook 1981). Obwohl wenig zu den Vorteilen der Musiktherapie in der Allgemeinmedizin veröffentlicht worden ist, wird durchgehend davon ausgegangen, daß die emotionale und physiologische Gesundheit des Patienten verbessert wird (Goloff 1981). Diese Erwartung einer allgemeinen Gesundheitsbesserung ist noch nicht durch eine breite Basis von Forschungsstudien bestätigt worden, obwohl McCluskey (1983) eine überzeugende Rechtfertigung für den Einsatz rezeptiver Musik als Anästhesiehilfe bei chirurgischen Eingriffen hervorbringt, die er der medizinischen Literatur und eigener Erfahrung zugrundelegt.

Psychiatrie

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ie veröffentlichte Literatur zum Thema Psychiatrie beruht auf der stationären Behandlung im Krankenhaus (Benjamin 1983; Brasseur 1986; Devisch und Vervaeck 1986; Meschede, Bender und Pfeiffer 1983; Schwabe 1978) und spiegelt den psycho-

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therapeutischen Ansatz im Zeichen des Psychiaters Altshuler (1948) wieder. In einer Studie chronisch psychiatrisch kranker Patienten, die bei den Mahlzeiten störendes und gewalttätiges Verhalten zeigten, konnte die Musik auf Kassette, die im Hintergrund gespielt wurde, um eine entspannte Atmosphäre zu stimulieren, das Störverhalten verringern. In Kontrast dazu, haben Meschede und seine Kollegen (Meschede et al. 1983) das Verhalten einer Gruppe chronisch psychiatrisch kranker Patienten acht Wochen lang während aktiv musizierender Sitzungen beobachtet. Diese Studie war unschlüssig, jedoch fand sie heraus, daß die subjektiven Gefühle der Patienten keine Korrelation mit den Beobachtungen der Gruppenleiter über den extrovertierten Ausdruck dieser Gefühle aufwiesen.

Psychotherapie

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ontinentaleuropa hat zum Einsatz der Musik, insbesondere in bezug auf Einzelund Gruppentherapien ermutigt (Behrends 1983; Brasseur 1986; Gross und Swartz 1982; Heyde und von Langsdorff 1983; Kaufmann 1983, 1985; Lengdobler und Kiessling 1989; Pfeiffer,lWunderlich, Bender et al. 1987; Reinhardt, Rohrborn und Schwabe 1986; Schmuttermayer 1983; Schwabe 1978), um die Patienten zum Erwecken ihrer Emotionen aufzumuntern und um ihnen bei der Bewältigung unbewußter intrapsychischer Konflikte zu helfen. Diese Situation überrascht nicht angesichts der Tatsache, daß die Wurzeln der Psychoanalyse in Mitteleu-

ropa zu finden sind. Gruppenpsychotherapie ist in der ehemaligen DDR von Kaufmann (1983, 1985) sowohl stationär als auch ambulant eingesetzt worden. Seine Arbeit beruht auf den psychodynamischen Musiktherapiemethoden von Schwabe (1978). Auch Reinhardt (Reinhardt und Ficker 1983a; Reinhardt et al. 1986) entwickelte Schwabes Methode in der Arbeit mit depressiven Patienten, wobei beabsichtigt war, diese Patienten durch Musikhören zu einer Gegenüberstellung mit sich selbst und ihrer Umgebung zu lotsen, um ihnen die Gelegenheit zu geben, vergangene Konflikte aufzuarbeiten. Schmuttermayer (1983), der auch in der früheren DDR tätig war,lbenutzte vier Arten der Musiktherapie (Zuhören, Singen,Tanzen und Instrumentalspiel) mit einer Gruppe psychotischer Patienten. Die verschiedenen Therapieformen brachten unterschiedliche Reaktionen auf die Variablen ‘anxiety’ und ‘activity’. Die Therapie beeinflußt diese Variablen während gruppenzentrierter Therapie und steuerte die Gruppe zu mehr realitätsbezogenen Kommunikations- und Verhaltensformen, obgleich die Gründe für diese Behauptung des Autors nicht augenscheinlich sind.

Musiktherapie

Schizophrenie

S

chizophrenie ist das Thema verschiedener Studien zur angewandten Musiktherapie (Pavlicevic und Trevarthen 1989; Pfeiffer et al. 1987; Schmuttermayer 1983; Steinberg und Raith 1985a; Steinberg und Raith 1985b; Steinberg, Raith, Rossnagl et al. 1985; Wengel, Burke und Holemon 1989).lAus der zuvor erwähnten Arbeit von Altshuler geht interessanterweise hervor, daß vor 40 Jahren psychotische Patienten mit kalten Umschlägen in einem Wasserbecken therapiert wurden und dabei Musik hörten, weil man davon ausging, daß das allgemeine Vorhandensein der Musik im Hydrotherapieraum wohltuend sei. Während moderne Musiktherapietechniken in ihrer Anwendung weniger drastisch erscheinen, bleibt es dennoch schwierig, die Behandlung schizophrener und psychiatrischer Patienten zu untersuchen. Pfeiffers Studie (Pfeiffer et al. 1987) demonstriert die Problematik: 1. Es war schwierig, homogene Gruppen akut psychotischer Patienten mit den Parametern Alter, Syndrom und Diagnose zu finden, bei denen nicht auch noch andere Probleme (z.B. durch Alkohol oder Drogen) erschwerend hinzukamen. 2. Die Behandlung dieser Patienten erforderte auch andere Psychopharmaka, die zusätzliche Variabilität verursachten. 3. Die Patienten neigten zu Krisen, die eine Veränderung im Umgang mit ihnen erforderte, die wiederum eine Veränderung der Medikation notwendig machen konnte. Da

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aber die Patienten über einen Zeitraum von 27 Wochen in Behandlung blieben, hätte man vielleicht voraussehen können, daß derartig akute Formen der Psychose zwangsweise zu Krisen führen mußten. 4. Der Zustand aller Patienten, auch derer, die auf der Kontrollwarteliste standen, verbesserte sich, weil die psychotherapeutischen Hilfeleistungen in der Umgebung von München auf solche Patienten ausgerichtet waren. Bei insgesamt nur 14 Patienten war es aber schwierig Schlüsse über die Wirksamkeit der Musiktherapie zu ziehen, da sich während des ‘Follow-up’ (Nachbehandlungsphase) die Werte bei den behandelten Patienten allmählich abbauten und den Ausgangswerten näherten. Offensichtlich ist die Gesundheit psychotischer Patienten den Anforderungen des Alltags und den Verlockungen eines normalen Lebens auch nach einer scheinbar erfolgreichen Musiktherapiebehandlung nicht gewachsen. Eine Patientin, der es angeblich schon besser ging, fiel durch den Empfang eines Briefes von ihrem geschiedenen Ehegatten in eine Krise. Ein anderer Patient begab sich übers Wochenende auf eine Zechtour. Schmuttermayers Ansatz (1983) versuchte durch kombinierte Musikaktivitäten bei einer Gruppe schizophrener Patienten ihre Angst zu mildern und die Interkommunikation zu verbessern. Gemessen an der Beobachtung des Patientenverhaltens und deren mit Hilfe einer Adjektiven-Checkliste verfaßten Selbstberichte, schien sich die

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Musiktherapie

Kommunikation durch die Entwicklung eines gemeinsamen Rhythmus innerhalb der Gruppe insgesamt zu verbessern.lAktivität wurde durch Instrumentalspiel erhöht, aber durch Tanz und Musikhören gemindert. Der Anstieg von Angst während des Instrumentalspiels und Tanzens konnte innerhalb des therapeutischen Kontextes der Gruppe verarbeitet werden. Singen reduzierte Angst. Was die Ermittlung eineriVoraussagbarkeit in dieser Studie betrifft, ist es möglich, daß der rhythmische Kontext der Aktivitäten die Emotionskontrolle förderte. Innerhalb der letzten Jahre haben Forscher versucht, das Verhältnis zwischen der musikalischen Leistung und der emotionalen Reaktion schizophrener Patienten zu verstehen (Steinberg und Raith 1985a, 1985b; Steinberg et al. 1985). Das zugrundeliegende Argument dieser Arbeit ist: (i) daß die Produktion von Musik abhängig ist von der Kontrolle über tieferliegende Emotionen und (ii) daß bei psychiatrischen Patienten der musikalische Ausdruck durch die Krankheit negativ beeinflußt wird. Steinberg und seine Kollegen entdeckten, daß in dem musikalischen Spiel der endogen-depressiven Patienten Stabilität und Rhythmik durch ihre abgeschwächten motorischen Fähigkeiten beeinflußt wurden, während die manischen Patienten auch Schwierigkeiten hatten, die musikalischen Phrasen zu beenden. Das Zeitmaß der Musik schien von Depressionen unbeeinflußt, aber von der Wirkung der Medikamente abhängig zu sein. Schizophrene Patienten zeigten Veränderungen in den Dimensionen musikalischer Logik und Ordnung. In neuerer Zeit haben Pavlicevic und Trevarthen (1989) das musikalische Spiel von

15 schizophrenen Patienten, 15 depressiven Patienten und 15 klinisch normalen Kontrollpersonen miteinander verglichen. Signifikante Differenzen in der musikalischen Interaktion zwischen Therapeut und Patient wurden mit Hilfe einer eigens dafür entwickelten Skala zwischen den Gruppen festgestellt. Diese Musik-Interaktionsskala mit sechs Interaktionsebenen - vom gänzlich fehlenden Kontakt (Level 1) bis zum etablierten gegenseitigen Kontakt (Level 6) wurde entwickelt, um den emotionalen Kontakt zwischen Therapeut und Partner evaluieren zu können. Ein kritisches Element in der musikalischen Interaktion ist die Einstellung eines gemeinsamen musikalischen Pulses, der als eine Reihe regelmäßiger Taktschläge definiert wird. In der obengenannten Studie schienen schizophrene Patienten musikalisch kaum ansprechbar und idiosynchratisch in ihrem Spiel, was ein Korrelat mit anderen Studien zur Schizophrenie darstellt (Fraser, King,Thomas et al. 1986; Lindsay 1980). Die depressiven Patienten schienen seltener die musikalische Initiative ergreifen zu wollen, obwohl es dem Therapeuten gelang, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Die Kontrollpersonen konnten sowohl mit dem Therapeuten eine musikalische Partnerschaft eingehen als auch selbst die musikalische Initiative ergreifen. Fehlende Reziprozität von den schizophrenen Patienten schien der dominante Faktor zu sein, der die Kontaktaufnahme verhinderte und dadurch die Interkommunikation anhaltend störte. Jedoch steht dieser Befund bei individuellen Patienten im Gegensatz zu den oben erwähnten Gruppenstudien, die von ‘offener’ Kommunikation innerhalb der Gruppe sprechen. Die Stärke

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der Arbeit von Pavlicevic liegt darin, daß ihre Ergebnisse eine solide Basis empirischer Daten hat und im Gegensatz zu vielen Arbeiten zur Gruppentherapie diese Ergebnisse in aller Klarheit begründet werden. Die Spracheigenarten, die manche Formen der Schizophrenie begleiten, haben zwangsweise zu einer Verknüpfung zwischen Sprachstörungen und musikalischen Sprachkomponenten (Fraser et al. 1986) und zwischen der Verarbeitung von Sprache und musikalischer Information (Green 1986) geführt. Frasers Studie (1986) ergab, daß die Sprache von Schizophrenen weniger wohlgeformte Sätze mit häufigen Versprechern und Fehlstarts enthielt und einfacher war als die fließende, fehlerfreie und komplexe Sprache der Kontrollpersonen. Lindsay (1980) vertritt den Standpunkt, daß soziales Verhalten von der Fähigkeit zur sozialen Sprachkommunikation abhängig ist. In sich gekehrte Patienten reden mit weniger spontanen Sprachäußerungen und ihre Sprache kann durch eine Anpassung ihrer Ausdrucksweisen und den Aufbau von Dialogen von einfachen Interaktionen bis zu komplizierten Sequenzen verbessert werden: dies ist zugleich ein Merkmal des Dialogspiels bei improvisierter Musiktherapie. Condon (1975, 1980) verfaßte eine Reihe Arbeiten zum Thema rhythmischer Interaktion und Kommunikation, die sich mit dem Vergleich gefilmter Abschnitte vom normalen und pathologischen Verhalten beschäftigen.Während bei normaler Kommunikation Sprache und Körperbewegungen nach einem harmonischen und geordneten Muster koordiniert waren, wobei es möglich war, Kontakt mit dem Patienten aufzunehmen (was auch Pavlicevic feststellte) und ein ge-

meinsames Muster verknüpfter Parameter etabliert werden konnte, das die Musiktherapeuten als musikalisch erkennen konnten (Klangfarbe,Tonhöhe, Phrasierung, Zeitmaß), zeigt eine Filmanalyse der Interaktion zwischen einem schizophrenen Patienten und dem Therapeuten deutliche Unterschiede in Körperbewegung und Sprachmuster. Dieser Patient hatte im Gegensatz zum normal sprechenden ‘halbgefrorene’ Körperbewegungen ohne Variation der Kopf- und Körperhaltung. Sein Blick war über längere Zeit auf einen Punkt jenseits des Therapeuten fixiert und seine Sprache war monoton und durch tiefe Seufzer unterbrochen (Condon und Ogston 1966). Im weiteren Verlauf seiner Untersuchung stellt Condon die zumeist musikalischen suprasegmentalen Sprachfaktoren heraus, die die Sprache eines normalen Menschen von der eines depressiven Patienten unterscheiden. Gruppenmusiktherapie ist der Hauptansatz zur musiktherapeutischen Behandlung von Jugendproblemen (Behrends 1983; Friedmann 1982; Mark 1986, 1988; Phillips 1988). Friedmann (1982) empfiehlt die generelle Anwendung kreativer Therapien in der Behandlung drogenabhängiger Heranwachsender, weil dadurch spontane Handlungen angeregt werden, die Reaktionsfähigkeit des Patienten motiviert und eine Atmosphäre freier Ausdrucksmöglichkeiten begünstigt wird. Behrends (1983) verwendet Popmusik, um eine Partystimmung für die Jugendlichen zu schaffen, mit der Absicht, die ‘kommunikative Bewegungstherapie’ zu ermöglichen. Eine solche Stimmung, so der Autor, motiviert problematische Jugendliche, an der für die Lösung ihrer Identitätskrisen notwendigen

Musiktherapie

Psychotherapie teilzunehmen, was diese Arbeit mit denen verbindet, die Musik als Wegbereiter zur eigentlichen Psychotherapie einsetzen. Mark (Behrends 1983; Mark 1986, 1988) setzt auch Rockmusik, insbesondere Rocklyrik, als eine Überbrückung zu ‘hochresistenten’ Jugendlichen ein, um es ihnen zu ermöglichen, ihre Gefühle bezüglich ihrer Rolle in der Gesellschaft mitzuteilen, ihre Meinungen ohne Aggressivität auszudrücken und anderen zuzuhören. In dieser Form unterstützt die Musik die Artikulations-, Selbstdarstellungs- und Kommunikationsfähigkeit im Kontext der Psychotherapie. Um einen Autor zu zitieren (Saari 1986): „Jugendliche sind zu alt für Spieltherapie“. Phillips (1988), Psychotherapeut und Jazzanhänger, gibt einen Überblick über die Improvisation in der Psychotherapie und deren Verbindung mit jugendlichen Patienten. Er identifiziert vier wichtige Eigenschaften als eine Basis für den therapeutischen Einsatz von Improvisation in der klinischen Praxis: (i) um den Zugang zu seiner/ihrer Vergangenheit zu erlangen; (ii) um die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart zu lenken und zu konzentrieren; (iii) um sich wohl genug zu fühlen und auf die Kontrolle über den Ausgang der Aufgabe des Experiments während der Therapiestunde verzichten zu können und (iv) um die Signifikanz des rein zufälligen Ausdrucks zu erkennen. Er verbindet die Improvisationsfähigkeit mit der therapeutischen Aufgabe, Jugendli-

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che zu behandeln, die eine breite Palette Reaktionen hervorrufen können, die auch in bezug zu den vergangenen Erfahrungen des Therapeuten stehen und möglicherweise ganz neue Lösungen erlangen.

1988), bekommen regressive psychotische Patienten aktive Musiktherapie während weniger gestörte Patienten, die in der Lage sind, sich mit ihren emotionalen Problemen auseinander zu setzen, passive Musiktherapie erhalten.

Rehabilitation

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trategien für die Rehabilitation psychiatrischer Patienten mit Hilfe einer Gruppen- und Familienbeteiligung sind nicht nur innerhalb afrikanischer Traditionen zu finden (Ba 1988; Jochims 1990; Reinhardt und Ficker 1983b). Die Musiktherapie hat eine breite Basis innerhalb der Tradition psychiatrischer und allgemeiner Rehabilitation (Bason und Celler 1972; Gilbert 1977a; Heyde und von Langsdorff 1983; Lengdobler und Kiessling 1989; Morgan und Tilluckdharry 1982; Naeser und Helm-Estabrooks 1985; Pfeiffer et al. 1987; Porchet-Munro 1988; Updike 1990a;Wolfe 1978). Haag (Haag und Lucius 1984) bespricht Theorien, die psychosoziale Faktoren bezüglich des Umganges mit und der Entwicklung von Behinderungen berücksichtigen. Psychologisch intervenierende Ansätze werden mit Rücksicht auf ihre besondere Relevanz in der Rehabilitation dargestellt. Die Musiktherapie wird auch für Patienten empfohlen, die sowohl mit ihren Gefühlsäußerungen als auch mit der Interkommunikation Schwierigkeiten haben. In einem italienischen Krankenhaus für Psychiatrie, wo auch Familienberatung durchgeführt wird (Ba

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Musiktherapie

Psychosomatische Erkrankungen

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ort, wo sich innerhalb der Medizin physiologische und mentale Prozesse überschneiden, z.B. im psychosomatischen Bereich, scheinen individuelle und Gruppentherapien eine wichtige Rolle zu spielen (Lengdobler und Kiessling 1989). Multiple Sklerose ist eine chronische neurologische Erkrankung unbekannter Herkunft, die schwerwiegende neurophysiologische Symptome verursacht. Die für diese Krankheit typischen Schwierigkeiten: Angst, Resignation, Isolation und schwindende Selbstachtung können durch symp-

tomorientierte Medikation oder Physiotherapie kaum beseitigt werden. Lengdobler und Kiessling (1989) behandelten an einer Klinik, über einen Zeitraum von zwei Jahren, 225 Patienten mit Multiple Sklerose musiktherapeutisch. Jede Behandlungsphase dauerte ca. 4 bis 6 Wochen. Ein weiterer Teil ihrer Arbeit bestand darin, die musikalischen Parameter dieser Patienten herauszufinden, wobei sie Methoden einbezogen, die auf aktive Improvisation: Instrumentalspiel in Gruppen, Gesang, Musikhören und freie Malerei mit Musikbegleitung basierten. Die Größe der Gruppen wurde leider nicht notiert, die jeweilige Patientenverteilung innerhalb der jeweiligen Gruppe blieb unkontrolliert und die persönlichen Berichte der Patienten waren unstrukturiert. Die Berichte, die an die Öffentlichkeit gelangen, sind vage und demonstrieren die dringende Notwendigkeit eines präzisen Research-Designs mit einer zugrundeliegenden Struktur, um wertvolle Arbeiten am vorteilhaftesten zu präsentieren. Die Musiktherapie wurde schon in der Antike zur Linderung rheumatischer Schmerzen eingesetzt (Evers 1990) und in letzter Zeit mit der Betonung auf emotionale Erleichterung und Rehabilitation (Siniachenko, Leshchenko und Melekhin 1990). Quellen, die den spezifischen Einsatz von Musik bei Rheumatismus zitieren, sind rar.lTerminologien wie Gicht oder Gelenkschmerz sind eher zu finden als Rheuma; dies spiegelt die schon erwähnte Problematik, historische Vergleiche zu ziehen, da Terminologien und deren Bedeutungen sich ständig wandeln.

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Gynäkologie

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usik vom Tonband ist bei der Geburt als therapeutisches Mittel während der Wehen und der Entbindung eingesetzt worden (Clark, McCorkle und Williams 1981). Musiktherapie mag wohl Angst während der Geburt reduzieren, aber insgesamt sind die Ergebnisse nicht schlüssig.

Koronarpflege

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ehrere Autoren haben diesen Bereich in bezug auf die Krankenhauspflege (Bolwerk 1990; Davis-Rollans und Cunningham 1987; Gross und Swartz 1982; Guzzetta 1989; Philip 1989; Wein 1987) und die Zahnmedizin hin (Lehnen 1988) untersucht. Häufige Untersuchungen gab es im Hinblick der Reduzierung von Angst bei chronisch kranken Patienten oder der allgemeinen Behandlung von Angst (Chetta 1981; Daub und Kirschner-Hermanns 1988; Fagen 1982; Gross und Swartz 1982; Lengdobler und Kiessling 1989; Schmuttermayer 1983; Standley 1986). Die Intensivstation ist für Krankenhauspatienten ein besonders beängstigender Ort. Für Patienten nach einem Herzinfarkt, wenn die Herzrhythmen potentiell instabil sind, ist dieser Pflegezustand bedrohlich, weil er physiologische und psychologische Reaktionen rekursiv beeinflussen kann. Mehrere Autoren haben in ver-

schiedenen Intensiv- und Koronarpflegekliniken den Einsatz von Musikaufnahmen, die, um Angst und Streß zu reduzieren, über Kopfhörer vorgespielt wurden, untersucht (Updike 1990b). Bonny (Bonny 1983; Bonny und McCarron 1984) hat eine Reihe von Kassettenaufnahmen mit musikalischen Potpourris vorgeschlagen, die unterschiedlich ausgewählt werden können, nach Stimmungskriterien, assoziativer Metaphorik, Entspannungspotential und beruhigender Wirkung (Bonny 1978). Hierfür gibt es keine empirische Bestätigung, wenn auch Updike (1990a) in einer Beobachtungsstudie den Eindruck Bonnys, beim Vorspiel von Entspannungsmusik werde der systolische Blutdruck gesenkt und Angstzustände in entspannte Ruhe verwandelt, bestätigt. Rider (1985a, 1985b) argumentiert, daß krankheitsbedingter Streß durch die Desynchronisation der zirkadischen Oszillatoren verursacht wird und daß das Hören beruhigender Musik mit kontrolliert induzierter Metaphorik die Wiederherstellung der zirkadischen Rhythmen (gemessen an Körpertemperatur und Kortikosteroidwerten) fördern könnte. Diese Studie brachte keine definitiven Ergebnisse, insbesondere weil es keine Kontrollgruppe gab und das Studiendesign verwirrend war,twas den grundsätzlichen Unterschied zwischen Musik im Rahmen der Musiktherapie und Musik als Zusatz zur Psychotherapie oder zum Biofeedback hervorhebt.

Musiktherapie

Atmung

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as Verhältnis zwischen Musikhören und Atmungsveränderungen wurde auch unter anderen Voraussetzungen als in der Koronarpflege untersucht (Brody 1988; Formby et al. 1987; Fried 1990; Gross und Swartz 1982).

Fried (1990) präsentiert einen globalen Überblick der Integration von Musik in Atmungstraining und Entspannung. Dem Atmungstraining wird ein physikalischer Nutzen durch die Erhöhung des Luftvolumens ohne übermäßigen Verlust an CO2 zugesprochen.Typisch verängstigte Patienten haben eine relativ flache Brustatmung und eine Neigung zur Hyperventilation. Jedoch scheint die Wirkung von Musik paradox: während die Patienten Musik als tief entspannend, beruhigend und besänftigend beschreiben, deuten ihre physiologischen Reaktionen das Gegenteil an. Musik und Atmung sind eingesetzt worden, um alternative Bewußtseinszustände hervorzurufen. Frieds Ansatz korreliert die Bewußtseinscharakteristika und die Funktion der Musik in einer Veränderung dieser Werte als auch die musikalischen Qualitäten, welche zur Induktion von Ruhe und innerem Frieden beitragen können. Pflegeansätze haben auch von der anxiolytischen Wirkung von Musik in Verbindung mit Massage und Atemübungen zur Patientenberuhigung Gebrauch gemacht (Keegan 1987, 1989).

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Anästhesie

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ie Eigenschaft von Musik, Ruhe und Wohlbefinden induzieren zu können, hat ihren Nutzen auch in der allgemeinen Anästhesie gefunden (Keegan 1987, 1989). Patienten freuten sich, wenn sie im Operationsbereich durch Musik wach wurden (Bonny und McCarron 1984), wobei Musik zuerst im Raum und anschließend über Kopfhörer während des chirurgischen Eingriffes gespielt wurde. In einer Studie Lehmanns (Lehmann, Horrichs und Hoeckle 1985) bekamen in einem randomisierten Doppelblindverfahren Patienten, bei denen elektiv-orthopädische oder Unterleibseingriffe vorgenommen wurden, entweder eine Placeboinfusion (0,9% NaCl) statt Tramadol, um die Wirksamkeit von Tramadol als eine Komponente ausgewogener Anästhesie auszuwerten. Dazu wurde der postoperative analgesische Bedarf und die Wahrnehmung intraoperativer Vorkommnisse (Musikbeschallung über Kopfhörer) in der Evaluation der Tramadolwirkung berücksichtigt. Obwohl die Anästhesie bei beiden Gruppen komparabel war, zeigten die Gruppen frappierende Unterschiede, was die intraoperative Wahrnehmung betraf: während sich die mit Placebos behandelten Patienten an nichts erinnern konnten, war die intraoperative Musik bei 65% der mit Tramadol behandelten Patienten bewußt. Über die Fähigkeit, während einer Operation Musik hören zu können, wird auch von Bonny (Bonny und McCarron 1984) berichtet.

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Musiktherapie

Krebstherapie, Schmerzkontrolle und Hospizpflege

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rebs und chronische Schmerzen benötiigen komplexe koordinierte Ressourcen nicht nur medizinischer sondern auch psychologischer, sozialer und kommunaler Art (Aldridge 1996; Coyle 1987; Fagen 1982; Frampton 1986; Frampton 1989; Gilbert 1977a; Heyde und von Langsdorff 1983; Walter 1983). Die Hospizpflege in den USA und England hat versucht, diesen Bedarf an palliativen und unterstützenden Leistungen in Form von physischer, psychologischer und seelischer Hilfe für Sterbende und ihre Familien zu befriedigen (Aldridge 1996; Coyle 1987; Frampton 1986,1989; Heyde und von Langsdorff 1983; Jacob 1986). Diese Leistungen werden von einem interdisziplinären Team von Berufsmedizinern, -pflegern und Freiwilligen erbracht und schließen sowohl ambulante als auch stationäre Pflege ein. Im Support-Pflegeprogramm des Schmerzzentrums der neurologischen Abteilung am Sloan-Kettering Cancer Center in New York, gehört ein Musiktherapeut wie auch ein Psychiater, ein Pfleger, ein Neuroonkologe, ein Seelsorger und ein Sozialarbeiter zu diesem Team (Bailey 1983; Coyle 1987). Musiktherapie wird zur Beruhigung eingesetzt, um Angst zu reduzieren, um andere Schmerzkontrollmethoden zu unterstützen und um die Kommunikation zwischen Patient und Familie zu verbessern (Bailey 1983, 1984, 1985). Da Depressionen eine häufige Erscheinung bei Patienten dieser Gruppierung sind, ist es denkbar, daß die Musiktherapie auf diese Parameter und bei der Aufbesserung

der Lebensqualität einen Einfluß hat. Obwohl in den letzten Jahren Lebensqualität eine zunehmend wichtige Rolle in der Krebsbehandlung gespielt hat (Aaronson 1989; Clark und Fallowfield 1986; Gilbert 1977b; Gilbert und Stuart 1977; Gold 1986; Heyde und von Langsdorff 1983; Oleske, Heinze und Otte 1990; Spitzer 1987) und zuzüglich der Musiktherapie auch andere Kunsttherapien als wichtig geschätzt werden, ist der Nachweis für diese Überzeugung weitgehend anekdotisch. Bailey (Burch, Clegg und Bailey 1987) entdeckte eine signifikante Besserung der Gemütsverfassung von Krebspatienten während des gemeinsamen Musizierens im Gegensatz zum Einsatz von Musikkonserven, was die Autorin auf das menschliche Element zurückführt. Gründlicher untersucht wurde der Einsatz von Musik in der Kontrolle chronischer Krebsschmerzen, obwohl solche Studien das menschliche Element der ‘Live’-Vorstellung zugunsten aufgezeichneter Interventionen vernachlässigen. Kombinationen von pharmakologischer und nicht pharmakologischer Schmerzkontrolle werden von der modernen Medizin akzeptiert (McCaffery 1990), wobei die nicht-pharmakologische Intervention als eine Art Ablenkung betrachtet wird. Solche Ablenkung von der Konzentration auf Schmerzen wurde in einer Studie von Zimmermann (Zimmerman, Pozehl, Duncan et al. 1989) untersucht. In seinem klinisch kontrollierten Versuch mit Patienten, die an chronischen Schmerzen litten, spielte er ihre Lieblingsmusik vom Tonträger vor und gab Suggestionen. Das Ziel der Studie war, die selbstberichtete Schmerzlinderung der Patienten, die unter Kontrolle des analgesischen

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Gehalts des Blutes Schmerzmittel einnahmen, zu ermitteln. Es stellte sich heraus, daß die allgemeine Schmerzempfindung von Patienten, die randomisiert zur Musiktherapiegruppe zugeteilt wurden, reduziert war. Ferner wurde nicht nur der affektive, sondern auch noch die sensorische Komponente des Schmerzes, wie durch die im ‘Mcgill Music Questionnaire’ (Melzack 1975) bei Patienten, die Musik hörten, deutlich reduziert. Nicht nur das Leiden konnte als emotionale Erfahrung reduziert werden, sondern auch die Schmerzen wurden als weniger empfunden. Dieser Befund scheint der allgemeinen Überzeugung zu widersprechen, Musiktherapie sei primär eine Intervention auf der Basis qualitativer emotionaler Erfahrungsmerkmale und die Behauptung zu unterstützen, daß die Musiktherapie auch eine unmittelbare Wirkung auf sensorische Parameter hat. Zusätzlich zur Schmerzbewältigung, insbesondere in Schmerzzentren (Foley 1986; Godley 1987; Locsin 1988;Wolfe 1978), ist Musik als Entspannung und Ablenkung während der Chemotherapie (Kammrath 1989) zur allgemeinen Erleichterung und um Übelkeit und Erbrechen zu reduzieren (Frank 1985) ausprobiert worden. Bei dem Einsatz von Musikkassetten und ‘Guided imagery’ im Zusammenhang mit pharmakologischen Mitteln gegen Erbrechen hat Frank (1985) herausgefunden, daß die ‘State anxiety’ eindeutig reduziert wurde, mit einer anschließenden deutlichen Abnahme von Erbrechen, obwohl Übelkeit nicht reduziert wurde.Weil diese Studie nicht kontrolliert wurde, wäre es möglich, daß die Angstreduzierung das Ergebnis einer nor-

malen Angstreduktion nach Beendigung der Chemotherapie sei. Jedoch nahmen an dieser Studie Patienten teil, die zuvor schon Chemotherapie bekommen hatten und mit den Begleiterscheinungen der Übelkeit oder des Erbrechens vertraut waren. Die Tatsache, daß die Versuchspersonen Erleichterung empfanden, wurde als ermutigend für den Einsatz der Musiktherapie als therapeutische Methode angesehen.

Neurologische Probleme

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n vielen Fällen werden neurologische Erkrankungen wegen ihrer plötzlichen Erscheinung mit resultierenden physischen und/oder mentalen Beeinträchtigungen traumatisch (Jochims 1990). Im Hinblick auf das, was zunächst als hoffnungslose neurologische Zerstörung aussieht (Aldridge 1996; Jones 1990; Sacks 1986), scheint Musik eine Schlüsselfunktion in der Wiederherstellung früherer Fähigkeiten zu haben. Für manche Patienten mit Kopftraumabedingten Hirnschäden, kann das Problem ein vorübergehender Sprachverlust (Aphasie) sein. Musiktherapie kann eine bedeutende Rolle in der Aphasierehabilitation spielen (Lucia 1987). Melodische Intonationstherapie (Naeser und Helm-Eastabrooks 1985; O'Boyle und Sanford 1988) wurde entwickelt, um eine solche rehabilitative Funktion zu übernehmen, wobei kurze Aussagesätze in einfache, sich häufig wiederholende Melodiemuster eingebettet und von Fingerklopfen begleitet werden. Die Beu-

Musiktherapie

gungsmuster von Tonhöheveränderungen und Sprachrhythmen werden für ihre Parallele zum normalen Sprachgebrauch ausgewählt. Das Singen früher bekannter Lieder wird auch gefördert, um Artikulation, Fluß und Musterbildung von Sprache anzuregen, die mit musikalischer Phrasierung wesensverwandt sind. Die zusätzliche Stimulation durch das Singen innerhalb eines Kommunikationskontextes motiviert die Patienten, sich mitzuteilen und es wird angenommen, daß das bewußte verbale Verhalten hierdurch aktiviert wird. Bei Kleinkindern ist die Fähigkeit, eine kommunikative Mitteilung des Partners zu erwidern oder zu kompensieren, ein wichtiges Element in der Entwicklung kommunikativer Kompetenz (Murray und Trevarthen 1986; Street und Cappella 1989) und unerläßlich in der Aneignung von Sprache (Glenn und Cunningham 1984). Solche musiktherapeutischen Strategien können auch bei Erwachsenen eingesetzt werden, in der Erwartung, daß sie die Hirnfunktionen stimulieren werden, die der Wiederherstellung der Sprachfähigkeiten vorausgehen. Diese Hirnfunktionen, die im wesentlichen musikalisch-prosodischer Natur sind und auf die Plastizität des Gehirnes angewiesen sind, werden auch durch Musiktherapie unterstützt und erweitert. In Verbindung mit der Fähigkeit, die Rückgewinnung der Sprache zu unterstützen, kann Musik sinnvoll eingesetzt werden: um das Luftvolumen zu steigern, um respirativ-phonative Muster zu fördern, um rhythmischoder tempobedingte Artikulationsfehler

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auszubügeln und um den Patienten auf artikulatorische Bewegungen vorzubereiten. So gesehen, bietet Musik ein nicht chronologisches Zeitgefühl, das sich jeglicher Maßregelung entzieht und für die Koordination von menschlicher Interkommunikation lebenswichtig ist (Aldridge 1996).

Jacome ergänzt seine Studie mit der Empfehlung, Gesang und Musikalität bei aphasischen Patienten von Klinikern untersuchen zu lassen, was auch Morgan vorschlägt (Morgan und Tilluckdharry 1982).

Aphasiefällen (Morgan und Tilluckdharry 1982) wurde Gesang als eine willkommene Befreiung aus der Hilflosigkeit des Patientendaseins angesehen. Der Autor vermutet, daß Gesang ein Mittel zur Kommunikation von Gedanken nach außen darstellt. Obwohl der ‘neuere Aspekt’ von Sprache verlorengegangen war, blieb die ältere Funktion der Musik erhalten, weil Musik möglicherweise eine Funktion beider Hirnhemisphären ist. Berman (1981) meint, daß die Genesung nach Aphasie nicht durch neues Lernen in der nicht dominanten Hirnhälfte, sondern durch deren Übernahme der Verantwortung für die Sprache bewerkstelligt wird. Die nicht dominante Hirnhälfte könnte für den Fall eines regionalen Versagens mit einem Vorrat an Funktionen ausgestattet sein. Dies deutet auf eine allgemeine Flexibilität des Hirns hin (Naeser und HelmEstabrooks 1985), die zu einer Umverteilung der Sprachfunktionen bei Mehrsprachigen im Vergleich zu Einsprachigen führen (Karanth und Rangamani 1988) oder das Ergebnis von Lern- und Kultureinflüssen sein könnte, wobei Musik und Sprache die gleichen Merkmale aufweisen (Tsunoda 1983).

Beweismaterial für die globale Strategie derlVerarbeitung von Musik im Hirn ist in der klinischen Fachliteratur zu finden. In zwei

Ein Beweis dafür, daß Musikalität mit gewissen kreativ-produktiven Sprachvorgängen korreliert, brachte der Fall eines über-

Jacome (1984) berichtet von einem Patienten, der nach einem Schlaganfall sprachbehindert war und Probleme mit der Wortfindung hatte. Trotzdem „pfiff er häufig, anstatt den Versuch zu unternehmen, mit Phonemen zu erwidern.....er sang spanische Lieder spontan und ohne Hilfe, wobei Stimmlage, Rhythmus,Text und emotionale Intonation hervorragend waren. Er konnte nach Belieben klopfen, summen, pfeifen und singen.....(emotionale Intonation der Sprache), spontane emotionsgeladene Gesichtsausdrücke, Gestik und Pantomime waren überschwenglich“ (S. 309).

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Musiktherapie

durchschnittlich intelligenten zweijährigen Jungen, der Anfälle bekam, die sich als ‘Tick’artige Kopfverdrehungen bemerkbar machten und die immer wieder durch sein eigenes Singen induziert wurden, jedoch nicht durch Musikhören oder Musikphantasieren. Diese Anfälle bekam er auch, wenn er rezitierte und alberne oder witzige Wortwendungen und -spiele herausbrachte.Währenddessen registrierte das EEG die Anfallsaktivität in beiden temporal-zentralen Regionen, aber insbesondere in der rechten Region, die mit den klinischen Anfällen korrelierte (Herskowitz, Rosman und Geschwind 1984). Auch ältere Menschen werden nach einem Schlaganfall von Aphasie befallen. Wie Fallstudien berichten, ist Musiktherapie in Verbindung mit Sprachtherapie hier erfolgreich eingesetzt worden (Aldridge 1997). Gustorff (Aldridge, Gustorff und Hannich 1990) hat kreative Musiktherapie bei komatösen Patienten, die ansonsten nicht reagierend waren, erfolgreich eingesetzt. Indem sie ihren Gesang nach den Atmungsmustern des Patienten richtete, konnte sie Veränderungen im Bewußtsein stimulieren, die auf einer Koma-Meßskala meßbar und für den Pfleger sichtbar waren.

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KOMMUNIKATION, HERZTÄTIGKEIT UND MUSIKALISCHER DIALOG David Aldridge & Lutz Neugebauer

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ieser Artikel befaßt sich mit einer physiologischen Untersuchung während einer musikalischen Improvisations-Situation, die der Musiktherapie nachgestellt ist. Im Mittelpunkt des Interesses steht dabei das physiologische Geschehen bei zwei Menschen, während sie miteinander musizieren.Aktive Musiktherapie ist ein dialogischer Prozeß, bei dem sowohl Therapeut als auch Patient Teil eines musikalischen Prozesses sind. In der Auswertung musiktherapeutischer Situationen wird die Bedeutung dieses musikalischen Prozesses häufig in den Vordergrund gestellt..Es bleibt aber auch die Frage bestehen, welche physiologischen Auswirkungen dieser musikalische Dialog auf den Körper des Patienten hat. In der vorliegenden Untersuchung gehen wir einen Schritt weiter, indem wir die Frage stellen, welche Auswirkungen (während der musikalischen Vorgänge) auf beide Partner des Dialoges zu beobachten sind, während Sie gemeinsam improvisieren. Eine solche Untersuchungsperspektive ist keineswegs so naheliegend wie es scheint. Unsere Erwartung ist, daß eine therapeutische Beziehung sowohl den Patienten als auch den Therapeuten beeinflußt.lAm Ende unserer Ausführungen werden wir auch auf die mögliche Bedeutung unserer Ergebnisse für andere Arbeitsfelder eingehen. Um darstellen zu können, weshalb Musiktherapie sinnvoll und hilfreich ist, ist es entscheidend zu wissen, was sich während einer musikalischen Improvisation ereignet. Unsere Intention ist deshalb, eine Möglichkeit aufzuzeigen, körperliche Veränderungen beim Patienten während der Musiktherapie darzustellen. Hieraus könnte man ableiten, nicht nur jene Auswirkungen anzuerkennen, die Musiktherapie auf

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Musiktherapie

das seelisch/geistige Befinden hat, sondern auch solche, die bei einem Patienten auf der körperlichen Ebene auftreten.lAber selbst wenn gezeigt werden kann, daß Musik direkte Auswirkungen auf den Körper hat, ist es die gesamtkörperliche Organisation, der nicht-materielle Aspekt, der entscheidend für die Kommunikation ist, sowohl innerhalb einer Person als auch zwischen mehreren Personen (Aldridge 1996). Wie dem auch sei, unsere Sichtweise fußt auf der Überzeugung, daß Musik in der Lage ist, physiologische Veränderungen im Körper hervorzurufen. Ein Verständnis, das in unserer Kultur schon seit der Antike besteht (Aldridge 1993).

Herztätigkeit und Kommunikation

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m die Veränderungen, die in der Musiktherapie auftreten, zeigen zu können, suchten wir nach einem einfachen physiologischen Indikator. Aus einer vorausgegangenen Literaturrecherche und Durchsicht zum Thema Kommunikation boten sich angemessene Parameter aus Studien zur Veränderung der Kreislauf- und Herztätigkeit an. Die wesentlichen Untersuchungen bei diesen Arbeiten waren solche, die sich mit der Veränderung des Blutdrucks und der Pulsfrequenz befaßten. Für die vorliegende Untersuchung entschieden wir uns für die Pulsfrequenz, da sie als Parameter relativ leicht zu beobachten und zu erfassen ist. Wie die Musik entwickelt diese sich im zeitlichen Verlauf und läßt sich als solcher darstellen.Was aber vielleicht noch wichtiger für diese Entscheidung ist: sie ist ein Parameter, der für die medizinische Wissenschaft akzeptabel ist, mit der wir als therapeutische Disziplin in einen Dialog treten wollen.

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Die wesentlichen präverbalen Grundlagen menschlicher Kommunikation - Suprasegmentale genannt - sind:lZeit, Phrasierung, Rhythmus,Tonhöhe und der Klang der Stimme. Eben diese genannten Qualitäten werden auch von Musiktherapeuten betrachtet, wenn sie die Auswertung von Improvisationen in der Musiktherapie anhand der Tonbanddokumentationen vornehmen. Auf diese genannten Faktoren der Kommunikation wurden wir zunächst aufmerksam, als wir uns mit der Literatur zu koronaren Herzerkrankungen und der sogenannten Typ A-Persönlichkeit befaßt haben (Aldridge 1989; Dielmann et al. 1987; Dimsdale und Stern 1988; Friedmann et al. 1982; Linden 1987; Lynch et al. 1981; Smith und Rhodewalt 1986). Menschen, die an Herzkrankheiten litten, wurden in Terminologien beschrieben, die sich auf eine musikalische, ebenso wie auf eine physiologische Sichtweise beziehen ließ. Laute, schnelle Sprache mit einer begrenzten Bandbreite an Klangmodulation sowie Sprachmuster, welche die Erwiderungen des Gesprächspartners unterbrachen, schienen etwas wiederzugeben, was Musiktherapeuten in ihren Beschreibungen von musikalisch schöpferischen Improvisationen ebenfalls hörten und ausführten. In der Musiktherapie stehen wir in einer Situation, die durch die gleichzeitige Entstehung eines Dialoges zwischen zwei Partnern gekennzeichnet ist. Diese Situation trifft auch auf ein Gespräch zu.Während der überwiegende Teil der Kommunikationstheorien im wesentlichen fokussiert, wie wir die Bedeutung des Gesagten in einem Gespräch herleiten und verstehen können, steht für unse-

re Betrachtungen die Frage im Mittelpunkt, wie ein Dialog gestaltet wird, damit er Verständnis ermöglicht. Zugegebenermaßen ist die Bedeutung wichtig. Das Entstehen einer Dialogstruktur, die es ja erst ermöglicht, eine Bedeutung zu vermitteln, ist aber der erste wichtige Schritt jeder Kommunikation. Fais (1994) schreibt dazu, Kommunikation sei eine simultane Koproduktion der beteiligten Personen, nicht nur eine Konstruktion von Bedeutungen durch alternierende Beiträge.

Zeit

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in zentrales, aber umstrittenes Feld in der Forschung zu koronaren Herzerkrankungen ist das der zuvor bereits erwähnten Typ A-Persönlichkeitsstrukturen. Diese lassen sich dadurch charakteristisch beschreiben, wie die jeweilige Person auf Umfeldanforderungen reagiert bzw. diese hervorruft. Helmann (1987) bezieht sich in seiner Begründung koronarer Herzerkrankungen auf kulturelle Zusammenhänge, in die auch die „einzigartigen und symbolischen Charakteristiken eines westlichen Zeitverständnisses“ (S. 969) eingewoben sind. Diese Sichtweise ver-

Musiktherapie

steht uns als „die Verkörperung (im wörtlichen und übertragenen Sinne) der Wertvorstellungen der Gesellschaft“ (S. 971). Jeder einzelne stehe in einem Konflikt von Selbstanforderung und gesellschaftlichen Anforderungen, einem Widerspruch, der für manche Menschen sogar pathogen wirken kann. Im Mittelpunkt dieser kulturellen Gesamtkonstruktion (Helmann 1985) steht die Auffassung von Zeit. Der westliche Zeitbegriff ist im wesentlichen linear und monochron geprägt. Eine Zeitauffassung, die jeden einzelnen in eine von außen gegebene Ordnung einbindet und ihm eine äußere Struktur aufprägt. Dieses chronologische Zeitverständnis hat sich aus den Notwendigkeiten einer modernen Industriegesellschaft entwickelt, in der eine allgemeingültige öffentliche Ordnung existiert, aus der heraus Produktionsmittel ebenso koordiniert werden können, wie die Handlungen vieler Einzelpersonen. In diesem Zeitverständnis müssen Termine eingehalten werden, die Entwicklung verläuft linear und ihre Messung ist quantitativ. Ein solches Zeitverständnis wird als ‘Chronos’ bezeichnet. Es existieren aber durchaus andere Konzepte von Zeit. Solche, die eher als persönlich, denn als öffentlich bezeichnet werden könnten: Zeit als ‘Kairos’. Dieses Zeitkonzept ist polychron und näher am wachsenden biologischen Verständnis der physiologischen Zeiten orientiert, welche sich rhythmisch koordinieren und einfügen (Johnson und Woodland-Hastings 1986), ein Konzept, das sich nicht an einer äußeren Uhr,lsondern an der einzelnen Person als Gesamtorganismus ausrichtet. Zeit ist in dieser Konzeption in einem Zustand ständigen Fließens;

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sie richtet sich nach der Flexibilität und Konvergenz multipler Aufgaben. Diese Konzepte sehen Zeit als etwas, das aus dem ‘Selbst’ heraus entsteht. Sie verstehen den kairologischen Moment als einen Augenblick der Entscheidung und des Auswählens. Hierin liegt der Bezug zu unseren Ideen zur Improvisation innerhalb der Musiktherapie - gemeinsam zu improvisieren bedeutet für die beteiligten Personen immer, sich innerhalb der Therapiesituation musikalisch zu entscheiden und diese Entscheidungen auch umzusetzen. Diese Sichtweise entspricht einer Konzeption, die man auch hinsichtlich von Krisensituationen haben kann. Krisen als Zeiten, in denen man sich entscheiden muß. Ein solches Zeitkonzept, eines der richtigen Entscheidung zur richtigen Zeit, das den Entscheidungsprozeß beinhaltet, paßt besser zur Musiktherapie als dasjenige, das eine mechanische von außen vorgegebene Zeit widerspiegelt. Abgesehen von diesen Anmerkungen begegnet uns Zeit in verschiedenen qualitativen Zuständen, je nachdem, ob wir beten, meditieren, lieben oder tanzen. Den meisten Menschen ist der Gegensatz einer Stunde, die man mit einem geliebten Menschen verbringt und die nur Minuten zu dauern scheint und einer Stunde, z.B. in einem Verwaltungstreffen, das sich wie Tage dahinzieht, aus eigener Erfahrung bekannt. Einige Autoren (Dossey 1982 und Helman 1987) vermuten eine physiologische Beteiligung, wenn man versucht, die äußerlich vorgegebene mit der inneren Zeit in Einklang zu bringen. „Es ist ein einzigartiger Versuch der westlichen Gesellschaft, eine Verbindung von Uhrzeit und der individuellen Phy-

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siologie zu erzwingen - zwischen den Abläufen der Bewegung, Sprache, Gestik., Herzschlag und Atmung - und kleinen Maschinen, die wir uns ans Handgelenk binden oder an Wänden aufhängen. Rush-hour,lAbgabefristen, Terminkalender,Verabredungen und Stundenpläne, all dies wirkt sich auf die Physiologie des modernen Menschen aus und es gibt ihm Hilfen für seine Weltanschauung und sein Selbstverständnis“ (Helman 1987, S. 974). Es können Spannungen zwischen der eigenen und der öffentlichen Zeit auftreten, als Resultat können Streß und Angst entstehen. In der Musik ist es möglich, diese verschiedenen Aspekte der Zeit zu erfahren, wenn sie in ihrer Verschiedenartigkeit nahtlos ineinandergreifen. Die Spannung zwischen persönlicher und öffentlicher Zeit treten uns in der Musik vielleicht sogar hörbar entgegen; einmal abgesehen davon, daß Musik die Möglichkeit bietet, diesen Unterschied zu erleben und daraus die oben genannte konzeptionelle Dimension zugänglich zu machen, kann in der Musiktherapie auch die Erfahrung einer zeitlosen und qualitativen Realität ermöglicht werden.

Kommunikation und kardiovasculäre Veränderungen

L

ynch (Friedmann et al. 1982; Lynch 1977 et al. 1981) hat sorgfältig die Beziehung zwischen menschlicher Kommunikation - im wesentlichen des Sprechens - und Veränderungen des Blutdrucks und der Pulsfrequenz untersucht. Lautes Lesen oder das Sprechen zu einer anderen Person ruft rasche und signifikante Anstiege der Pulsfrequenz hervor. Ausgehend von diesen Untersuchungsergebnissen stellt er die Hypothese auf, daß bestimmte Personen mit Bluthochdruck Kommunikationsschwierigkeiten erleben und daß ein erhöhter Blutdruck als manifestes Symptom solcher Probleme verstanden werden kann. Derar tige Kommunikationsprobleme wurden dann von ihm in bezug zu Persönlichkeitsstrukturen gesetzt, den sogenannten Typ A-Persönlichkeiten, die koronaren Herzkrankheiten zugeordnet werden. Als Typ APersönlichkeit eingestufte Patienten - so wurde beobachtet - sprächen laut, schnell, hätten die Tendenz, zu unterbrechen und nutzten unterstützende Gesten. Friedmann und andere (1982) stellen heraus, daß das Tempo und die Lautstärke wesentliche Charakteristika für Kommunikation seien. Auch wenn Tempo und Lautstärke mit den kardiovasculären Veränderungen korrelierten, wäre diese Korrelation nicht abhängig von dem affektiven Gehalt der Kommunikation und - so läßt sich folgern - deshalb unabhängig von kognitiven Prozessen. Dieses Ergebnis ist bedeutsam für die Musiktherapeuten, die nach den von Nordoff und Rob-

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bins (1977) entwickelten Grundlagen arbeiten und die behaupten, daß es auch körperliche Veränderungen während der Musiktherapie gibt. Sie vertreten den Standpunkt, daß Veränderungen in der Musiktherapie nicht notwendigerweise ausschließlich mit psychotherapeutischen Konzepten zu erklären seien. Aufgrund der erwähnten Untersuchungen gab man Patienten mit Bluthochdruck die Empfehlung, ihre Sprachgewohnheiten und ihre Lautstärke durch gezielte Atemtechniken und eine Kontrolle des Kommunikationsstils zu ändern. Wenn - wie ausgeführt - kardiovasculäre Auswirkungen aber Prozesse außerhalb des bewußten Einflusses sind, werden kognitive Ansätze vermutlich nur teilweise erfolgreich sein. Musiktherapie, mit den der Musik innewohnenden Faktoren Tempo und Lautstärke, könnte sich in der direkten musikalischen Ausübung als geeigneter erweisen, diesen Kommunikationsstil zu beeinflussen, als sogenannte verbale Therapien. Weitere Methoden für die Erfassung der Typ A-Persönlichkeit und deren physiologischer Reaktionen wurden aus der Auswertung strukturierter Interviews hergeleitet (Dimsdale und Stern 1988). Unglücklicherweise ist hierbei ein eher negatives Persönlichkeitsprofil, das diese Menschen als wettbewerbsorientiert, ehrgeizig, durchsetzungsfähig, ungeduldig und häufig als feindselig beschrieb, abgeleitet worden. Auch in diesen Beschreibungen finden wir Klassifikationskategorien, die sich auf den Sprachstil beziehen. Diese Spracheigenheiten lassen sich eher objektivieren und wirken weniger wie persönliche Wertungen. Für unser Anliegen

lassen sie sich in die musikalischen Begriffe Tempo, Phrasierung und Dynamik übersetzen. Einige Wissenschaftler (Dielmann et al. 1987; Linden 1987; Siegmann et al. 1987) beschrieben folgende Charakteristika für ein allgemeines Typ A-Persönlichkeitsverhalten: Lautstärke der Stimme Sprachtempo Temposteigerung am Ende von Aussagen Länge der Pausen mit Stille Länge der Erwiderung auf etwas Gesagtes Unterbrechendes und nichtunterbrechendes gleichzeitiges Sprechen Latenzzeit bis zur Erwiderung Stimmklang Stimmqualität

Sie untersuchten auch die Muster für die Interaktion, die sie dann als Feindlichkeit und verbalen Ehrgeiz beschrieben. Dieser sprachliche Ehrgeiz zeigt sich als „Tendenz, den Gesprächsverlauf zu bestimmen, die Leitung vom Interviewer zu übernehmen, indem der Proband unterbricht, unnötige Zwischenfragen stellt, indem er selber lauter spricht, um die Einwürfe des Interviewers zu übertönen“ (Dielmann et al. 1987). Diese stilistischen Qualitäten und Interaktionsmuster lassen sich auch in musikalischen Improvisationen finden, ohne daß sie

Musiktherapie

notwendigerweise eine negative soziale Wertung erfahren. Auch muß man sich vergegenwärtigen, daß in einem sprachlichen Interview der Inhalt einiger Fragen tatsächlich konfrontativ oder herausfordernd sein kann. Sprechtempo und Lautstärke kann man genau erfassen; Feindseligkeit, Ungeduld und Ehrgeiz sind hingegen subjektive Einschätzungen, deren Beurteilung immer eine geringe Interrater-Reliabilität aufweisen wird. Aus den beschriebenen Forschungsansätzen scheinen sich zwei generelle Kategorien von Wahrnehmungstypologien herauszubilden: - Zunächst die der feldunabhängigen Persönlichkeit, die scheinbar eigene körperliche Signale eher wahrnimmt als andere Personen und die in der Lage ist, genaue Urteile über die Umwelt aus ihrer Wahrnehmung herzuleiten; selbst dann, wenn die Wahrnehmungsinhalte Ablenkungen beinhalten. Für diese Personen gibt es eine hohe Übereinstimmung zwischen dem, was sie sagen, was sie fühlen und ihren körperlichen Reaktionen. - Die zweite Gruppe ist die der feldabhängigen Personen, die eher dazu tendieren, ihre Urteilsbildungen auf die ablenkenden Informationen zu gründen. Diese Gruppe zieht auch in hohem Maße die von außen an sie herantretenden Informationen heran, um sich über ihre eigene Situation ein Urteil bilden zu können. Die Bedeutung dieser Ergebnisse für die Musiktherapie besteht darin, daß man die Charakteristik dieser Feldabhängigkeit bzw. Feldunabhängigkeit in dem musikalischen Ausdruck der Patienten hören wird. Einige

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Patienten werden beispielsweise über ein ausgedehntes Repertoire verschiedener Spielweisen verfügen, werden in der Lage sein, melodisch oder rhythmisch zu gestalten, während sie sich selbst, dem Therapeuten und der Musik in ihrem Gesamtzusammenhang zuhören. Andere verfügen vielleicht nur über ein begrenztes Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten und werden im Bezug zur Musik nur einzelne Parameter (z. B. die Lautstärke oder das Tempo) verändern können. Unsere Hypothese ist, daß man das Repertoire der Bewältigungsstrategien im musikalischen Ausdruck hören kann - und das dieses hörbare Phänomen qualitativ differenzierte physiologische Response abbildet und widerspiegelt. Diese Beziehung wollen wir mit unseren physiologischen Untersuchungen aufzeigen. Uns ist dabei wichtig, darauf hinzuweisen, daß man die beobachtbaren Strukturen sowohl physiologisch als auch musikalisch betrachten kann. Wir beabsichtigen weder, zu belegen, daß man seelische Zustände auf diese Weise abbilden und beschreiben kann, noch Wege dafür aufzuzeigen. Sandman interessierte sich besonders für ein paradoxes Phänomen in der Gruppe der feldunabhängigen Menschen: als Antwort auf Streßsituationen reagieren diese mit einem deutlichen Abfallen der Herzfrequenz. Er konnte nachweisen, daß eine erlernte Frequenzabsenkung eine Verbesserung der Aufmerksamkeit und der Wahrnehmung für die Umwelt zur Folge hatte. Daraus folgerte er, daß die Wahrnehmung durch die Möglichkeit, die Herzfrequenz aktiv zu beeinflussen, verändert werden kann.

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Musiktherapie

Dieses Wachsein für die Umgebung wird zum Teil durch das Zusammenspiel von Herz und Hirnfunktion reguliert. War die Herzfrequenz niedrig, nahmen Versuchspersonen Reize signifikant besser wahr, als wenn sie hoch war. Diese Ansicht wurde durch Hinweise darauf unterstützt, daß eine vermehrte Hirndurchblutung stattfindet, wenn die Herzfrequenz absinkt. Es schien eine „glückliche oder absichtsvolle Synchronisation zwischen physiologischen Systemen“ (Sandman 1984 b, S. 118) vorzuliegen und darüber hinaus erschien es so, daß die Hemisphären des Gehirns durch das kardiovasculäre System ‘eingestimmt’ werden (Sandman 1984 a;lWalker und Sandman 1979, 1982).

Diese Ergebnisse stellten das herkömmliche Verständnis in Frage, daß intellektuelle Fähigkeiten ausschließlich dem Gehirn zuzuordnen seien und lösten weitere Untersuchungen zur Verbindung von Psyche und Körper und den Einflüssen des kardiovasculären Systems auf das Gehirn und das Ver-

halten aus. So bestehe bei manchen Patienten „eine unerschütterliche Beziehung zwischen dem Gehirn und dem kardiovasculären System, die als biologischer Marker für psychische Zustände herangezogen werden könnte“ (Safranek, Koshland und Raymond 1982). Eben diese Forscher stellten die Hypothese auf, daß die Herztätigkeit einen direkten Einfluß auf das Bewußtsein und das Wachsein hat. Diese Auswirkungen der Herztätigkeit sind dynamisch und bewegen sich zwischen Aktivierung und Abdämpfung der rechten und der linken Hemisphäre des Gehirns. Steige die Pulsfrequenz an, so sei dies ein Hinweis auf kognitive Verarbeitung und die Unterdrückung von Umweltreizen. Sinke sie ab, so zeige diese Veränderung ein Umschalten hin zur umweltorientierten Aufmerksamkeit. Das kardiovasculäre System bildet also die Intention eines Menschen ab, Informationen aufzunehmen. Wenn diese Annahme richtig ist, so erweist sich Musiktherapie als ein sensibles Wahrnehmungsinstrument für den physiologischen Status einer Person als Gesamtheit. Dieses Instrument wird nicht durch die Notwendigkeit technischer Meßeinrichtungen fragmentiert, die zwischen Beobachter und Beobachteten stehen und die Möglichkeit der Reaktion auf ein mechanisches Spektrum einengt. Wir gehen davon aus, daß es hörbar ist, wie sich Veränderungen in musikalischen Improvisationen in der Herzfrequenz von Patienten widerspiegeln. Ob ein Patient nur sich selbst gegenüber aufmerksam ist und die Bezüge zu anderen in seiner Improvisation nicht wahrnimmt, kann sich in dessen schneller Herztätigkeit oder der Beschleunigung der Herzfrequenz zeigen.

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Wenn, wie in den zuvor genannten Arbeiten ausgeführt, die intellektuellen Fähigkeiten nicht ausschließlich im Gehirn initiiert und ausgeführt werden, sondern ein gesamtkörperlicher Vorgang sind, dann ist das aktive Musizieren von Patienten in der Musiktherapie von eminenter Bedeutung. Der Patient ist ganzkörperlich (wahrnehmend, verarbeitend und handelnd) in diese Therapie einbezogen, er sitzt nicht lediglich ruhig vor einem Fragebogen oder verharrt während eines Untersuchungsvorgangs weitgehend unbeweglich. Er oder sie soll spielen. Die Gestaltung der Musik in der Improvisation bezieht also Soma und Psyche ein. Musik z. B. rhythmisch zu gestalten, ist eine Aktivität der gesamten Person und Persönlichkeit. Mit jemandem zeitweise diese musikalische Gestaltung zusammen auszuführen, ist eine Erweiterung, welche diese Aktivität um den vitalen und lebenswichtigen Aspekt der Beziehung bereichert. Wie schon früher angemerkt, sind Sprachvariablen signifikant mit koronaren Problemen bei Typ A-Persönlichkeiten verknüpft. Diese Variablen müssen aber nicht in einer provokanten oder herausfordernden Art und Weise aufgedeckt werden (Siegmann et al. 1987). Kurze Respons- und Latenzzeiten bzw. ein beschleunigtes Sprachtempo können auch schlicht der Ausdruck von Angst und Unsicherheit sein.

vokaler Aktivitäten untersucht. So ist ja auch sprachliche Kommunikation nicht ausschließlich auf die sprachlichen Elemente reduziert; sie bezieht vielmehr auch gestische und mimische Elemente ein, welche die Sprache begleiten. Condon (1975) nennt diese koordinierten sprachlich-gestischen Äußerungen die Quanten des Verhaltens oder auch ‘linguistic-kinesics’. Musiktherapie, in dem hier verstandenen aktiven und schöpferischen Sinne, hängt auch von der Beziehung zwischen Patient und Therapeut - einer intentionalen Synchronität - ab. Vielleicht ist gerade dies ein entscheidender Aspekt der Kommunikation, den viele Untersuchungen vernachlässigen: es geht nicht nur um die Fähigkeit, sich klanglich mitzuteilen, sondern in gleichem Maße um die Fähigkeit, Klängen zuzuhören und angemessen darauf reagieren zu können. Smith und Rhodewalt (1986) untersuchen in ihren Arbeiten genau diesen zirkulären Prozeß von Hören und (Re-)Agieren. Sie schlagen eine interaktionelle Sichtweise vor,lin der Typ A-Persönlichkeiten nicht nur auf bestimmte Weisen reagieren, sondern auch Situationen schaffen, die es ihnen erlauben, ihre charakteristische Art einzubringen.

Musiktherapie bietet einen Kontext der Kommunikation. Sie ist nicht provokativ in einem negativen Sinne und birgt die Möglichkeit, alle der Sprache innewohnenden Elemente ohne die affektiven Komponenten des Gesprächsinhaltes zu beobachten. Diese Elemente werden selbst dann hörbar, wenn man musikalische Äußerungen abseits

Musiktherapie

Gemeinsam Spielen

F

ür unsere Untersuchung wollten wir einen Zustand schaffen, die der klinischen Situation einer musiktherapeutischen Behandlung so weitgehend wie möglich entspricht. Unsere eigenen wesentlichen Anforderungen bestanden darin, daß unsere Untersuchungen nicht in unzulässiger Weise die Partner der Improvisation beeinflussen oder gar physisch in ihrer Spielmöglichkeit einschränken sollten.iAußerdem sollte eine musikalische Auswertung der Improvisation möglich bleiben.Wir haben uns für die Aufzeichnung der Herzfrequenz entschlossen, weil dies ein Parameter ist, der einerseits einen unmittelbaren Bezug zum zeitlichen Element der Musik hat, andererseits innerhalb vieler verschiedener klinischer Disziplinen anerkannt ist und eine diagnostische oder anamnestische Bedeutung hat.lAußerdem ist die Herzfrequenz - wie zuvor deutlich wurde - schon vielfach als Faktor für Kommunikationsuntersuchungen herangezogen worden. Innerhalb der beschriebenen Studie improvisierte ein Musiktherapeut mit 11 gesunden Versuchspersonen als Serie von Einzelfalluntersuchungen (Aldridge 1996). Jede Sitzung war hinsichtlich verschiedener Kommunikationsphasen eindeutig strukturiert. In einer Ruhephase und einer darauffolgenden verbalen Konversation wurden Basisdaten erhoben. Auf diese Ruhe- bzw. Gesprächsphase folgten eine Phase der Instrumentalimprovisation, in denen der Therapeut Klavier spielte,während die Versuchsperson Percussions-Instrumente spielte und eine Gesangsphase, in denen der Therapeut die Versuchsperson nur begleitete oder mit ihr sang.

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Jede Versuchssituation wurde sowohl in einer Audio- als auch in einer Videodokumentation festgehalten. Gleichzeitig wurde eine zweite Videoaufzeichnung gemacht, bei der mit Hilfe der Mehrspurtechnik des Recorders die Pulsfrequenzen beider in der Improvisation beteiligten Personen auf dem Band festgehalten wurden. Hierdurch wurde es möglich, die physiologischen und musiktherapeutischen Prozesse in Relation zur realen Zeitentwicklung sowie zueinander in bezug zu setzen, ohne daß diese sich gegenseitig beeinflußten. In beiden Videoaufzeichnungen war eine Uhr eingeblendet, um das Bildmaterial im nachherein mit den physiologischen Messungen korrelieren zu können.

b) Physiologische Auswertung Für die physiologische Auswertung wurde für beide improvisierenden Personen aus den Aufzeichnungen der r-r-Intervalle die Herzfrequenz errechnet. Diese Berechnungen wurden dann in einer grafischen Darstellung auf einer Zeitachse abgebildet (s. Abb. 1). Um die Komplexität der Information übersichtlicher zu gestalten, wurden diese Kurven mit Hilfe von ‘moving averages’ über 5 Herzschläge geglättet, wobei die wesentlichen Informationen, welche auflVeränderungen in der Zeit hindeuten, erhalten blieben. Die musikalisch-kommunikativen und die physiologischen Ergebnisse wurden unabhängig voneinander bewertet. Jeder Aus-

Auswertung

Herzfrequenz

a) Die musiktherapeutische Auswertung Die Betrachtung der musikalischen Aspekte dieser Improvisationen wurde unabhängig von den physiologischen Auswertungen der Herzfrequenzen vorgenommen. Kriterien für die Beurteilung der musiktherapeutischen Bedeutung wurden entweder aus der kommunikativen Interaktion oder aus musikalischen Ereignissen, wie z. B. Entwicklung der musikalischen Beziehung, Initiativen für musikalische Veränderungen, gemeinsame Änderungen bei beiden Spielenden,Veränderungen des Tempos, der Dynamik oder der Stimmung hergeleitet.

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Musiktherapie

wertungsschritt war dabei hinsichtlich der Signifikanz von Ereignissen im anderen Auswertungsschritt unabhängig. Ein Physiologe betrachtete zunächst die physiologischen Daten, um zu entscheiden, welche Vorgänge ihn innerhalb des Zeitverlaufes interessieren würden. Gleichzeitig führte ein Musiktherapeut die musikalischen Auswertungen durch und markierte auf einem Indexblatt die musikalischen Ereignisse, die ihm interessant erschienen. Durch eine grafische Überlagerung wurde es möglich, beide Auswertungsschritte miteinander zu vergleichen und herauszufinden, ob sich irgendwelche Überlagerungen signifikanter Ereignisse von beiden Datenauswertungen ergeben würden. In Abb. 2 werden gemeinsame Interaktionsmuster, die häufiger auftauchten, schematisch dargestellt.

100 bpm Therapeut 50 bpm

100 bpm Proband 50 bpm

5

10

Zeit in Min

Abb.1: Darstellung der Herzfrequenz von Therapeut und Patient über einen Zeitraum von 15 Minuten

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Abb. 2a

Abb. 2b

Abb. 2c

Abb. 2d

Beide Herzschläge sind parallel, deuten auf Synchronizität

Beide Herzschläge in synchron gespiegelter Gegenbewegung. Eine Spitze zeigt sich auf einer Linie, während ein Tal simultan auf der anderen Linie erscheint

In einer der beiden Linien erscheint eine Spitze nach einem kurzen Anwachsen der Pulsrate, gefolgt von einem rasanten Abfall der Herzschläge

In beiden Linien zeigen sich Spitzen innerhalb des gleichen Zeitrahmens

Abb.2: Schematisch dargestellte Muster der gegenseitigen Herzschlagbeziehungen

Im musikalischen Instrumentalspiel sind beide Pulsfrequenzen synchronisiert (s.lAbb. 2a). Diese Synchronisation besteht manchmal in einer genauen Spiegelung der Pulsverläufe, zu den Zeiten, in denen musikalisch signifikante Veränderungen stattfinden (s. Abb. 2b). Die Spitzenwerte, die in der Herzfrequenz eines Teilnehmers sichtbar werden, treten immer zu den Zeitpunkten auf, wenn diese Person eine Initiative im musikalischen Dialog übernimmt. In Fortsetzung dieses Phänomens sinkt die Pulsfrequenz eines

Partners immer dann ab, wenn er sich eindeutig auf das, was gespielt wird, einstellt und die Aufmerksamkeit sich dem anderen zuwendet (s.lAbb.l2c). Gelegentlich treten Momente auf, in denen beide Personen gleichzeitig auflVeränderungen in der Musik mit einem Spitzenwert in ihrer Pulsfrequenz reagieren, der bei beiden durch einen rapiden Abfall der Frequenz gefolgt wird (s.lAbb. 2d). Selbstverständlich treten während aller Untersuchungen auch Zeiten auf, in denen die Herzfrequenzen nicht koordiniert sind.

Musiktherapie

Das Zusammenspiel zweier Herzen

B

etrachtet man den strukturellen Aufbau der Untersuchung, ergibt sich daraus die offensichtliche Evidenz, daß der physiologische Prozeß sich in Abhängigkeit zu der Beziehungs- oder Kommunikationsweise ändert. Die Pulsfrequenzkurven beider Personen verändern sich mit den unterschiedlichen Aktivitäten, Ruhe, Sprechen, Spielen

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Gespräch

Ruhe

0 Minuten

1

2

Ruhe

0 Minuten

3

9

10

1

2

3

2

Singen

4

5

6 10

Spielen

Gespräch

1

11

Spielen

Gespräch

Ruhe

0 Minuten

Singen

Spielen

3

4

11

Singen

8

9

10

Proband Therapeut

Abb. 3: Drei Beispiele der Herzschläge des Therapeuten und der Versuchsperson (Darstellung gemittelt über 5 Schläge); gezeigt sind vier Versuchsphasen: Ruhe, zusammen sprechen, gemeinsam improvisieren, gemeinsam singen

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oder Singen (s. Abb. 3). Dieses Ergebnis ansich ist schon beachtlich. Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, daß wir lange Phasen koordinierter und synchronisierter Herzfrequenzaktivität beider Versuchspersonen in den Perioden musikalischer Aktivität finden können und zwar unabhängig von der Veränderung oder Entwicklung musikalischer Stilistik. Es wurde zu keiner Zeit der Versuch unternommen, innerhalb der Untersuchungszeit bewußt beruhigende Musik zu spielen. Diese synchronisierten Perioden sind Sequenzen der Improvisationen, in denen die musikalische Entwicklung von den Initiativen beider Spieler abhängt. In Abb. 4 sehen wir eine solche Sequenz, in der beide Musiker im spanischen Musikstil improvisieren. Anfangs beginnt der Musiker, der die Rolle des Therapeuten übernimmt, spontan zu singen. Er bringt hiermit eine Initiative in die Musik ein, die mit einem Anstieg seiner Pulsfrequenz korreliert, wobei wir die gleiche Entwicklung bei der Versuchsperson sehen können. Unmittelbar nach seiner Aktivität fällt seine Pulsfrequenz ab und deutet an, daß sich seine Aufmerksamkeit dem anderen zuwendet, um herauszuhören, was sein Partner als Respons auf seine Initiative tun wird. Obwohl die Musik sich unmittelbar im Anschluß an diesen Moment verändert und der Charakter sich wandelt, bleiben die Pulsfrequenzen beider Personen synchron. Eine Wiederholung dieses Musters finden wir in Abb. 5. Beide Herzfrequenzkurven verlaufen zunächst parallel zueinander. Graduell steigt die Herzfrequenz beider Personen, als sie eine Veränderung in der Musik innerlich vorwegnehmen. Hier spielt nun die Versuchsperson die Zimbel und


Abb. 4:Wechselseitige Herzschlagmuster während gemeinsamer Improvisation

Abb. 6: Dialogisches Singen.Veränderungen im Herzschlag zeigen sich gespiegelt als

Abb. 5: Auf eine musikalische Initiative folgt ein Wechsel des Herzschlages, bezogen auf das Hören

Abb. 7: Gemeinsames Singen zeigt vokale Initiativen und zusammentreffende Herzschlagveränderungen

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plötzlich - gleichzeitig - sinkt die Herzfrequenz des Therapeuten ab. Er hört hier aufmerksam zu, was als nächstes passieren wird. Eine neue Sequenz von Musik entwickelt sich. Auch während des Singens können wir die Koordination beider Herzfrequenzen sehen. Hier sind die Kurven oft gegenläufig zueinander, während die erste Person singt, hört die zweite ihr zu und ergreift dann die Initiative. In Abb. 6 sehen wir eine Periode dialogischen Singens. Beide Partner singen nacheinander.lWährend der eine singt, steigt seine Pulsfrequenz. Er wird sich seiner selbst bewußt und konzentriert sich auf das, was er singt. Gleichzeitig hört der andere zu. Sein Fokus ist auf den Sänger gerichtet. Dies deutet klar auf eine Umweltorientierung hin. Wenn er allerdings im Gesang auf den ersten antwortet, steigt seine eigene Pulsfrequenz an, während gleichzeitig die des Partners absinkt. Auch Abb. 7 zeigt genau dieses Muster. Hier sehen wir allerdings zwei Personen, die unisono miteinander singen. Der Dialog ist also nicht in einer alternierenden, sondern in einer gemeinsamen Vokalisierung (Aldridge 1996; Stern et al. 1975).Wir sehen in Abb. 7 eine Phase, in der musikalische Veränderungen während des Singens auftreten, indem eine Person musikalische Initiativen übernimmt. Dabei steigt ihre Herzfrequenz. Obwohl der Therapeut ebenfalls singt, einen liegenden unterstützenden Ton, sinkt dessen Herzfrequenz ab. Kurz danach ereignet sich eine Phase paralleler musikalischer Entwicklung, gefolgt von zwei musikalischen Initiativen, die wiederum von einer Parallelphase

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Musiktherapie

gefolgt werden.Am Ende der Abbildung sehen wir einen graduellen gemeinsamen Anstieg der Herzfrequenz. Die musikalische Stimmung verändert sich hier, die Herzfrequenz verbleibt in der Parallelbewegung. In der Tat scheint es, als wenn zwei Herzen wie eines schlagen würden.

Diskussion und Schlußfolgerungen

M

usik ist eine spezielle Form des Dialoges, die vollständig andere Möglichkeiten gegenüber verbalen Therapien bietet. Der Dialog in der Musik leitet sich nicht wie im Gespräch aus zwei Sinngehalten ab, die aufeinandertreffen und zusammenwirken. Der musikalische Dialog entsteht aus dem ursprünglichen Element des Dialoges; einem Sinn, der sich zwischen den Menschen bildet, einem Sinn, der verbindet. Die Improvisation von Musik bietet eine Struktur für gleichzeitige und gemeinsam gestaltete Kommunikation. Mit Bezug auf die Therapie erkennen wir, daß musikalische Aktivitäten innerhalb des Beziehungsrahmens einer gemeinsam aktiv gestalteten Improvisation Auswirkungen auf den Parameter der Herzfrequenz haben. Die Physiologie wird durch die aktive musikalische Gestaltung beeinflußt. Wir können aus diesen Beobachtungen und früheren Arbeiten von Physiologen herleiten, daß nicht nur die Herzfrequenz verändert wird, sondern daß es einen korrespondierenden Einfluß auf hirnorganische

Regulationen und somit auf die emotionale Lage gibt (Aldridge 1996). Über diese intraindividuellen Vorgänge hinaus können wir eine ‘externe’ Koordination der Herzfrequenz beobachten, wenn zwei Menschen miteinander musizieren. Während einer musikalischen Beziehung entsteht also auch eine gemeinsame physiologische Beziehung. Sie ist vielleicht die Grundlage für Empathie - wenn zwei Herzen sich aufeinander einschwingen. Maturana undlVerden-Zöller (Ruiz 1996) beziehen sich auf dieses Phänomen als die ‘Biologie der Liebe’ - bedingungslose Akzeptanz - wobeilVerhaltensweisen auftreten können, die individuell und gleichzeitig coexistent mit anderen sind. In der Tat wird aus systemischer Sicht deutlich, daß die Musiktherapie beide Partner eines musikalischen Dialoges als aktive Mitgestalter akzeptiert. Auch der Beobachter ist ein aktiver Teilnehmer in der Welt, die er gestaltet. Was als Musik hörbar wird, ist ein Beziehungsphänomen, welches die Dynamik der Interaktion beinhaltet. Man kann also die Kommunikation nie an einem der beiden Partner festmachen oder beobachten, weil sie sich in beider Interaktion entfaltet. Wie aus der Literatur ersichtlich, traten Anstiege der Pulsfrequenz auf, wenn musikalische Initiativen vorbereitet wurden. Diese Anstiege deuteten auf kognitive Vorgänge hin. Ebenso trat während des aktiven Zuhörens, verbunden mit einer Zunahme der umweltorientierten Aufmerksamkeit, ein Absinken der Pulsfrequenz auf. Das Kardiovasculäre System reflektierte die Intention zur Informationsaufnahme. Diese beiden Phänomene werden dadurch miteinander verbunden, daß Anstiege und Abfallen

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während der Aktivität gemeinsam zwischen zwei physiologischen Einheiten und der Musik stattfinden. Dies bedeutet, daß die Physiologie und die musikalischen Vorgänge isomorphe Prozesse sind. Ein solches Verständnis wird Auswirkungen auf die Musiktherapie haben müssen und auch darauf, wie wir Krankheit und Gesundheit verstehen. Innerhalb des westlichen Medizinsystems werden für die Beschreibung von Krankheitsvorgängen Zeitkonzepte von akut und chronisch benutzt. Gerade das Auftreten chronischer Krankheiten verursacht zahlreiche Probleme für das gesamte westliche Gesundheitssystem und löst Diskussionen darüber aus, wie wir am Ende des 20. Jahrhunderts mit solchen Krankheiten umgehen sollen.Vielleicht sind es aber gerade die Konzepte von akuten und chronischen Dimensionen in ihrer linearen Abbildung der Zeit, die sich begrenzend auf Lösungen für diese Krankheitsvorgänge auswirken; vielleicht wird es notwendig werden, den Zeitbegriff des Kairos für Krankheitsgeschehen einzubinden. ‘Kairologische Krankheiten’ würden den Versuch der Persönlichkeit, ihre Identität aufrechtzuerhalten und sich mit den von außen auferlegten Veränderungen auseinanderzusetzen. ebenso mit einbeziehen. So verfahren Familiensystemtherapeuten schon heute, wenn sie darüber sprechen, daß ein Problem innerhalb der Ökologie der Familienmitglieder, der kulturellen Konstruktion und der individuellen Biographie auftritt (Aldridge 1984, 1988a, 1988b; Aldridge und Rossiter 1985; Bloch 1987). Die Konzepte von Zeit (im Sinne von Entwicklung) und Raum (im Sinne von Beziehung) sind fundamental für unsere Kultur in allen ihren Ausprägungen, sei es in der Wissenschaft oder

in der Kunst. In den vorangegangenen Beispielen haben wir gesehen, daß die menschliche Physiologie zeitlich strukturiert ist. Im ersten Kapitel dieses Buches führt Aldridge aus, daß die biologische Zeit strukturiert ist wie improvisierte Musik. Das Leben ist Jazz. Die Grundlage für die Improvisation ist die Entscheidung im jeweiligen Moment; Zeit als Kairos.

Unsere Ergebnisse haben Bedeutung für solche Kollegen, die im Feld der psychosomatischen Medizin arbeiten. Sie können zeigen, daß das gemeinsame Improvisieren von Musik von deutlichen physiologischen Veränderungen begleitet ist. Jenseits der Grenzen der Musik gibt es Hinweise für den Einfluß, den wir aufeinander ausüben, wenn wir auf nonverbale Weise miteinander kommunizieren. Kommunikation ist immer ein gemeinsamer Prozeß und bindet beide Partner in einen Dialog ein. Diese Erkenntnis befreit uns von linear kausalen Denkstruktu-

ren. Es gibt eine Gemeinsamkeit in der gegenseitigen Beeinflussung. Eine weitere und vielleicht abschließende Schlußfolgerung aus dieser Arbeit, die gezeigt hat, daß Musiktherapie die physiologischen Parameter beider in die Kommunikation eingebundener Partner beeinflußt, ist, daß Musiktherapeuten wachsam für den Einfluß sein müssen, den ihre Arbeit auf sie selber hat.Vielleicht ist dies ein Grund für das ‘Burn-out-Syndrom’ in Therapieberufen, daß diese hochgradig auf der Fähigkeit der Empathie beruhen.lWie wir zeigen konnten, hat Empathie auch eine physiologische Grundlage. Wie jeder Kliniker, der lange Zeit mit chronisch Kranken gearbeitet hat, aus seinem Arbeitsfeld weiß, wird man nach einer Zeit beginnen, die Symptome der betreuten Personen nachzuempfinden und an sich selber zu beobachten. Diese Erfahrung beruht auf der einfachen Komponente physiologischer Mitempfindung und der menschlichen Psyche - aber wie wir zeigen konnten, tritt auch hier ein gemeinsam empathischer Dialog auf. Vielleicht sollten wir als Kliniker gerade diesen Situationen, in denen wir Einflüssen ausgeliefert sind, die auf uns selber negativ wirken könnten, mehr Aufmerksamkeit schenken. Abschließend könnte man aus dieser Untersuchung auch herleiten, daß das Phänomen der Übertragung - im Sinne einer psychotherapeutischen Perspektive - auch im Verständnis der von uns durchgeführten physiologischen Untersuchung erläutert werden kann. Vielleicht ist also wirklich die Zeit gekommen, in der wir lernen müssen, die Trennung von Körper, Seele und Geist aufzugeben und diese als Einheit zu verstehen.

Unter dem Titel „Musik als Dialog“ erschien ein ähnlicher Artikel - mit anderer Schwerpunktsetzung - in der Musiktherapeutischen Umschau, Bd 19/1 (1998).

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DIE ENTWICKLUNG EINER MELODIE IM VERLAUF EINER IMPROVISATION Spontane Ausdrucksmöglichkeiten in der Musiktherapie mit einer Brustkrebspatientin 1

Gudrun Aldridge

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as vorliegende Thema befaßt sich mit der Frage, welchen Beitrag die Musiktherapie und insbesondere die melodische Improvisation für Brustkrebspatientinnen während ihrer frühen rehabilitativen Phase, nach einer Mastektomie, leisten kann. Insbesondere wird der musikalische Aspekt der Melodie diskutiert, in der Rolle, die er spielt, um Expressivität zu ermöglichen und zu erleichtern. \

Aus der Literatur ist bekannt, daß es insbesondere für Brustkrebspatientinnen wichtig ist, sich ausdrücken zu können.

\

Es ist bekannt, daß der Aspekt der Melodie in unserer modernen Gesellschaft und Kultur eine wichtige Form der Ausdrucksmöglichkeit darstellt.

\

Wenn Expressivität ein wichtiger Faktor für Brustkrebspatientinnen und Melodie eine wichtige Form musikalischen Ausdrucks ist, macht es einen Sinn, in der Musiktherapie das melodische Spiel von Brustkrebspatientinnen zu entwickeln.

Die Krankheit im Kontext

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rustkrebs ist unter den rund 200 verschiedenen Krebsarten die verbreiteste unter Frauen mit steigender Tendenz. Gleichwohl werden bei ihr die höchsten Überlebensraten festgestellt. Die Diagnose Krebs ist ein traumatisches Ereignis mit signifikantem Impakt auf Patienten und ihre Familien. Sie kann fundamentale Ängste hervorrufen, die mit Empfindlichkeit, Verletzlichkeit, Hoff-

nungslosigkeit, Gedanken über den Tod und der Ungewißheit der Zukunft assoziiert sind. Patientinnen, die an dieser Krankheit leiden, müssen eine Reihe von physischen, sozialen und emotionalen Belastungsfaktoren ertragen, die den Gebrauch von Coping- Mechanismen erforderlich machen, um ihr inneres Gleichgewicht aufrechterhalten zu können. Die meist zitierten Indikatoren sind: Depression, Angst, Ärger, Fatigue,Verzweiflung und Unsicherheit.

die insbesondere auf die emotionalen Belastungsfaktoren einwirken kann, an Bedeutung gewonnen. Aus der Literatur wird ersichtlich, daß Musiktherapie einen positiven Effekt auf ähnliche Parameter auszuüben vermag, die auch durch psychosoziale Interventionen eine Verbesserung aufweisen. Mit ihrer individuell angelegten Methode unterstützt sie Ergebnisse verschiedener Langzeitstudien, die demonstrieren, daß auch weniger emotional leidende Patientinnen mit sehr unterschiedlichen Einstellungsprofilen zu ihrer Krebserkrankung besonders von individuell gemessenen psychosozialen Interventionen profitieren (Nelson et al. 1994). Von einer holistischen Perspektive aus gesehen kann Musiktherapie einen Beitrag leisten, den Bedürfnissen der Patientinnen während der verschiedenen Krankheitsphasen zu begegnen. Im Sinne der Forderungen mehrerer Langzeitstudien könnte sie als rezeptive und aktive Intervention:

Musiktherapie und Krebsbehandlung

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edingt durch den besonders hohen, streßvollen Charakter der Krebserfahrung verlangt die Krebsbehandlung eine komplexe Behandlungsmethode, die über das rein Medizinische hinaus psychologische, psychosoziale und soziale Aspekte mit einbezieht (Aldridge 1987; Aldridge 1993a; Aldridge 1993b; Aldridge 1993c; Aldridge 1995) . In diesem Zusammenhang hat auch die Musiktherapie,

Musiktherapie

1. physische Entlastung bringen (Reduzierung von Müdigkeit und Kraftlosigkeit, Ablenkung von Schmerzen), 2. psychologisch auf emotionale Stressfaktoren eingehen und impulshaft auf innerliche Beweglichkeit einwirken, im Sinne einer Transformation der Gefühlspole vom negativen zum positiven, 3. durch den Dialog in der Musik die kommunikativen Ausdrucksmöglichkeiten erweitern und soziale Schwierigkeiten, bzw. Hemmnisse abmildern, 4. soziale Schwierigkeiten durch die Anregung interpersonellen Kontakts verringern und Isolation reduzieren.

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Zur Bedeutung von Melodie

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s läßt sich behaupten, daß die Melodie als wichtiger Teilaspekt der Musik für viele Menschen eine Bedeutung hat. Sie ist mit inneren Erlebnissen und dem Erinnerungsvermögen verbunden und kann als intimer Begleiter der verschiedenen Lebensstadien und -situationen fungieren. Mit Melodien vermag man sich zu identifizieren. Es ist weiter anzunehmen, daß die Melodie, in welcher Erscheinungsform auch immer, der geläufigste und verbreiteste Aspekt der Musik während aller Zeiten und Kulturen war und heute noch ist. Sie ist das Element der Musik, an dem die allgemeine Qualität der Musik gemessen wird und sich die künstlerische Qualität des Komponisten offenbart. Die Frage, warum uns die eine Melodie mehr anspricht als die andere, sie in uns weiterlebt und unter Umständen auch zu einem quälenden Ohrwurm werden kann, ist generell kaum möglich zu beantworten. Ähnliche Unklarheiten und Zweifel bezüglich grundsätzlicher Aussagen zur Bedeutung und Funktion der Melodie lassen sich nachweisen, wenn man einen Blick auf die historische Entwicklung der Melodie wirft. Diese offenbart, daß wir es mit einer paradoxen Disziplin zu tun haben, denn das einzig Unveränderliche in ihrer Entwicklung, die Jahrtausende zurückreicht, scheint die Klage darüber zu sein, daß es sie nicht oder noch nicht gebe. (Abraham & Dahlhaus 1982, S.10) . Johann Mattheson beschreibt diese Tatsache mit folgenden Worten: „Diese Kunst, eine gute Melodie zu machen, begreifft das wesentlichste in der Music. Es ist dannenhero höchstens zu verwundern, daß ein solcher Haupt- Punct, an welchem doch das größeste gelegen ist, bis diese Stunde fast von jedem Lehrer hintangesetzet wird. Ja man hat so gar wenig darauf gedacht, daß auch die vornehmsten Meister, und unter denselben die weitläufigsten und neuesten, gestehen müssen: es sey fast unmöglich, gewisse Regeln davon zu geben, unter dem Vorwande, weil das meiste auf den guten Geschmack ankäme; da doch auch von diesem selbst die gründlichsten Regeln gegeben werden können und müssen.“ (Mattheson 1739, S.133).

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Musiktherapie

Das Konzept von Melodie muß also in seinem historischen Kontext betrachtet werden. Melodie ist nicht nur von den musikalischen Entwicklungsperioden beeinflußt, sondern sie setzt sich aus diesen essentiell zusammen.

Melodiebegriff der Antike

von Neuheit und Außergewöhnlichkeit. Diese Vorstellungen und Erwartungen über das, was Melodie beinhalten soll, sind wiederum Auswirkungen einer Ästhetik, die den Faktor Melodie im 18./19. Jahrhundert besonders hervorhob. Der Gedanke der Originalität läßt sich auf die Inspirationsästhetik des 19. Jh. zurückführen, die schroff zwischen dem melodischen Einfall, der Inspiration, die nicht lehrbar ist, und der kunstverständigen, satztechnisch - formalen Ausarbeitung unterschied.

U

nser Verständnis des heutigen Melodiebegriffs, das von unserem allgemeinen Musikverständnis der Musik des 18./19. Jh. geprägt ist, trägt auch die Merkmale des älteren und weitgespannten Melodiebegriffs der Antike, der zwei Perspektiven von Melodie, eine weitreichende und enge, zum Ausdruck bringt. Die weitreichende Perspektive von Melodie beinhaltet drei Momente: Harmonia (das Zusammenstimmen der Töne), Rhythmos (die Zeitgliederung) und Logos (die Sprache, der Text). Die engere Perspektive definiert Melodie als eine Sequenz von Tönen, die sich durch ihre Höhe unterscheiden, bekannt als Diastematik, der horizontalen Anordnung der Töne.

Merkmale des kontemporären Melodiebegriffs nach Riemann

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as Zitat von Riemann (Dahlhaus & Eggebrecht 1979) hebt den Aspekt der Formhaftigkeit und Gestalt hervor und läßt sich durch die Attribute selbständig, geschlossen, gegliedert, singbar, einstimmig und einprägsam ergänzen, die im alltäglichen Sprachgebrauch in Verbindung mit den Adjektiva melodisch, melodiös und unmelodisch eine Wertung erlangen können: Desweiteren erwartet man von einer Melodie Originalität und Expressivität, d.h. neben dem Moment des Gleichmaßes und der Konvention einen Anteil

Expressivität

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as Merkmal der Expressivität läßt sich auf ästhetische Vorstellungen des 19. Jahrhunderts zurückführen, die die musikalische Expressivität am deutlichsten in der Melodie ausgedrückt sahen. Beeinflußt wurde dieser Gedanke durch Hegels Musikästhetik, die hervorhob, daß der Mensch in der Melodie sein Inneres, seine Seele auszudrücken vermag und dadurch auch gleichzeitig in der Lage ist, sich von einem möglichen Freudens - oder Leidensdruck zu befreien. Für Hegel ist das Innere des Menschen nicht nur in sich selbst versunken, sondern steht gleichsam neben sich. Indem ein Gefühl zugleich gegenwärtig und ferngerückt erlebt wird, kann es befreiend wirken. Diesen Doppelcharakter des Gefühls (zugleich emphatisch und distanziert) sieht Hegel in der bestimmbaren Beziehung der Melodie zur Taktrhythmik und tonalen Harmonik des 17. bis 19. Jahrhunderts begründet.Auch er hebt in Verbindung mit Expressivität die für die Melodie wesentlichen Elemente Rhythmik und Harmonik hervor. In den Regeln und Strukturen dieser beiden Elemente sieht er weniger einen Zwang, als einen Halt, auf den sich die Melodie stützen kann, um nicht ins Gestaltlose zu verfließen. Dieser von Hegel formulierte Doppelcharakter des melodischen Gefühlsausdrucks, die Gleichzeitigkeit von Versunkensein und Darüberstehen hängt mit einem Grundzug des Musikempfindens im 19. Jahrhundert zusammen.

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Kulturelle Voraussetzungen

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ie heute übliche Trennung der Musik in die Parameter: Rhythmus, Melodie und Harmonie, die wir generell heranziehen, wenn wir Musik analysieren, wird auch von Benzon (Benzon 1993) aufgegriffen. Allerdings begründet er dieses von einer kulturgeschichtlichen Perspektive aus, in dem er kulturelle Gegebenheiten artikuliert. Benzon behauptet, und er stützt sich dabei auf vorangegangene Studien, daß unsere Grunderfahrungen von Musik, wie auch alle unsere Elementarerfahrungen, holistisch sind.Auf die Musik bezogen bedeutet dieses, daß wir sie zunächst undifferenziert als Ganzheit wahrnehmen und erst allmählich in der Lage sind, unseren musikalischen Gesamteindruck in Rhythmus, Melodie und Harmonie zu differenzieren. Er argumentiert weiter, daß sich nur durch den langen Prozeß der kulturellen Entwicklung die Elemente Rhythmus, Melodie und Harmonie klar unterscheiden konnten und schlägt, indem er sich auf die Diskussionen Wioras beruft, folgende Entwicklungsstadien vor, die hier nur verkürzt wiedergegeben werden.

Jedes ‘Stadium’ hat seine eigenen charakteristischen Wege der Entwicklung einer besonderen Aufführungspraxis, die aus dem jeweiligen, speziellen Material (Rhythmus, Melodie oder Harmonie) hervorgeht: \

Stadium I: Rhythmus, Entwicklung zur Phrase.

\

Stadium II: Melodie, Entwicklung zur Führung, bzw. führenden Stimme.

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Stadium III: Harmonie, Entwicklung zur Architektonik.

Festzuhalten ist, daß diese Ordnung in der Sache selbst begründet ist. Benzon erläutert dieses, indem er feststellt: „Musik entfaltet sich in der Zeit.Wie kann man Kontrolle über die Melodie erlangen, ohne zuvor die Kontrolle über die zeitliche Entwicklung, den Rhythmus erfahren zu haben? Und wie kann man über die Kontrolle gleichzeitig erklingender Stimmen - d.h. der Harmonie verfügen, ohne zuvor die Kontrolle über Tonhöhenmuster individueller Melodielinien, nämlich die Melodie erlangt zu haben?“ (Benzon 1993, S.279)

Kulturgeschichtliche Entwicklungsstadien der Musik \

Stadium I Kultur: rhythmisch orientiertes Stadium (die ersten Kulturen und Gemeinschaften von den Sprachanfängen beginnend bis zur Entwicklung der Schrift; Musik der einheimischen Kulturen Nord -, Südamerikas und Afrikas).

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Stadium II Kultur: melodisch orientiertes Stadium (die hohen Zivilisationen der Antike mit Schriftsystemen, Städtebau und einer permanenten Agrikultur; Musik des Nahen und Fernen Ostens und des mittelalterlichen Europas).

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Stadium III Kultur: harmonisch orientiertes Stadium (Zeit der Renaissance und der Industriellen Revolution; Musik der Klassik und Romantik)

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Stadium IV Kultur: Klangfarben orientiertes Stadium (die sich noch im gegenwärtigen Arbeits - und Entwicklungsprozeß bewegenden Künste und Wissenschaften).

Musiktherapie

Fallstudie

A

nhand des Beispiels einer melodischen Improvisation soll im folgenden demonstriert werden, daß der Aspekt Melodie Möglichkeiten für die Patientin bereitzuhalten vermag, ihre eigene individuelle Ausdrucksform zu finden. Drei Fragen sind für die vorliegende Fallstudie relevant:

\

Wie entwickelt die Patientin ihr melodisches Spiel im Kontext der melodischen Improvisation?

\

Welches sind die relativen Nuancen ihrer emotionalen Expressivität?

\

Was bedeutet es für die Patientin, sich durch das Wesen der Melodie ausdrücken zu können?

3

Für die musikalische Analyse wird es notwendig sein, das Zusammenwirken der beteiligten musikalischen Einzelelemente wie rhythmisches, melodisches Motiv oder Zelle, harmonische Struktur oder dynamische Vielfalt zu erkennen und das zu beschreiben, was durch den kreativen Prozeß der Patientin als neu Geschaffenes hervorgebracht worden ist. Therapeutisch bedeutet dieses, immer wieder neu zu sehen, auf welche Art und Weise sich die Patientin mit der melodischen Improvisation individuell auszudrücken vermag und auf welche Weise sie ihren Ausdruck in eine für sie gemäße Form bringen kann. Das folgende Beispiel stammt aus der sechsten Sitzung mit einer Mammakarzinompatientin, die sich nach dem chirurgischen Eingriff einer Mastektomie während ihrer kurzen nachoperativen Rehabilitationsphase im Krankenhaus aufhielt. Die ersten vier Notationsbeispiele folgen aufeinander, während die Beispiele fünf und sechs aus dem späteren Verlauf der Improvisation stammen.

Patientin:

Metallophon, harmonische Skala c-moll,Tonumfang c1- as2

Therapeutin:

Klavier

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‘Gangart’, die sie durch die Improvisation führt und die für alles Folgende den Maßstab abgibt.

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Zusammenfassend kann das erste Beispiel als klangliche Orientierung im harmonischen Bereich von c-moll bezeichnet werden. Die Patientin beginnt auf dem Grundton, findet ganz natürlich ihren Weg über die höher gelegene Quinte, Oktave und Quarte. Nach den ersten vier Takten führe ich ein melodisches Element ein.

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Beispiel 2 Hier geht es nicht mehr länger um eine Orientierung im tonalen Raum, sondern um bewußtere Wahrnehmung und bewußteres Einhören in die Tonbeziehungen, was hörbar wird durch die differenzierte Anschlagsart der Patientin. Ihre Wahrnehmung des harmonischen Tonraums wird durch die Hervorhebung der zentralen Töne Grundton und Quinte deutlich. Es sind für sie harmonische Orientierungspunkte, von denen sie ausgehen und wieder zurückkehren kann. Gegenüber der melodisch hervortretenden Stimme des Klaviers sucht sie sich als Kontrast eine harmonische Mittelstimme. Im letzten Takt des Beispiels entwickelt sie eine auftaktige Figur, die zum nächstfolgenden Beispiel führt.

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Beispiel1 Das Beispiel beginnt mit einem Auftakt. Ein rhythmisches Motiv ist erkennbar, das, man könnte es mit einem kleinen Keim vergleichen, in sich die Möglichkeit zur Entwicklung birgt. In der Verslehre der hellenistischen Zeit (Aristoxenos ‘RhythmikFragmente’) ist es ein Jambus. Diese rhythmische Zelle ist in zweifacher Hinsicht von Bedeutung: 1. Sie gibt der Patientin Halt und Stabilität innerhalb ihrer Spielaktivität, um die melodische Seite der Musik zu entdecken.

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Musiktherapie

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2. Gleichzeitig ist sie ein Bewegungsimpuls, der ihr ermöglicht, den harmonischen Tonraum von c-moll zu erfahren. Meiner Erfahrung nach ist für die Entdeckung und Entwicklung des melodischen Sinns in der Musik das Vorhandensein eines Gefühls für den Rhythmus ausschlaggebend. Der von der Patientin formulierte ‘Klangfuß’ ist die von ihr eingeschlagene

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Beispiel 4

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In diesem Beispiel ist die Melodie stärker ausgeformt: nach dem auftaktigen Oktavsprung aszendiert und deszendiert sie in Zwei-Takteinheiten, wobei sie konsequent den Grundton hörbar macht.

Beispiele 5 und 6 In Beispiel 5 betont sie jeweils den Taktbeginn, was ihrer deszendierenden Skalenbewegung entgegenkommt. In Beispiel 6 variiert sie die Skalenbewegung in horizontaler Linienführung durch eine Art Umspielung der zentralen harmonischen Töne. Der Rhythmus besteht aus völlig gleichen Notenwerten (Achtelnoten), d.h. seine Bedeutung tritt hinter die der Tonhöhengestaltung zurück. Der Sinn ihres Spiels liegt hier in der Gestaltung der horizontal bewegten Diastematik.

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die Entfaltung der melodischen Struktur, der Diastematik.

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die Entwicklung von tonaler Einheit durch Rückkehr zu harmonisch zentralen Tönen.

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die experimentelle Erfahrung im unmittelbaren, gegenwärtigen Spiel, Musik in Form zu bringen.

Musiktherapie

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In diesem Beispiel beginnt die Patientin ihr Spiel melodisch zu formen. Die Tonhöhenstruktur (Diastematik) steht im Vordergrund, sie ist nicht nur geformt, sondern zeigt gleichzeitig rhythmische Vielfalt. Beide Elemente, das melodische und rhythmische korrespondieren miteinander und gehen eine Symbiose ein. Jeder Ton steht in Beziehung zu den nächst folgenden, wie es sich anhand der Phrasierungsbögen darstellen läßt. In diesem Beispiel sehen wir die Entwicklung formaler Prinzipien der Musik: die Entfaltung eines Taktmotivs zu 2-Takt-Phrasen.

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Beispiel 3

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Die im Spiel der Patientin hörbare emotionale Qualität läßt sich nicht von dem, von ihr entwickelten musikalischen Material eliminieren, da es aktiv und lebendig ist.

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Es wird hier deutlich, daß das Erlebnis einer sich auf diese Weise entfaltenden Melodie ein Erlebnis einer sinnvollen Ganzheit ist. Die deskriptive Psychologie zieht für diesen Tatbestand den Begriff der Gestalt heran (Blume 1989), ein Gebilde, das mehr Eigenschaften besitzt als die Summe ihrer einzelnen Elemente ausmachen würde. Die Gestaltqualitäten lassen sich am vorliegenden Beispiel anhand der Anschaulichkeit seiner Form, der Synthese seiner Einzelelemente und der Möglichkeit seiner Transponierbarkeit nachweisen. Der im Spiel der Patientin hörbar werdende harmonische Bezug, insbesondere der zum Grundton, läßt vermuten, daß sie einen Weg des Ausdrucks gefunden hat, der sie zum einen zentriert und ihr zum anderen eine Neuorientierung gibt.Therapeutisch bedeutet dies für mich, daß die Patientin für sich eine Möglichkeit fand, ihrer inneren Expressivität Form zu geben. Für Brustkrebspatientinnen, die sich nach der Operation im Prozeß neuer Orientierung und Identifikationsfindung befinden, ist dieses besonders wertvoll.

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6 Betrachtet man die Bewegung im Detail, so entdeckt man, ausgehend von der ursprünglichen rhythmischen Zelle, typische Motivbildungen: Im 8.-9. Takt von Beispiel 3 sequenziert sie dieses Motiv in Aufwärtsrichtung. In den Takten 8-10 von Beispiel 4 gibt sie ihm durch seine Wiederholung mehr Bedeutung. Erkennbar wird die Korrespondenz ihrer Melodieteile, die häufig 4 Takte umfassen. Das von mir angebotene harmonische Gerüst übernimmt die tektonische Funktion, über der sich die melodische Inspiration der Patientin frei variierend entfalten kann.

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Diese Beispiele verdeutlichen, daß die Patientin in der Lage war, sich als Person in einer melodischen Form auszudrücken. Ihre Bemerkung nach dieser melodischen Improvisation war, daß sie sich in einem wunderbaren Spaziergang durch die sonnigen Straßen von Paris erlebt hätte.

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enn wir auf Benzon`s Entwicklungsstadien der Kultur schauen, auf die vorher verwiesen wurde, können wir bei dieser Improvisation feststellen, wie die harmonische Struktur der Musik die Architektur der therapeutischen Beziehung bereitstellt. Innerhalb dieser Architektur entwickelte die Patientin eine Vorwärtsbewegung, die auf eine einfache rhythmische Zelle gegründet ist: dem Jambischen Versfuß. Dieses von ihr erlebte und als Spaziergang beschriebene Fortbewegen führt sie durch die Improvisation und bestimmt den Ausdruck und Tonfall der sich entfaltenden melodischen Entwicklung. Ausgehend von der Stabilität dieses rhythmischen Impulses, den sich die Patientin selber gibt, entwickeln sich rhythmische Formen. Das melodische Motiv, das aus der rhythmischen Figur hervorgeht, weitet sich zu einer melodischen Linie aus. Diese leitet nicht nur in eine größere musikalische Form über, sondern führt auch zur einer intrapersonellen Beziehung und entwickelt somit eine neue expressive Identität. Der persönliche Ausdruck erscheint innerhalb der kulturell akzeptierten Form. Musiktherapie ermöglicht also eine Architektur, um eine neue persönliche Identität innerhalb eines sozialen Kontextes zu finden, der als solcher Gültigkeit und Bedeutung innerhalb des angebotenen kulturellen Kontextes hat.

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Schlußfolgerungen

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Literatur Abraham, L.U. & Dahlhaus, C. (1982). Melodielehre. Laaber-Verlag Dr. Henning Müller-Buscher. Aldridge, D. (1987). Families, Cancer and Dying. Family Practice. 4:212-218. Aldridge, D. (1993).The music of the body: Music therapy in medical settings. Advances. 9:17-35. Aldridge, D. (1993). Music therapy research: I. A review of the medical research literature within a general context of music therapy research. Special Issue: Research in the creative arts therapies. Arts in Psychotherapy. 20:11-35. Aldridge, D. (1993). Music therapy research: II. Research methods suitable for music therapy. Arts in Psychotherapy. 20:117-131. Aldridge, D. (1995). Spirituality, Hope and Music Therapy in Palliative Care. The Arts in Psychotherapy. 22:103-109. Benzon,W.L. (1993). Stages in the Evolution of Music. Journal of Social and Evolutionary Systems. 16:273-296. Blume, F. (1989). Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Kassel: Deutscher Taschenbuch Verlag; Bärenreiter-Verlag. Dahlhaus, C. & Eggebrecht, H.H. (1979). Brockhaus Riemann Musik Lexikon 2.Wiesbaden - Mainz: F.A.Brockhaus , B.Schott`s Söhne. Mattheson, J. (1739). Der vollkommene Capellmeister. Kassel: Facsimile-Nachdruck 1954. Nelson, D.V., Friedman, L.C., Baer, P.E., Lane, M. & Smith, F.E. (1994). Subtypes of Psychosocial Adjustment to Breast Cancer. J Behav Med. 17:127-141.

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Musiktherapie und die Alzheimer-Krankheit David & Gudrun Aldridge

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emenz ist eine wichtige Ursache von chronischen Behinderungen, die sowohl zu steigenden Pflegekosten als auch zu einer progressiven Störung der Lebensqualität für Patienten und ihre Familien führt. In den USA wird der Aufwand für institutionalisierte Pflege für an Demenz leidenden Patienten auf $25 Milliarden pro Jahr geschätzt (Steg 1990). In dieser Bevölkerungsgruppe wird die Hypothese aufgestellt, daß 15% der über 65jährigen an leichter bis schwerer Demenz leiden werden, mit einer Steigerung bis zu 45% unter den über 90jährigen (Odenheimer 1989), wobei mehr als 60% dieser Fälle von Demenz aus der Alzheimer-Krankheit hervorgehen (Kalayam & Shamoian 1990). Da die ältere Bevölkerung Europas vermutlich immer zahlreicher wird (Aldridge 1990), dürfte es höchste Zeit sein, Behandlungsinitiativen in der westlichen Welt zu finden, die die Auswirkungen dieses Problems entschärfen könnten. Obwohl die Musiktherapie keine Heilung für die AlzheimerKrankheit bieten kann, wäre sie in der Lage, ihre Auswirkungen zu mildern und für eine wertvolle Ergänzung in der Diagnostik zu sorgen. Krankheiten, die Demenz hervorrufen, d.h. erworbene kognitive Störungen, sind seit Jahrhunderten bekannt, aber es sind kaum Fortschritte in der spezifischen Diagnose vor der Evolution der nosologischen Einstellung zum Kranksein und den frühen klinischen Beschreibungen von Neurosyphilis und Chorea Huntington im 19. Jahrhundert gemacht worden. In solchen Beschreibungen wurde vermutet, daß das Hirn einen direkten Einfluß auf das Verhalten des Menschen hat. Die frühesten histopathologischen Charakterisierungen von kognitiven Störungen wurden erst durch die Entwicklung des optischen Mikroskops ermöglicht. Infolgedessen war es Alzheimer möglich (Alzheimer 1907; Drachman et al. 1990) neurologische Degeneration und senile Plaques im Hirn ei-

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ner an progressivem Gedächtnisschwund leidenden 55jährigen Frau zu erkennen und die Krankheit als solche zu identifizieren, die heute seinen Namen trägt. Während kognitive Schäden durch Verhalten offensichtlich werden und neurologische Degeneration von der Neurohistopathie erkannt wird, neigt die Diagnose der Alzheimer-Krankheit jedoch zu Fehleinschätzungen, und Autoren sind verschiedener Meinung, was die Schwierigkeit einer präzisen Diagnose angeht (Odenheimer 1989; Steg 1990). Im Frühstadium der Erkrankung können die Symptome nur schwerlich von denen des normalen Alterns, ein Vorgang der ohnehin ungenügend verstanden wird, unterschieden werden. Zur Zeit gibt es weder normativ etablierte Meßwerte in bezug auf kognitive Schäden oder Gedächtnisschwund noch Klarheit hinsichtlich der neurochemischen und neurophysiologischen Veränderungen, von denen das normale Altern begleitet werden. Deshalb ist es außerordentlich schwierig, Kriterien für die Determinierung von abweichenden Veränderungen in der normalen Bevölkerung zu etablieren. Der Forscher/Kliniker muß sich zum Teil auf ‘within-the subject’ (individuelle) Studien-Designs verlassen, um fortschreitenden Verfall überhaupt aufzeichnen zu können. Eine zweite Fehlerquelle in der Diagnostik der Alzheimer-Krankheit ist, daß sie hinter anderen Beschwerden verborgen bleiben kann (s. Tabelle 1). Hauptursache dieser Beschwerden ist Depression, die auch kognitive und Verhaltensstörungen verursachen kann. Zusätzlich schätzt man, daß 20% bis 30% der an der Alzheimer-Krankheit leidenden Patienten auch begleitende Depression aufweisen (Kalayam & Shamoian 1990), wodurch die diagnostische Problematik nur noch erschwert wird.

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Tabelle 1: Unterschiedliche Diagnosestellung zur Alzheimer-Krankheit Unterschiedliche Diagnosestellung Multi-Infarkt-Demenz und andere Formen der zerebralvaskulären Erkrankung Parkinson’sche Krankheit Progressive supranukleare Lähmung Chorea Huntington Infektion des Zentralnervensystems Subdurale Haematoma Normaldruckhydrozephalus Multiple sclerose Schlaganfall Gehirntumor Zerebrale Trauma Metabolische Störung Ernährungsmangel Psychiatrische Störung Substanzmißbrauch oder Übermedikation Klinische Beschreibungen von Demenz

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Klinische Beschreibungen von Demenz

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as klinische Syndrom von Demenz wird durch einen erworbenen Verfall der kognitiven Funktionen charakterisiert, der durch Gedächtnisschwund und Aphasie in Erscheinung tritt. Obwohl der Ausdruck Demenz sowohl in der medizinischen Fachliteratur als auch im Volksmund (= Schwachsinn) Verwendung findet, bezieht er sich in der Beschreibung kognitiver Funktionsstörungen auf zwei Beschwerden: senile Demenz vom Alzheimer-Typ (SDAT) und Multi-Infarkt-Demenz.

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Der Verlauf der Alzheimer-Krankheit besteht aus einem progressiven Verfall, der durch degenerative Veränderungen im Hirn verursacht wird. Ein solcher Verfall manifestiert sich in einem klinischen Bild episodenhafter Veränderungen und Muster bestimmter kognitiver Schwächen, die variabler Natur sind (Drachman, O´Donnell, Law & Swearer, 1990).‘Mental status testing’ (Prüfung des intellektuellen Zustandes) ist eine wichtige Methode der Evaluation dieser kognitiven Funktionsstörungen, zu denen Veränderungen im Kurzzeit- sowie im Langzeitgedächtnis,Abnahme des abstrakten Denkvermögens und Urteilens, Sprachbehinderungen (Aphasie) und Schwierigkeiten bei der Namensgebung von Wörtern (Anomie) gehören; dazu zählt auch der Verlust der Fähigkeit, das Gehörte, Gesagte oder Empfundene interpretieren zu können (Agnosie), sowie die Unfähigkeit motorische Aktivitäten z.B. die Benutzung eines Schreibstifts oder der Zahnbürste durchführen zu können, obwohl die motorische Funktion als solche noch intakt ist (Apraxie).Wenn solche klinischen Ergebnisse gegeben sind, kann eine mutmaßliche Diagnose gestellt werden. Eine definitive Diagnose hängt jedoch von einer Gewebeanalyse ab (s. Tabelle 2).

Tabelle 2: Diagnostische Evaluation von Demenz* Diagnostische Kategorien Vollständige medizinische Vorgeschichte Mental status examination Gründliche physikalische und neurologische Untersuchung (inklusive Untersuchung des Zentralnervensystems, falls Verdacht auf Infektion besteht) Vollständiges Blutbild und blutchemische Tests (auch Vitamin B12 Anteile) Tests zur Schilddrüsenfunktion Serologie für Syphilis

Obwohl chronische Demenz vom Alzheimer-Typ erst ab 40 anfängt und daher als eine geriatrische Erkrankung eingestuft wird, ist die Signifikanz des Lebensalters für die Prognose weniger wichtig als der momentane Schweregrad zur Zeit der Diagnose (Drachman et al. 1990). Der durch die Evaluation der intellektuellen Funktionen gemessene Krankheitszustand scheint die zuverlässigste Voraussagbarkeit für den darauffolgenden Krankheitsverlauf zu besitzen, insbesondere, wenn dieser von einer Kombination von Verwirrtheitszuständen, ziellosem Umherirren und Verhaltensproblemen begleitet wird (Walsh,Welch, & Larson 1990). Die Rate des Verfalls zwischen Patienten-Untergruppen ist jedoch variabel und daher kann das Tempo des Verfalls bei einem Patienten während eines Jahres nicht unbedingt als zukunftsweisend betrachtet werden, was den weiteren Verfall angeht (Salmon et al. 1990). Manche Autoren (Cooper, Mungas, & Weiler 1990) beziehen sich auf einen noch nicht bewiesenen Faktor außerhalb des Verfalls der kognitiven Funktionen, der möglicherweise in Zusammenhang mit den assoziierten abnormalen Verhaltensweisen: Wutausbrüche, Agitiertheit, Persönlichkeitsänderung,Verwirrtheitszustände, Schlaflosigkeit und Depression, die im späteren Verlauf der Krankheit auftreten, eine Rolle spielt.

Musiktherapie

Computertomographie (CT) oder Magnetfeldresonanz Imaging (MRI), Elektroenzephalographie (EEG) oder PositronenEmissions-Tomographie (PET) Scan Steg, R. (1990). Determining the cause of dementia. Nebraska Medical Journal, 75, (4), 59-63.

*

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45


Der Patient leidet offensichtlich selbst unter seiner Krankheit. Der vor dem einsetzenden motorischen Verfall erscheinende Gedächtnisverlust und die begleitende Aphasie führen zu Störungen seines täglichen Lebens; Kommunikation, die Basis aller sozialen Interaktion, ist gestört. Der sich androhende progressive Verfall und die Verhaltensstörungen sind nicht nur für Patienten problematisch, sondern auch für ihre Angehörigen, die die soziale Verantwortung für die Patientenbetreuung mindestens teilweise übernehmen müssen, obendrein mit der emotionalen Belastung, zusehen zu müssen, wie ein geliebter Mensch sich allmählich in Verwirrtheit und Isolation verliert. Zu guter Letzt sollte berücksichtigt werden, daß alte depressive Menschen manchmal eine Pseudodemenz an den Tag legen (Caine 1981), wobei die Alzheimer-Krankheit ‘vorgegaukelt’ wird (Siehe Tabelle 3). Solche Patienten erholen sich und zeigen keine Anzeichen residualer intellektueller Beeinträchtigungen.

Die Evaluation von Demenz

E

in kurzer kognitiver Test, der ‘Mini-Mental State Examination’ (MMSE), wurde entwickelt, um die Progression der Alzheimer-Krankheit zu betrachten und zu überwachen (Folstein, Folstein, & McHugh 1975) Der Test, der sich aus Fragen und Aktivitäten zusammen-

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Musiktherapie

setzt, ist eigentlich für den Kliniker gedacht, um die Funktionen verschiedener Hirnregionen zu messen (s.Tabelle 4); er ist ein weit verbreitetes und erfahrenes validiertes klinisches Instrument (Babikian et al. 1990; Beatty & Goodkin 1990; Caine 1981; Eustache et al. 1990; Faustman, Moses, & Csernansky 1990; Gagnon et al. 1990; Jairath & Campbell 1990; Summers et al. 1990; Zillmer et al. 1990).

1990 ), ohne durch motorische und sensorische Defizite kontaminierbar zu sein (Beatty & Goodkin 1990; Jairath & Campbell 1990).

Ältere Patienten, die aus einem möglichen Ergebnis von 30 Punkten weniger als 24 erzielen, werden als ‘schwachsinnig’ bezeichnet. Jedoch ist dieses Punktsystem aufgrund der unteren Grenze von 24 Punkten in Frage gestellt worden, insbesondere im Hinblick auf präsenile Demenz (Galasko et al. 1990), Als Krankenbett-Test wird der MMSE weit veraber auch wegen des Einflusses der jeweiligen breitet zur Überprüfung der intellektuellen FähigSchulbildung auf die Ergebnisse (Gagnon et al.1990). keiten eingesetzt und ist auch als ein prediktives Schwachgebildete Menschen mit weniger als 8 BilMeßinstrument für kognitiven Verfall und semantidungsjahren könnten mit weniger als 24 Punkten schen Gedächtnisverlust nützlich (Eustache et al. abschneiden ohne von Demenz befallen zu sein. Eine weitere Kritik des Tabelle 3: Mini-Mental-State-ExDie differenzierenden Merkmale von Pseudodemenz und Demenz amination ist, daß er nicht empfindlich genug Pseudodemenz Demenz auf geringe Defizite reagiert, aber er könnte durch die Einbindung eiAnfang kann nur vage vermutet werden Anfang kann relativ präzise datiert werden nes Wortflüssigkeitstests und die Verbesserung Symptome können von längerer Dauer sein, bevor Symptome von kurzer Dauer bevor ärztliche Hildes Aufmerksamkeitsärztliche Hilfe gesucht wird fe gesucht wird Konzentrationstests ergänzt werden (Galasko Selten frühere psychiatrische Störungen Oft frühere psychiatrische Störungen et al. 1990 ). Zudem werden die kognitiven Kaum Patientenbeschwerden über kognitiven VerHäufige Patientenbeschwerden über kognitiven Funktionsstörungen bei fall Verfall psychiatrischen Patienten ernsthaft unterbewertet (Faustman, MoPatienten geben sich große Mühe mit den AufgaPatienten geben sich wenig Mühe, selbst bei den ses, & Csernansky 1990), ben einfachsten Aufgaben denn eine wichtige Eigenschaft, die von dem Verhalten stimmt mit dem Schweregrad des Verhalten oft unvereinbar mit dem Schweregrad MMSE vernachlässigt wird, kognitiven Versagens überein des kognitiven Versagens ist ‘Intentionalität’ oder exekutive Kontrolle (OdenHäufige nächtliche Betonung der VerhaltungsNächtliche Betonung von Verhaltungsstörungen heimer 1989), die die störungen ungewöhnlich Fähigkeit eines Patienten beschreibt, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieAntworten häufig beinahe richtig „Ich weiß nicht” Antworten typisch ren, ein gesetztes Ziel zu erreichen, oder auch die Gleichbleibend schlechte Leistungen bei Aufgaben Auffällige Leistungsunterschiede bei Aufgaben Aufgabe wechseln zu ähnlichen Schwierigkeitsgrads ähnlichen Schwierigkeitsgrads können.

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3


Tabelle 4: Mini-Mental State Examination* Item

Komponent

Ergebnis

Zeitliche Orientierung

Jahr, Jahreszeit, Monat, Datum und Tag

5

Örtliche Orientierung

Land, Kreis, Stadt, Gebäude und Etage

5

Registration

Patient wiederholt „Rose“, „Ball“ und „Schlüssel“

3

Aufmerksamkeit für Rechenaufgaben (Kalkulationen)

Serielle Subtraktion von 7 von 100 oder „Welt“ rückwärts buchstabieren

5

Erinnerungsvermögen

„Rose“, „Ball“ und „Schlüssel“

3

Namensgebung

Bleistift und Armbanduhr

2

Wiederholung

Kein wenn und oder aber

1

Dreistufiger verbaler Befehl

Nehmen Sie ein Blatt Papier in die rechte Hand, falten Sie es, damit es halb so groß ist und legen Sie es auf den Boden

3

Geschriebener Befehl

Machen Sie die Augen zu!

1

Schreiben

Ein spontaner Satz

1

Konstruktion

Zwei miteinander verbundene Pentagramme

1

Summe

30

Galasko, D., Klauber, M., Hofstetter, C., Salmon, D., Lasker, B., & Thal, L. (1990 ).The Mini-Mental State Examination in the early diagnosis of Alzheimer’s disease. Arch-Neurol, 47, (1), 49-52.

*

Die Items, die der MMSE nicht berücksichtigt (geringere Sprachdefizite) oder nicht evaluieren kann (Fluß und Intentionalität), können jedoch durch das improvisierte Musikspiel erkannt werden. Eine dynamische Evaluation des Patientenverhaltens in Verbindung mit motorischer Koordination und der Intention, die für das Spielen auf Musikinstrumenten innerhalb der Musiktherapie unerläßlich ist, könnte sich zusammen mit der interpersonellen Kommunikation als empfindsames komplementä-

res Instrument der Evaluation herausstellen (Aldridge 1989a) (Siehe Tabelle 5). Jedoch wäre hiermit die Musiktherapie noch kein eigenständiges diagnostisches Instrument. Es wäre nicht möglich zu beurteilen, wie Patienten vor ihrer Erkrankung gespielt hätten, oder daß ihre momentane besondere Spielweise das Ergebnis ihrer Erkrankung sei, jedoch wäre sie ein geeignetes Evaluierungsinstrument für das augenblickliche Leistungsvermögen eines Individuums.

Musiktherapie

Ausgehend von diesem augenblicklichen Leistungsvermögen, wobei musikalische Evaluation mit medizinischer Diagnose gekoppelt wird, wäre es möglich, ein breites Spektrum therapeutischer Veränderungen, ob Verbesserungen oder Verschlechterungen, die nicht auf verbalen Fähigkeiten beschränkt wären, zu erkennen.

Musik und Demenz

M

it 56 Jahren, nach der Komposition zweier bedeutsamer Klavierkonzerte, fing der Komponist Maurice Ravel an, über erhöhte Erschöpfung und Mattigkeit zu klagen. Nach einem Verkehrsunfall verschlechterte sich sein Zustand progressiv (Henson 1988). Er verlor die Fähigkeit, sich an Namen zu erinnern, spontan zu sprechen und zu schreiben (Dalessio 1984). Obwohl er Sprache noch verstehen konnte, verfügte er nicht mehr über die erforderliche Koordination, um ein großes Orchester zu dirigieren. Gleichwohl, wie er berichtete, sein Kopf voller musikalischer Ideen sei, war er nicht mehr in der Lage, sie niederzuschreiben (Dalessio 1984). Mit der Zeit verschlechterten sich seine intellektuellen Funktionen und seine Sprachfähigkeit derartig, daß er letztlich nicht einmal mehr seine eigene Musik erkannte. Er litt scheinbar an einer Krankheit, die wir heutzutage als die Alzheimer-Krankheit erkennen würden. Jedoch ist die Reaktion auf Musik der an der Alzheimer-Krankheit leidenden Patienten ein bemerkenswertes Phänomen (Swartz et al. 1989). Während sich kognitive Defizite durch Sprachverfall bemerkbar machen, scheinen musikalische Fähigkeiten erhalten zu bleiben. Dieses könnte dadurch erklärbar sein, daß die Ursprünge von Sprache selbst musikalisch sind und der Entwicklung von semantischen und lexikalischen Sprachfunktionen vorangehen (Aldridge 1989a;Aldridge 1989b;Aldridge 1991b). Wir wissen nur wenig über den Verlust von musikalischen und sprachlichen Fähigkeiten in Fällen

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Tabelle 5: Eigenschaften medizinischer und musikalischer Evaluierung

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Medizinische Evaluierungselemente

Musikalische Evaluierungselemente

Kontinuierliche Beobachtung des intellektuellen und funktionellen Zustandes

Kontinuierliche Beobachtung des intellektuellen und funktionellen Zustandes

Überprüfung der verbalen Fähigkeiten inklusive Sprachgewandtheit

Überprüfung der musikalischen Fähigkeiten: Rhythmus, Melodie, Harmonie, Lautstärke, Phrasierung, Artikulation

Prüfung der kortikalen Fehlfunktion, visuell-räumlichen Fähigkeiten und der Fähigkeit, komplexe motorische Aufgaben zu bewältigen (inklusiv Greifen und links/rechts Koordination)

Testung der kortikalen Fehlfunktion, visuell-räumlichen Fähigkeiten und der Fähigkeit komplexe motorische Aufgaben zu bewältigen (inklusiv Greifen und links/rechts Koordination)

Test für progredientes Gedächtnisversagen

Test für progredientes Gedächtnisversagen

Motivation, die Tests zu Ende zu führen, gesetzte Ziele zu erreichen und gestellte Aufgaben nicht aufzugeben

Motivation, beim improvisierten Musizieren durchzuhalten, musikalische Ziele zu erreichen und die musikalische Form beizubehalten

‘Intentionalität’ hier schwer zu evaluieren

‘Intentionalität’ ist eine Eigenschaft der musikalischen Improvisation

Konzentration und Dauer der Aufmerksamkeit

Konzentration auf das improvisierte Spiel und Aufmerksamkeit gegenüber den Instrumenten

Flexibilität beim Aufgabenwechsel

Flexibilität bei musikalischen (auch instrumentalen) Veränderungen

Mini-Mental State Examination Ergebnisse werden vom Bildungsniveau beeinflußt

Fähigkeit improvisierte Musik zu spielen, mit Rücksicht auf den Einfluß der früheren musikalischen Erziehung

Unempfindlichkeit für geringe Veränderungen

Empfindlichkeit für geringe Veränderungen

Fähigkeit, die Umgebung zu interpretieren

Fähigkeit, den musikalischen Kontext zu interpretieren und die Kommunikation innerhalb des therapeutischen Verhältnisses zu evaluieren

Musiktherapie

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von globalen kortikalen Schäden. Etwaige Diskussion muß sich zwangsweise auf Hypothesen beschränken, da es keine etablierten Maßstäbe für musikalische Leistungen in der erwachsenen Bevölkerung gibt (Swartz et al. 1989).Aphasie, ein Symptom von kognitivem Verfall, ist ein kompliziertes Phänomen. Während syntaktische Funktionen länger erhalten bleiben können, fangen die lexikalischen und semantischen Funktionen der Namensgebung und Zuordnung schon im frühen Stadium an zu versagen. Phrasierung und grammatische Strukturen bleiben erhalten und geben den Äußerungen eine scheinbare Normalität, während deren Inhalte zunehmend durcheinander geraten. Dieser progrediente Verfall scheint sich innerhalb des Kontextes von semantischer und episodischer Gedächtniseinbuße anzusiedeln. Musikalität und Singen werden nur selten für ihre Tauglichkeit als Hinweise zum kognitiven Verfall überprüft, obwohl die Konservierung dieser Fähigkeiten bei Aphasiebefallenen mit einer eventuellen Genesung gekoppelt wurde und gar signifikante Indikatoren von hierarchischen Veränderungen in kognitivem Verhalten darstellen könnten. Jacome (Jacome 1984) entdeckte, daß ein musikalisch naiver Patient mit transkortikaler, gemischter Aphasie wiederholt und spontan pfeiffen und Fragen mit Pfeiffen erwidern konnte. Der Patient sang häufig spontan und fehlerfrei bezüglich Tonhöhe, Melodie, Rhythmus und Lyrik und widmete sich über lange Zeitspannen dem Musikhören. Beatty (Beatty et al. 1988) beschreibt eine Frau mit schweren Beeinträchtigungen durch Aphasie, Gedächtnisstörungen und Apraxie, die dennoch in der Lage war, ein unbekanntes Lied vom Blatt zu lesen und Xylophon ein für sie ungewohntes Instrument - zu spielen.Wie Ravel (Dalessio 1984) und ein älterer Musiker, der Musik auswendig spielen konnte (Crystal, Grober, & Masur 1989), aber den Namen der Komponisten vergessen hatte, konnte die Frau sich auch nicht mehr an den Titel der Musik, die sie gerade spielte, erinnern.

I

die akustisch-psychische Ebene - Veränderungen in Intensität,Tonhöhe und Klang,

II die diskriminierende Ebene - Differenzierung von Intervallen und Akkorden, III die kategorische Ebene, - bestimmende Identifizierung von rhythmischen Mustern und Intervallen, IV die Konfigurationsebene, - Wahrnehmung von Melodien, die Erkennung von Motiven und Themen, tonale Veränderungen, die Identifizierung von Instrumenten und rhythmische Differenzierung, V die Ebene, bei der musikalische Form erkannt wird, einschließlich der Wahrnehmung harmonischer, melodischer und rhythmischer Transformation, sowie deren exekutiver Funktion.

Swartz und seine Kollegen (Swartz et al. 1989) unterbreiten eine Reihe perzeptiver Ebenen, auf denen musikalische Störungen in Erscheinung treten:

Musiktherapie

Bei Alzheimer Patienten wird erwartet, daß während die Ebenen I, II und III nicht beeinträchtigt werden, die Komplexitäten der Ebenen IV und V bisweilen erhalten bleiben können, wenn auch ohne Verweisfähigkeit, jedoch sind sie für den Verfall anfällig. Es ist durchaus erwähnenswert, daß diese Fehlfunktionen eigentlich gar keine musikalischen, sondern Gehörfehler sind. Nur Fehlfunktionen in musikalischer Produktion sollten zu der Annahme führen, daß eine musikalische Fehlfunktion die Ursache sei. Improvisiertes Musizieren bietet also eine einmalige Gelegenheit, einen Beweis für den hypothetischen Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Produktion zu erbringen. Rhythmus ist der Schlüssel zu dem integrativen Prozeß sowohl von musikalischer Wahrnehmung als auch physiologischer Kohärenz. Barfields (Barfield 1978) Ansatz konstatiert, daß die Begegnung von musikalischer Form als Tongestalt mit dem Atmungsrhythmus ein musikalisches Erlebnis ergibt. Die externe Gehöraktivität wird vom internen Auffassungsvermögen im Kontext des individuellen Rhythmus weitervermittelt. Rhythmus ist auch in Bezug auf Kommunikation ein fundamentaler Teil der Organisation und Koordination interner und zwischenmenschlicher Prozesse (Aldridge, 1989a). Rhythmus liefert einen Bezugsrahmen für Wahrnehmung (Povel 1984). In Sequenzen gespielte Tonfolgen, die durch Tonhöhe, Volumen, Timbre und Länge charakterisiert werden, schreibt man eine Doppelfunktion zu. Zusätzlich markieren sie Zeitpunkte. Diese Töne produzieren also Zeitstrukturen und Strukturen in der Zeit.Wenn Tonsequenzen einer Zeitordnung lediglich als temporale Konzepte gehorchen, stellen sie eine Art von temporalem Gitter dar, eine Zeitskala, auf der die Längen und Positionen der Tonsequenzen entworfen werden. Man könnte sinnigerweise fragen, welche isomorphischen Geschehnisse in physiologischer Hinsicht eine solche Doppelfunktion übernehmen könnten. Möglicherweise gibt es regelmäßige sequenzielle Impulse von metabolischer, kardialer, oder respiratorischer Aktivität innerhalb des Körpers, die auch der jeweiligen Qualität der Tonhöhe, -farbe und -länge entsprechen.

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Rhythmus spielt auch in der Wahrnehmung von Melodie eine Rolle. Die Wahrnehmung von Sprache und Musik stellen ungeheure Anforderungen in der Wahrnehmung von Mustern. Der Zuhörer muß den Sinn aus langen Sequenzen von rasch wechselnden temporal eingeteilten Elementen herausfiltern (Morrongiello et al. 1985).Temporale Voraussagbarkeit spielt eine wichtige Rolle in der Verfolgung von melodischen Linien (Jones, Kidd, & Wetzel 1981; Kidd, Boltz, & Jones 1984). Kidd et al definieren Melodie als Struktur in der Zeit und argumentieren, daß ein regelmäßiger Rhythmus die Erkennung eines Tonintervalles und seine anschließende Integration in eine kognitive Repräsentation der seriellen Struktur eines musikalischen Schemas erleichtert. Erwachsene identifizieren bekannte Melodien auf der Basis der Information über die relativen Tonintervalle vielmehr als durch absolute Information von vereinzelten Tönen. Bei der Erkennung von unbekannten Melodien geht es weniger um Informationen über die einzelnen Töne als um sukzessive Tonhöhenveränderungen oder melodische Umriße. Der rhythmische Kontext bereitet den Zuhörer auf den Beginn bestimmter musikalischer Intervalle vor und ist deshalb ein Mittel zur Erkennung,Voraussagung oder Veränderung. Diese Veränderungen werden vielleicht nicht wahrgenommen, man stimmt harmonisch oder zeitlich nicht mehr mit der Umgebung überein. Ein solcher Verlust der rhythmischen Struktur, der nach außen hin Verwirrung stiftet, könnte ein verborgener Faktor im Verständnis der Alzheimer-Krankheit sein. Wichtig bei diesen Beschreibungen der musikalischen Wahrnehmung ist, daß die Betonung auf der Situation liegt, in der die verschiedenen Ebenen der Aufmerksamkeit vor dem Hintergrund einer temporalen Struktur gleichzeitig auftreten (Jones, Kidd, & Wetzel 1981; Kidd, Boltz, & Jones 1984). Musikalische Improvisation mit einem Therapeuten, die Aufmerksamkeit (Sandman 1984; Walker & Sandman 1979; Walker & Sandman 1982) , Tempoveränderungen und freiwillige Mitwirkung einbindet (Safranek, Koshland, & Raymond 1982), ohne dabei auf lexikalische Inhalte Rücksicht nehmen zu müssen, könnte eine ideale Behandlungsmaßnahme für Alzheimer Patienten bieten. Daß der Therapeut dem Patienten einfache rhythmische Formen und melo-

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Musiktherapie

dische Phrasen vorspielt in der Erwartung, daß der Patient diese Formen oder Phrasen nachmachen wird, ähnelt dem Element der ‘Registration’ im Mental-State-Examination-Test. Während improvisiertes Musizieren ein nützliches Instrument für die Evaluation musikalischer Fähigkeiten bleibt, wird es auch innerhalb eines therapeutischen Kontextes eingesetzt.Auf diese Weise werden Evaluation und Therapie gekoppelt, wobei die Evaluation Kriterien vorgibt für die Identifizierung von therapeutischen Zielen und die Entwicklung therapeutischer Strategien.

Musiktherapie mit einer Alzheimer Patientin

D

ie Nordoff-Robbins Musiktherapie basiert auf musikalischer Improvisation zwischen Therapeut und Patient (Nordoff & Robbins 1977). Der Musiktherapeut improvisiert am Klavier mit dem Patienten, dem eine ganze Reihe von Musikinstrumenten zur Verfügung stehen. Die Arbeit fängt oft mit einer ‘Erforschungssitzung’ an, in der rhythmische Instrumente, insbesondere Trommel und Zymbel, eingesetzt werden, gefolgt vom Einsatz rhythmischmelodischer Instrumente wie Glockenspiel oder Xylophon. Im Verlauf der sich weiter entwickelnden Arbeit im melodischen Bereich werden Metallophon, Klavier und die Stimme einbezogen. So liegt der Schwerpunkt dieser Arbeit während jeder Sitzung auf musikalischen Improvisationen, in der die Musik als Träger der Therapie fungiert. Jede Sitzung wird mit Einverständnis des Patienten auf Tonkassette festgehalten, um zu einem späteren Zeitpunkt analysiert und, für ihren musikalischen Inhalt, katalogisiert zu werden. In der folgenden Fallstudie wird die Musiktherapie als Teil einer umfangreichen Behandlung eingesetzt. Die Patientin erhält auf ambulanter Basis Therapiesitzungen, die einmal wöchentlich für jeweils 40 Minuten stattfinden. Da die Patientin den Weg nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen kann, wird sie von ihrem Sohn ins Krankenhaus gebracht.

Frau X war eine 55jährige Frau, die zur Behandlung ins Krankenhaus kam. Ihre verstorbene Schwester litt an der Alzheimer-Krankheit und da sich das Gedächtnis von Frau X zunehmend verschlechterte, befürchtete ihre Familie, daß ihr das gleiche Schicksal wie das ihrer Schwester widerfahren könnte. Sie hatte mit 40 Jahren angefangen, für Familie, Freunde und Bekannte Klavier zu spielen, obwohl sie keinen formellen Unterricht nahm. Diese Tatsache führte zu der Annahme, daß Musiktherapie zusätzlich zur medizinischen Behandlung eine potentielle adjuvante Therapie wäre. Die Patientin wurde ursprünglich zu dem Zeitpunkt ans Krankenhaus überwiesen als ihr fortschreitender Verfall sowohl ihr, wie auch ihrem Sohn bewußt wurde, obwohl die Krankheit noch im Frühstadium war. Zu Hause hatte sie schon Schwierigkeiten, ihre Kleidung und andere Dinge für das tägliche Leben zu finden. Sie war nicht mehr in der Lage, für sich selbst zu kochen oder ihren eigenen Namen zu schreiben. Beim Sprechen hatte sie Schwierigkeiten mit der Wortfindung.Aufgrund der Familiengeschichte und ihres eigenen Verständnisses über ihre Schwächen können wir davon ausgehen, daß ihre kognitiven Probleme durch Depression verstärkt wurden und wahrscheinlich eine Pseudodemenz darstellten.

Rhythmisches Spiel

I

n allen zehn Sitzungen zeigte Frau X ihre Fähigkeit, ohne den Einfluß ihrer Musiktherapeutin ein rhythmisches Muster im 4/4 Takt mit einem Schlegel auf einer Trommel zu spielen. Dieser Musterrhythmus trat, wie in Beispiel I demonstriert, in unterschiedlichen Formen auf. Eine Eigenschaft ihres rhythmischen Spiels war, daß der Patientin während einer Improvisation allmählich die Kontrolle über den Rhythmus verlor, so daß er immer unpräziser wurde und sowohl an Form als auch an Vitalität einbüßte. Der zu Anfang klare und präzise Impuls ihres rhythmischen Spiels baute schrittweise mit dem Verlust an Konzentrati-

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Beispiel 1

on und Ausdauer ab. Jedoch konnte die Patientin ihre rhythmische Präzision wiedererlangen, wenn die Therapeutin ihr im Laufe der Improvisation eine musikalische Gesamtstruktur anbot.Wie bereits erwähnt, ist eine übergeordnete rhythmische Struktur notwendig, um Wahrnehmung aufrecht zu erhalten, und es ist gerade die ‘musikalische Gestalt’ (d.h. die Fähigkeit, eine Gesamtorganisation im zeitlichen Rahmen anzubieten), die in der Alzheimer-Krankheit fehlt. Die Patientin reagierte schnell auf Tempowechsel und auf verschiedene rhythmische Muster und konnte diese in ihr Spiel integrieren. Signifikant war ihre flüssige Reaktion beim Wechsel vom 4/4 in einen 3/4 Takt mit ihrer häufigen Bemerkung „...und jetzt ist es ein Walzer...“. Bei typischen familiären rhythmischen Mustern (z.B. dem Habanera-Rhythmus) zusammen mit charakteristischen melodischen Phrasen lachte sie, atmete tief durch und spielte mit größerer Entschlossenheit. Diese rhythmischen Improvisationen auf verschiedenen Trommeln wurden in späteren Sitzungen auf zwei Instrumenten gespielt. Die Patientin hatte keine Schwierigkeit, die Schlegel zu kontrollieren und festzuhalten. In gleicher Weise war ihr die Koordination von paralleler oder alternierender Spielweise auf einem einzelnen Instrument unproblematisch, auch wenn sie ein meist schnelles Tempo wählte (120 Schläge pro Minute ). Jedoch verursachte die Einführung eines zweiten, gleichzeitig zu spielenden Instruments erhebliche Schwierigkeiten für die Patientin. Sie blieb desorientiert vor den Instrumenten stehen, unfähig, beide gleichzeitig in ihr Spiel einzubinden. Lediglich durch Anweisung und Führung der Therapeutin war die Patientin in der Lage, das Rechts/Links-Spiel auf zwei Instrumenten zu koordinieren. Auch Veränderungen im Spielmuster waren nur schwer umsetzbar (siehe Beispiele 2 und 3). Durch alle Improvisationen hindurch blieb jedoch die instinktive Musikalität der Patientin, was Tempo (ritardando, accelerando, rubato) und Lautstärke betrifft, erhalten und wurde bei jeder Gelegenheit zum Ausdruck gebracht, was übereinstimmt mit den von Swartz et al. definierten Wahrnehmungsebenen, auf denen sich musikalische Störungen ereignen (d.h. Ebenen: (a) die akustisch-psy-

Rhythmisches Spiel der Patientin auf einer Trommel mit einem Schlegel in der rechten Hand

Beispiel 2 Dialogspiel auf der Trommel

Therapeutin Patientin

Beispiel 3 Eine Veränderung im Spielmuster

Therapeutin Patientin

Beispiel 4 Veränderung in der Spielform der Patientin

Trommel (r H) Zymbel (l H.)

Musiktherapie

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chologische Ebene, (b) die diskriminierende Ebene, mit der Differenzierung von Intervallen und Akkorden und (c) die kategorische Ebene, mit der bestimmenden Identifizierung von rhythmischen Mustern und Intervallen).

che Töne sie spielen sollte, vermochte sie den Fingerbewegungen der Therapeutin zu folgen. Ihr fiel es sehr schwer, eine ihr vorgespielte kleine Tonreihe nachzuspielen, was allerdings ihre visuell-räumlichen Schwierigkeiten verschlimmert haben könnten (es ist beispielsweise einfacher, die Oberfläche einer Trommel als die limitierten präzisen Oberflächen eines Glockenspieles zu treffen).

kontrastierenden Klangqualitäten von Dur und Moll vermindert, aber insgesamt zeigte sie eine unverkennbare Wahrnehmung für harmonische Vorgänge. Wie in Tests für Sprachfunktion, ist hier die Musikproduktion beeinträchtigt, während Wahrnehmungsfähigkeiten erhalten bleiben.

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Melodisches Spiel

Veränderungen im musikalischen Spiel der Patientin

M

elodie ist der natürliche Ausdruck einer Bewegung, die von einem Moment zum nächsten entsteht und vergeht. Die Größe der Intervalle gibt dieser Bewegung eine immense melodische Spannung, die von sich aus eine dynamische Stärke entfaltet. Jedoch ist das melodische Erlebnis zugleich ein formales; schon zu Beginn einer Melodie entsteht die Möglichkeit, das Gefühl der Unmittelbarkeit der ganzen Form zu erfassen, um sich für das ästhetische Vergnügen der Abweichung vom erwarteten Schema vorzubereiten. Dieses Spannungselement zwischen dem Erwarteten und dem Unvoraussehbaren ist seit 200 Jahren die Quintessenz musikalischer Komposition gewesen. Überdies ist es Melodie, die Musik aus der rhythmischen Welt der Gefühle in die kognitive Welt der Imagination führt. Die von Frau X gespielten Melodien waren immer lebendig. Sie kannte viele Volkslieder aus früheren Tagen und konnte sie selbständig singen. Wenn der Therapeut ihr ein paar Töne am Klavier vorspielte, konnte sie diese Töne mit einem populären Lied assoziieren. Jedoch war es der Patientin unmöglich, eigenständig eine ganze Melodie am Klavier, oder an einem anderen melodischen Instrument zu spielen. Obwohl sie spontan und flüssig anfangen konnte, hatte sie Schwierigkeiten, eine bekannte Melodie zu Ende zu spielen. Melodische Instrumente wie z.B. Metallophon und Xylophon, die sie zuvor nicht gekannt hatte, blieben ihr auch weiterhin fremd. Wenn eine neue Melodie vorgeschlagen wurde, suchte sie häufig stattdessen eine ihr bekannte, um der Ungewißheit einer Improvisation zuvorzukommen. Wenn die Therapeutin ihr gegenüber saß und ihr zeigte, wel-

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Musiktherapie

I

Harmonisches Spiel

G

anz am Anfang der ersten Therapiesitzung, entdeckte Frau X beim Betreten des Therapieraums das Klavier und begann spontan ‘Lustig ist das Zigeunerleben’ zu spielen. Sie begleitete dieses Lied mühelos mit harmonischen Dreiklängen und Terzen. Das zweite Lied, das sie zu spielen versuchte, stellte sich als schwieriger heraus. Sie fand die Subdominante nicht, worauf sie ihr Spiel unterbrach und bemerkte „...das passiert mir immer wieder“. Dieser Vorgang, in dem sie eine Melodie spontan anspielte, nur um abzubrechen, wenn die harmonische Struktur versagte, wiederholte sich, wenn immer sie andere Lieder wie ‘Happy Birthday’ und ‘Horch was kommt von draußen rein’ anstimmte. Sie zeigte dabei eine feine Sensitivität für die passende Harmonie, die sie nicht immer spielen konnte. Beim Trommelspiel war ihre musikalische Sensitivität zu den

m rhythmischen Spiel an Trommel und Zymbel, versuchte die Therapeutin die Aufmerksamkeit der Patientin dadurch zu verlängern, indem sie kurze musikalische Muster mit wechselndem Ausdruck (Moll, Dur, leise, laut, schnell, langsam) ständig wiederholte, in der Hoffnung, daß die Patientin eine stabile musikalische Form aufrechterhalten würde. Diese Technik half der Patientin, länger bei einem rhythmischen Muster zu bleiben und es stärker zum Ausdruck zu bringen. Über die Betonung des Grundschlags in der Musik versuchte die Therapeutin auf andere Weise dem Entgleiten des rhythmischen Musters entgegenzuwirken. In einem schnellen Tempo konnte die Patientin den Grundschlag über eine gewisse Zeit aufrechterhalten. Sobald sich aber das Tempo verlangsamte oder die Musik variierte, schoben sich Achtel ein, die das stabile Element des Grundschlags beeinträchtigten und somit ihrem Spiel einen oberflächlichen Charakter gaben. Eine weitere Veränderung in der Improvisation ereignete sich, als die Patientin rhythmische Muster erkannte und wiederholen konnte, die dann häufig in einen musikalischen Dialog umgesetzt und in einen musikalischen Kontext eingebunden wurden. Während der letzten Therapiesitzung konnte die Patientin ihr Spiel in der Weise verändern, daß sie durch die Organisation ihres kontemplativen und expressiven Spieles eine stärkere Ausdrucksweise in ihrer Spielform erzielte (siehe Beispiel 4). Obwohl ihr das Spiel auf zwei Instrumenten mit der Zeit vertrauter wurde, so daß sie zuweilen ohne Hilfe auskam, konnte sie es doch nicht als eine

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neue, selbständige und eigenständige Spielaktivität ergreifen. Auch trotz der häufigen Anwendung der ihr nicht mehr fremden Melodieinstrumente, wie Xylophon und Metallophon, kam kein Vertrautsein im Umgang mit diesen auf. Sie äußerte jedesmal ihre Unsicherheit: „Jetzt weiß ich nicht wie das geht” und benötigte meistens eine Anleitung.

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Die Patientin zeigte kaum dynamische Veränderungen in ihrem Spiel. Sie reagierte zwar auf dynamische Kontraste und Übergänge, aber ein für sie kraftvolles Forte konnte nur in der letzten Sitzung erreicht werden. Somit hatte ihr Spiel zuweilen, bedingt durch eine gleichbleibende Anschlagstärke, einen etwas mechanischen und unbeweglichen Charakter. Auch mit einer kleinen Auswahl von ausgesuchten Tönen war es der Patientin nicht möglich, in eine eigene, freie melodische Gestaltung zu kommen. Es schien, als ob sie von der Suche nach altbekannten, festgefügten Liedmelodien in Bann gehalten wurde. Infolgedessen wählte die Therapeutin häufiger die freie Improvisation auf rhythmischen Instrumenten.

Intentionalität

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chon ab der ersten Therapiesitzung zeigte die Patientin unmißverständlich ihre Entschlossenheit, sich ans Klavier zu setzen und die Melodien mit der jeweils passenden harmonischen Begleitung zu spielen, die ihr gerade einfiel. Diese Zielstrebigkeit und die entsprechende Willenskraft, sie umzusetzen, zeigte sie bei allen Sitzungen. Dieser Spielimpuls gewann insofern an Bedeutung als er sich auch als Ausgangspunkt für die freien Improvisationen nutzen ließ. In der sechsten Sitzung improvisierte Frau X ein rhythmisches Stück im 4/4 Takt, das die Therapeutin anschließend in eine melodische Phrase umwandelte. Am Ende der Phrase lachte die Patientin vor Freude über den Erfolg ihres Spiels und bat um eine Wiederholung. Das anfänglich beobachtete labile rhythmische Spiel (Entgleiten und Auflösen der rhythmischen Form) konnte z.T. in intentionales, ausdrucksbewußtes Spiel geführt werden. Obwohl

Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsreaktionen durch die Improvisationen wachgehalten und verstärkt werden konnten, versagten Konzentration und Ausdauer bei der Vollendung musikalischer Phrasen. Hier war die Patientin von der übergeordneten rhythmischen Struktur abhängig, mit der die Therapeutin sie musikalisch unterstützte.

Klinische Veränderungen

A

m Ende der Behandlungsperiode, in der auch homöopathische Medikamente angewendet wurden, konnte Frau X für sich kochen und ihre Sachen zu Hause finden. Der Psychiater, der die Verantwortung für ihre therapeutische Behandlung trug, berichtete über eine allgemeine Verbesserung ihrer Anteilnahme an Geschehnissen in ihrer Umgebung, insbesondere, daß sie ihre Aufmerksamkeit für Besucher und Gespräche aufrechterhalten konnte. Die Patientin hatte ihre Fähigkeit, ihren Namen zu schreiben, wiedergewonnen - wenn auch nur langsam. Obwohl sie sprechen wollte, hatte sie noch Schwierigkeiten mit der Wortfindung. Der praktische Arzt, der die allgemeine Verantwortung für ihre Behandlung trug, machte von einer validierten klinischen Prozedur für Mental-State Examination keinen Gebrauch. Es scheint, daß Musiktherapie eine günstige Wirkung auf die Lebensqualität dieser Patientin hatte, und daß dieser therapeutische Effekt teilweise durch die musiktherapeutische Behandlung der Depression resultierte. Es ist sogar möglich, daß die Patientin an einer Pseudodemenz litt, die durch ihre eigenen Ängste und ihre Depression hinsichtlich des Todes ihrer Schwester verschlimmert wurde. Obwohl die Patientin in allen Sitzungen deutlich ihre Absicht zeigte, spielen zu wollen, war ihre Fähigkeit, die Initiative zu ergreifen, herabgesetzt. Dieser Zustand spiegelte die Situation in ihrem täglichen Leben: sie wollte zwar selbständig sein, konnte aber nicht aus eigener Initiative heraus handeln. Der Stimulus, die eigene Initiative zu ergreifen, wurde von der Therapeutin als eine wichtige Eigenschaft der Musikthe-

Musiktherapie

rapie angesehen und scheint korrelativ zu sein mit der Art, mit der die Patientin begann, in ihrem täglichen Leben die Initiative zu ergreifen. Aktives Musizieren förderte die Interaktion zwischen den teilnehmenden Personen und damit die der Patientin Vergnügen bereitenden Kommunikationsinitiativen, insbesondere dann, wenn ihr eine vollständige Improvisation gelang. Eine Kontraindikation für Musiktherapie mit Patienten, die ihrer Probleme bewußt sind, ist dann gegeben, wenn durch das Musizieren diese fehlenden kognitiven Fähigkeiten stärker bewußt werden und unter Umständen eine womöglich tieferliegende Depression verschlimmern könnten, so daß der Patient im weiteren Verlauf der Therapie demotiviert werden könnte.

Schlußfolgerung

W

enn für uns die normalen Vorgänge im kognitiven Verfall des Alterns ungewiß sind, sind wir erst recht im unklaren, was die normalen musikalischen Fähigkeiten von Erwachsenen betrifft. Die Literatur suggeriert, daß musikalische Aktivitäten konserviert werden, während andere kognitive Funktionen versagen. Trotz Aphasie und Gedächtnisverlust, singen Alzheimer Patienten alte Lieder und tanzen zu alten Melodien wenn immer sich die Gelegenheit ergibt. Jedoch scheinen Musikproduktion und Musikimprovisation auf die gleiche Weise wie die Sprache zu verfallen. Bedauerlicherweise existieren keine etablierten Richtlinien für den normalen Umfang musikalischer Improvisation mit Erwachsenen. Improvisierte Musiktherapie bietet erfahrungsgemäß eine Möglichkeit Mental-State Examinations in den Bereichen zu ergänzen, die diese Prüfungen vernachlässigen (Siehe Tabellen 1 und 2).

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Zum ersten ist es möglich, den Fluß der Musikproduktion zu ermitteln. Zum zweiten sind Intentionalität, Aufmerksamkeit, Konzentration und Durchhaltevermögen

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Tabelle 6: Musikalische Elemente, Evaluierung und Improvisationsbeispiele

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Musikalische Evaluierungselemente

Improvisationsbeispiele

Überprüfung der musikalischen Fähigkeiten: Rhythmus, Melodie, Harmonie, Lautstärke, Phrasierung, Artikulation

Improvisationen mit rhythmischen Instrumenten (Trommel und Becken) einzeln oder kombiniert Improvisation mit melodischen Instrumenten Singen und Spielen von Volksliedern mit Harmoniebegleitung

Testung der kortikalen Fehlfunktion, visuell-räumlichen Fähigkeiten

Spielen auf Metallophon, Xylophon, Glockenspiel, das anspruchsvollen und präzisen Bewegungen bedarf

Test für progredientes Gedächtnisversagen

Das Spielen von kurzen rhythmischen und melodischen Phrasen innerhalb der Sitzung und in darauffolgenden Sitzungen

Motivation, beim Improvisieren durchzuhalten, musikalische Ziele zu erreichen und in unermüdlicher musikalischer ‘Intentionalität’, der Form zu folgen. ‘Intentionalität’ ist ein wesentlicher Aspekt der musikalischen Improvisation

Das Spielen eines rhythmischen Musters läßt die Begleitung des Therapeuten zu, wie auch die Fähigkeit, eine bekannte Melodie zu Ende zu spielen, obwohl das Tempo nicht nachläßt Die Patientin bekundet vom Anfang der Therapie an ihre Absicht, Klavier zu spielen und bleibt bei ihrem Vorhaben bis zum Ende der therapeutischen Behandlung

Konzentration auf das improvisierte Spiel und Aufmerksamkeit gegenüber den Instrumenten

Die Patientin verliert ihre Konzentration während ihres Spieles, mit qualitativem Verlust im musikalischen Spiel und fehlender Präzision beim Schlagen auf Stabspielen

Flexibilität bei musikalischen (auch instrumentalen) Veränderungen

Zuerst beschränkt sich das musikalische Spiel auf ein Tempo von 120 Schlägen pro Min. und auf ein typisches Muster, aber Veränderungen können herbeigeführt werden

Fähigkeit, improvisierte Musik zu spielen, mit Rücksicht auf den Einfluß der früheren musikalischen Erziehung

Obwohl die Patientin eine musikalische Erziehung genoß, ist diese nur hilfreich, wenn sie das musikalische Spiel wahrnimmt, es hat kaum einen Einfluß auf das improvisierte Spiel

Empfindlichkeit für geringe Veränderungen

Zu Anfang fehlende Flexibilität in Tempo, Lautstärke, und Ausdruck, die erst nach und nach entwickelt werden kann

Fähigkeit, den musikalischen Kontext zu interpretieren und die Kommunikation innerhalb des therapeutischen Verhältnisses zu evaluieren

Die Patientin entwickelt die Fähigkeit zum dialogischen Spiel, das sowohl genauere musikalische Perzeption, als auch musikalische Umsetzung erfordert

Musiktherapie

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bei einer gestellten Aufgabe wichtige Eigenschaften des musikalischen Improvisierens und können durch Musizieren zugänglich gemacht werden. \

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Zum dritten kann das episodische Gedächtnis für seine Fähigkeit, kurze rhythmische und melodische Phrasen zu wiederholen, geprüft werden.

Die Unfähigkeit, solche Phrasen zu bilden, könnte Gedächtnisschwierigkeiten zugeschrieben werden, oder einem bisher unbekannten Faktor, der möglicherweise mit der Organisation von Zeitstrukturen in Zusammenhang steht. Wenn rhythmische Struktur einen Gesamtkontext für musikalische Produktion und eine Basisstruktur für Wahrnehmung darstellt, muß der Eindruck entstehen, daß es dieser Gesamtkontext ist, der bei Alzheimer Patienten in Verfall gerät. Ein Verlust des rhythmischen Kontextes wäre eine Erklärung für die Fähigkeit dieser Patienten, sich einem rhythmischen und melodischen Spiel nur dann zuwenden und widmen zu können, wenn der Therapeut ihnen eine Gesamtstruktur vorgibt. Eine solche Hypothese würde mit der von Swartz vorgeschlagenen musikalischen Hierarchie (Swartz et al. 1989) S. 154) übereinstimmen und einen globalen Verfall der Kognition bei einer Beibehaltung der einfacheren Fähigkeiten nahelegen. Jedoch müßte bei dieser von Swartz propagierten Hierarchie der musikalischen Wahrnehmungsebenen wahrscheinlich eine weitere Unterteilung in eine Klassifizierung von Musikrezeption und Musikproduktion vorgenommen werden. Die Musiktherapie scheint auch deshalb ein sensibles Evaluations-Instrument zu sein, weil sie die lexikalisch ungebundenen prosodischen Elemente von Sprache zu prüfen vermag. Weiterhin können rezeptive und produktive Funktionsgebiete evaluiert werden, die nicht in ausreichendem Maße von anderen Prüfverfahren berücksichtigt werden, z.B. Geschicklichkeit, Durchhaltevermögen, Aufmerksamkeit, Konzentration und Intentionalität (siehe Tabelle 6). Zusätzlich bietet sie eine Therapieform, die möglicherweise kognitive Aktivität auf eine Art und Weise stimulieren könnte, daß für progressiven Verfall anfällige Regionen erhalten bleiben. Anekdoten-

haftes Beweismaterial erweckt auf jeden Fall den Eindruck, daß die Lebensqualität von Alzheimer Patienten durch Musiktherapie signifikant verbessert wird (Tyson 1989), begleitet von dem sozialen Gesamtgewinn der Integration und des Zugehörigkeitsgefühls, der eine Interkommunikation mit sich bringt (Morris 1986). Prinsley empfielt Musiktherapie in der geriatrischen Pflege von dem Standpunkt aus, daß dadurch die individuelle Verabreichung von Beruhigungsmitteln gesenkt wird, weniger Bedarf an Hypnotika auf der Krankenhausstation entsteht und der Rehabilitation generell geholfen wird. Er empfielt, daß Musiktherapie sich nach Behandlungszielen orientiere: soziale Ziele der interaktiven Kooperation; psychologische Ziele der Stimmungsverbesserung und Selbstdarstellung; intellektuelle Ziele der Sprachstimulation; Organisation der intellektuellen Prozesse; physische Ziele der sensorischen Stimulation und motorische Integration (Prinsley 1986).

In weiterer Forschung scheinen Single-Case Designs - mit der möglichen Einbindung von Multiple Baselines - im klinischen Bereich eine plausible Form der Evaluierung individueller Reaktionen auf musikalische Intervenierung mit Alzheimer Patienten zu werden. Solche Studien würden von sorgfältigen klinischen Untersuchungen, Mental-State Examinations und musikalischen Evaluierungen abhängig sein. Bedauerlicherweise beruht beinahe die gesamte Literatur zur Kognition und musikalischen Wahrnehmung auf Musikrezeption und nicht Musikpro-

Musiktherapie

duktion. Die Produktion von Musik ist, wie die Produktion von Sprache, ein sehr komplexes, noch kaum verstandenes Globalphänomen. Das Verständnis von Musikproduktion könnte einen Hinweis zur Basisstruktur von Sprache und Kommunikation im allgemeinen geben. Die Erforschung dieser Domäne der Wahrnehmung ist nicht nur zum besseren Verständnis der Alzheimer Patienten zwingend, sondern im gesamten Kontext kognitiver Defizite und zerebraler Dominanzen. Wie Berman (Berman 1981) konstatierte, könnte es sein, daß die nicht dominante Hemisphäre einen Vorrat an Funktionen im Falle regionalen Versagens parat hält, und daß diese Funktionalität stimuliert werden kann, um die Progression degenerativer Erkrankung zu verzögern. Überdies sollte darauf aufmerksam gemacht werden, daß, trotz des Versagens des globalen rhythmischen Musters bei der oben beschriebenen Patientin, sie weiterhin im Takt schlagen konnte. Eine ähnliche Situation könnte bei komatösen Patienten eintreten, die ihre fundamentalen Lebensimpulse im rhythmischen Zusammenhang nicht koordinieren können, und somit ihr Bewußtsein nicht wiedererlangen (Aldridge 1991a; Aldridge, Gustorff, & Hannich 1990).Vielleicht müssen wir uns in zukünftiger Forschung der koordinierenden Funktion von Rhythmus im menschlichen Intellekt und Bewußtsein annehmen, sei es bei Menschen, deren kognitive Fähigkeiten verlorengehen, oder bei Menschen, die ihre kognitiven Fähigkeiten wieder zu erlangen versuchen. Wir wollten eine gemeinsame Sprache zwischen Klinikern und Therapeuten herausarbeiten und dieses Ziel haben wir erreicht. Obwohl der klinische Nutzen von Musiktherapie für Patienten mit Demenz oder Pseudodemenz spekulativ blieb, wurde eine gemeinsame Sprache für die Diskussion und den Vergleich therapeutischer Veränderungen entwickelt, die der erste Schritt in einem Programm kontinuierlicher Forschungsdialoge ist. Der nächste Schritt wird der Versuch anderer Therapeuten sein, mit ihren älteren Patienten zu korrelieren, um festzustellen, ob unsere Hypothesen klinischen Untersuchungen standhalten können. Unsere Erfahrungen lehren uns, daß es wichtig ist, eine Periode aktiver Evaluierung abseits von der Therapie zu berücksichtigen, und daß diese Evaluierung auch Zeit für

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die Orientierung zur musiktherapeutischen Umgebung, zur Interaktion, zu den Instrumenten und zur Improvisationsaktivität einkalkulieren sollte. Musikproduktion ist, wie auch Sprachproduktion, ein komplexes Globalphänomen, das bisher wenig verstanden wurde. Ein Verständnis von musikalischer Kreativität könnte vielleicht einen Hinweis zur universalen Grundstruktur von Sprache und Kommunikation geben. Wie Berman konstatiert (Berman 1981), ist es vielleicht möglich, daß die nicht dominante Hemisphäre einen Vorrat an Funktionen für den Fall eines regionalen Versagens bereithält, und daß diese Funktionalität stimuliert werden könnte, um die Progredienz degenerativer Erkrankungen aufzuhalten.

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ie Schilderungen dieses Beitrages beziehen sich auf die musiktherapeutische Arbeit mit HIV- und AIDS-betroffenen Menschen, die im Jahr 1987 begann. In diesen Ausführungen steht die musiktherapeutische Praxis und das Umfeld, in dem diese Betreuung stattgefunden hat, im Vordergrund. Die medizinischen Aspekte dieser Arbeit sind in früheren Beiträgen, z.B. der Zeitschrift AIFO (Schnürer 1995 ), dargestellt. Konzeptionelle und wissenschaftliche Hintergründe zum Einsatz der Musik- und Kunsttherapie in diesem Indikationsgebiet sind im Buch “Music Therapy Research and Practice in Medicine“ zugänglich (Aldridge 1996).

Das Umfeld

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as Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke ist eine Klinik, die auf dem Hintergrund der Anthroposophie Rudolf Steiners eine erweiterte medizinische Praxis anbietet. Neben den schulmedizinischen Maßnahmen werden hier auch besondere pflegerische Anwendungen, kunsttherapeutische Begleitung und komplementäre medizinische Verfahren in die Behandlung einbezogen und in einer engen Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen zu einem Therapiekonzept komponiert.

Die Frage nach der Betreuung von HIV- und AIDS-betroffenen Patienten stellte sich gleichzeitig von zwei Seiten. Zum einen kamen Betroffene auf der Suche nach einer angemessenen medizinischen Betreuung, die auch komplementäre Aspekte einbezieht, nach Herdecke - sicherlich auch in der Hoffnung von “alternativmedizinischer Seite“ Antworten auf drängende Fragen zu erhalten, die die Schulmedizin schuldig blieb. Zum anderen ergab sich die Möglichkeit, aus der Situation der Betroffenen in ihrem individuellen Charakter drängende Fragen des Gesundheitssystems aufzugreifen und stellvertretend zu bearbeiten. Ein Anliegen, das seit jeher im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke einen hohen Stellenwert hatte.

Musiktherapie

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Auch wenn diese Fragen hier nicht beantwortet werden können, sollen einige doch gestellt werden, weil sie auch die hier geschilderte therapeutische Arbeit beeinflußt haben: \

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die Begriffsbestimmung von Krankheit und Gesundheit die Frage nach Therapiezielen angesichts einer chronischen, fortschreitenden Erkrankung die Frage nach der Lebensentfaltung des Individuums angesichts einer begrenzten Lebensspanne die Bewertung medizinisch-therapeutischer Erfolge die soziale Aufgabe einer Integration stationärer und nicht stationärer Behandlung und Lebensbegleitung die Bedeutung des Sterbens im Behandlungskontext.

Alle diese Fragen sind in unterschiedlichen Zusammenhängen aufgetreten und diskutiert worden, versammelten nun aber um die betroffenen Menschen herum einen Kreis von Ärzten, Pflegenden und Therapeuten zu einer langjährigen kontinuierlichen klinischen Arbeit. Einmal wöchentlich trafen sich alle in die Begleitung der Patienten einbezogenen Menschen zu einer Besprechung, um die verschiedenen Wahrnehmungen, Entwicklungen und Veränderungen miteinander zu besprechen und aus diesem gemeinsamen Austausch zu einer angemessenen individuellen Therapie für die Betroffenen zu kommen. In der Arbeitsgruppe waren neben den medizinischen Aspekten die pflegerischen Beobachtungen und die Beiträge der kunsttherapeutischen Disziplinen von besonderem Gewicht. In der Beschreibung hier wahrnehmbarer Prozesse bildeten sich Entwicklungen ab, die eine wesentliche Erweiterung der Labor- und Funktionsdiagnostik darstellten. So wurden in der Eurhythmie - einer bestimmten Form der kunsttherapeutischen Bewegungsgestaltung - beispielsweise räumliche Bezüge und Körpereigenwahrnehmung an Bewegungsgestalten sichtbar. Malen und Plastizieren verdeutlichten Farbempfindungen, räumliche und zeitliche Gestaltungsprozesse und die Musiktherapie zeitlich-formale und gestalterische Gesichtspunkte. Aus der reinen Beschreibung der künstlerischen Prozesse heraus entstand oftmals ein Gesamtbild des Patienten, das die medizini-

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Musiktherapie

schen und pflegerischen Maßnahmen mitgeprägt hat. Vielfach wurden Veränderungen, Prozesse oder Entwicklungen im Behandlungsverlauf in allen Bereichen deutlich, so daß die Aussagekraft jeder einzelnen Therapie für sich genommen belegt werden kann (Aldridge et al. 1990; Schnürer 1995). Man kann aus dieser Tatsache aber auch schließen, daß eine Veränderung in einem der therapeutischen Teilbereiche eine Gesamtentwicklung repräsentiert, die auch in anderen Bereichen auftreten wird. Diese Grundannahme und die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen allen Berufskollegen war die Grundlage für die Entwicklung der nun dargestellten musiktherapeutischen Gedanken. Sie stehen gleichsam stellvertretend auch für andere Kunsttherapieformen. Nur in der Anerkennung des jeweils eigenen Beitrages jedes Berufes wird eine Gesamtbehandlung aus einzelnen Teilen zu einer Therapie. Für die Erfahrung, Teil dieses therapeutischen Teams gewesen zu sein, danke ich daher an dieser Stelle allen Kolleginnen und Kollegen. Die Patienten, denen ich in meiner musiktherapeutischen Arbeit begegnet bin, waren in ihren Biographien, den individuellen Lebensentwürfen, den sozialen und persönlichen Hintergründen so unterschiedlich, daß es schwer fällt, von einer Gruppe zu sprechen, weil diese Gruppenbildung letztendlich nur auf die Gemeinsamkeit in der Diagnose des HIV-Virus und der daraus resultierenden Konsequenz besteht. Daher möchte ich die Möglichkeiten der Musiktherapie an einzelnen - individuellen Beispielen - aufzeigen. Diese Beispiele verdeutlichen aber dennoch insofern etwas allgemeines, als jeder HIV- und AIDS-Betroffene während seines Lebens ähnliche Phasen durchläuft, die über den individuellen Krankheitsprozeß hinausweisen.

Der Anfang: nach dem positiven HIV-Befund

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unächst stehen die Betroffenen vor der Situation, mit dem positiven Befund des HIV-Tests konfrontiert zu sein. In dieser Phase kommt es bereits zu seelischen und persönlichen Auseinandersetzungen mit einer Krankheit sowie zu Umfeldveränderungen aufgrund des Testergebnisses, obwohl der Gesundheitszustand auch über längere Zeiträume als “normal“ anzusehen ist. Welche innerpersönli-

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chen Auseinandersetzungen stattfinden, wird in verschiedensten autobiographischen Schilderungen anschaulich dargestellt (Auras 1994). In solchen autobiographischen Werken wird auch die innere Not deutlich, die dadurch entsteht, Dinge ausschließlich mit sich selbst abmachen zu müssen, die das Leben in so existentieller Weise bestimmen und auch zukünftig prägen werden. In dieser Phase lernte ich im Krankenhaus Herrn M. kennen. Er war ein selbständiger, erfolgreicher Unternehmer, der im Rahmen einer anderen Behandlung - eher zufällig - mit seinem HIV-Befund konfrontiert wurde. Im Gegensatz zu anderen Betroffenen konnte er weder die Umstände noch den Zeitpunkt seiner Ansteckung ausmachen. Als er zum ersten Mal zur Musiktherapie kommt, ich ihn abhole und zum Therapieraum begleite, spricht er viel, vermeidet aber alles, was mit seinem Befund oder seiner Krankheit zu tun hat. Im Musikraum findet er verschiedene Instrumente, Percussionsinstrumente wie Trommeln und Zimbeln, Stabspiele aus dem Orchesterbereich und andere leicht zu spielende Instrumente vor. Ich erkläre ihm, daß er selber auswählen dürfe, was er spielt, und daß ich sein Spielen auf dem Klavier begleiten werde. Nach anfänglichem Zögern und der Beteuerung, daß er gänzlich unerfahren und unmusikalisch sei, beginnt er mit zwei Stöcken auf einer Trommel zu spielen. Er spielt - motorisch geschickt - einen schnellen, fast getriebenen Galopp-Rhythmus. Ich begleite sein Spiel akkordisch zunächst nur auf den Taktschwerpunkten, die er bildet, später auch in den kleineren rhythmischen Einheiten mit fragmentierten Melodiemotiven. Sein Spielen wird immer lauter, und auch die begleitende Musik wird in ein crescendo geführt. Nach etwa 10 Minuten lauten Spielens bricht er ab, wechselt auf eigenen Wunsch das Instrument, geht zu einem Metallophon und beginnt zu spielen. Dieser Wechsel vollzieht sich ohne Kommentar, aber nach einem Blickwechsel, der deutlich macht, daß wir uns verstanden haben. Am Metallophon sitzend, beginnt er zu spielen. Zu meiner Überraschung probiert er nicht erst den Klang aus, sondern beginnt, ebenso heftig, wie er zuvor die Trommelimprovisation beendet hat, mit genau dem gleichen rhythmischen Motiv sein Spielen. Die melodischen Qualitäten des Instrumentes werden ihm scheinbar gar

Musiktherapie

nicht bewußt, und die tonale Begleitung eines Dreitonmotivs, das sich - wie in der Minimal Music Steve Reichs - immerzu wiederholt, scheint er gar nicht wahrzunehmen. Nach zwölf Minuten beendet er auch diese Improvisation, verharrt einen Moment in äußerer Ruhe und - wie es mir scheint - innerer Stille, bevor wir beide mit einem Kopfnicken diese erste musikalische Begegnung abschließen. In großer Ruhe begleite ich ihn auf sein Zimmer. Im gesamten Verlauf seiner weiteren Lebensgeschichte bin ich Herrn M. immer wieder begegnet. Im Rahmen seiner stationären Krankenhausaufenthalte; in der ambulanten Begleitung während einer Phase, in der er eine Anbindung suchte; als Begleiter zu einem Konzert, das er - schon schwerstkrank - gerne hören wollte und als Besucher zu Hause, während er bettlägerig war. Diese erste Begegnung, in der das Unaussprechliche, was ihm geschehen war, präsent und hörbar war, obwohl nichts gesagt werden brauchte, und die Tiefe, die in dieser ersten musikalischen Begegnung lag, hat den gesamten weiteren Weg der Therapie prägend bestimmt. Gerade hierin sehe ich die große Chance für die Musiktherapie in der frühen Betreuung: eine therapeutische Beziehung kann bei guter körperlicher Verfassung aufgebaut werden; Unaussprechliches kann hörbar werden und das, was hörbar wird, wird in der musikalischen Beziehung mit einem anderen Menschen geteilt.

Krisenintervention und stationäre Aufenthalte...

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o wie für Herrn M. ist der weitere Weg für alle Betroffenen davon gekennzeichnet, daß wiederholte Krankenhausaufenthalte notwendig sind; zum Teil mit oder unmittelbar nach lebensbedrohlichen Krisen, die absehbar - aber doch immer unvorhergesehen - in das Leben einbrechen. Das Ziel aller in diese Situation einbezogenen Menschen ist es zunächst, diese akute Krise zu überstehen, ein möglichst großes Maß an persönlicher Gesundheit wiederzuerlangen und in die vertrauten Lebensumstände zurückkehren zu können. So begegne ich über mehrere Jahre oftmals auch Herrn W.

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Während seines ersten Krankenhausaufenthaltes hat er wöchentlich zwei Musiktherapiesitzungen. Dieses Angebot bestand auch während seiner späteren Aufenthalte. Wegen seines körperlichen Zustandes konnte er nicht immer beide Termine wahrnehmen. Schon in den allerersten Sitzungen - zu denen Herr W. mit großer Bereitschaft kommt - treten musikalische Besonderheiten auf, die den gesamten Weg in der Musiktherapie kennzeichnen und bestimmen. So zeigt sich in seinem Spiel an melodischen Stabspielen eine große Sensibilität. Diese drückt sich in zarten Klängen und großer Einfühlsamkeit in ruhige Stimmungen aus. Sein Spielen ist schwebend, ohne klar erkennbare äußere Strukturen und wird vom Therapeuten mit offener, tonal nicht gebundener Musik begleitet. Unmittelbar kommt es so zu einem Zusammenspiel. In krassem Gegensatz zu dieser Seite seines Spielens steht die musikalische Gestaltung an percussiven Instrumenten wie Trommel und Zimbel. Hier ist seine überwiegende Ausdrucksform sehr lautes, hartes Spielen. Er spielt in Einzelschlägen, die in kontinuierlicher Abfolge zwar stabil wirken, jedoch kein Tempo in musikalischem Sinne bilden, da sie unverbunden aufeinander zu folgen scheinen. Bei dynamischen (Lautstärke) oder agogischen (Tempo) Veränderungen wird sein Spielen noch fester; kontinuierliche Entwicklungen sind kaum möglich, vielmehr verlaufen Steigerungen und Veränderungen in Stufen. Bei beiden beschriebenen Spielweisen ist auffallend, daß es so scheint, als könne er selber nicht in das musikalische Geschehen eingreifen. Einmal entstandene Stimmungen könnten sich ewig fortsetzen, wenn sie nicht teilweise zu nahezu körperlicher Erschöpfung führten, die ein Abbrechen nötig werden lassen. Einflüsse der Improvisation des Therapeuten im Hinblick auf Veränderungen oder formale Verläufe sind kaum zu verzeichnen, was bei der zunächst offensichtlichen Sensibilität im Zuhören erstaunt. Im Verlauf der ersten Behandlungseinheit wird immer deutlicher, daß Herr W. diese Diskrepanz wahrnimmt. In allen Sitzungen ist daher ein musikalisches Element, an dem er arbeitet, die Formfindung und die Gestaltung von Übergängen und Schlüssen. Bei entsprechenden musikalischen Angeboten des Therapeuten findet er in sich zunehmend die Möglichkeiten, in musikalischem Sinne diese Dinge elementar zu veranlagen.

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Musiktherapie

Immer hat er viel Freude an den Musiktherapiesitzungen, auch wenn er nachher körperlich wie geistig erschöpft ist. Er beschreibt, daß genau seine Musik erklingt, und er sich in der Musik selber begegnet. Über diese Begegnung hinausgehend sieht er aber auch unmittelbar die Möglichkeit, in das, was ihm von außen begegnet, handelnd einzugreifen. Nach einer der ersten Sitzungen sagt er, daß er aus diesem Grunde die Musiktherapie bedeutsamer erlebe als verschiedene Formen der Psychotherapie, die er kennengelernt habe. Die Gesamtkomposition aller therapeutischen Maßnahmen führen dazu, daß Herr W. das Krankenhaus bald wieder in stabilem Zustand verlassen kann.

Wieder...

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ie musikalischen Aspekte bestimmen auch den zweiten musiktherapeutischen Behandlungsblock in seinem zweiten Krankenhausaufenthalt , der ein halbes Jahr später nötig wird. Deutlicher als in den vorangegangenen Sitzungen findet Herr W. - mit Hilfe durch die improvisierte Musik - zu Enden und zu Abschlüssen. Besonders wenn sein eigenes Spielen aufgegriffen und in seinen hervortretenden Elementen gesteigert wird, gelingt es ihm immer, verändernd einzugreifen, ohne dabei den musikalischen Fluß unterbrechen zu müssen. Zu Beginn des dritten musiktherapeutischen Behandlungsblocks während seines nächsten Akutaufenthaltes im Frühjahr des folgenden Jahres ist der vorherrschende musikalische Eindruck wieder der des ungeformten, zerfallenden Spielens. Sehr schnell findet Herr W. aber die im vorangegangenen Krankenhausaufenthalt erarbeiteten Möglichkeiten wieder. Parallel dazu stabilisiert sich sein körperlicher Zustand rasch. Erstmals treten jetzt Phasen auf, in denen es zu einem dialogisch imitatorischen Wechselspiel und zu Pausenbildung in seinem Spielen kommt. Diese Pausen werden durch musikalische Gestaltungselemente des Therapeuten verlängert, so daß es erstmals nach Schlußbildungen zu bewußten Neuanfängen kommt. Mit gewissen Umstellungsproblemen gelingt es Herrn W. nun auch, Rondoformen - also musikalische Formen mit sich wiederholenden Ab-

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schnitten - zu gestalten. Wiedererkennen und wiederholen ohne dabei mechanisch zu werden, sind die hervortretenden Merkmale innerhalb dieses Improvisationsabschnittes. Herr W. verläßt die Klinik diesmal mit der Frage, in welcher für ihn angemessenen Form er die in der Musik- und Kunsttherapie erlebten Fähigkeit zu selbstbestimmten Initiativen und eigenständigem Handeln auch im Alltag umsetzen kann.

...und wieder...

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uch während der bald notwendigen nächsten stationären Behandlung knüpft er zunächst musikalisch an die vorherigen Musiktherapiesitzungen an. Aufgrund seiner sich rapide ändernden körperlichen Verfassung ist eine kontinuierliche Arbeit jedoch nicht möglich. Da Herr W. es ablehnte, daß ich auf dem Zimmer für ihn musiziere, wurde die Begleitung zeitweise sogar unterbrochen. Die erste Sitzung nach langer Bettlägerigkeit schließt - obwohl er sichtlich entkräftet ist - an die vorhergegangene an. Er kann sein Spielen selber beeinflussen, ist flexibel und erlebt so im musikalischen Dialog Selbstvertrauen, Zuspruch und die Möglichkeit, eigenständig handeln zu können. Dies geschieht in einer spielerischen Situation, die scheinbar keine Anforderungen an ihn stellt. Zu diesem Zeitpunkt entschließt er sich, in Absprache mit allen Behandelnden, seine Kräfte einzuteilen und als einzige Kunsttherapie die Musiktherapie fortzuführen. Er hat bis zu seiner Entlassung wöchentlich zwei Sitzungen.

...und wieder...

A

uch in seinem letzten für diesen Bericht relevanten Aufenthalt hat er wieder Musiktherapie. Diesmal ruft er erstmals schon vor seiner Krankenhauseinweisung selber an, um sich anzumelden. Auch diesmal kann er musikalisch unmittelbar an den vorherigen Aufenthalt anknüpfen. Obwohl er seine gesamte Lebenssituation in Gesprächen mit depressiver Gestimmtheit in Frage stellt, erlebt er in

Musiktherapie

der Musiktherapie mit großer Freude seine Sicherheit in der formalen Gestaltung; genießt es, in unterschiedlicher Stilistik (von orientalischer Musik bis Schuhplattler) begleitet zu werden. Er kann sich nicht nur in die jeweilige Stimmung einfinden, sondern diese intentional initiieren und die Improvisation führen. Bei treibender Musik kann er nach kurzen Phasen des Folgens selber Wendungen geben, die zu ruhigeren Phasen führen und spielt dadurch gleichberechtigt seinen unabdingbar notwendigen Part in einem musikalischen Gesamten. Er erkennt und genießt die Situationen, in denen es in der Musik zu einem sozialen Miteinander kommt und ist jedesmal traurig, daß die Therapiezeit vorüber ist. Die Enden der Therapiesitzungen werden jeweils vom Therapeuten gesetzt. Erst aus dem Raum herausbegleitet scheint Herr W. gewahr zu werden, daß ihn die Musik körperlich und seelisch anstrengt. Auf die Frage, warum er trotzdem komme, antwortete ein anderer Patient einmal: “immer wenn ich spiele, weiß ich, daß ich lebe“. Diesen unmittelbaren, sinnlichen Zugang zum Lebensgefühl und dem positiven Erleben auch außerhalb der stationären Betreuung zur Verfügung zu stellen, war eine wichtige Aufgabe. Sie gelang bei denjenigen Patienten, die im direkten Einzugsbereich des Krankenhauses lebten, so daß sie ambulante Angebote auch wahrnehmen konnten.

...immer ein Wiedersehen

D

iese ambulante Arbeit ermöglichte, neben den positiven Aspekten für die Patienten, auch eine kontinuierliche Begleitung seitens der Therapeuten. Wie bereits erwähnt, werden in den Kunsttherapien Entwicklungen sichtbar, die auch auf Veränderungen des Allgemeinbefindens schließen lassen. Im kontinuierlichen Kontakt wird es so möglich, vielleicht auch Empfehlungen zu Untersuchungen zu geben, bevor sich die Situation zu einer akuten Erkrankung zuspitzt. Für die Betroffenen bieten solche ambulanten Anbindungen die Möglichkeit, einen kontinuierlichen Gesprächspartner zu haben, bei dem auch Sorgen und Nöte ihren Platz finden können. Die Betreuten finden die Möglichkeit, diejenige Therapie, die sie als besonders hilfreich empfunden haben, auch außerhalb der Krankenhaussituation wahrzunehmen. Für die Therapeuten bietet diese Einbindung die Möglichkeit, die Betroffenen auch in Phasen relati-

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ver Gesundheit und freier Lebensentfaltung wahrzunehmen. Hierdurch wird es erst möglich, Hypothesen zu Zusammenhängen von Gestaltungsprozessen im künstlerischen Bereich und dem Krankheitsgeschehen zu überprüfen und zu relativieren, die sich aus den Beobachtungen während der stationären Aufenthalte ergeben.

Wenn man sprachlos ist...

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owohl in den stationären als auch in den ambulanten Zusammenhängen wird auch der Grund für die Phase der Arbeit gelegt, in der es nicht mehr um die “Verbesserung“ des Gesundheitszustandes oder um Heilung im Sinne einer möglichst umfassenden Symptomfreiheit, sondern um die Begleitung in der letzten Lebensphase und um Heilung im wirklich umfassenden Sinne des “ganz werdens“ geht (Aldridge 1996). Diese letzte Phase erlebt man sowohl in klinisch-stationären als auch in häuslichen Zusammenhängen.

In beiden sind musiktherapeutische Begleitungen möglich und erfolgt. Im Gegensatz zu der zuvor beschriebenen Arbeitsstruktur der Sitzungen im Therapieraum findet die Arbeit nun überwiegend am Bett des Patienten statt und erfordert eine hohe Flexibilität hinsichtlich der organisatorischen Umstände. So kann es z.B. im Krankenhaus geschehen, daß der Patient gerne aktiv musizieren möchte, wenn er sich kräftig genug fühlt; genausogut kann es sein, daß man - nach einem kurzen Anruf bei Pflegenden - zum Patienten kommt und innerhalb der Zeit, die der Weg in Anspruch genommen hat, zu einer krisenhaften Veränderung des Zustandes gekommen ist, der den Gedanken an Kunsttherapie in den Hintergrund drängt.

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Musiktherapie

...in der Klinik...

E

in solcher Patient war Herr B. Sieben Wochen lang begleite ich ihn während seines letzten Krankenhausaufenthaltes. Ich musiziere zunächst zweimal wöchentlich mit ihm, sofern es sein Zustand erlaubt, der sich sprunghaft verändert. Ich versuche ihn so oft es geht im Musiktherapieraum zu treffen, später gehe ich auch in sein Krankenzimmer. Um ihm dennoch alle Optionen offenzuhalten, halte ich täglich zur gleichen Zeit den Therapieraum für ihn bereit. Herrn B.s Kontakt mit dem medizinischen Personal auf der Station erweist sich in dieser ganzen Zeit als ausgesprochen schwierig. Er ist fordernd, ungehalten, unvorhersehbar cholerisch und wenig zu Kompromissen bereit. In der Musiktherapie wirkt er weich und durchlässig. Bei dem verabredeten ersten Termin ist Herr B. bereits zu schwach, um selber in den Musiktherapieraum zu kommen, also hole ich ihn auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin ab. Im Krankenbett fahre ich ihn in den Therapieraum. Schon auf dem Weg übergibt er mir die Noten einer Chormotette, die ich für ihn singen und spielen soll. Für ihn habe Musik, besonders das Chorsingen, immer eine ganz große Rolle gespielt, das wolle er auf keinen Fall aufgeben, sagt er. Im Therapieraum versucht er, so gut es ihm möglich ist, Fragmente mitzusingen, muß aber immer wieder wegen seiner Atemprobleme abbrechen. Er signalisiert aber gleichzeitig gestisch, daß ich weiterspielen solle. Nach dem ersten Abschnitt des Stückes sagt er unter Tränen, daß er nicht einmal mehr das tun könne, was er kennt, und was er sich gedanklich genau vorstellen kann. Also soll ich es für ihn singen. Die Arbeitssituation verändert sich mit seinem immer schlechter werdenden Gesundheitszustand, so daß ich ihn bald täglich auf dem Zimmer besuchen gehe. Da er wünscht, “richtige Musik“ zu hören, bringe ich zu diesen Besuchen ein Tischcembalo mit. Zu einer Verabredung bringe ich verschiedene Stücke mit, die ich ihm vorschlagen möchte. Er wünscht von sich aus, ohne die mitgebrachten Noten beachtet zu haben, daß ich den Bachchoral “Jesu meine Freude“ für ihn singen soll, der zufällig auch bei den Noten ist. Am Cembalo begleite ich mich selbst zum Singen. Entkräftet hält er eine Kopie dieses Chorals in den Händen und verfolgt den Text der ersten beiden Strophen, während ich singe:

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“Jesu meine Freude, meines Herzens Weide, Jesus meine Zier. Ach wie lang, ach lange ist dem Herzen bange und verlangt nach Dir. Gottes Lamm, mein Bräutigam, außer Dir soll mir auf Erden nichts sonst lieber werden. Unter Deinen Schirmen bin ich von den Stürmen aller Feinde frei. Laßt den Satan wettern, laßt die Welt erzittern, mir steht Jesus bei. Ob es jetzt gleich kracht und blitzt, ob gleich Sünd’ und Hölle schrecken, Jesus will mich decken.“ Die 3. Strophe singt er unter großer Anstrengung mit.

“Trotz dem alten Drachen, trotz dem Todesrachen, trotz der Furcht dazu. Tobe Welt und springe, ich steh’ hier und singe in gar sich’rer Ruh...“ ... und sagt sehr bestimmt: ”So, das reicht, vielen Dank”. Am nächsten Tag verstirbt Herr B.

...oder zu Hause...

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ür viele Betroffene - wie für die meisten Menschen - besteht der Wunsch, zu Hause, im Kreise der vertrautesten Personen das Leben zu beschließen. Wo immer dies möglich war, versuchte die Arbeitsgruppe diesem Wunsch zu entsprechen. Weil sich die Erfahrung einer häuslichen Begleitung in vielem von den stationären Arbeitszusammenhängen unterscheidet, habe ich für diesen Artikel die Be-

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treuung von Frau U. als Beispiel gewählt. Als häuslich begleitende Bezugsperson gehen viele professionelle Schutzräume, die das Arbeiten in der Klinik bietet, verloren. Man steht plötzlich im wahrsten Sinne des Wortes im “Schlafzimmer der Patienten“. Vielen Dingen, die ich aus den Teambesprechungen zu kennen glaubte, trete ich nun direkt gegenüber: dem familiären Umfeld, der Wohnsituation, Problemen mit Kostenträgern etc. Unweigerlich wird man zu einem Teil des Lebens, der Familie und muß dieser Vertrautheit auch offen gegenüberstehen. Täglich besuche ich Frau U.; gehe in das Zimmer, in dem sie abgemagert und kraftlos liegt. Immer wenn ich komme, freut sie sich. Nach Kräften erzählt sie, was sie bewegt. Irgendwann stellt sie dann die Frage, ob ich für sie singe. Mit ihrer Atmung, ganz leise, summe ich für sie. Sie lautiert mit, und es entsteht ein zarter, zweistimmiger Gesang. “Wie schön“, sagt sie, “daß die Töne immer zusammenpassen“. Und das stimmt. Mit Strukturhilfen wie der Aufgabe, jeden Ton zweimal zu singen und in meinem eigenen Singen diese Wiederholungen genau um einen Ton zu versetzen, entstehen plötzlich musikalische Vorhalte, Spannungen und Auflösungen. Ihr Atmen, das ihr schwer ist, vertieft sich, und am Ende atmet sie ganz kraftvoll durch, seufzt und sinkt entspannt in ihre Kissen zurück. Ein anderer Patient beschrieb dies einmal mit den Worten: “Das ist so schöne Musik wie das Doppelkonzert von Bach, das ich immer so gerne gehört habe.“ Das sei ihm jetzt aber zu lang und zu viel. Auch Frau U. lebt sonst in einer sehr ruhigen Atmosphäre, die sie auch selber ausstrahlt. Mitunter ist sie tageweise zu schwach, um selber zu singen, genießt aber, die Melodien innerlich mitzusummen, auch wenn ich sie nicht höre. Manchmal dämmert sie auch - während wir musizieren - einfach weg oder schläft ein. Sie taucht dann mit einem zufriedenen Lächeln wieder auf und singt manchmal sogar sofort wieder mit. Eines Tages komme ich zu meinem täglichen Besuch, und sie lebt nicht mehr. Wie selbstverständlich gehen alle Freunde und Angehörigen aus dem Zimmer, so wie auch schon immer, während wir noch miteinander musizierten...

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Am Ende...

Literatur

iese vier Schilderungen sollten die verschiedenen Möglichkeiten zur Begleitung von Menschen darstellen, die an unterschiedlichen Punkten innerhalb ihrer Biographie mit dem HIV-Syndrom leben. Alle Menschen, von denen ich hier erzählt habe, zu denen mich eine tiefe Beziehung verbunden hat, eine musikalische, sind inzwischen verstorben. Diese Begegnungen, Erlebnisse und Erfahrungen haben mein eigenes Nachdenken über die Frage des Therapieerfolges, über die Frage der Gesundheit und der Lebenszufriedenheit nachhaltig geprägt. Die Erlebnisse und die Begegnung mit zahlreichen Patienten zu bestimmten Momenten ihres Lebens oder über längere Zeiträume hinweg, hat mir gezeigt, welchen Stellenwert Musiktherapie und Kunsttherapien für die Begleitung chronisch kranker Menschen haben kann: sie suchen sie in ihrer Gesundheit auf.

Aldridge, D. (1989). Research strategies in a hospital setting. Complementary Medical Research 3, 2, 20-24.

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Dort wo diese Therapien ihre Stärken haben, in der Unmittelbarkeit des Kontaktes, in der Aufrichtigkeit der Begegnung, in der Gleichwertigkeit, in der Sicht auf die Potentiale des Gegenübers und in der Möglichkeit, bis zum Tode hin mitgeführt zu werden, sind sie in der Lage, das Nachdenken über die eingangs dargestellten Fragen anzuregen und uns in der direkten menschlichen Begegnung zu beschenken.

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..... tobe Welt und springe .... Ich steh' hier und singe....

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SCHÖPFERISCHE MUSIKTHERAPIE BEI PATIENTEN MIT CHRONISCHEM TINNITUS Lutz Neugebauer

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it der Frage, ob und wie Tinnitus durch Musiktherapie beeinflußbar ist, wurden fünf Patienten mit chronischem subjektiven Tinnitus musiktherapeutisch behandelt. Der Therapieverlauf wurde durch Tonbandprotokolle dokumentiert und musiktherapeutisch ausgewertet. Parallel dazu wurden die Patienten von einem unabhängigen Beobachter regelmäßig mit dem Tinnitus-Fragebogen und der HAD-Skala befragt. Nach Abschluß der Behandlung erfolgte eine weitere eigene Einschätzung des subjektiven Befindens und die Probanden wurden hinsichtlich des Therapieerfolges befragt. Die Ergebnisse werden anhand exemplarischer Einzelfallberichte vorgestellt. Bei zwei Patienten trat nach der Therapie sowohl subjektiv als auch objektiv eine deutliche Besserung ein. Eine Patientin gab an, bei objektiv nur unwesentlicher Besserung, wesentlich besser mit dem Tinnitus zurechtzukommen. Zwei Patienten haben die Therapie nicht beendet .

Tinnitus, eine Einführung:

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eder von uns kennt Ohrgeräusche: sie treten aus dem Nichts auf und verschwinden ebenso plötzlich wieder. Die Geräusche lassen sich als Pfeifen, Rauschen, Summen oder Klingeln beschreiben und haben im Gegensatz zum herkömmlichen Begriff des Hörens kein äußeres Schallereignis als Ausgangspunkt. Ein dauerhaft bleibendes Ohrgeräusch bezeichnet man als Tinnitus (lat. tinnitus=Klingeln). Obwohl kein umweltbezogener Hörvorgang vorliegt, lassen sich für diesen gehörten Sinneseindruck grundsätzlich zwei Kategorien bilden, objektive und subjektive Ohrgeräusche. Während die objektiven Ohrgeräusche, die beispielsweise in den Strömungsgeräuschen der Blutgefäße ihren Ursprung haben, auch von einem Untersucher festgestellt werden können, sind subjektive Ohrgeräusche für einen Unter-

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sucher nicht feststellbar. Indirekt läßt sich aber auch ein subjektiver Tinnitus aus den Beschreibungen der Patienten oder anhand vergleichbarer Geräusche nachvollziehen. Durch die Möglichkeit der elektronischen Klangsynthese ist es inzwischen sogar möglich, auch komplexe subjektive Ohrgeräusche zu rekonstruieren und für das Umfeld erlebbar und nachvollziehbar zu machen. Schon das kurze Vorspielen dieser Klänge löst bei den Hörern oft große Betroffenheit und Empathie mit den direkt Betroffenen aus. Wie wichtig diese Mitteilbarkeit für Tinnitus-Betroffene ist, wird später noch deutlich werden. Früher war dieses Privileg nur besonders musikalisch Begabten vergönnt, wie dem Komponisten F. Smetana, der einen von ihm wahrgenommenen Tinnitus-Klang in sein e-moll Streichquartett ‘Aus meinem Leben’ einkomponiert hat. (Honolka 1989; Uexküll 1990). Forscht man nach den Ursprüngen dieser Hörerlebnisse, wird man nur teilweise eindeutige kausale Zusammenhänge aufdecken können. Eine häufige Ursache für das Auftreten eines Tinnitus sind äußere traumatisierende Schallereignisse, z.B. laute Knallgeräusche oder andere extreme Schallexpositionen, z.B. bei Rockkonzerten oder durch Maschinen. Daß infolge dieser Traumatisierung ein dauerhaft wahrgenommenes Geräusch auftritt, läßt sich physiologisch durch eine Schädigung der Haarzellen im Innenohr erklären. Während sie sich im Innenohr sonst durch die Schalldruckwellen bewegen und durch diese Reizung ein Hörerlebnis vermittelt wird, senden sie nach einer Schädigung kontinuierlich Impulse aus, die als Hörempfindung wahrgenommen werden (Brandis 1990). Unter den Berufskrankheiten nehmen Lärmschäden inzwischen die erste Stelle ein (Knör 1996). Neben diesen von außen eintretenden traumatischen Hörschädigungen werden als Ursache für den Tinnitus in der Literatur aber auch immer wieder Streß, Belastungen und Dispositionen der Persönlichkeit beschrieben (Andersson 1997 b; Knör 1995, 1996), die zu

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einem Ohrgeräusch oder zu einem Hörsturz mit nachfolgendem Tinnitus führen. Die Informationen der Deutschen Tinnitus-Liga weisen darauf hin, daß der Tinnitus auf etwas aufmerksam machen will; Betroffene verstehen die Ohrgeräusche als ‘wohlmeinende Mahner’ (Knör 1996) und zeigen in diesem Symptomverständnis eine Auffassung von Gesundheit, welche die Krankheit als mißlungenen Versuch eines Gesundwerdens (Matthiessen1984) versteht. Mit dem Aspekt Gesundheit ist hier allgemein die persönliche Gestaltungsleistung angesprochen, die in der Literatur als wesentlicher Hintergrund für kunsttherapeutische Arbeiten gesehen wird (Aldridge 1996). Besteht ein Ohrgeräusch länger als drei Monate, wird es als chronischer Tinnitus eingestuft. In der Bundesrepublik geht man von etwa einer Million betroffener Menschen (Knör 1995) aus. Eine sicher wirksame und anerkannte Therapie gibt es bisher nicht, so daß sich gerade in der Behandlung des chronisch subjektiven Tinnitus sehr unterschiedliche Therapierichtungen entwickelt haben (Übersicht bei Feldmann 1992). Neben der bekanntesten und empfohlenen Infusionstherapie (Lanarz 1995) wird in zunehmendem Maße auch die hyperbare Sauerstofftherapie angewendet, bei der in Überdruckkammern hohe Sauerstoffkonzentrationen vom Patienten geatmet werden (Knör 1996). Neben diesen medizinisch körperlichen Maßnahmen werden aber auch spezielle Entspannungstechniken empfohlen (Andersson 1995). Von den Betroffenen werden aber darüber hinaus eine Vielzahl von anderen komplementären Verfahren wie Hypnotherapie, Akupunktur, Homöopathie, Fußreflexzonentherapie, Kinäsiologie und andere als wissenschaftlich nicht gesichert geltenden Methoden ausprobiert (Andersson 1997; Knör 1996). Das Ausmaß, in dem dies offensichtlich geschieht, macht uns einerseits deutlich, wie groß die subjektiv empfundene Beeinträchtigung ist. Andererseits zeigt es, wie wenig Hilfe die Betroffenen durch die als wissenschaftlich gesichert geltenden Behandlungsmethoden erfahren.

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Daß das Tinnitus-Problem in alle Lebensbereiche hineinwirkt, wird in Zahlen deutlich, die von der Selbsthilfeorganisation Deutsche Tinnitus-Liga (DTL) angegeben werden: Etwa eine Million Bundesbürger bedürfen nach Ansicht der DTL „in irgendeiner Weise der nachhaltigen therapeutischen Hilfe zur Lebensführung und Erhaltung ihrer Arbeitsfähigkeit“ (Knör 1995, S. 7). Hiervon leiden 4 % massiv unter den Ohrgeräuschen und deren sozialen oder körperlichen Auswirkungen (Newman 1995; Knör 1995). Stille ist für die Betroffenen nicht mehr erlebbar und Entspannung in Ruhe ist nicht mehr möglich. Die Mitmenschen stehen dieser Beeinträchtigung häufig verständnislos gegenüber (Hiller 1995) und das Unverständnis für die objektiv vorhandene Beeinträchtigung belastet zunehmend soziale Beziehungen. Nicht selten führt dies zum sozialen Rückzug der Betroffenen oder zu Veränderungen der sozialen Einbindung und des Bezugs zur Umwelt (Newman 1995). Unabhängig davon wie laut der Tinnitus empfunden wird und wie groß die objektive Hörbeeinträchtigung eingestuft wird, treten die Veränderungen der Beziehungsmöglichkeiten bei Betroffenen nicht selten als Angst, Schlaflosigkeit und depressive Symptomatik in Erscheinung (Hiller 1995). Diese Beeinträchtigung kann so weit gehen, daß die Betroffenen keinen anderen Ausweg mehr sehen als den Suizid (Uexküll 1990). Wesentliches Merkmal des Leidens ist, daß man selber als Betroffener völlig hilflos zu sein scheint und auch die Experten nur bedingt erfolgreich sind (Hiller 1995). So ist es therapeutisch entscheidend, den Betroffenen selber Handlungsmöglichkeiten zu geben, um die Situation, in der sie stehen, beeinflussen zu können. So entwickelten sich eine Anzahl von Möglichkeiten, das subjektive Empfinden durch Veränderung der äußeren akustischen Umwelt zu beeinflussen. Neben alltäglich verfügbaren Möglichkeiten wie Radio, Zimmerspringbrunnen oder Fernsehen, welche die Betroffenen nutzen, um ihr Ohrgeräusch zu überdecken, bieten Fachfirmen sogenannte Tinnitusmasker an (Vernon 1995). In Hörhilfen eingebaute technische Ausführungen setzen dem ‘innerlich gehörten Klang’ ein äußerliches Geräusch dauerhaft oder vorübergehend entgegen, so daß man - so die Theorie dazu - durch selektive Wahrnehmungsvorgänge beide ‘Störgeräusche’ aus seiner Wahrnehmung ausblendet (Vernon 1995; Jastreboff 1996). Auch andere therapeutische Hilfen, die in die gleiche Richtung zielen, werden angeboten, etwa speziell und individuell produzierte Tonbandaufnahmen, die den eigenen Tinnitus einbeziehen und ein gegenüber dem normalen Hörbild verfremdetes Klangbild wiedergeben. Diese Bänder werden subjektiv oft als Hilfe erlebt, weil sie eigene Ein-

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flußmöglichkeiten eröffnen. Der Gedanke der Wahrnehmungsschulung findet auch im therapeutischen Bereich seinen Niederschlag. In England wurde diese Idee im ‘Tinnitus Retraining Program’ als therapeutisches Hilfsangebot systematisiert, das sehr hilfreich zu sein scheint (Hazell 1995). Wegen der starken Beeinträchtigung der Betroffenen durch die Ohrgeräusche, die oben schon erwähnt wurde, aber auch wegen des ausschließlich subjektiven Erlebnischarakters werden bei chronischem subjektiven Tinnitus neben diesen Maskierungs- und medizinischen Verfahren auch psychotherapeutische Interventionen für sinnvoll erachtet (Hiller 1995). Psychosomatische Komponenten der Krankheit, aber auch der oben angesprochene Wahrnehmungsaspekt lassen es daher sinnvoll erscheinen, mit den Betroffenen auch musiktherapeutisch zu arbeiten.

Tinnitus und Hören

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ie Betrachtung des Phänomens Tinnitus macht uns auf ein Thema aufmerksam, das für Musiktherapeuten ausgesprochen wichtig ist: das Hören. In unserer Alltagserfahrung gehen wir davon aus, daß einem Hörerlebnis ein akustisches Ereignis zugrunde liegt, welches objektiv feststellbar, meßbar und nachvollziehbar ist. Tatsächlich ist diese Sicht des Hörens relativ jung. In der Geschichte des Hörens war über Jahrhunderte eine Analogie zum Sehsinn notwendig, und es war unerläßlich, akustische Phänomene in optische Vorgänge zu übertragen, um zu objektiven Aussagen bezüglich hörbarer Ereignisse zu gelangen. Der gesamte Wissenschaftszweig der Akustik findet hier einen seiner Ursprünge. Das Hören selbst war und blieb als ein subjektives Sinneserlebnis eingestuft. Um dieses subjektive Erleben dennoch wissenschaftlich begreifen zu können, bildeten sich verschiedene Disziplinen. So wurden hörbare Phänomene unter anderem durch Ton- und Musikpsychologie erklärt und wissenschaftlich beleuchtet (Reich 1950). Ein wesentlicher Wandel tritt erst vor etwa hundert Jahren mit der Möglichkeit von Tonaufnahmen und Klangwiedergaben ein. Heute nimmt die Musik im alltäglichen Umgang längst einen objekthaften Charakter an, indem sie auf Tonträgern jederzeit verfügbar und re-

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produzierbar, außerhalb unserer selbst stehend, gleich zur Disposition steht. Dennoch hat sich in wissenschaftlichen Kategorien gesehen, der Objektivitätsbegriff hinsichtlich hörbarer Ereignisse noch nicht durchgesetzt. Auch heute noch herrscht die Ansicht vor, daß Höreindrücke einen subjektiven Charakter haben, während die Objektivität gesehener Eindrücke kaum in Zweifel gezogen wird. So fand auch in wissenschaftlichen Datenerhebungen, der Hörvorgang nur sehr begrenzt Einzug, während optischen Wahrnehmungen a priori ein objektiver Charakter zugestanden wurde. Unsere heutige Auffassung des Hörens ist eng mit anatomischen Erkenntnissen verknüpft, die im 16-ten und 17-ten Jahrhundert ihre Wurzeln haben und sich zu Beginn des 19-ten Jahrhunderts durch die Wissenschaftszweige Histologie und vergleichende Anatomie verfeinerten und komplettierten (Reich 1950, S. 1509). Aus heutiger Sicht dienen die Sinnesorgane der Umwandlung des physikalischen Reizes in die physiologische Erregung, die zur Grundlage der Wahrnehmung wird. Auch der physiologische Vorgang des Hörens ist in diesem Sinne umfassend und gut beschrieben. Ein Schallereignis trifft auf das Trommelfell, und über die Hörknöchelchen wird der Impuls in die Schnecke weitergeleitet; dort wird er durch die Haarzellen in einen Nervenimpuls umgewandelt und es kommt zu einem Höreindruck (Brandes 1990). Der Physiologe Helmholtz erklärte in seiner Resonanztheorie, daß jeder einzelne Ton nur einen bestimmten Bereich dieses Systems zum Mitschwingen bringe. „Die meisten normalen und pathologischen Gehörerscheinungen lassen sich dadurch widerspruchslos deuten“ (Reich 1950, S. 1512). Macht man sich diese Auffassung gänzlich zu eigen, vernachlässigt man allerdings den Teil der aktiven Wahrnehmung, die Wahrnehmungsintention. Diese hat Bedeutung, denn durch sie wird den verschiedenartigen akustischen Eindrücken Sinn verliehen und Selektion ermöglicht. Hierzu bemerkt David: „auf eine Weise, die uns noch völlig unbekannt ist, kann das Gehirn sol-

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che Muster erkennen, sie zusammenfügen, dem Ganzen einen Sinn geben und somit Kommunikation mit dem Mitmenschen ermöglichen.“ (David 1983, S. 450/451). Wenn tatsächlich durch die reinen Reizleitungsvorgänge der Hörvorgang beschrieben wäre, könnte man auch sagen, ein Mikrofon würde hören, eine Videokamera sehen. Tatsächlich aber bildet ein Mikrofon nur Klangbilder ab, so wie eine Videokamera nur Bilder aufzeichnet. Hören, Sehen und Verstehen ist ein Prozeß des Sinnverständnisses in einem Klangbild. Wir begegnen also der Frage, wie wir eigentlich etwas Gehörtes verstehen können und müssen zu dem Schluß kommen, daß im Hören auch etwas ‘von innen nach außen tritt’. Hören ist nicht ausschließlich ein Vorgang der Beeindruckung. Vielmehr treffen akustische Strukturen auf Sinnverständnis und Wahrnehmungsstrukturen, die uns etwas Gehörtes als sinnvoll verstehen lassen. Hierauf weisen auch die Arbeiten von Aldridge hin, der davon ausgeht, daß es bei musiktherapeutischen Vorgängen im wesentlichen darum geht, daß Patienten Sinnzusammenhänge schaffen oder mitschaffen können, die ihnen neue Perspektiven für Gesundheit eröffnen (Aldridge 1996). „Ein Sinnesreiz braucht nicht unbedingt zu einer bewußten Wahrnehmung zu führen, genauso wie ein Sinneserlebnis nicht unbedingt durch einen physikalischen Reiz ausgelöst sein muß“ (David 1983, S. 429). Für den Bereich des Sprachverständnisses liegen eine ganze Reihe von Veröffentlichungen zur Thematik der Sinnerfassung im Hören vor. Allerdings kann hier der Eindruck entstehen, daß das Verstehen ein psychologisch geprägter Vorgang ist, der von der Sinnestätigkeit getrennt geschieht. Tatsächlich ist er aber integraler Bestandteil von Wahrnehmungsvorgängen in allen Sinnesbereichen. Was uns am Tinnitus begegnet, ist der sich innerlich abspielende Hörvorgang des subjektiv empfundenen Tones, der als quälender Dauerton die Lebensqualität stark beeinträchtigt und infolge seiner sozialen, körperlichen und psychischen Auswirkungen zu sekundären Krankheitserscheinungen führen kann.

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Die zuvor erwähnten inneren, integralen Prozesse der Wahrnehmungsvorgänge weisen auch im Bereich der Musik auf das subjektiv empfundene Hören hin. Es tritt als sinnvolle Klangstruktur nach außen in Erscheinung. Erst durch das innere Voraushören wird Gestaltung möglich. Am klarsten tritt uns dieses Phänomen am gehörlos komponierenden Ludwig van Beethoven entgegen. Er hörte innerlich, was er für uns erst sehr viel später durch mehrere Umsetzungsprozesse nachvollziehbar machte. In unserer heutigen Zeit, in der das Hören fast ausschließlich als ein von außen nach innen wirkendes Prinzip verstanden wird, machen uns gerade Menschen, die von einem Tinnitus betroffen sind, auf die Einseitigkeit dieser Sichtweise aufmerksam.

Hören - Musik - Musiktherapie

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m Rahmen dieser Untersuchung standen wir in unserer Arbeit als Musiktherapeuten Menschen gegenüber, die mit uns den Erfahrungshintergrund teilten, daß das Hören auch als ein innerer Wahrnehmungsvorgang verstanden werden muß; ja mehr noch, daß der innere Vorgang der eigentlich entscheidende Teil der Sinneswahrnehmung ist; eine Erfahrung, die wir in vielen anderen Arbeitsbereichen schon gemacht hatten. Daß die strukturierenden Wirkungen von Musiktherapie beobachtbar sind und daß die Strukturierung der Wahrnehmungsinhalte von entscheidender Bedeutung für eine Genesung ist, ist aus vielen Arbeitsbereichen bekannt, etwa aus der Arbeit mit entwicklungsverzögerten Kindern (Aldridge 1995; Gustorff und Neugebauer 1996), bewußtlosen Menschen (Gustorff 1996), Menschen in der Rehabilitation nach neurochirurgischen Eingriffen (Weckel 1998) oder solchen mit psychiatrischen, psychosomatischen oder neurologischen Störungen. Anders als andere Gruppen, die aufgrund dieses Wahrnehmungsund Strukturverständnisses durch Musiktherapie profitieren können, begegneten uns aber mit vom Tinnitus betroffene Menschen, die genau in dem Sinnesbereich beeinträchtigt waren, durch den wir als Musiktherapeuten Zugänge zum Menschen suchen und finden.

Musiktherapie

Mit Tinnitus-Betroffenen zu arbeiten war deshalb eine inhaltliche Herausforderung. Um eventuell auftretende Auswirkungen von improvisiertem Spielen möglichst genau nachvollziehen zu können, entschieden wir uns dafür, unsere Behandlungen wissenschaftlich zu begleiten.

Zur musiktherapeutischen Betreuung von Tinnitus-Betroffenen

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us den zuvor gemachten Ausführungen zum Krankheitsbild und dem Grundverständnis des Hörens lassen sich verschiedene Gedanken zu musiktherapeutischen Vorgehensweisen und Überlegungen zu Indikationen der Musiktherapie für Tinnitusbetroffene ableiten. Wie schon im ersten Abschnitt ausgeführt wurde, gehen eine Vielzahl von therapeutischen Hilfestellungen von einem Hörbegriff aus, der das Hören als einen von außen nach innen gerichteten Weg versteht. Der Tinnitus wird maskiert, spezielle Hörprogramme tragen zur Umgewöhnung und zum gezielten Überhören des Tinnitus bei. In dieser Studie wurde ein Weg gewählt, der das Hören auch als einen von innen nach außen gerichteten Vorgang versteht. Mit Patienten innerhalb eines aktiven improvisatorischen Settings zu musizieren, bezieht auch die andere Sicht des Hörens ein und ruft intentionale Prozesse der Wahrnehmung wach. Im Spielen auf Instrumenten, im gemeinsamen Improvisieren von Musik werden diese hörbar. Als Dialog verstanden, der von den musikalischen Äußerungen des Patienten ausgeht, diese aufgreift, wandelt, formt und in einen neuen Kontext setzt, wird Musik zur Musiktherapie. Diese Konzeption geht von den künstlerischen Potentialen jedes Menschen aus und knüpft an dessen/deren inividuellen Fähigkeiten und kreativen Möglichkeiten an. Gesundheit wird in diesem therapeutischen Kontext nicht als Normalität, sondern als individueller Gestaltungsvorgang verstanden, der an sich eine künstlerisch-kreative Dimension hat. In der gemeinsamen musikalischen Improvisation mit Patienten treten diese Potentiale zutage, die vielleicht in anderen z.B. verbalen Bereichen keinen Ausdruck finden können.

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Eine Vielzahl von Veröffentlichungen hinsichtlich der aktiven Musiktherapie (Aldridge1996, 1997) lassen sich auf die sekundären Störungen beziehen, die Tinnitus-Betroffene durchleben müssen. So deuten Arbeiten von Peter Hoffmann (1997), die mit Schmerzpatienten durchgeführt wurden, auf eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität hin. Die Erfahrungen von Musiktherapeuten in der Betreuung depressiv erkrankter Patienten bieten ein weiteres mögliches Schnittfeld zu einem sekundär auftretenden Tinnitus-Problem, ebenso wie der beschriebene soziale Rückzug und die zunehmende Isolation. Bezüglich dieser Sekundärerscheinungen deuten die Arbeiten von Gudrun Aldridge (1997) und Ulrike Linden (1997) auf die außergewöhnlichen Potentiale hin, die in einer aktiven Musiktherapie liegen. Um für uns selber als Berufsstand klären zu können, ob die Musiktherapie für Tinnitus-Betroffene eine sinnvolle Maßnahme ist, entschieden wir uns direkt zu Beginn unserer Arbeit dazu, die Therapien wissenschaftlich zu begleiten. Auf diese Weise wollten wir sicherstellen, daß wir nicht unsere eigenen Hypothesen hinsichtlich der Wirkungen durch unsere eigenen Wahrnehmungen bestätigen würden. Was zunächst nach einer selbstbezogenen Reflexion klingt, ist in der therapeutischen Intention auf den Patienten und dessen Bedürfnisse gerichtet. Die Frage, ob man diese therapeutische Maßnahme Menschen empfehlen kann, stand im Mittelpunkt unseres Forschungsbemühens.

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Musiktherapie

Das Forschungsdesign

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us inhaltlichen Erwägungen, die an anderer Stelle genauer ausgeführt werden (Aldridge 1996), entschieden wir uns für eine kleine Projektstudie auf Basis der Einzelfallforschung. Wir haben diese Untersuchungsreihe zusammen mit einer Schwerpunktpraxis für Tinnitus-Betroffene durchgeführt und die Patienten über das Setting und den Aufbau informiert. Von dem behandelnden Arzt wurden die Patienten an die Musiktherapie überwiesen. Die Patienten litten alle unter einem chronisch subjektiven Tinnitus, d. h. sie hatten die Tinnitus-Problematik anhaltend über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten durchlebt, ohne daß eine Besserung eingetreten war und ohne daß eine organische Ursache nachgewiesen werden konnte. Zunächst wurden die Betroffenen durch einen, in der Behandlung nicht involvierten, Interviewer befragt. Hierbei wurden neben anamnetischen Daten auch Daten mit Hilfe von standardisierten und validierten Fragebögen erhoben. Die so erhobenen Ausgangsdaten subjektiver und objektiver Art wurden im späteren Verlauf als Vergleichsgrößen herangezogen. Einige Zeit nach dieser Erstbefragung begann die Musiktherapie. Einmal wöchentlich kamen die Patienten zu einer Sitzung in die Musiktherapieräume des Institutes für Musiktherapie der Universität Witten/Herdecke. Während des Behandlungszeitraums wurden in definierten Zeitintervallen wieder Befragungen anhand des TinnitusFragebogens (Goebel 1991) und der Hospital Anxiety and Depression Scale in einer Übersetzung durchgeführt. Beide Fragebögen erfassen die relevantesten primären oder sekundären Probleme, die wir aus der Literatur herleiten konnten. Eine letzte Befragung erfolgte anhand dieser Fragebögen einige Zeit nach Abschluß der Musiktherapie. Außerdem war uns wichtig, daß wir auch subjektive Komponenten in die Auswertung einbeziehen konnten. Deshalb haben wir mit allen Betroffenen, die dazu bereit waren, ein persönliches Abschlußgespräch im deutlichen Zeitabstand zur Behandlung durchgeführt. In dieses Gespräch waren der Interviewer und der behandelnde Musiktherapeut einbezogen. Um eine ausschließlich persönliche Sicht auf der musiktherapeutischen Seite auszuschließen, wurden die Behandlungen der einzelnen Patienten von verschiedenen Therapeuten durchgeführt.

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Stellvertretend sollen drei der insgesamt sechs behandelten Personen als Einzelfälle geschildert werden. Hiermit wollen wir einerseits die Ergebnisse, andererseits die Probleme darstellen, die während dieser Untersuchung auftraten.

Drei Verlaufsdarstellungen Frau D. Frau D. ist 37 Jahre alt und arbeitet als Erzieherin in einem kirchlichen Kindergarten. Als sie zu uns überwiesen wird, hat sie seit einem halben Jahr ein anhaltendes Ohrgeräusch. Das Ohrgeräusch sei nach einem initialen Hörsturz aufgetreten und sei unverändert, auch nachdem bei entsprechender Behandlung des Hörsturzes die Hörfähigkeit wiederhergestellt worden sei. Sie leidet zum Beginn der Musiktherapie nach ihren Schilderungen unter Unruhe, abends unter Einschlaf- und Durchschlafstörungen. Sie habe sich nach diesem halben Jahr inzwischen an den Tinnitus gewöhnt und habe akzeptiert, damit leben zu müssen. Das Ohrgeräusch besteht aus einem Rauschen mit 8690 Hz und einem Pfeifton mit 8810 Hz. Das Ohrgeräusch sei durch Umweltgeräusche maskierbar. Sie beginnt in der ersten Musiktherapiesitzung nach einigen Rückfragen zu spielen, zunächst Instrumente, die ihr aus beruflichen Zusammenhängen bekannt sind. Ihr Spielen ist kraftvoll, sehr laut und die Bezüge in der gemeinsamen Improvisation gehen eher vom Therapeuten aus. Tempo, Dynamik und Anschlagsweise variieren bei verschiedenen Instrumenten nur wenig und sind - wie Bemerkungen nach den Improvisationen zeigen - begleitet von Selbstbeobachtungen hinsichtlich der Veränderung des Tinnitus. Im Laufe der weiteren Sitzungen wird auch im musikalischen Ausdruck deutlich, daß im allgemeinen eine große Belastungssituation vorliegt. Neben den Problemen, die Frau D. durch den Tinnitus empfindet, treten in ihrem beruflichen Umfeld erhebliche Schwierigkeiten auf, die durch eine Asbestbelastung ihrer Arbeitsstelle bedingt sind. Vier Kindergartengruppen müssen in den Gemeindesaal ausweichen und die Lärmbelastung wird von Frau D. als unerträglich geschildert. Die Musiktherapie, die bei ihr mit einer weiten Anreise und großem organisatorischen Aufwand verbunden ist, belastet sie zwar zusätzlich

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- sie braucht einen Fahrer, die Kolleginnen müssen Ihre Arbeit an einem Nachmittag übernehmen - sie erlebt es aber positiv, sich von Spannungen freispielen zu können. Genauso klingt ihre und die für sie improvisierte Musik - spannungsreich, dissonant, häufig sehr laut und im Ausdruck extrovertiert. Als sie beginnt, in ihrem Spiel die musikalische Beziehung deutlicher in den Vordergrund zu rücken, schildert sie, daß Sie jetzt Ruhe besser ertragen könne. So sei es ihr jetzt möglich, auch bei geschlossenen Fenstern in einem Zimmer zu sein, ohne daß ihr Ohrgeräusch lauter werde. Trotz dieser subjektiv empfundenen Verbesserung bilden die Befragungsergebnisse eher die Probleme ab, die Frau D. während der Behandlungsphase durchlebt hat. Noch während der musiktherapeutischen Behandlungsphase bekommt Frau D. Zugang zu einer hyperbaren Sauerstofftherapie und nimmt dieses Angebot wahr. Wegen der hinzugezogenen zusätzlichen Behandlung wurde die 5. Befragung nicht mehr durchgeführt. Zu einem zusammenfassenden Gespräch war Frau D. nicht bereit. Wir haben diese Schilderung dennoch in unseren Bericht einbezogen, weil sie stellvertretend die Schwierigkeiten aufzeigt, die auch bei einer sorgfältig geplanten Untersuchung durch das Spannungsverhältnis zwischen den Interessen der Studie und den individuellen Behandlungsbedürfnissen der Probanden auftreten können. Herr L. Herr L. ist 42 Jahre alt und freiberuflich tätig; er ist starken beruflichen Belastungen ausgesetzt und muß viel Auto fahren. Zwei Jahre zuvor hatte er einen Hörsturz im linken Ohr erlitten. Nach stationärer Behandlung bleibt ein Ohrgeräusch mit zunehmender Intensität zurück. Verschiedene Therapieversuche haben keine Verbesserung erzielt, dennoch ist Herr L. sich sicher, daß der Tinnitus verschwindet, daß er ihn besiegt. Er ist bei starkem privaten und beruflichen Streß durch das Ohrgeräusch stark beeinträchtigt, da normale Gespräche den Tinnitus nicht verdecken. Dies bedroht ihn sogar in seiner beruflichen Existenz, da er Mandantengesprächen nur mit Mühe folgen kann. Er empfindet einen beruflichen Leistungsverlust, kann wegen auftretenden Schwindels manchmal nicht zu Mandanten fahren, leidet unter Einschlaf- und Durchschlafstörungen, Konzentrationsschwäche, Unruhe und depressiven Verstimmungen.

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Im Zeitraum von drei Monaten kommt er wöchentlich einmal zur Musiktherapie. Zwei Termine muß er absagen, weil er sich nicht fahrtauglich fühlt. Wenn er kommt, spielt er gerne und nach anfänglicher Scheu mit großer Hingabe und ausdauernd auf verschiedenen Instrumenten. In der ersten Sitzung beobachtet er dabei sehr genau, wie sich der Klang der verschiedenen Instrumente auf seinen Tinnitus auswirkt und kann dies sehr differenziert beschreiben. Sein musikalisches Spiel ist vielfältig und facettenreich, weil er zahlreiche Anschlagsvarianten ausprobiert. Auffälligstes Merkmal ist, daß er trotz großer Sensibilität sein Spiel hinsichtlich der musikalischen Beziehung kaum dynamisch variiert. Dies wirkt um so erstaunlicher, als er sich auch bei leiser Musik, die der Therapeut am Klavier improvisiert, in anderen musikalischen Parametern, z.B. Tempo, auf die Musik bezieht. Diese Vielfalt in der für ihn entstehenden Musik hat ihren Ursprung in der Verschiedenartigkeit und teilweise filigranen und rhythmisch präzisen Wahl des Anschlags. In den ersten Sitzungen scheint er dennoch manchmal Schlüsse nicht zu hören und sein eigenes Spiel erst durch optische Rückversicherung beim Therapeuten zu beenden. Eine Veränderung tritt im Laufe der Therapie immer deutlicher in Erscheinung: er beginnt leise zu spielen und phrasiert sein Spielen sehr sensibel und bezogen auf die Musik. Anfängliche Nachfragen, wofür Musiktherapie gut sei oder Bemerkungen darüber, wie sie wirke, treten ab der dritten Sitzung nicht mehr auf. Vielmehr steht eine ausgesprochene Spielfreude im Vordergrund. Herr L. kommt sehr gerne zur Musiktherapie und beobachtet positive Veränderung besonders hinsichtlich eigener Ansprüche an seine berufliche und persönliche Leistungsfähigkeit. Weil es ihm besser geht, bricht er die Behandlung ab und nimmt seine Arbeit in größerem Umfang wieder auf.

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Bei dem Abschlußgespräch ein halbes Jahr nach der Behandlung schildert er, daß die Entspannung, die er während der Behandlung erlebt hat, anhält. Er habe im Musikspielen Ruhe gefunden. Zwar sei sein Tinnitus nicht - wie erhofft - verschwunden, er gehe aber jetzt anders damit um. Er schlafe besser, könne ohne maskierendes Fernsehen oder Radio einschlafen, was vor allem für seine Partnerschaft entlastend sei. Beruflich habe er sich darauf eingestellt, „eben nicht mehr 200 % zu bringen“. Die Bedeutung der Musiktherapie sieht er vor allem darin, daß er anders auf seinen Tinnitus hört. Frau J. Frau J. leidet bereits seit 2 Jahren an Tinnitus, als sie zur Musiktherapie kommt. Sie erinnert sich, daß das erste Auftreten ihres chronischen Ohrgeräusches mit einer für sie sehr streßbelasteten Zeit in Zusammenhang stand. Das Ohrgeräusch beschreibt sie als unangenehmes bis unerträgliches Pfeifen im hinteren Kopfbereich. Hinzu treten Niedergeschlagenheit, Schlafstörungen und Einbußen im Hörvermögen. Sie hat innerhalb von drei Monaten insgesamt 7 Musiktherapiesitzungen. Die Dauer der einzelnen Sitzungen beträgt jeweils 45 Minuten. Obwohl der Anfahrtsweg sehr weit und z. T. durch hohes Verkehrsaufkommen zusätzlich belastet ist, kommt sie gern zur Musiktherapie. Sie ist während dieser Zeit arbeitslos. Diese Situation belastet sie verständlicherweise sehr. Ihr macht jedoch nicht nur die Tatsache der Arbeitslosigkeit zu schaffen, sondern auch die Erfahrung, daß mehrere ihrer Bewerbungsschreiben abgelehnt wurden. Somit ist für sie die Musiktherapie eine willkommene Ablenkung von ihrer momentanen schwierigen Situation, die sie gern annimmt und konsequent verfolgt.

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Ein weiterer Grund für ihre motivierte Haltung gegenüber der Musiktherapie ist durch ihre Erfahrung im Ensemblespiel zu sehen. Sie spielte als Bassistin in einer Rockband. Ihre musikalischen Vorerfahrungen fließen in die Musiktherapie ein und äußern sich auf vielfältige Art und Weise: Frau J. ist aufmerksam für das Miteinander im Zusammenspiel, ist konzentriert, steht mit der Therapeutin in Blickkontakt, nimmt Übergänge und Schlüsse wahr, die sie differenziert und subtil gestaltet und zeigt keine Begrenzungen im dynamischen Ausdrucksbereich. Durch ihre Wachheit für musikalische Vorgänge wirken die Schlußbildungen der verschiedenen Improvisationen wie auskomponiert. Sie reagiert flexibel auf rhythmische Spielmuster und nutzt diese zum Zweck der Eigengestaltung und des eigenen Ausdrucks. Im gemeinsamen Spiel kann sie klare Metren darstellen, von denen sie gestalterisch in rhythmisch lebendige Spielweisen überwechselt. Ihre Wahrnehmung und Beziehung auf musikalische Teilaspekte sind besonders im harmonischen Bereich hörbar, auf den sie subtil durch einen zum Harmoniewechsel entsprechend vollzogenen Klangfarbenwechsel auf den rhythmischen Instrumenten reagiert (Wechsel von kleiner zur großen Trommel). In ihrer bezogenen Spielweise kommen auch eigenständige Elemente zum Ausdruck, die sie bewußt gegenüber der Musik der Therapeutin absetzt, wie z. B. ein eigenständiges rhythmisches Ostinato gegenüber einer gespielten Baßmelodie auf dem Klavier. Ihre Musikalität zieht sich wie ein beständiges Element durch alle Sitzungen und wird immer wieder durch die Aktivierung ihrer gestalterischen Kräfte herausgefordert. Wichtig ist für Frau J. der Moment des aktiven Musizierens als solcher und zwar gemeinsam mit der Therapeutin. Er bereitet ihr Freude und bringt ihr Momente des Erfolges, die sie während dieser Zeit der Arbeitslosigkeit so sehr vermissen muß. So ist die Musiktherapie vielleicht ein wichtiger Aspekt, der ihr verhilft, ihre innere Balance wiederzufinden. Es ist deutlich zu sehen, wie die Patientin die Beziehung in der Therapie nutzt, aus ihrem aktiven Spiel heraus, eigene individuelle Formen zu entwickeln. Während aller Therapiesitzungen ist sie frei vom Tinnitus. Die Zusage für einen Platz in einem Weiterbildungsprogramm führt zu der Entscheidung, die Musiktherapiesitzungen zu beenden.

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Zusammenfassend-vergleichende Betrachtung der Verlaufsdarstellungen und Auswertung der Befragungen

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ie drei Beispiele geben einen Einblick in unterschiedliche Verläufe innerhalb der Behandlung im Rahmen unserer Forschungsarbeit mit Tinnitus-Betroffenen. Sie verdeutlichen, wie individuell die musikalischen Zugänge sind und daß der Kontext der Lebensumstände mindestens ebenso entscheidend für Therapie und Krankheitsverlauf sind, wie scheinbar objektive Parameter. In allen drei Schilderungen wird deutlich, daß die dialogische, vom Patienten ausgehende Gestaltung der Musik in der Improvisation Veränderungen des Befindens bei den Betroffenen hervorruft. Allen drei Verlaufsdarstellungen ist gemeinsam, daß die Betroffenen von ihren primär als problematisch eingestuften Beobachtungen im Hinblick auf Auslöser oder Symptome hin zu einer eher umweltbezogenen Sichtweise finden. Die subjektiv empfundenen Entlastungen durch die Musiktherapie stehen nur zum Teil in Korrelation zu den Ergebnissen der Fragebogenerhebungen. So zeigen die Summen aller erhobenen Werte, die kognitive, emotionale Komponenten sowie Werte für Angst und depressive Verstimmtheit anzeigen, nicht bei allen Probanden Verbesserungen; was aber noch wichtiger ist, sie stehen zum Teil im Widerspruch zu den persönlichen Schilderungen.

In der Durchführung der Befragung stellte sich als eines der Probleme der Zugang zu den Patienten dar. So war im Entwurf vorgesehen, die Betroffenen nach der Musiktherapie noch einmal mit Hilfe der Fragebögen zu interviewen. Der Kontakt war hier allerdings durch die große räumliche Streuung und die nur lose Anbindung an die Schwerpunktpraxis so schwierig, daß sich dieses Vorhaben mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht umsetzen ließ. Dennoch zeigen die Verläufe aller drei Probanden, daß eine subjektiv empfundene Verbesserung auch in den Messwerten ihren Niederschlag findet. Diese Aussage an sich sagt aber mehr über die Verläßlichkeit der Selbsteinschätzung der Betroffenen als über die Auswirkungen der Musiktherapie aus. Auch wenn wir von der positiven Wirkung unserer Zusammenarbeit mit den Betroffenen überzeugt sind, bleibt fraglich, ob zu empfehlen ist, daß Betroffene den notwendigen Aufwand in Kauf nehmen müssen, den sie betreiben müßten, um Zugang zur Musikthe-

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rapie zu bekommen. Sicherlich könnte ein dichteres Netz in der musiktherapeutischen Versorgung auch im ambulanten Bereich für einzelne Patienten eine große Hilfe sein. Das wesentliche Ergebnis liegt für uns darin, daß die Einschätzung der Betroffenen in Hinblick auf ihre Lebenssituation eine Entsprechung in gemessenen Ergebnissen findet, und daß diese sich auch in Parametern des musikalischen Ausdrucks abbildet. Hierdurch wird deutlich, daß es eigentlich immer nur darum geht, zu hören, was Patienten ausdrücken wollen auf welcher Ebene die Begegnung auch immer stattfinden mag. Musiktherapie bietet hierzu einen möglichen Zugang.

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