DENKBILDER #44: Aufbruch

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Zeichnung: J. S. Hegi, «Gottfried Keller», 1840. Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv, GKN 303

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Gottfried Keller

Der träumende Realist 1/3 – 26/5/19


Editorial Das Stichwort Aufbruch hat unsere Autor*innen sehr zu vielseitigen Denkbildern angeregt: Für diese Ausgabe sind so viele Einsendungen wie schon lange nicht mehr zusammengekommen – was für eine Freude! Nur, das hat die Auswahl nicht gerade erleichtert. In diesem Heft versammelt sind nun verschiedenste Formen des Aufbruchs: euphorische Aufbrüche zu neuen Ufern, aber auch unfreiwilliges Aufgebrochenwerden (sowohl im übertragenen Sinne als auch wörtlich). Du, geschätzte Leser*in, wirst bei der Lektüre eine Aurora Borealis bestaunen, die Styx überqueren, mit Tristan auf die Jagd gehen, Tristan verlassen, einem Steuersünder nachspüren, zum ersten Mal das Meer sehen, eingeschneit werden und nach Hause kommen. Nur um dann wieder und wieder aufzubrechen. Ab dieser Ausgabe ist eine neue alte Rubrik wieder am Start: Die Literaturkritik meldet sich – endlich – zurück bei den Denkbildern. Diesmal mit drei Rezensionen, die im Rahmen des Seminars «Schweizer Buchjahr» entstanden sind. Mit vielen aktiven und ehemaligen Buchjahrler*innen in der Redaktion freuen wir uns sehr, dass diese Kooperation zustande gekommen ist und danken den Rezensent*innen herzlich für ihre Beiträge. Wir sind gespannt auf kritische und lobende Stimmen und auf spannende Neuerscheinungen, die zu entdecken sein werden! Als Magazin von Studierenden befinden wir uns naturgemäss fast immer in einem Zustand des Aufbruchs. Unsere Redaktion verändert sich schnell, was uns immer wieder vor Herausforderungen stellt. Das Chaos gehört für uns zum Alltag (vgl. Heft #42). Trotzdem sind wir bemüht, unserem Heft auch eine gewisse Konstanz zu verleihen, was sowohl die optische als auch die inhaltliche Qualität betrifft. Ich selbst breche nun nach vier Jahren in der Redaktion auch auf, in eine Welt ausserhalb der Universität, voller Ungewissheiten und Abenteuer. Ich werde die Denkbilder vermissen – und weiterhin lesen. Ich habe diese aufregende und abwechslungsreiche Zeit in vollen Zügen genossen. Danke! – Lukas


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«wer gesach ie hirz zerwürken sô?» – Aufbruch, weidmännisch Christoph Uiting

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Abbruch Nadia Guddelmoni

Das Meer finden Daniela Huber

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Die Untersuchung Patrizia Huber

Aurora Borealis Larissa Waibel

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Der Aufbruch eines Textes Johanna Jakab

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Lyrik Sophie Thomas

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Lyrik Seraphin Schlager

Lyrik Wolfgang Nöckler Jeannie Schneider Ruth Tuschewski

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Literaturkritik Ninib Hanno Gloria Hölzer Laura Hertel

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Die Seite der Seminarleitung Barbara Naumann

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Autor*innen und Illustrator*innen Impressum

Denkbilder – Das Germanistikmagazin der Universität Zürich. #44: AUFBRUCH – Frühjahr 2019

Foto: Joshua Brown/unsplash

Seltsame Tropen #8: Falsche Zitate Philipp Auchter



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ESS

«wer gesach ie hirz zerwürken sô?» Aufbruch, weidmännisch Christoph Uiting Bei ›Aufbruch‹ mag man an einsetzende Bewegung im Raum denken oder an «geistiges Erwachen und das Sicherheben», wie der Duden eine der Bedeutungen angibt. Aufbrechen kann man aber auch transitiv, einen Brief, eine Tür, oder gar – ein Tier. Zerlegt man das Wort weiter, stösst man nämlich auf die Weidmannssprache: «Der Aufbruch eines Hirsches, bey den Jägern. Ingleichen dasjenige, was man durch das Aufbrechen bekommt. So nennen die Jäger das Geräusch oder Eingeweide des rothen und schwarzen Wildbretes gleichfalls den Aufbruch, weil das Wildbret aufgebrochen werden muß, wenn man dasselbe bekommen will.» So bei Adelung1 zum heftbestimmenden Lemma. Wer es genauer wissen will, ist mit Meyers Großem KonversationsLexikon gut beraten: «Aufbrechen, das Ausweiden des Elch-, Rot-, Dam-, Reh- und Schwarzwildes. Der erlegte Hirsch oder Rehbock wird auf den Rücken gestreckt und mit dem Genickfänger die Decke (Haut) von dem Drosselknopf (Kehle) bis zur Brusthöhle durchschnitten (aufgeschärft), um die Drossel (Luftröhre) mit dem daran haftenden Schlund (Speiseröhre) auszulösen. [...] Hierauf schärft man die Haut vom Weidloch (After) zwischen dem Kurzwildbret (Hoden) bis zur Brust auf, löst Brunftrute und Kurzwildbret aus, durchschärft die Bauchhaut, faßt den Schlund bei seiner Einmündung in den Wanst, zieht ihn hinein und wirft den Wanst (Magen) mit dem Gescheide (Därme) heraus. [...]

Aufbrechen kann man auch transitiv: Einen Brief, eine Tür, oder gar – ein Tier. Zur bessern Konservierung des Wildbrets werden die zu beiden Seiten des Rückgrats an den Keulen liegenden Brandadern ausgestochen, um den Schweiß (das Blut) daraus zu entleeren. Schließlich löst man die Herzkammerwände (das Zwerchfell) auf beiden Seiten ab und reißt das Geräusch (Herz, Lunge und Leber) heraus.»2

Eine Sondersprache mit manch merkwürdiger Metaphorik. In Gottfrieds von Straßburg Tristan3 trifft der junge Reisende, bevor er inkognito an den Hof seines Onkels Marke gelangt, auf eine Jagdgesellschaft, die gerade einen Hirsch gevellet hat (um nicht zu sagen «zur Strecke gebracht»: Diese weidmannssprachliche Redensart trifft hier nicht zu). Nicht die Hatz mit den Hunden, nicht das Er-, sondern das Zerlegen des Wildes wird im Roman in mehreren hundert Versen dargestellt. Denn mit Entsetzen vernimmt Tristan im cornischen Wald, dass der kapitale Hirsch alsam ein swîn hergerichtet und gevierteilt werden soll («wer gesach ie hirz zewürken sô?», V. 2795), und interveniert. Man solle das Tier geziemend enbesten. Schulterzucken unter Markes Mannen, bis der Jägermeister sich erkundigt: «trût kint, waz ist enbesten? als guot du sîs, nu zeige mir’z. gâ her, enbeste disen hirz!» (V. 2820ff.) In allen Einzelheiten wird daraufhin berichtet, wie Tristan seine Kunst, die bastlist (V. 2906), ausübt, wie der Hirsch aus der Decke geschlagen und ausgeweidet wird.4 Doch damit nicht genug: Mit der furkîe, bei der die besten Stücke zur Präsentation an eine Astgabel gesteckt werden, folgt ein weiterer Schritt, der die Jagdgesellschaft nicht weniger in Staunen versetzt. Erneut wird nachgefragt: «furkîe? trut kint, waz ist daz? du nennest mir vor, ine weiz waz» (V. 2927f.) Tristan bringt Technik und Terminologie, die enthusiastisch aufgenommen werden, jedoch auch weiterer Erklärung bedürfen:

–––– 1 Bd. 1, Sp. 480. 2 Bd. 2, Sp. 87f. 3 Im Folgenden nach der Ausgabe von RANKE/KROHN 2005. 4 Zu Einzelheiten des Handwerks vgl. CATALINI 1984 sowie KOLB 1979; zur Fachsprache DALBY 1965.


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Curée aus dem «Livre de la chasse» von Gaston Phoebus (1389).


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eine zwisele hiu er an die hant, daz die dâ furke nennent, die die furkîe erkennent. doch enist niht sunders an den zwein: furke und zwisele deist al ein. (V. 2936ff.) Die Ästhetisierung der Jagd findet insbesondere über die Sprache statt. Monika Schausten stellt vor dem Hintergrund zeitgenössischer Kritik an der Jagd als adligem Vergnügen, wo auch der leere Jargon gescholten wird, heraus, wie der Erzählerkommentar in diesen Versen «den Blick des Lesers auf die Banalität einer Ästhetisierung höfischer Formen» lenkt. «Nur für diejenigen [...], die die furkîe kennen, ist eine Astgabel eine Furke.»5 Die Einteilung der Stücke funktioniert freilich nicht unabhängig von ihrem ökonomisch-kulinarischen Wert, doch alimentäre Aspekte sind nachrangig; die Jagd dient nicht dem Unterhalt, sondern der Unterhaltung – Zeitvertreib und Konversation. In einem dritten Schritt, der curîe, werden die Teile vorbereitet, die den Hunden als Belohnung zukommen und ihnen auf der Haut des Hirsches hergerichtet werden. Wieder sind Vorgehen und Wortschatz unbekannt: «curîe? de benîe!» sprâchen s’alle «waz ist daz? wir vernaemen sarrazênesch baz! waz ist curîe, lieber man? swîc unde sage uns niht hie van. swaz ez sî, daz lâ geschehen, daz wir’z mit ougen ane sehen.» (V. 2962ff.) Auch dieses Procedere lässt sich besser vorführen als erklären, und so zeigt Tristan bereitwillig, wie mit dem Tier weiter zu verfahren ist. Das zeitgenössische Publikum (vom heutigen

einmal abgesehen) wird Gottfrieds Erzählung ähnlich unwissend gegenübergestanden haben wie Markes Jäger dem Wunderkind Tristan, denn hier werden, wenn auch nicht gerade arabische, so

Die Jagd wird insbesondere über die Sprache ästhetisiert. doch französische Gebräuche neu eingeführt. Wenn dann die Hunde fressen, erfahren wir von dem für seine Eloquenz gelobten Ankömmling mehr zu dem Fremdwort – und es wirkt in fast tautologischer Deutlichkeit der lexikographischen Ausdrucksweise bei Adelung nicht unähnlich: «seht» sprach der wortwîse «diz heizent sî curîe dâ heime in Parmenîe und wil iu sagen umbe waz. ez heizet curîe umbe daz, durch daz ez ûf der cuire lît, swaz man den hunden danne gît. als hât diu jegerîe den selben namen curîe von cuire vunden unde genomen. von cuire sô ist curîe komen.» (V. 3018ff.) Nach bast, furkîe und curîe folgt als Finale der prîsant, die choreographierte Darbringung des Hirsches bei Hofe. Die Jäger reiten in Zweiergruppen zurück und bringen Haupt, Brust, Vorderläufe usw. heran, sodass König Marke die Beute in der ›natürlichen Reihenfolge‹, alse der hirz geschaffen sî (V. 3174), in Empfang nehmen kann. Der Fremdling Tristan reitet nun neben dem Jägermeister, dessen Posten er bald einnehmen wird. Das Wild und die Jagdgesellschaft werden neu geordnet, organisiert und bezeichnet. Doch erlangen sie auch eine neue Qualität?


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«Here culture does not create a new reality but rearranges its component parts and revalorizes them, assigning names to new processes and configurations.»6 Wie nahe sich Schöpfen, Ordnen und Benennen allerdings sein können, sieht man schon in der Genesis. Am Markehof jedenfalls konstituiert sich eine neue Hierarchie und «das besondere Arrangement des toten Tieres» wird «metonymisch als Vorgang des Zerlegens und wieder Zusammensetzens der cornischen Gesellschaft selbst lesbar».7 Ritual und Repräsentation überformen das Tier. Die bastlist wird noch mehrfach zum Thema. Bei einer späteren Jagd etwa darf der inzwischen vertraute oder gar heimische Fremdling – mit einem wunderbaren Oxymoron als der heinlîche gast (V. 3461) bezeichnet – sein Können erneut vorführen und entsprechend Anerkennung ernten. Mit seinem weidmännischen Wissen stellt Tristan seine hervorragende hovezuht unter Beweis, findet Zugang zur Gesellschaft und steigt auf, noch bevor seine Verwandtschaft zu Marke publik wird. Dies gelingt, da die cornische Gesellschaft mit ihren eigenen Jagdgebräuchen zwar als mangelhaft, aber nicht als gänzlich unhöfisch entworfen wird. Nur so ist sie empfänglich für Tristans Novitäten; seine Methoden sind ihr zwar unbekannt, werden jedoch gerade wegen ihrer Komplexität als überlegen anerkannt und integriert. Weit über technische Belange hinaus erscheint die Jagd in dieser Passage als soziale Praktik mit rituellen Aspekten, einer distinkten Sprache und einer eigenen problematischen Ästhetik. Von der Bedeutung der Bastszene für den Roman insgesamt, den zersetzenden Kräften, die Tristan am Markehof noch entfalten wird, und den Bezügen zwischen ars venandi und ars amandi ganz zu schweigen.8 ¤ –––– 5 SCHAUSTEN 2011, S. 160. 6 SAYERS 2003, S. 18. 7 SCHAUSTEN 2011, S. 162. 8 Zu Ästhetik, sozialer Praktik und höfischem Liebesdiskurs besonders WEITBRECHT.

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Literatur: Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. 4 Bde. Leipzig 1793–1801. Meyers Großes Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Leipzig und Wien 1905–1909. Gottfried von Straßburg: Tristan. Mhd./Nhd. 3 Bde. Nach dem Text von Friedrich RANKE. Hg. und übersetzt von Rüdiger KROHN, Stuttgart 2005. Claire V. CATALINI, Gottfried von Straßburg’s account of breaking up a deer. Annali Filologia Germanica 27 (1984), S. 65–79. David DALBY, Lexicon of the mediaeval German hunt. A Lexicon of Middle High German terms (1050–1500), associated with the chase, hunting with bows, falconry, trapping and fowling, Berlin 1965. Herbert KOLB, Ars venandi im Tristan, in: Medium aevum deutsch. FS Kurt Ruh, hg. v. Dietrich Huschenbett et al., Tübingen 1979, S. 175–197. William SAYERS, Breaking the Deer and Breaking the Rules in Gottfried von Strassburg’s Tristan. Oxford German Studies 32,1 (2003), S. 1–52. Monika SCHAUSTEN, ‹dâ hovet ir iuch selben mite›: Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik am Beispiel des Tristan Gottfrieds von Straßburg. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 41. Jg., 161 (2011): S. 139–163. Julia WEITBRECHT, On Courtly Discipline: Animal Rituals and Noble Self-fashioning in Gottfried’s von Straßburg Tristan, erscheint in: Animals at Court, hg. Mark Hengerer/Nadir Weber, 14 S. (im Druck). [Mit herzlichem Dank an Julia Weitbrecht, die mir ihren Beitrag zur Verfügung gestellt hat.]


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Abbruch Nadia Guddelmoni Ich sehe, wie der Schnee sich am Fensterrand entlang zu einer regelrecht massiven Mauer aufbäumt. Die Fangzähne der Flocken fassen ineinander und lassen die Welt erblassen. Wäre die Scheibe gekippt oder offen, hätte ich möglicherweise das Verschwinden meiner schmalen Fussspuren beobachten dürfen, aber zurzeit traut man sich kaum, Fenster oder Türen überhaupt anzufassen, sei es auch nur für eine halbe Nase voll kühler Winterluft. Vor einigen Tagen kamen ab und an noch allerlei Greifvögel vom Westen her in diese Gegend. Sie kreisten dann über den sonst unbelebten Feldern, auf der Suche nach etwas Essbarem zwischen der Schnabelspitze. Genau wie ich scheinen sie sich an diesen simplen, kahlen Verfahren und Vorstellungen satt gelebt zu haben. Ganz im Gegensatz zu mir haben sie aber ihre verschiedenen Verwandten versammelt und die nächstbeste Gelegenheit ergriffen, sich vom Acker zu machen. Ich sitze immer noch hier. Der Schnee ist heute viel zu hoch und frisch, als dass ich endlich in den Umzugswagen hätte steigen wollen. Das leere Zimmer erstreckt sich hinter der kindlichen Bettstatt in unendliche Weiten und die lieblos leeren Wände gedeihen empor, um mit der milchigen Gestalt der Aussenwelt zu verwachsen. Kletterte man hier früher aus dem Fenster, was ich nicht selten getan hatte, musste man nur das Feld überqueren und einen kleinen, aber doch lebendigen Wald durchlaufen, um den Bus in scheinbar noch weitere Welten zu erwischen. An sonnig leichten Tagen fuhr ich damit, wohin auch immer ich konnte. In meinem Bauch sticht es, wenn ich mir einbilde, wieder pausbackig und wildlockig dem matschigen Feldrand entlangzustolpern und dabei allerlei unbeeindruckte Kühe zu kreuzen. Oftmals konnte man am Waldrand wilde Hasen beobachten, wenn man genug leise über die Wurzeln zu tänzeln wusste. Ich habe hier in den letzten Jahren nie mehr welche gesehen, obwohl meine Mutter fest darauf beharrt, dass es sie noch gibt. Das dumpfe Schaben unter meinem Bauchnabel lässt mich zucken und der kalte Tee in meiner linken Hand schwappt wie ein kraftloser Wasserfall über den Tassenrand. Jetzt gerade hätte ich das Gefühl, das aus meiner Mitte zum Hals emporkroch, am liebsten mit einem Glas Rotwein hinuntergespült. Du hättest das wohl eine gute Idee gefunden und später mit mir auf den Kissen getanzt. Aber heute ist das Zimmer erstarrt. Es wirkt fast so, als wäre es der Welt entschwunden. Die Heizung habe ich schon gestern Abend ausgeschaltet. Ein fiebrig glühender Schwindel hatte sich von meiner Stirn zu den Augen ausgebreitet und dann den ganzen Körper übermannt, weswegen jede verordnete Wärmeflasche und erst recht die Heizung zu viel gewesenwaren. Unbeirrt blüht der Schmerz in mir zu einem starken Unkraut heran. Ich atme ihn tief ein, den Schmerz, genauso wie es mir meine Grossmutter damals geraten hatte. «Wenn du dich mit dem Schlechten abfindest, wird es bedeutend erträglicher», pflegte sie oft zu sagen. Danach erkannte sie mich kaum noch und lächelte nur sanft, wenn ich meine Hand auf ihre legte. Jetzt ist mir kalt, vor allem an den Zehen und im Gesicht. Normalerweise liebe ich es, eine kalte Nase zu haben. Darüber musstest du immer lachen, bevor du weg warst. Wir haben uns dann geküsst und du hast immer spielerisch dein Gesicht verzogen, wenn ich mit meiner frostigen Nasenspitze deine Wange berührt habe. Meistens schlichen wir an solchen Tagen durch das Wäldchen hinter dem Feld und suchten die Hasen, von denen ich dir in nostalgischer Begeisterung erzählt hatte. Währenddessen hieltest du beschwingte Monologe über das Entfliehen, die mich

Die Fangzähne der Flocken fassen ineinander und lassen die Welt erblassen.

Du hättest das wohl eine gute Idee gefunden und später mit mir auf den Kissen getanzt.


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auch heute, als blosse Erinnerung, in Melancholie verfallen lassen. «Die Welt da draussen», hast du jeweils gesagt, «die ruft nach mir und nach dir ruft sie ganz bestimmt auch». Ich hätte, glaube ich, nicht einmal eine Zukunft hören können, die sich aus Leib und Seele nach mir zu schreien traute. Trotzdem glaubte ich dir und wäre dir vielleicht gefolgt, hättest du nur ein halbes Jahr und ein paar Wochen auf mich gewartet. Oder hätte ich dir sagen können, was ich eigentlich hätte sagen müssen. Meine Gedanken schleichen dem Wäldchen entlang und folgen den weichen Geräuschen, die noch vor so wenigen Wochen, vom Westwind beflügelt, über den kleinen Hügel hinweg hierhin geflogen kamen. Dort wurde vor etwa einem halben Jahr ein Spielplatz eröffnet. Bunte Kinder mit bunten Sprachen spielten dort in farbenfroher Leichtigkeit, bis eine blauäugige Beschwerde den Bezirksrat erreichte. Das frivole Lachen und die vom Spass beschwingten baren Füsschen verstummten umgehend. Ich starre die Decke an und bin unendlich müde. Das kleine Dachfenster lässt mich über raue Landstrassen hinweg in andere Räume gleiten. Ich höre das kurze Kratzen eines Kugelschreibers. Die Wände sind überall gleich und weiss. Die Leute, die dort die Gänge bewandern, scheinen zum farblosen Inventar dieses Gebäudes zu gehören und auch ihre Gestik und ihr Gerede gleichen dem unbeirrt fallenden Schnee. Eine Mutter verschwindet zusammen mit ihrer Tochter im Treppenhaus, trotzdem sieht es nicht so aus, als würden sie gemeinsam gehen. Ich liege hier und da. Mittlerweile hat der Schnee das ganze Fenster überwachsen. Das Licht von draussen lässt seine blosse Anwesenheit vermuten. Nichts davon durchdringt annähernd die hohen Gemäuer meiner Gedanken. Ich glaube, ich bin verloren gegangen. Mein Bauch zieht sich zusammen. ¤

Ich glaube, ich bin verloren gegangen.


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Das Meer finden Daniela Huber Sie hatte nur schnell pissen wollen, schnell da hochlaufen und pissen und vielleicht runterschauen. Sie kletterte die Böschung hoch, drehte sich so, dass sie den Weg sah, auf dem sie gekommen war, und hockte sich hin. Sie roch ihren Urin und die Erde, feucht und schwer, und noch etwas anderes, etwas Fremdes. Sie kramte ein Papiertaschentuch aus ihrer Jackentasche, machte sich damit sauber und liess es auf den Boden fallen. Sie stand auf, der Wind streichelte über ihr Haar, und als sie sich umdrehte, sah sie das Meer. Sie hatte das Meer noch nie gesehen. Gehört davon hatte sie, sie kannte Bilder, Erzählungen, wusste, dass es existierte. Aber es hätte auch nur in Geschichten auftauchen können – so oft bis man fest daran glaubte, wie bei vielen Dingen, die man nie im Leben zu Gesicht bekommt. Sie aber sah das Meer zum ersten Mal in dem Augenblick, als sie den Reissverschluss ihrer Hose zuzog. Sie blickte in das Blau, das sich wie ein flüssiger Teppich bis zum Horizont erstreckte und sich dort in einem lila Nebel verflüchtigte. Es bewegte sich, strömte aber nicht in eine Richtung, sondern lag einfach da und lebte. Und alles, was sie tun wollte, war hinunterzulaufen und es zu berühren. Jetzt tauchten auch all die anderen Bilder in ihr auf, von Wellen und Schaumkronen und Tieren, die sich schwerelos darin bewegten. Sie schossen durch ihren Geist wie Blitze, weckten ein Gefühl von Heimweh, von einer schweren, tiefen Trauer, die man aber lindern könnte, wenn man nur das Meer berühren könnte. Und so begann sie dem Zaun entlangzugehen, um das Meer zu suchen. Sie lief und lief und lief und war sich sicher, dass der Zaun sie dorthin bringen würde, wo das Meer begann und wo es aufhörte; wo sich das Wasser erschöpft aufs Festland warf, immer wieder und wieder und wieder. Zuerst führte der Zaun am Ufer entlang, dann führte er durch den Wald und über Felsen, grau und spitz, und Erde, die schwarz war, nicht rot wie die Erde auf dem Hügel. Die scharfen Kanten der Steine bohrten sich in ihre Schuhsohlen und die schwarze Erde war staubig und trocken. Der Staub bäumte sich auf in kleinen Wolken und nistete sich dann überall ein, wo er Unterschlupf finden konnte: in den Nähten ihrer Kleider, zwischen ihren Zehen, in Nase und Ohren. Sie hustete, stolperte, rieb sich mit dreckigen Fingern über die Augen und ging weiter und weiter, getrieben von ihrer Vorstellung des Zaunes, der zum Meer führte und darin versank. In diesem Bild ging das Gitter ins Wasser hinein wie eine Schlange und erstreckte sich dann weiter auf dem Meeresboden. Wale folgten ihm, um nach Hause zurückzufinden und Tintenfische krochen darunter

Illustration: nimbon

Der Staub bäumte sich auf in kleinen Wolken und nistete sich dann überall ein, wo er Unterschlupf finden konnte.

Es war eine lautlose Welt, die sich in ihrem Kopf ausbreitete, und sie hörte tief in diese Stille hinein.


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hindurch, um zu ihren Nestern zu gelangen. Der Zaun, der ins Meer führte, grub sich so tief in ihren Kopf, dass sie an gar nichts anderes mehr dachte, alles andere war weg, fortgeblasen, ausgelöscht. Es war eine lautlose Welt, die sich in ihrem Kopf ausbreitete, und sie hörte tief in diese Stille hinein. Sie liess ihre linke Hand am Zaun entlangstreifen und fühlte, wie sich die Temperatur des Metalls veränderte, tastete über rostige und glatte Stellen, über kalte und warme, zerrissene und gerade. Bald hörte sie vollständig auf zu denken und lief nur noch. Ihr Körper hatte die Trauer gespürt und wollte sie heilen. Ihr Magen verlangte Nahrung, ihre Beine sehnten sich nach Ruhe und ihre Haare wollten wachsen, aber alle ihre Organe hatten verstanden, dass sie nichts von alledem tun konnten, bevor sie am Ende dieses Zaunes angekommen waren und das Meer erreicht hatten. Sie trieben den Körper an mit einer Kraft, die jene von ihrer Seele noch übertraf. Sie wurde zu einer Masse aus Atomen, von denen jedes einzelne darauf zielte, das Meer zu finden. Sie tastete sich weiter, auch in den Nächten, in denen sie einschlief, an den Zaun gelehnt, und umgekippt aufwachte, mit steifer Hüfte, den Kopf auf dem Boden. Sie setzte einen Fuss vor den andern, wie getrieben, anfangs mit festem Schritt, dann immer langsamer und langsamer, mit zitternden Gliedern, wie ein Schlafwandler. Ihre Hand begann zu bluten, aufgeraut von den rauen, rostigen Stellen, aber sie merkte es nicht, sie merkte nicht einmal, dass sie langsamer war als am Anfang und ging einfach nur weiter und weiter. Bis zum Ende, bis der Zaun sie nicht mehr über die Steine und das Dickicht ins Unbekannte führte, weil ihre Augen etwas erblickten, was sie anhalten liess. Sie stand da und blickte auf das Papiertaschentuch auf dem Boden. Wenn der Zaun sich in den Norden verloren hätte, wäre sie für immer weitergelaufen, bis zu den Eismeeren, wo sie dann erfroren wäre, die Finger immer noch um die Drähte des Zauns gekrallt. So aber stand sie wieder an der gleichen Stelle und bewegte sich nicht. Als sie das Taschentuch lange anschaute, fiel ihr ein, dass sie wieder einmal pissen müsste und so hockte sie sich hin, aber es kam nichts, weil ihr Körper völlig vertrocknet war. Ihre Zunge lag schwer und pelzig in ihrem Mund, ihr Atem war flach und kaum hörbar, und der Boden begann sich langsam ihrem Gesicht zu nähern. Erst da merkte sie, dass sie vielleicht sterben würde. Nicht irgendwann, sondern jetzt, auf diesem Hügel aus roter Erde, von dem aus man das Meer sieht. Da wollte sie wieder zurück, an den Anfang vor dem Anfang, zu dem Moment, als sie gesagt hatte: «Ich gehe schnell pissen.» Zurück in die Zeit, als sie das Meer noch nicht gesehen hatte. Sie wollte wieder zu den andern, deren Gesichter sie vergessen hatte. Aber sie wusste nicht mehr, wer sie waren, was sie vorher getan hatten und wo sie hergekommen waren. Sie versuchte Bilder in ihrem Gedächtnis zu finden, die etwas über damals verraten würden, aber ihr Geist hatte nichts mehr zu erzählen. Ihr ganzer Körper begann zu schmerzen, weil er verstand, dass er das Meer nicht erreichen würde. Leere ergoss sich in ihre Seele. Und so kroch sie – denn gehen konnte sie nicht mehr – die Böschung hinunter, zwischen verbeulten Dosen, leeren Plastikflaschen und zerknitterten Papiertaschentüchern hindurch, und versuchte den Anfang zu finden. Aber Anfänge warten nicht, und wo für sie einmal alles angefangen hatte, da war jetzt nichts mehr. Nichts mehr ausser Abfall und ein paar Vögeln, die aufflatterten und über den Zaun davonflogen, als sie den langsam daherkriechenden Körper erblickten. ¤

Sie wurde zu einer Masse aus Atomen, von denen jedes einzelne darauf zielte, das Meer zu finden.

Illustration: nimbon

Anfänge warten nicht, und wo für sie einmal alles angefangen hatte, da war jetzt nichts mehr.


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16 Die Untersuchung Patrizia Huber Herr M. stand wie jeden Morgen um halb sieben auf und machte sich eine Tasse Kaffee. Wie immer schaute er aus dem kleinen Küchenfenster in den Hof, während das Wasser durch den Kaffeefilter tropfte. Draussen war es November, grau und neblig. Drinnen war es immer November, grau und leer. Herr M. mochte es, dass seine Wände grösstenteils weiss waren, bis auf den kleinen Kunstdruck im Wohnzimmer, den ihm seine Mutter am ersten Tag nach dem Einzug vorbeigebracht und selbständig aufgehängt hatte. Er zeigte hellbraune Ährenfelder, im Hintergrund war ein dunkler Tannenwald zu erkennen und alles war in das goldene Licht der Nachmittagssonne gehüllt. Er seufzte. Die Kaffeekanne war mittlerweile voll; Herr M. schenkte sich eine Tasse ein, setzte sich an den schlichten Holztisch und grübelte. Er mochte diese ruhigen Minuten, bevor er zur Arbeit ging. In der S-Bahn stand Herr M. grundsätzlich. Er musste nur fünf Stationen fahren und sass ja sonst schon genug. Er sah sich im Wagen um. An den Gesichtern der Menschen konnte man erkennen, in welchem Monat man sich befand. Novembergesichter sahen müde und verkniffen aus und versteckten sich hinter dicken Wollschals. Zwanzig Minuten später stieg Herr M. aus der Bahn und verliess den Bahnhof in westliche Richtung. Der Wind blies ihm ins Gesicht, sodass auch er seine Augen zusammenkniff. Nach exakt acht Minuten erschien vor ihm der grosse, graue Betonbau aus den Siebzigern, in den er jeden Tag um acht Uhr hineinging und der ihn um Viertel nach vier wieder ausspuckte. Das Gebäude, seine Kollegen nannten es liebevoll «den Klotz», war eine dienstliche Aussenstelle des Bundeszentralamts für Steuern. Herr M. mochte seinen Arbeitsplatz. Die Büroklammern waren dort, wo Büroklammern zu sein hatten, die Akten lagen ordentlich verstaut in Aktenschränken und der Weg zur Kaffeemaschine war genug lang, um sich die Beine zu vertreten. Der Kaffee war auch nur ein wenig zu wässrig, sodass man mehrere Tassen davon am Tag trinken konnte, ohne genug davon zu bekommen. Als er vor seinem Schreibtisch ankam, fiel ihm etwas Ungewöhnliches auf. Da lag eine Akte auf seinem Tisch. Normalerweise räumte er seinen Tisch immer vor dem Feierabend auf. Er ging einen Schritt näher, legte den Mantel über die Stuhllehne und las den Titel: «Parallelakte M-257b». Das Aktenzeichen kam ihm nicht bekannt vor. Er setzte sich, öffnete die Mappe und las das erste Blatt. Es war ein Personalienformular, in dem alle Daten eines Herrn Kowalski aufgeführt waren. Dieser wohnte in der Stadt, war 53 Jahre alt, ledig und arbeitete auf dem Arbeitsamt. Herr M. blätterte die weiteren Seiten durch. Offensichtlich waren tiefgehende Recherchen zu Kowalskis Leben vorgenommen worden. Unter den Blättern befanden sich auch Bilder, auf denen er einen Plattenbau verliess, auf eine Würstchenbude zusteuerte oder kauend eine Bockwurst in einen grossen Berg Senf tunkte. Er war untersetzt, litt unter fortschreitendem Haarausfall und handelte sich offenbar immer donnerstagnachmittags Parkbussen ein. Er war ein normaler, durchschnittlicher Bürger. Weshalb die Parallelakte über ihn aufgesetzt wurde, entschlüsselte sich erst auf den letzten Blättern: Verdacht auf Steuerhinterziehung, Verdacht auf Beihilfe zur Steuerhinterziehung, Verschaffen von falschen amtlichen Ausweisen, Bestechlichkeit, Meineid, Landesverrat. Herr M. schluckte. Er hatte immer geglaubt, Landesverräter hätten lange Haare, würden in palästinensischen oder russischen Restaurants essen und mit ihren Verbündeten Wodka auf ihren nächsten Coup trinken. Kowalski konnte in seinem Büro auf dem Arbeitsamt natürlich leicht falsche amtliche Papiere ausfertigen und seinem Verbrecherzirkel zukommen lassen. Ja, wenn man sich die Fotos genau ansah, dann erkannte man ein maliziöses

Draussen war es November, grau und neblig. Drinnen war es immer November, grau und leer.


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Lächeln auf Kowalskis Gesicht. Er musste sich gefreut haben, dass ihm bisher noch niemand auf die Schliche gekommen war. In Herrn M.s Kopf entfaltete sich die ganze Geschichte: Ein arbeitsloser, deutsch-russischer Menschenhändler kommt zu Kowalski ins Büro, legt Geld auf den Tisch, Kowalski zögert, wägt ab, sieht seine bescheidene Plattenbauwohnung und die immer gleiche Bockwurst mit Senf vor dem inneren Auge, greift schliesslich zu und stellt dem Deutschrussen Papiere aus, damit dieser keine Berufsintegrationskurse besuchen und keine Bewerbungen schreiben muss. Das geht über einige Monate gut. Danach kommt dieser wieder und erzählt von seiner Steuererklärung, die er unmöglich ehrlich ausfüllen kann. Kowalski kennt einen guten Steuerberater, vermittelt die beiden und bekommt dafür eine ziemliche Summe Geld. Jetzt muss auch er seine Steuererklärung beschönigen. Und dann gibt es plötzlich interne Untersuchungen, Kowalski muss lügen, um sich und den Deutschrussen zu decken. Und danach wird er immer weiter in die Spirale des Verbrechens gesogen, bis er schliesslich beim Landesverrat angelangt ist. Das kann schnell gehen, sieht man ja auch immer beim Tatort. Ehe man sichs versieht, ist man Schwerverbrecher. Herr M. pfiff durch die Zähne. «Ganz schön spannende Geschichte, was?», sagte sein Vorgesetzter hinter ihm, worauf sich Herr M. umdrehte. «Das kam heute Morgen per Kurier herein. Können Sie bitte sämtliche Steuerdokumente von Kowalski durchgehen und nach Ungereimtheiten suchen?» Er nickte und der Vorgesetzte ging wieder aus dem Büro. Herr M. setzte sich gleich an die Arbeit und suchte die Dokumente zusammen. Gegen Mittag hatte er alles zusammengetragen, was er brauchte. In der Kantine gab es heute Klösse mit Kartoffelpüree. Darauf hatte er sich schon die ganze Woche gefreut. Die Kantine lag im Kellergeschoss des Gebäudes, weshalb nur wenig Tageslicht in den Raum drang. Herr M. sass aber immer direkt unter einem kleinen Fenster, aus dem er die Füsse der Passanten sehen konnte. Herr M. ging die Treppen zum Keller hinunter, schnappte sich ein Tablett und stellte sich in die Schlange vor der Essensausgabe. Die anderen Steuerbeamten wirkten müde, ihre Lider hingen tief über den Augen und ihre Gesichter waren bleich. Es war ein langes Jahr gewesen. Und den meisten wurde klar, dass das Nächste genau gleich ablaufen würde. Herr M. mochte das hingegen. Routinen, planbare Tage. Zum Beispiel gab es in den geraden Wochen immer mittwochs Klösse mit Kartoffelpüree. Er brauchte gar nicht erst auf die Menükarte zu schauen, weil es schon immer so war und auch immer so bleiben würde. «Einmal das Fleischmenü mit viel Sosse», sagte er der Kantinenfrau an der Ausgabe. «’tschuldige, heute ist Vegetariertag. Neue Idee der Direktion. Es gibt Linsen mit Grünkohl und Möhren. Deine Gesundheit wird’s dir danken.» Herr M. verzog das Gesicht. Grünkohl, auch das noch. Damit hatte ihn seine Mutter schon als Kind gequält. «Na, dann nehme ich wohl die Linsen. Aber bitte mit wenig Grünkohl!» Die Kantinenfrau schöpfte eine bräunlich-grüne Masse auf einen Teller und reichte ihn Herrn M. «Das ist schon alles vermischt. Kannst dir den Kohl ja rauspicken.» Sie klang schadenfreudig. Herr M. setzte sich an seinen Stammplatz. Immerhin der war frei. Vielleicht hatte er sich im Datum vertan? Er sah auf die Zeitung, die vor ihm auf dem Tisch lag. Doch, es war der Mittwoch der zweiten Novemberwoche. Er grübelte. Das war seltsam. Letzte Woche ging zwar dieses Gerücht durch die Büros, dass die neue Direktion einige Änderungen vorzunehmen gedachte. Er hatte aber geglaubt, dass es sich da eher um Versetzungen oder Kündigungen handeln würde, und nicht darum, dass jemand ihm seinen Klösse-Mittwoch wegnehmen würde. Herr M. seufzte und stocherte in den Linsen.

Meine Routinen, Tagesabläufe, all das, was mir immer Halt gegeben hat, zerbricht langsam.


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Kowalskis Akte war so gewöhnlich wie jede andere Steuerakte eines gewissenhaften Bürgers. Keine Fehler, jedes Formular war richtig ausgefüllt. Er musste ein Segen für das Arbeitsamt sein. Herr M. müsste wohl weitere Untersuchungen vornehmen, vielleicht bei Kowalskis Büro vorbeigehen, die Umgebung der Plattenbauten genauer unter die Lupe nehmen. Er schaute auf die Uhr. Es war schon fünf und draussen dämmerte es bereits. Er hatte die Zeit völlig vergessen. Auch die anderen Büros waren inzwischen leer. Herr M. packte seinen Mantel, liess die Akte auf dem Tisch liegen und löschte das letzte Licht in der dienstlichen Aussenstelle des Bundeszentralamts für Steuern. Für heute hatte er genug getan. In der S-Bahn sahen die Gesichter etwas weniger verkniffen aus als am Morgen. Herr M. verliess den Zug an seiner Haltestelle und kaufte sich auf dem Heimweg im Supermarkt Fleischwurst und Spinat. Eigentlich gab es bei ihm Fleischwurst immer nur mit Brot, und Spinat jeweils ausschliesslich mit Fischstäbchen und Kartoffeln, aber er war so sehr in seine Grübeleien vertieft, dass er gar nicht merkte, wie er die beiden Gerichte vermischte. Erst als er zu Hause war und in die Plastiktasche sah, fiel ihm sein Versehen auf. Dann würde er halt heute Spinat mit Fleischwursträdchen essen. Herr M. fand sich um 8.07 Uhr an seinem Arbeitsplatz ein, wo noch immer die Akte von Kowalski lag. Sein Büronachbar telefonierte gerade mit seiner Mutter, während er in der anderen Hand mit der Kaffeetasse gestikulierte. Er führte häufig längere Gespräche auf der Arbeit, was Herrn M. störte. Er hatte schon mehrmals überlegt, den Mut zusammenzunehmen und sich beim Chef zu beschweren. Aber das musste ein anderes Mal geschehen, weil der Kowalski-Fall ihn zu sehr in den Bann zog. Herr M. notierte sich Kowalskis Adresse auf einem Zettel, rief kurz bei der Polizei an, um eine Genehmigung für eine Besichtigung zu bekommen, nahm seinen Mantel und ging. Kowalskis Plattenbau lag etwas ausserhalb in einer Gegend mit anderen Hochhäusern, die in den 60er-Jahren gebaut und seither vergessen worden waren. Auf dem Spielplatz hingen die Schaukeln nur noch an einer Schnur herunter. Eine ältere Frau trug eine verblichene Plastiktasche von einer Bushaltestelle am Spielplatz entlang zu einem Hochhaus am Ende der Wiese. Herr M. seufzte, schaute auf seinem Zettel die Hausnummer nach und ging zur richtigen Türe. Diese stand offen, wodurch der Wind in den Hausflur hineinwehte. Scheinbar hatten sämtliche Jugendliche des Quartiers ihren Namen oder eine Beleidigung mit schwarzem Stift auf dem Aufzug hinterlassen. Herr M. zögerte, die Aufzugstür zu öffnen, als ob er sich nicht sicher war, ob die Graffitis den Mechanismus des Aufzugs beeinträchtigen könnten. Schliesslich entschied er sich dazu, besser die Treppe zu nehmen. Kowalskis dicker Bauch flackerte vor seinem inneren Auge auf. Die Wohnung war mit Polizeiband gesichert, das Herr M. vorsichtig löste. Als er die Tür öffnete, schlug ihm ein modriger Geruch entgegen, wie in einer Tropfsteinhöhle. Die Wohnung war leer. Kein einziges Möbelstück stand darin. Herr M. marschierte mit angehaltenem Atem geradeaus zum Balkon und liess die kalte Luft hinein, die den Geruch nicht zu vertreiben vermochte. Er sah sich um. Die Wände waren gelblich und der graue Teppichboden hatte einige Rotweinflecken. Die Wohnung war nicht gross, neben dem Zimmer mit Balkonzugang gab es ein kleines Badezimmer und eine Küche. Herr M. betrat als letztes die Küche und öffnete alle Schränke. Nichts. Hatte die Polizei etwa schon alles mitgenommen? Herr M. schüttelte den Kopf. Das hätten sie

Illustration: nimbon

Er hatte plötzlich das Bedürfnis gehabt, in eine Kneipe zu gehen und ein Glas Bier zu trinken.


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ihm bestimmt gesagt. Da fiel ihm der kleine Backofen auf. Er ging in die Hocke und öffnete ihn. Auf dem Gitterrost lag eine einzelne Kassette. Er nahm sie in die Hand und betrachtete sie von allen Seiten. Eine Kassette. Sein einziger Anhaltspunkt war also diese Kassette. Er müsste schnell ins Bundeszentralamt fahren, wo sie Kassettengeräte hatten, und sie sich anhören. Vielleicht war sie von Kowalski, der sie – vermutend, dass niemand etwas Wichtiges in einem Backofen erwarten würde – hier versteckt hatte? «Heute ist wieder etwas Seltsames passiert. Seit Tagen ist das schon so. Meine Routinen, Tagesabläufe, all das, was mir immer Halt gegeben hat, zerbricht langsam. Heute war es Schmidt. Er spricht sonst nie mit mir, aber heute hat er mich auf ein Bier eingeladen. Oder eher überredet, gezwungen. Ich gehe doch sonst nie unter der Woche aus ... Heute kam ein Russe und meinte, er hätte ein Angebot, das ich nicht ausschlagen könnte. Als ich ihn fragte, was er denn genau meine, sagte er nichts. Er sass einfach da in seinem Stuhl und schaute mich mit seinem stechenden Blick an. Das ging sicher drei Minuten so. Er sagte nichts, ich sagte nichts. Wir sassen beide nur auf unserer Seite vom Tisch und schauten uns an. Dann fragte ich ihn, ob er Arbeit suche. Er schüttelte den Kopf. ›Ich habe genug Arbeit.‹ Was auch immer das heisst ... Mein Chef hat mich heute bei der wöchentlichen Sitzung mehrmals merkwürdig von der Seite her angeschaut, als ob ihm etwas durch den Kopf ginge, das er mir aber nicht sagen möchte. Jedes Mal wenn ich mich zu ihm drehte, schaute er absichtlich in eine andere Richtung. Ich hoffe, dass die da oben mich nicht versetzen wollen. Letzte Woche musste Möller seinen Platz räumen. Gerüchte gehen herum, dass das Arbeitsamt sparen und Stellen streichen müsse. Diese Ironie! Das Arbeitsamt entlässt Angestellte.» Die Aufnahme brach in einem nervösen Lachen ab. Herr M. hörte sich die Kassette mehrmals an und transkribierte alles. Es war offensichtlich, dass Kowalski diese Sprachaufnahmen als eine Art Tagebuch nutzte. «Haben Sie schon etwas gefunden, M.?», fragte ihn der Vorgesetzte, als er sich nach Stunden der Arbeit eine Tasse dünnen Kaffee einschenkte. Herr M. rührte im Kaffee, obwohl er weder Zucker noch Milch hinzuzugeben pflegte. «Die Wohnung stand komplett leer. Aber das war nicht die Arbeit der Polizei. Die wusste von nichts und wollte heute selbst noch einmal vorbeigehen. Aber ...» M. zögerte. Sein Vorgesetzter beobachtete seine Mimik und zog eine Augenbraue hoch. «Aber ich werde noch aufs Arbeitsamt fahren und da nachfragen.» «Gut, weiter so. Und berichten Sie mir so schnell wie möglich, wenn Sie etwas Interessantes entdecken.» Herr M. war sich nicht sicher, weshalb er die Kassette verheimlicht hatte. Bisher wusste er selbst noch nicht, was er mit ihr anfangen sollte.

«Gerüchte gehen um, dass das Arbeitsamt sparen und Stellen streichen müsse. Das Arbeitsamt entlässt Angestellte.»

Vor seinem Miethaus stand ein grosses, weisses Zelt, aus dem Figuren in blauen Anzügen und mit riesigen, weissen Helmen kamen. Herr M. ging langsam auf dem Gehweg. Einige der blauen Figuren hatten grosse, weisse Rucksäcke, an denen ein schwarzer Schlauch befestigt war. Eine Figur sah ihn und stellte sich ihm in den Weg. Als sie ihn etwas fragte, war Herr M. so perplex, dass er erst nicht antworten konnte. «Hallo?! Wohnen Sie hier?! Sprechen Sie Deutsch? English?» Herr M. nickte, zweimal. «J... Ja. Was ist passiert?» Die blaue Figur seufzte tief und holte aus. «Ungeziefer, Schädlinge. Eine Nachbarin hat sie gefunden. Das ganze Haus ist infiltriert. Sie können die nächste Woche nicht in ihre Wohnung.» Er sprach so monoton, dass es schien, als hätte er diese Erklärung schon viel zu oft geben müssen. «Haben Sie einen Platz zum Schlafen?» Herr M. schaute


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ihn entsetzt an. «Freunde, Arbeitskollegen, Familie? Naja, was soll’s. Sie werden sicher was finden. Schönen Abend.» Damit nahm er wieder den Schlauch in die Hand und verschwand im Miethaus. Herr M. wägte seine Möglichkeiten ab. Viele waren es nicht. Zu seiner Mutter konnte er nicht, weil sie sich so sehr freuen würde, den verlorenen Sohn aufnehmen zu dürfen, dass sie ihn nie wieder gehen lassen würde. Er hatte noch ein paar Freunde aus der Schulzeit, aber die hatten alle Frau und Kinder. Kinder waren ihm zu laut. Herr M. stellte seinen Mantelkragen auf, schob die Hände in die Taschen und entschloss sich, erst einmal in eine nahegelegene Kneipe zu gehen. Herrn M.s Bierglas wurde mit solcher Wucht auf den Tresen gehämmert, dass ein Teil des Inhalts überschwappte und eine klebrige Spur hinterliess. Er nahm es, mit einer Serviette umwickelt, in die Hand und trug es auf einen der tiefen Tische am Rande des Raums. Herr M. nippte am Glas. Das Bier hatte die meiste Kohlensäure schon verloren und erinnerte deshalb eher an Eistee. Er nahm einen Bierdeckel aus dem Stapel vor sich, studierte den Aufdruck, nahm dann den ganzen Stapel, um damit eine Art Kartenhaus zu bauen. Herr M. mochte eigentlich keine Kneipen mit ihrer spärlichen Beleuchtung, den dunklen Wänden und Holzmöbeln, Männern, die mit einem Lappen stets den Tresen putzten und Zapfhähne bedienten. Er ging sonst nie in solche Spelunken und hatte keine Ahnung, wie er in dieser gelandet war. Er hatte plötzlich das Bedürfnis gehabt, in eine zu gehen und ein Glas Bier zu trinken. Und Bierdeckelhäuser zu bauen. Jetzt hasste er sich für seine Entscheidung. Aber das Bier musste er wohl austrinken, er hatte es schliesslich bezahlt. «Dich habe ich aber noch nie hier gesehen.» Eine junge Frau stand vor seinem Tisch und schaute ihn interessiert an. «Darf ich mich zu dir setzen?» Herr M. nickte. Ihm fielen ihre roten, langen Locken auf, die locker hochgesteckt waren und ihre grünen Augen leuchten liessen. «Du kannst doch nicht so alleine hier sitzen. Das ist ja traurig!» Sie drehte sich zum Tresen um und bestellte zwei Schnäpse. «Trinken wir auf eine neue Freundschaft! Erzähl mal, wieso bist du hier?» Herr M. versuchte, ihr die blauen Gestalten im Zelt vor seinem Haus aufs Genaueste zu beschreiben, aber sie schien den Ernst der Lage nicht zu erkennen. «Und jetzt brauchst du einen Ort zum Pennen, ja? Komm einfach mit zu mir. Ich habe genug Platz.» Herr M. wollte erst ausschlagen und fand dann aber, dass er eigentlich nichts zu verlieren hatte. Ein Bettsofa in einer fremden Wohnung war besser als eine Nacht in seinem Jugendzimmer. «Wieso nicht?», sagte er also. Die Rothaarige lachte. «Gut, lass uns gehen!» Sie wohnte in der obersten Etage eines alten Klinkersteinhauses. Die Wohnung war wirklich gross – aber auch vollgestellt mit zusammengewürfeltem und getrödeltem Mobiliar, Büchern, Pflanzen und ausgetrunkenen Kaffeetassen. Überall standen Bücherstapel auf dem Boden, die Herrn M. bis zur Hüfte reichten. Er dachte kurz sehnsüchtig an seine karge, unaufgeregte Wohnung mit den schlichten Wänden und der alten Kaffeemaschine. «Möchtest du einen Kaffee? Ich kann uns schnell zwei Tassen kochen.» Sie redete in einem Fluss weiter, während sie in der Küche mit dem Geschirr klapperte. Herr M. sah sich im Wohnzimmer um, las die Buchrücken, stellte umgefallenen Nippes wieder auf die Beine und versuchte, die Kaffeetassen zu zählen. Als er bei dreizehn Stück angekommen war, kam sie mit dem dampfenden Kaffee aus der Küche. «... Und dann habe ich gesagt: ›Was meinst du damit, postkolonialistische Theatralik? Nur weil Edgar in seinem Vortrag Shakespeare zitiert hat?!‹ Da war er natürlich erstmals baff, dass ihm jemand so Kontra gegeben hat. – So, hier, der Kaffee. Ich hoffe, du magst ihn gern schwarz, ich hab‘ nämlich keine Milch da.» Sie streckte ihm eine volle Tasse hin und setzte sich aufs Sofa. Herr M. trank bedächtig seinen Kaffee, während sie weitererzählte. Sie benutzte Wörter, die er nicht wirklich verstand, trotzdem nickte er zustimmend. Post-Postkolonialismus, Bukolik,

Sie benutzte Wörter, die er nicht wirklich verstand, trotzdem nickte er zustimmend.


Illustration: Julia Costa

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Ikonoklasmus, Syllogismus. Wenn sie sprach, holte sie weit mit ihren Händen aus und ihre roten Haare wippten mit, wenn sie sich in eine Erzählung hineinsteigerte. Menschen, die wie sie sprachen, gab es nicht im Bundeszentralamt für Steuern. Er war fasziniert von ihr, aber gleichzeitig ein bisschen eingeschüchtert. Er wusste nicht, was er auf ihre seltenen Fragen antworten sollte, die er – wie den ganzen Rest, von dem sie sprach – nicht wirklich verstand. Sie gingen erst spät abends schlafen. In der Nacht wachte Herr M. auf, weil er auf die Toilette musste. Als er sich aufsetzte, bemerkte er einen stechenden Schmerz im unteren Rücken. Das Sofa war ein Stück zu klein, sodass er sich in der Mitte zusammenklappen musste, um darauf zu passen. Er schleppte sich zur Toilette, deren Wände man vor lauter Postkarten mit politischen Aufschriften, Krimskrams und Kunstrasen nicht mehr sehen konnte. Herr M. setzte sich etwas umständlich auf die Kloschüssel und las die Postkarten. Auf einer stand «All the world’s a stage. And all the men and women merely players». Ein Gedanke begann sich in seinem Kopf zu formen, er versuchte ihn zu fassen und zu Ende zu denken, was zu dieser späten Stunde aber ein fruchtloses Unterfangen war. Nachdem er seine Hände gewaschen hatte, nahm er die Postkarte von der Wand herunter und wollte die Toilette gerade wieder verlassen, als ihm eine Kassette auffiel, die rechts von der Tür an einer Schnur hing. Mit zittriger Hand hatte jemand «Streng geheime Merkwürdigkeiten» darauf geschrieben. Bevor er es recht wusste, hatte er auch die Kassette eingesteckt. Am nächsten Tag hörte Herr M. sich die Kassette im Bundeszentralamt an und musste sich vor Schreck an der Tischkante festhalten, denn die Stimme, die sprach, gehörte zweifellos Kowalski. «Jetzt bin ich mir sicher. Irgendjemand katapultiert mich immer wieder in die verrücktesten Situationen. Es ist, als hätten Gott und der Teufel um mich gewettet. Ich habe da eine Theorie ... Es ist der in meinem Kopf, die Stimme, die ich manchmal höre. Zuerst meinte ich, ich wäre es, der meine Tagesabläufe in Gedanken kommentierte. Aber das stimmt nicht. Es ist der Andere. Aber nicht mit mir; ich hab’ das Ganze satt. Ich habe auch schon einen Plan, wie ich dem ein Ende setzen kann: Ich werde nur noch Unerwartetes tun, sodass er die Lust an mir verliert und sich ein anderes Opfer sucht. Einen anderen durchschnittlichen, langweiligen Bürger.» Es knackste mehrmals in der Aufnahme, dann war sie zu Ende. Herr M. schaute nach oben, fühlte nach der Postkarte in seiner Hemdtasche, zog sie heraus. «All the world’s a stage. And all the men and women merely players.» ¤


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Aurora Borealis Larissa Waibel Zora ging leise ins Schlafzimmer und öffnete vorsichtig die Schubladen ihrer Kommode. Den schwarzen Pulli, ein paar T-Shirts, Unterwäsche und Socken, ihre Zahnbürste, ein Buch packte sie in den grossen Rucksack. Sie betrachtete Tristans starken Körper, wie er sich beim Atmen bewegte, zwei Hände, die sich ins Kissen gruben, das nüchterne Gesicht. In der weissgekachelten Küche setzte sich Zora auf einen Stuhl und stand nach zwei Sekunden wieder auf, füllte eine Trinkflasche mit kaltem Pfefferminztee, nahm eine Tafel Schokolade aus dem Schrank, Kaugummis, Getreideriegel. Tristan schlief und träumte. Er hörte das Geräusch des Wassers in der Flasche nicht und auch nicht das Knistern des Schokoladenpapiers. Er hörte die Schritte im Gang nicht und auch nicht das Klicken der Schnallen an Zoras Rucksack. Wahllos schlüpfte sie in ein Paar Schuhe und löschte das Licht. Die Tür fiel ins Schloss, Zora stand nach zwei Schritten bewegungslos, statisch im verspiegelten Aufzug. Sie kam sich selbst fremd vor, musterte ihr Gesicht. Ein grell ausgeleuchtetes Gemälde, eingerahmt von ihren kinnlangen Haaren. Ein Blick in ihre hellen Augen. Ein Rätsel, wie das Licht auf eine Scheibe zurückgeworfen wird und einem aufs Haar gleicht. Die Luft auf der Strasse unten war abgestanden und kalt wie in einem alten Kühlschrank. Zora war schlecht, als sie das Gebäude verliess, sie fühlte sich benommen, wie eigentlich immer. Ständig hatte sie das Gefühl, als hätte sie sich auf den Kopf gestellt und dann zurückgedreht, und ihr Magen wäre dabei verkehrt herum in ihrem Körper geblieben. Das Kind ist dafür verantwortlich, dachte sie, das Kind, das in mir gewachsen ist, so wie ein Samen zu einer Blume heranwächst im Frühling. Das Kind, das namenlos gewesen war und das Zora dennoch in ihrer Vorstellung genau sehen konnte. Das Kind, das doch nur so kurz klein gewesen und dann immer grösser geworden wäre – ausserhalb ihres Körpers und irgendwann auch ausserhalb ihrer Wohnung. Das Kind, das beinahe ein Mensch gewesen wäre, das zuerst in ihr wuchs und dann verschwand, wie eine Blume verschwindet im Winter, wenn es ihr zu kalt wird. Mein Kind, das schon eine winzige Wirbelsäule hatte und eine Nase und einen Schluckauf, ist in meinem warmen Körper erfroren. Träge lehnte Zora sich an eine Strassenlaterne und übergab sich auf den Gehsteig. Sie richtete sich auf und setzte einen Fuss vor den anderen. Hinter ihrem Rücken wusch der Nieselregen die Spuren vom schwarzen Asphalt. Niemand war zu Fuss unterwegs, Zora die einzige Bewohnerin der Stadt, auf dem Gehsteig wandelnd, neben hunderten von fahrenden Lichtpunkten. Der Bahnhof ein riesiges Gebäude, Renaissance, kalte Farben, eine Decke, die fast bis zum Himmel reichte. Es war Morgen geworden, der Weg zum Bahnhof hatte lange gedauert. Sie musste vor dem Schalter warten. Der grossgewachsene Angestellte trank seinen dritten Espresso. Zögernd fragte sie nach den nächsten Abfahrtszeiten und reichte dann hundertfünfzig Euro durch die Öffnung im Glasfenster. Der Mann schob eine Fahrkarte für den ersten Zug Richtung Norden zurück durch die kleine Luke. Sie verliess die Stadt. Es war einfach. Erst kurz nach der Grenze gelang es Zora, im Zug einzuschlafen. Und so verschlief sie die langen, dunklen Tunnels und die angedeuteten Alpen, deren Schatten sich auf den fahrenden Zug warfen in der langgezogenen Dämmerung eines Wintermorgens. Sie war noch nie zuvor nördlich ihrer Heimat gewesen, hatte sich nur südlich der Stadt bewegt, da war es nicht so kalt wie oben im Norden.

Hinter ihrem Rücken wusch der Nieselregen die Spuren vom schwarzen Asphalt.


Illustration: Julia Hodel

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Das Kind war auch zur Hälfte Tristans Kind gewesen. Er hatte nicht geweint, sondern oben in der Wohnung Kaffee gemacht, sich im Wohnzimmer auf den Boden gesetzt und seine Arme um die angezogenen Knie geschlungen, um dann lange zu schweigen. Als er damit fertig gewesen war, hatte er geflüstert, dass er sich mit Zora ein Kind gewünscht hätte. Und dass sie doch auch zu zweit gut wären, sie und er. Oder nicht, Zora? Sie hatte genickt und nichts gesagt und auch Tristan hatte genickt und dabei war es geblieben. Das Kind hatte keine Sachen besessen, es gab von ihm keine Fotos, es hatte nach nichts gerochen, es hatte keine Geräusche gemacht oder Worte gesagt, es hatte sich nicht selbst in der Wohnung bewegt. Nichts erinnerte an das Kind. Aber es füllte die Wohnung mit seiner Abwesenheit. Es füllte Zoras Kopf mit seinem Erfrieren. Sie begann, sich von innen kalt zu fühlen und dann begann sie auch, sich von aussen kalt zu fühlen. Ihr Magen drehte sich, ohne sich wieder zurückzudrehen. Tristan hatte nichts gewusst. Nicht gewusst, dass es für Zora innen und aussen so kalt war. Er war beschäftigt gewesen mit seiner eigenen Stille und dem Laden. Er war im Allgemeinen meist mit sich selbst beschäftigt. Mit seinem starken Körper und seinem weissen Gesicht, zwei Teile, die irgendwie nicht zusammenpassten und mit denen er nichts anzufangen wusste. Schlaksig und umständlich hatte er Zora abends in seine Arme genommen und in seinem Kopf tausend Dinge gesagt, aber nie laut ausgesprochen. Heute Nacht hatte Tristan von weiten Wäldern geträumt, von Bergseen und Pässen, schwarzen Vögeln am Himmel, Krähen oder Raben. Mittlerweile war er aufgewacht. Das Bett neben ihm leer, Zoras Schuhe fehlten im Gang, auf dem Balkon roch es nach kaltem Zigarettenrauch. Als Tristan die Nummer auswendig in sein Telefon tippte, klingelte es im Wohnzimmer. Er versuchte es dennoch ein zweites Mal, war ratlos. Er meldete sich im Laden krank, es war noch früh, und dann kroch er zurück unter die Decke, Eiseskälte. Vor seinen Augen Zora, tanzend und laut lachend im blauen Kleid, der letzte Sommer, die Bibliothek von innen, das Strassenfest. Er hielt es keine fünf Minuten aus, stand auf und öffnete das Fenster, legte sich zurück ins Bett, stand wieder auf und rauchte auf dem Balkon drei Zigaretten hintereinander. Die Packung war leer. Tristan, am Balkongeländer lehnend, fühlte sich erschöpft. Irgendwann wandte er sich ab, kroch zurück ins Bett und unter die kalte Decke. Den Rest des Tages verbrachte er damit, das Foto an der Wand und sein eigenes Spiegelbild zu betrachten.

Nichts erinnerte an das Kind. Aber es füllte die Wohnung mit seiner Abwesenheit.

Zora war an ihrem Zwischenziel angekommen. Sie ging und sah sich die Stadt an, den Hafen mit den Riesenkränen, ein grobes Gewässer, Salz und Fischgeruch im Wind. Sie kaufte sich ein Brötchen mit Frikadellen und ass im Gehen: vorbei an alten Kanälen und Werften, zügig, aber nicht hastig. Für eine Stadt wie diese war es schönes Wetter, sie hörte Fahrradklingeln, Kinderschritte und Lachen. Am Morgen danach reiste sie weiter. Unfassbar laut war es am Bahnhof und der Zug stand schon auf dem Gleis. Er hielt in M. und auch in S., aber dort blieb sie nicht. Sie stieg in den nächsten Nachtzug um und als man ihr am Schalter sagte, weit oben im Norden sei es am schönsten, aber auch sehr kalt, kaufte sie sich eine dunkelblaue Windjacke und ein Stirnband, das von kleinen, weissen Sternen übersät war. Die Reise war lang und Zora war müde. Nach ihrer Ankunft im hohen Norden fiel es Zora schwer, ihr Zimmer und die Jugendherberge überhaupt zu verlassen. Sie sass stundenlang auf der Veranda vor dem Haus. Die Tage waren eine ewige Abwechslung zwischen Morgengrauen und Dämmerung, für Zora nicht auszuhalten. Die Nächte schlaflos. Zora dachte an Tristan und an sein Kind, ihr Kind, das Kind, das es nicht gab, das nicht bei ihnen war. Zwei Tage später stand sie am nördlichsten Punkt, der Shuttlebus parkte abseits der grossen Weltkugel. Zora betrachtete die Lichter am Himmel, die sie an ihre Stadt erinnerten, grün, blau, gelb, rot. Sie dachte an Tristan, dem sie gerne den Arm um die Schultern gelegt hätte. Das Kind war überall und nirgends und Zora schaute sich solange satt, bis sie die Letzte war, die im kalten Nachmittagswind stand. ¤


Illustration: Daniela Huber

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Der Aufbruch eines Textes Johanna Jakab Zigeunerleben Bin in 1996 in Neumarkt am Mures geboren, in einer stark religiösen Familie. Da mein Vater Pfarrer ist und er häufig Stellen wechseln musste, sind wir oft umgezogen. Als ich gerade mal vier Jahre alt war, mussten wir nach Deutschland ziehen. Ich habe nicht viel von dem Umzug wahrgenommen. Nur den grossen Lastwagen mit all den Möbeln, den Regen auf den Autofenstern und die unendlich lange Fahrt auf der Autobahn. Am ersten Tag in dem Kindergarten hat mir ein Junge namens Wanja in den Bauch geboxt. Der erste Eindruck von Deutschland: hier boxt man sich gegenseitig in den Magen. Nach einer Weile habe ich nur noch Deutsch mit meinen Eltern gesprochen und mich selber als deutsche betrachtet. In der Schule war ich die beste in der Rechtschreibung, aber Mathe habe ich nicht richtig verstanden. Bevor ich die vierte Klasse in Deutschland anfangen konnte, mussten wir wieder umziehen. Zurück nach Siebenbürgen, in das Land der grossen Tannenbäume, in das ungarische Rumänien. Auf einmal musste ich zwei verschiedene Sprachen fehlerfrei beherrschen: Ungarisch und Rumänisch. Ich habe meine guten Rechtschreibkenntnisse der deutschen Sprache in Ungarisch und Rumänisch implementiert und alle Nomen mit Grossbuchstaben geschrieben. Natürlich war alles falsch. Die fünfte Klasse musste ich in einer anderen Schule besuchen, weil man es so in Siebenbürgen macht. Nun war ich keine deutsche mehr. Ich war keine richtige Siebenbürgische-Ungarin und eine Rumänierin schon gar nicht. Etwas dazwischen. Mit einem gebrochenen ungarisch, mit üblen Rumänisch Kenntnissen, aber mit einem guten Deutsch. In meinem neuen Leben kamen Zigeuner*innen mit grossen-Schwarzen Schnurrbärten vor, die zehn-Jährige Mädchen mit Bauch-T-Shirts in den Bauch zwickten, wenn sie an der Bushaltestelle standen, und deren Frauen bunte Crêpe-Röcke und schwere, runde Gold-Ohrringe trugen. Als ich Ungarisch und Rumänisch einigermassen gut konnte, mussten wir schon wieder weg. Die erste Hälfte der sechsten Klasse habe ich in Budapest absolviert, die zweite Hälfte in Stuhlweissenburg. Bis zur achten Klasse war ich nur in einer Schule. Von der neunten bis zwölften Klasse war ich zum Glück auch nur in einem Gymnasium.

Die Uni habe ich in Schottland angefangen. Nun bin ich im sechsten Semester, aber mache ein Auslandsjahr in der Schweiz.Nirgendwo habe ich eine bleibe, nirgendwo ein Zuhause. Ich ziehe herum, wie die Zigeuner (aus meinem Heimatland). Das Leben ist komisch mit so vielen Umzügen. Nichts ist konstant, alles verändert sich. Ich fühle mich manchmal als ob ich eine Zigeunerin wäre, ohne Haus, ohne Eltern, ohne nichts. Nur mit meinen bunten Kleidern und meiner Haut ziehe ich in der Welt herum und frage mich, wer ich wirklich bin. ¤

Texte sind nicht statisch; Geschriebenes ist nicht zwangsläufig in Stein gemeisselt, und wo die Finger über Tasten huschen anstatt über leere Seiten, findet sich umso schneller eine Vielzahl unterschiedlicher Versionen. Aus dem «Text» wird «Text2», «Text-def», «Text-final», «Text-FINALFINAL». Schlussendlich bildet nicht nur der Text an sich ein Gewebe: Vielmehr entsteht ein Geflecht der Textgenese mit blinden Enden, wieder aufgenommenen und weiter versponnen Fäden und zahlreichen Flicken. Selten entspricht die erste Fassung der Endfassung – der druckfertige Entwurf bleibt ein Oxymoron. Der vorliegende Text schildert auf der Handlungsebene das wiederholte Aufbrechen eines Menschen und lässt dieses Moment des Aufbruchs gleichzeitig in der synoptischen Darstellung der unterschiedlichen Versionen greifbar werden. So wird deutlich: Mit seiner Protagonistin ist auch der Text selbst aufgebrochen. Die erste Fassung (Zigeunerleben) ist der Entwurf der Autorin. Eine von der Autorin überarbeitete Version mit dem Titel Nomadenleben bildete die zweite Fassung des Textes, die wir hier aus Platzgründen leider nicht abdrucken können. Die finale Fassung (Wanderleben) zeigt den Text nach dem Lektorat. Die Publikation der Textgenese soll an dieser Stelle das Denkbild des Aufbruchs auch performativ zum Ausdruck bringen. (Jana Bersorger)


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Wanderleben Ich bin 1996 in Neumarkt am Mures in eine religiöse Familie geboren worden. Da mein Vater Pfarrer ist und er seine Gemeinden wechseln musste, sind wir oft umgezogen. Als ich vier war, mussten meine Eltern nach Deutschland ziehen und ich mit ihnen. Vom Umzug habe ich bloss den grossen Lastwagen mit all den Möbeln, den rasselnden Regen auf den Autofenstern und die unendlich lange Fahrt auf der Autobahn wahrgenommen. Nach einer Weile habe ich nur noch Deutsch mit meinen Eltern gesprochen und mich selbst als Deutsche gefühlt. So besuchte ich drei Jahre lang die Schule und fiel dabei durch meine ausgezeichneten Rechtschreibekenntnisse in der deutschen Sprache auf, wohingegen ich Mathe nie wirklich kapiert habe. Die vierte Klasse habe ich dann in Siebenbürgen besucht, weil wir wieder in das Land der grossen Tannenbäume, in das ungarische Rumänien zurück mussten. Hier sollte ich Ungarisch und Rumänisch fehlerfrei beherrschen. Deswegen habe ich meine guten Rechtschreibkenntnisse aus dem Deutschen in die ungarische und rumänische Sprache implementiert und weiterhin alle Nomen mit Grossbuchstaben geschrieben. Natürlich war alles falsch. Die fünfte Klasse habe ich wieder an einer anderen Schule absolviert, da das in Siebenbürgen so vorgesehen ist. Ich war nun keine Deutsche mehr. Und eine ungarische Siebenbürgerin auch nicht. Und eine Rumänin war ich ebenso überhaupt nicht. In mir traf sich Deutsches, Ungarisches und Rumänisches – ich war ein Gemisch unterschiedlicher Kulturen. Mit gebrochenem Ungarisch, einem üblen Rumänisch und einem guten Deutsch. Sobald ich einigermassen gut Ungarisch und Rumänisch konnte, mussten wir wieder weg. Die erste Hälfte der sechsten Klasse habe ich in Budapest angefangen und die zweite Hälfte dann in Stuhlweissenburg beendet. Bis zur achten Klasse blieb ich in derselben Schule. Und von der neunten bis zur zwölften Klasse war ich in nur einem Gymnasium – zum Glück. So habe ich zeitweise in Ungarn und der ungarischen Sprache ein Zuhause gefunden. Die meisten Leute aus meinem Dorf kannte ich persönlich. Die Beziehung zu den Nachbar*innen manifestierte sich im gemeinsamen Himbeer-,

Pfirsich- und Traubenpflücken. Beim Spazierengehen in der Innenstadt habe ich Bekannte getroffen und mit ihnen geplaudert. Ich lernte unsere Geschichte und unsere Autoren kennen. 895, 1956, 1989, 2004, 2010. Bálint Balassi, Sándor Márai, Áron Tamási, Albert Wass, Imre Kertész. Ich konnte mich im Ungarischen sowohl schriftlich als auch mündlich fehlerfrei ausdrücken. Ich habe mich einer Kultur angehörig gefühlt, die ich zugleich wegen ihrer eigenen Regeln verlassen wollte. Der Gedanke, zehn Jahre in einem Land zu leben, war unerträglich. Die Uni habe ich in Schottland angefangen. Englisch habe ich ohnehin seit der ersten Klasse in der Schule gelernt. Es machte mir nichts aus. Endlich hatte ich meine eigene Wohnung, endlich konnte ich studieren und mich Kulturen, Ländern, Bräuchen, Macht, Geschichte, Politik und Literatur aus einer wissenschaftlichen Perspektive annähern. Nun bin ich im sechsten Semester und mache ein Austauschjahr in der Schweiz. In einem Land der Kooperation und der Demokratie; in einem Land mit vier Landessprachen. Man lehrt mich de Saussure, Signifikant und Signifikat. Sprache, Wort, Bedeutung. Auf Plakaten werden Reisen nach Schottland angepriesen, Melinda Nadj Abonji gibt eine Gastvorlesung an der Uni, ich sehe das neueste Buch von Péter Nádas im Buchgeschäft Klio. Das Leben ist merkwürdig mit so vielen Umzügen. Nichts ist konstant, alles verändert sich. Manchmal fühle ich mich wie eine Wanderin, deren Identität es ist, nie irgendwo Wurzeln zu schlagen. Bin ohne Haus und ohne Familie. Nur mit einem Koffer und mit mir selbst ziehe ich in der Welt herum und frage mich, wer ich wirklich bin. ¤


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30 Wandern

Spulen Ich wecke mich Durch mein Aufwachen Meine Kleider trage ich schon Erst seit drei Tagen Zum Spätganzen Eine Messerspitze Weisswein Schrubbe mein Gesicht Mit Honigöl Einen Spiegel gibt es nicht Ich ertaste mir meine Schönheit Mit den Zehen ab Fliege von draussen nach drinnen Der 25. Monat im Jahr ist heiss Zum Glück schneien Dann immer Haferflocken Vom Boden herauf Heute sind die Büsche nicht blau Sondern lila Die betongeputzten Bäume erzählen Zukünftige Geschichten Ich bin laktosetolerant Die Muhen kühen und Die Autos sind leer Das Lenkeck hat von Hintenoben die Durchsicht Über die volle halbe Flussroute Ich steige unters Wasser Und lausche den Abgasen vor Die Nacht wird türkis Orangepissige Blumenwolken Schafherden im weichen Laub Ich kenne niemanden An vertrauten Ufern Was bringt mir schon Koffein Wenn es Zahnpasta zum Träumen gibt

– Sophie Thomas

Ich gehe hinein In den Sommer Trample mir die Füsse wund Vor lauter Wegbahnen Zielstrebig und planlos Kreuze ich Pflanzen Halme und Äste Blütenstaub bleibt an mir kleben Langsam streife ich den Winter ab Tausche ihn mit einem Blumenkleid Blauer Himmel Streift meinen Scheitel Mein Blick löst sich von dem Grün Und kehrt sich ins Innere Dort platzen gleich Die Knospen auf Pinseln meine Gedanken an Neuanstrich Man nennt es auch Frühlingsputz

Parallelität Sich neu benennen wollen Neu einspuren Einfügen Eingleisen Die eingefleischten Muster betrügen Sie hinterfragen Hintergehen Umwandlung Neue Muster Neues Modell Systemänderung Durch die zweite Identität Ein Parallelleben erbauen Um sich von sich selbst Loslösen zu können Nicht in einen Stillstand zu gelangen Ein Parallelleben Um dem Leerlauf Zu entkommen


ESIE

31 Spaltung

Illustration: Julia Hodel

Sich selber aufbrechen Zubrechen In sich hinein Brechen Ständiger Zusammenbruch Der gegenwärtigen Wirklichkeit Ineinanderbruch Zwischen Gestern Morgen Heute Aus Bruchstücken von Vergangenem schöpfen Gegenwärtiges Brechen verhindern Zukünftiger Aufbruch herbeisehend Mittels Bruch Zum ersehnten Aufbruch


Illustration: Julia Hodel

32 POE


ESIE

33

Zwiegestalt An Ufern fremder Bäche rauschen ungeahnte Chorgesänge, Umnebeln blühend seine Sehnsucht und aus trauten Weiten Frohlocken ihm Sirenen orkischer Gezeiten. Begierig neigt der Mund sich an die Klänge, Rinnt enthauptend in die Flächen Und färbt die Wasser trüber. Chimären sprechen Hinüber. Aufbruch Als dein Auge küssend in mich sank, Und tunkte die Feder ins Blut, Floss von den Flügeln das fesselnde Wachs, Brach die heilige Flut. Ruht dein Leib, von dem ich gierig trank? Und Dürstende fluchen den Satten. Charon verwebt ihn und stygischer Flachs Hüllt verblassenden Schatten.

Echo

Haltlos löst sich der Vers von der elysischen Au; In seiner Eitelkeit schluckt ihn klagend der blühende Nachruf. Nahtlos brach er da auf, in sein Gelüst und sein Grab; Tanzendes Wellenspiel schwappt aus dem Teich und beruhigt ihn sanft bald wieder. Ein Blick durch die Gestalt brach die bewahrende Scheu; Nur das Gefäss, das der Einblick zerreissen muss, schuf ihn unsterblich.

– Seraphin Schlager


POE

34

heimfahrt

ein hotel mit drei sternen

eine einsame strasse

die lichter

im radio

sind aus

Illustration: Simon Leuthold

(Wolfgang Nรถckler)


ESIE

35 Szene Sonntagnacht am Abstellgleis

Aufbruch ins Innere mit Brecheisen und Skimaske hast du dein Schweigen überfallen hast Worte zu Waffen geformt und mir an die Schläfe gehalten dein Einbruch in uns hast dich mir gestohlen und ein ich reicht nicht für ein wir

Es war zuerst nur ein Smiley auf dem vereisten Fenster des Abteils mit kaltem Finger bis der Nagel ab brach das Beissen der Zähne und das Bluten der Zunge es war dann fast ein Lächeln in den verrauchten Augen des Gesichts mit zitternden Lippen bis das Lachen aus brach

Schuss – ein Schluss blicke deinen Spuren nach ich weiss, wie deine Finger abdrücken sie sind auf meinem Rücken, meiner Haut Serifen abgefeuerter Worthülsen pressen ins Fleisch dein Punkt meine Leerstelle es klafft ein schwarzes Loch in mir spreche ich breche ich auf greife links die Taschenlampe auf steige ab in die Dunkelheit in mein Inneres hinein

(Jeannie Schneider)

das Springen der Stimme und das Klatschen der Hände es war zuletzt ein Schlag in die graue Verkleidung des Wagons mit kräftiger Faust bis die Wand auf brach

(Ruth Tuschewski)


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KRIT

Nach den Rebellionen Ninib Hanno Der Berner Klein- und Grosskünstler Matto Kämpf stellt mit seinem neuen Roman Tante Leguan seine Fähigkeit zur Satire erneut unter Beweis. Diesmal ist der ohnehin schon krisengeplagte Kulturjournalismus an der Reihe, einen ordentlichen Schlag Midlife-Crisis gibt es gratis dazu. Im Mittelpunkt des Roadmovies, das zunächst gar nicht vom Fleck zu kommen scheint, steht ein zynisches Punk-Trio in der nicht ganz so goldenen Mitte des Lebens: Hans mit dem ungepflegten Rasputin-Bart, die lesbische Lena und die Ich-Erzählerin Martina arbeiten seit einer gefühlten Ewigkeit in einer Schweizer Kulturredaktion. Sie sehen sich als Grunge-Kinder, deren Mutter der Punk ist. Um diese Mutter zu ehren, legt das Trio eine zwanghaft nonkonformistische Haltung an den Tag, die ihnen aber merklich zu schaffen macht. Für Familie oder Hobbies ist keine Zeit, stattdessen toxic routines. Sie treiben keinen Sport, sind übergewichtig, trinken viel, hatten seit längerem keine erotischen Erlebnisse mehr und fühlen sich nicht nur sonntags einsam. Als eines Tages die CD einer chinesischen Punkband namens «Tante Leguan» auf ihrem Redaktionstisch landet, wittert Hans einen Ausweg aus ihrem farblosen Alltag und schlägt vor, die Gruppe in Peking zu besuchen. Gesagt, getan. Die Zeit in China nutzt das Trio jedoch nicht viel anders als in der Schweiz. Nach dem kurzen Ausbruch werden sie zu Hause wieder mit ihrem öden Alltag konfrontiert, doch ihre Reiselust ist geweckt. So saugen sich die drei Figuren eine Mission nach der anderen aus den Fingern und besuchen La Brévine, Baden-Baden, Lyon und andere Mittelzentren. So aufregend ihre Reiseziele auch sind: Matto Kämpf zeichnet den Kulturjournalismus als Sackgasse. Die Zukunft der Kulturjournalist*innen nennt seine Ich-Erzählerin einen stählernen Besen, der alle wegfegt. Wörter wie «klickediklick», «copy-paste» oder «schwuppdiwupp» scheinen ausreichend, um kulturjournalistische Tätigkeiten zu beschreiben. Ausserdem kommen die drei Figuren in ihrer Kulturredaktion mit lediglich täglichen 90 Minuten Produktivität über die Runden. Den Freitag nutzen sie zum Kurieren ihres Katers und dem Zählen der Sekunden. In ihrer Arbeit sehen sie weder Sinn noch einen gesellschaftlichen Mehrwert, haben jedoch kein Problem damit, im fragwürdigen System mitzuwirken und es für die eigenen Vorteile auszubeuten. Konformistische Mitarbeiter*innen, die ihren Beruf ernst nehmen und in ihrer Arbeitszeit tatsächlich versuchen produktiv zu sein, verspottet das Trio: Ihr sportlicher Mitarbeiter ist der «Sportarsch», ihr Chef der «Idiot». Ist also der Anti-Mainstream der neue Mainstream? Sind Kämpfs Figuren tatsächlich noch Punk? Ist Punk tot? Schwimmt der Autor mit seinem Punkroman nicht selbst mit dem Strom und versucht aus eher pseudo-gesellschaftskritischen Aussagen Kapital zu schlagen? Wäre vielleicht eine heterosexuelle Protagonistin, die sich an konservative Werte klammert, in den von Kämpf beschriebenen Milieus nicht viel anstössiger und die stärkere Form von Rebellion? Und wen kritisiert Matto Kämpf mit seinem Punkroman hier wirklich? Ist es der Kulturjournalismus? Oder ist es die Anti-Mainstream-Punk-Haltung, die seine Figuren verkörpern? So oder so: Mit sehr wenig Handlung vermag Matto Kämpf dank seines Schreibstils zu überzeugen. Mit einer unverblümten Sprache, die mit Wortspielen gespickt ist, schafft er teils unterhaltsame Dialoge, die an Pulp Fiction erinnern und dem selbsternannten «Feel-Bad-Buch» dann doch ein paar komische Seiten hinzufügen. ¤

Matto Kämpf: Tante Leguan. 152 Seiten. Luzern: Der gesunde Menschenversand.

Die Kritik-Doppelseite der «Denkbilder» entsteht in Zusammenarbeit mit dem Seminar «Schweizer Buchjahr». Alle Rezensionen der Studierenden im Netz unter: www.buchjahr.uzh.ch


TIK Lose Enden Zwiespältig wie sein Titel ist auch die Handlung von Anna Sterns neuem Roman. Wild wie die Wellen des Meeres tönt nach kitschiger Liebesgeschichte, nimmt es aber mit dem Auf und Ab einer spätmodernen Beziehung auf. Der bereits dritte Roman der 1990 in Rorschach geborenen Autorin und ETH-Doktorandin Anna Stern verhandelt die Beziehung eines jungen Liebespaares, die auf einem wackeligen Fundament steht. Die Autorin nimmt ihre Leser*innenschaft mit in einen Strudel aus Gefühlen, der von Verwirrung über Entscheidungskonflikte bis hin zum drohenden Beziehungsende reicht. Schauplatz der Handlung ist ein Ort am Bodensee in der Schweiz, wo sich die diffuse Liebesbeziehung der Hauptfiguren Ava und Paul entwickelt. Trotz des «guten Lebens», das sie als Biologiestudentin und Polizist führen, befinden sie sich in einem Beziehungskonflikt. Durch Avas Praktikum im Nordwesten Schottlands droht die zunehmende Distanz zwischen den beiden sich auch räumlich zu materialisieren. Dabei ist es vor allem Ava, die von Unsicherheiten und Bindungsängsten geplagt ist. Ava ist Paul intellektuell überlegen und möchte ihre wissenschaftliche Karriere frei verfolgen können. Sie wird oft als schroff dargestellt: «Nur damit du Bescheid weisst, sagt sie, ich gehe. Zu Elsa. Ich brauche etwas Zeit, etwas Raum.» Paul kämpft bis zum Schluss um Avas Liebe. Den Leser*innen wird von Seiten Avas ein Konglomerat an Widersprüchlichkeiten offenbart. Nicht selten wirft sie fragwürdige Kommentare ein, die teilweise zum Nachdenken anregen, aber häufiger zu Verwirrung führen, weil der Kontext fehlt: «Die Existenz von Altruismus, sagt Ava, ist ein Problem für Darwins Theorie der Evolution. Das musst du mir erklären, sagt Paul. Ein andermal, —————————— sagt sie.» Neben der Spannung, die Anna Stern: evoziert wird, fragt man sich als Wild wie die Wellen des Leser*in, warum solche Stellen Meeres. nicht vertieft werden und statt320 Seiten. dessen lediglich an der Oberfläche Zürich: Salis. kratzen. Die anfängliche Spannung, —————————— die diese Leerstellen erzeugen, weicht zunehmend der Verlockung des Überblätterns. Vom zunächst befürchteten Kitsch ist der Roman damit weiter entfernt als seine Hauptfiguren voneinander. Von der offenbar beabsichtigten emotionalen Wirkung auf die Leser*innen, die viel zu lange auf das Happy End warten müssen, leider auch. ¤ Gloria Hölzer

39 Menschen am Abgrund Ein Unfall, der keiner ist, setzt in Nico Stoifbergs Debütroman Dort eine Kettenreaktion in Gang, die nicht nur die Figuren an den Rand ihres Fassungsvermögens treibt. Ein Schweizer Thriller mit literarischem Anspruch? Sebi hat einen Lauf. Der junge, gutaussehende Landschaftsgärtner steht mit seinem Öko-Lifestyle-Projekt Nature directe kurz vor Eintritt in die Cervelatprominenz. Fehlt nur noch die passende Frau. Diese findet er, so ist er überzeugt, in Lydia, die ihm zufällig über den Weg läuft. Um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, stösst er ihren kleinen Bruder in den See, damit er anschliessend aus einer Baywatch-mässigen Rettungsszene als Held hervorgehen kann. Die Aktion führt jedoch zum Tod des Jungen. Was Lydias Interesse anbelangt, entpuppt sich Sebis Tat dennoch als erfolgreich: Beide kommen sich näher. Gewissensbisse und die Frage, ob man fürs eigene Glück jemand ins Unglück stürzen darf, lassen den Ich-Erzähler Sebi nicht mehr los und stellen die Beziehung auf eine harte Probe. Eine Reihe unglücklicher Zufälle zwingt Sebi zu einer Auszeit, um nachzudenken und sich mit seiner Tat auseinanderzusetzen. Aus Nature directe wird le tour direct in eine Gefangenschaft, aus der jede Flucht unmöglich ist. Dort – so der Titel des Romans – ist ein Ort, der Sebis abgründige Psyche widerspiegelt. Abgeschottet und von anderen Rechten, Regeln und Normen beherrscht, ist dieser Ort geographisch grotesk und legt psychische und auch moralische Abgründe frei. Dort werden die Rollen neu vermischt und verteilt, Gut und Böse werden ununterscheidbar, Realität und Alptraum verschmelzen. Die Stärke des Romans liegt primär in der Spannung, die sich konstant aufbaut. Überraschende Wendungen und schockierende Enthüllungen ziehen die Leser*innen in den Bann des Thrillers und konfrontieren diese mit ethischen Dilemmata. Am Schluss ergibt sich ein Puzzle, das viel grösser und —————————— verworrener ist, als man anfangs Niko Stoifberg: erwartet. Der Ich-Erzähler Sebi legt Dort. sein Inneres frei. An ihn gebunden, 280 Seiten. befindet sich die Leser*innenschaft Zürich: Nagel & Kimche. auf dem Rücken eines Antihelden, —————————— der aufgrund moralisch unvertretbarer Ansichten und ambivalenten Verhaltens als Figur unsympathisch und als Erzähler unzuverlässig erscheint. Gefiltert durch Sebis Wahrnehmung und gefesselt seinem Bewusstseinsstrom ausgeliefert, werden beim Lesen auch unsere eigenen Gedanken verwirrt. Es ist ein Spiel mit der menschlichen Psyche; eine Strapaze, die man wollen muss, um sie zu mögen. ¤ Laura Hertel


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KOLU

Falsche Zitate Seltene Tropen #8 Philipp Auchter «Qu’ils mangent de la brioche!», soll Marie-Antoinette einst auf die Nachricht entgegnet haben, dass ihre Untertan*innen kein Brot mehr zu essen hätten. Der Spruch legt die ganze Arroganz der französischen Königin offen und zeigt die Dekadenz, für welche sie schliesslich unter der Guillotine endete. Dumm nur, dass es sich bei dem Spruch um eine Erfindung handelt. Bereits 1765, als Marie-Antoinette noch ein 10-jähriges Mädchen war und in Österreich lebte, taucht er in Jean-Jacques Rousseaus Confessions auf, hier einer anonymen Prinzessin in den Mund gelegt. Pech gehabt. Aber Geschichte ist nun mal die Lüge, auf die wir uns alle geeinigt haben; sagt Napoleon – oder war es Voltaire? Auf quoteinvestigator.com lässt sich die Genese dieses Zitats recht genau nachverfolgen. In seinen Gesprächen mit dem Comte de Las Cases auf St. Helena wird Napoleon folgendermassen zitiert: «Cette vérité historique, tant implorée, à laquelle chacun s’empresse d’en appeler, n’est trop souvent qu’un mot: elle est impossible au moment même des événements, dans la chaleur des passions croisées; et si, plus tard, on demeure d’accord, c’est que les intéressés, les contradicteurs, ne sont plus. Mais qu’est alors cette vérité historique, la plupart du temps? Une fable convenue, ainsi qu’on l’a dit fort ingénieusement.»1 Was Napoleon tatsächlich gesagt haben soll, paraphrasiert das bis heute geläufige Bonmot also gar nicht so ungenau. Nur dass Napoleon seinen Gedanken eben deutlich auf anderen ›genialen‹ Sentenzen abstützt, die in diesem Fall auf Voltaire und – früher noch – auf de Fontenelle zurückgehen.2 Vielleicht aber wollten wir es gar nicht so genau wissen. Das Ensemble von Zitat und Urheber*in gehört nun mal zum Kunstwerk dazu. Ihren Wahrheitsanspruch reklamieren solche Zitate ja gerade über die Autorität bedeutender Menschen (meistens Männer), denen alleine durch ihren allgemein bekannten Wirkungskreis ein privilegierter (und oft prophetischer) Zugang zur Wahrheit zugesprochen wird. Dieser Effekt, dass sich an einzelnen Figuren der Weltgeschichte die Fülle an Weisheit wie in Wolken zu verdichten scheint, und sich darüber hinaus mit Anekdoten verbindet (man denke an Newton und seinen Apfel), lässt eine Logik der Überlieferung zutage treten, die wohl auch bei Religionen am Werk gewesen sein musste.

Fotografiert auf einer öffentlichen Toilette, getweetet von Philosophy Matters am 02.09.2018, geht zurück auf ein Street-Art-Werk von Banksy vom 08.10.2013 auf einer blauen Tür an der Freeman Street 266-270, Brooklyn, NY. Im Feld der postreligiösen Wahrheiten eignen sich indessen nur wenige so trefflich zum Bürgen für kritische Einsichten wie Albert Einstein, der nicht nur zum Prototypen des genialen Wissenschaftlers, sondern darüber hinaus als witziger und kritischer Geist zur Pop-Ikone wurde. Kein Wunder werden ihm bis heute alle möglichen Zitate zugesprochen: «Wenn die Bienen verschwinden, hat der Mensch noch vier Jahre zu leben», hat Einstein nicht einmal annähernd gesagt. Und auch «Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit. Aber beim Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher» stammt leider nicht von ihm.3 Die falsche Zuschreibung erhält hier komödiantische Züge. Man denke an den Witz: «Gott ist tot» – Nietzsche. «Nietzsche ist tot» – Gott. Gerade in solchen Fällen, in denen die Urheberschaft eines Zitats offensichtlich fingiert ist, entwickelt die Textsorte ihr kreatives Potenzial. Das leichtsinnige Spiel mit der Autorschaft einer historischen Figur gelangt zur parodistischen Kür; man denke nur an Thomas Bernhard oder Daniel Kehlmann. Hier endlich atmet das falsche Zitat eine poetische Freiheit, die sich das korrekte Zitat nicht leisten kann. Zitate sind nicht unbedingt besser, nur weil sie richtig sind. So Goethe. ¤ 1 Mémorial de Sainte Hélène – Journal de la Vie Privée Conversations de l’Empereur Napoléon, à Sainte Hélène par Le Comte de Las Cases, Vol. 7, Londres 1823, S. 238. 2 «What Is History But a Fable Agreed Upon?», auf: quoteinvestigator.com [25.03.2019]. 3 Martin Rasper: «No Sports» hat Churchill nie gesagt – Das Buch der falschen Zitate, Salzburg 2017.


Illustration: Julia Costa

UMNE 41


Illustration: Julia Hodel

42 SEMINAR


RLEITUNG

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Haikus als Handlungsträger Zürcher Poetikvorlesung 2019 mit Marion Poschmann Barbara Naumann Alljährlich richtet das Deutsche Seminar der Universität Zürich gemeinsam mit dem Literaturhaus die Zürcher Poetikvorlesung aus. In diesem Jahr wird die Schriftstellerin Marion Poschmann Einblicke in ihr Werk und ihre Arbeitsweise geben. Marion Poschmann hat mit ihrem letzten Roman, Die Kieferninseln (2017), Furore gemacht. Mit ihrer zugleich ernsthaften und subtilen, humorvollen und «knisternd-klugen» (Paul Jandl) Sprache zieht sie ihre Leser*innen immer wieder in den Bann. Zu ihrem Werk gehören zahlreiche Romane und Lyrikbände, aber auch essayistische Erkundungen der Dichtung. Das Themenspektrum der Marion Poschmann ist weit: Von der Reise eines suizidalen japanischen Jugendlichen und seines europäischen Begleiters, einem Bartforscher, zum scheinbar idealen Ort für das finale Vorhaben der Selbsttötung (Die Kieferninseln) führt es zu den seltsamen Begebenheiten in einer psychiatrischen Anstalt nach der deutschen Wiedervereinigung (Die Sonnenposition); die Lyrikerin schreibt ebenso über den Coney Island Lunapark bei New York wie über die Strassenbäume vor der Haustür in Berlin (Geliehene Landschaften; Laubwerk. Zur Poetik des Stadtbaums). Bei aller Verschiedenheit der Themen, Orte und Handlungen lassen sich wiederkehrende Fragestellungen erkennen, etwa diejenige nach der der Beziehung des vielseitig gefährdeten Naturschönen mit den Möglichkeiten der Dichtung und des literarischen Erzählens. Diese Beziehungs-Problematik läuft wie ein roter Faden durch ihre Texte: Aomori. Ôsaka. Tottori. Kannst du ortskundig sein und doch sinnlosen Sehnsüchten folgen, dir selber Auskunft verweigern, böse, genial? (Aus dem Gedicht «Schwarze Schildkröte des Nordens») Zum Zusammenspiel von Natur, Schönheit und Sprache gehört für die Autorin ebenso das Zusammenspiel von Prosa und Lyrik. Marion Poschmann dichtet in beiden Gattungen, wobei die eine die andere nie ganz loslässt. Im Roman Die Kieferninseln etwa lässt sie den Haikus des berühmten Basho eine zusehends handlungstragende Rolle zukommen. Zu Recht hat man Marion Poschmann eine Meisterin der genauen Komposition genannt. Subtil und raffiniert, mit genauer Beobachtungsgabe und stets mit Ironie und Witz gepaart, entwickeln ihre Texte Rhythmus und

© Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag

Faszination. Lyrik und Prosa interagieren in einer genauen, dicht gefügten Sprache, die immer wieder überraschende Funken schlägt. Für ihre Lyrik und Prosa erhielt die Autorin zahlreiche Auszeichnungen, darunter das Romstipendium der Deutschen Akademie Villa Massimo 2004, den PeterHuchel-Preis und den Ernst-Meister-Preis 2011, den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2013, den zum ersten Mal verliehenen Deutschen Preis für Nature Writing 2017, sowie den Düsseldorfer Literaturpreis 2017 und zuletzt den Berliner Literaturpreis 2018. Marion Poschmann ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, der Hamburger Akademie der Künste und des PEN-Zentrums Deutschland. Im März dieses Jahres wurde die englische Übersetzung des Romans Die Kieferninseln, The Pine Islands, auf die Longlist des Man Booker International Prize gesetzt. ¤

Marion Poschmann hält im Herbstsemester 2019 die Poetikvorlesung im Literaturhaus Zürich ab. Die Vorlesung ist öffentlich und findet an folgenden Tagen statt: 7.11. / 14.11. / 21.11., jeweils ab 20 Uhr. Jeweils am Folgetag (8.11. / 15.11. / 22.11.) finden ab 10:15 Uhr Werkstattgespräche am Deutschen Seminar der UZH statt.


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IMPRE

Autor*innen und Illustrator*innen

Philipp Auchter schreibt seine Dissertation zur literarischen Parabel nach 1945. Julia Costa pendelt seit (fast) hundert Jahren zwischen Innsbruck und der Schweiz hin und her, schreibt Texte, Gedichte, Lieder, singt, spielt Gitarre dazu (wenn’s sein muss), liebt lebendige Dinge wie Farne, Wolken und Vögel und zeichnet ab und zu aus Versehen Tiere. // julia-costa.net Nadia Guddelmoni liest nicht nur gerne zwischen Zeilen, sondern auch zwischen ganzen Texten. Schreibt in Realität weniger als in Gedanken. Anna Henkel möchte gerne im nächsten Leben als Banane wiedergeboren werden. Die Zukunftsaussichten dafür sehen gut aus. Julia Hodel lebt ausserhalb von Zürich, studiert im Master Art Education an der ZHdK und findet sprachhafte Bilder, bildhafte Sprache sowie jegliche Art des menschlichen Ausdrucks essenziell. Daniela Huber schreibt gerne über entlegene Orte und Figuren, die sich dort finden und verlieren. In ihrem Skizzenbuch finden sich vor allem Gestalten, die aufbrechen und davonlaufen. Zwischendurch auch Felsen oder Bäume. Sie lebt in Zürich, wäre aber die meiste Zeit gerne woanders. Patrizia Huber hat ihre besten Einfälle beim Pendeln von Bern nach Zürich, spricht noch nicht Elbisch und träumt davon, in einem roten Häuschen in Schweden zu wohnen.

Jana Bersorger Leiterin Lektorat

bitterer abschied ist im aufbruch verschlungen mit neuen ufern

Sanne Jacobs Redaktion

ich breche jetzt auf das klima wandelt davon bis hier, nicht weiter

Lukas Keller Redaktionsleitung, Kommunikation

wieder und wieder ganz von vorne anfangen alles wie gewohnt

Katharina Werner Online, Insertion

eigener aufbruch nach drei ausgaben geh’ ich adeemässi, tschüss

Johanna Jakab hat schon in fünf Ländern gelebt und nie mehr als sieben Jahre in einem Land verbracht. Momentan ist sie Austauschstudentin in Zürich und studiert Germanistik und Politik. Sie glaubt, dass die einzige Konstante im Leben der Wandel ist.

Seraphin Schlager schreibt lieber als er liest, liest besser als er schreibt. Seit 2012 Student der Germanistik und Philosophie an der Universität Zürich, die anderen 100% seiner Zeit auf oder hinter der Bühne – das Theater ist eine grosse Leidenschaft.

nimbon lebt und arbeitet in Zürich und verbringt den Grossteil des Tages damit, am Bürotisch zu sitzen, aus dem Fenster zu starren und sich zu überlegen, welche witzigen Comics er/sie in dieser Zeit stattdessen zeichnen könnte.

Jeannie Schneider hat etwas verloren und versucht sich jetzt im (Er-)Finden.

Wolfgang Nöckler wohnt in Innsbruck, pendelt regelmässig zwischen den Welten (die Alpen jedoch überquert er in der Regel ohne Elefant); schreibt quer durchs Beet (ausser Gebete) – in Deutsch oder (Teldra) Dialekt.

Sophie Thomas ist letzten Sommer aufgebrochen, um ein Semester in Hamburg zu studieren, Germanistik und Theaterwissenschaft, und wird im Sommer in Bern abschliessen. Wohin es sie nachher verschlägt, ist noch unklar – aber ein Bruch kommt bestimmt.


ESSUM

45 Online www.denkbilder.uzh.ch

zum dichten bleibt mir (konferenz in NYC) leider keine zeit

Ursina Füglister Finanzen

Mail denkbilder@ds.uzh.ch

Layout das leben ist ein zusammenbruch, abbruch und aufbruch in die welt

Johanna Jakab Veranstaltungen

Simon Leuthold, Zürich

Webdesign Thierry Seiler, Zürich

ich dachte halt nicht dass «kopieren» alles löscht asche auf mein haupt

Simon Leuthold Redaktionsleitung, Gestaltung

Cover Anna Henkel, Bern

Adresse Denkbilder, Deutsches Seminar Schönberggasse 9 8001 Zürich Ruth Tuschewski Geboren und aufgewachsen im kalten Schwarzwald. Ihre ersten Erzählungen handelten von Waldzwergen und Sonnenstaub. Sie sieht sich selbst eher als Lesende, hat sich lange in Büchern versteckt, dann aber angefangen, in Wandschränken nach Narnia zu suchen. Christoph Uiting studiert Mediävistik, Germanistik und Mittellatein; prüft lebende und tote Sprachen gern auf Herz und Nieren. Larissa Waibel lebt in Winterthur und studiert in Zürich Germanistik & Anglistik. Sie schreibt Kurzgeschichten, Gedichte, To-Do-Listen, Geburtstagskarten und Einkaufszettel und – wer weiss – vielleicht einmal einen Roman. Eigentlich wäre sie lieber am Meer.

Druck ropress, Zürich

Inserate insertion.denkbilder@gmail.com

Auflage 500 Exemplare, erscheint zweimal jährlich im Frühjahr und Herbst. ISSN: 2235-7807

Die Denkbilder erscheinen mit der freundlichen Unterstützung des Deutschen Seminars der Universität Zürich.


Master of Arts Kulturanalyse/Cultural Analysis

Major (90 ECTS Credits) und Minor (30 ECTS Credits) Kultur begegnet uns nicht nur in kulturellen Artefakten und Praktiken, sondern zeigt zugleich, wie sich das Wissen über die Welt und über uns selbst bildet. Kulturanalyse erforscht die Vielfalt dieser Gestaltungen in theoretischen und interdisziplinären Perspektiven. Sie diskutiert Kultur im Verhältnis zu gesellschaftlichen Machtstrukturen und erschliesst die aktuellen Debatten um den Stellenwert von Kultur. Das Studium des MA Kulturanalyse ist als Major (90 ECTS Credits) als Minor (30 ECTS Credits) möglich. Voraussetzung ist ein Bachelor von 180 ECTS Credits. Studienbeginn ist im Herbstsemester.

Organisation

Das theoretisch und interdisziplinär ausgerichtete Studienprogramm wird von Vertreterinnen und Vertretern eines breiten Spektrums von Fächern der Philosophischen Fakultät getragen. Sie bilden den Beirat und sind hauptverantwortlich für die Lehre. Das Lehrangebot wird durch Crosslistings von Lehrveranstaltungen innerhalb der Philosophischen Fakultät erweitert.

Beirat Prof. Dr. Elisabeth Bronfen (Englisches Seminar) Prof. Dr. Frauke Berndt (Deutsches Seminar - Neuere Deutsche Literaturwissenschaft) Prof. Dr. Monika Dommann (Historisches Seminar) Prof. Dr. Davide Giuriato (Deutsches Seminar - Neuere Deutsche Literaturwissenschaft) Prof. Dr. Svenja Goltermann (Historisches Seminar) Prof. Dr. Liliana Gómez-Popescu (Romanisches Seminar) Prof. Dr. Gesine Krüger (Historisches Seminar) Prof. Dr. Bärbel Küster (Kunsthistorisches Institut) Prof. Dr. Fabienne Liptay (Filmwissenschaftliches Seminar) Prof. Dr. Angelika Linke (Deutsches Seminar - Sprachwissenschaft) Prof. Dr. Klaus Müller-Wille (Deutsches Seminar - Nordische Philologien) Prof. Dr. Dorota Sajewska (Slavisches Seminar) Prof. Dr. Philipp Sarasin (Historisches Seminar) Prof. Dr. Sylvia Sasse (Slawisches Seminar) Prof. Dr. Simon Teuscher (Historisches Seminar) Prof. Dr. Ingrid Tomkowiak (Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft - Populäre Kulturen) Prof. Dr. Bernhard Tschofen (Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft- Populäre Kulturen) Prof. Dr. Tristan Weddigen (Kunsthistorisches Institut) Prof. Dr. Sandro Zanetti (Romanische Seminar – Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft)

Information / Koordination kulturanalyse@ds.uzh.ch, www.kulturanalyse.uzh.ch, Schönberggasse 2, Raum A-09A, 8001 Zürich


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