Kultur Campus
06. — 08. April 2017 N FÜHRU
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O G RA M M R P M U Z T IT R FREIER EINT *Im Vorverkauf an der Theaterkasse nach Verfügbarkeit; ausgenommen sind Premieren. Gültig vom 6. bis 8. April 2017.
Editorial Zum Thema Gewalt fallen mir – im Gegensatz zu anderen und anderem – unzählige Dinge ein. Darunter finden sich, wenn ich sie sortiere und sorgfältig vor mir auf den Tisch lege, um sie besser beäugen zu können: ein Glas, eine Freundschaft, ein Blick, eine Figur und ein Besuch im Kunsthaus. Die Geschichte mit dem Glas ist mit dem Blick (hier aber von aussen) und der Figur zu verbinden und geht so: Meine Freundin trägt plötzlich einen Verband um ihre zarte linke Hand und weiss den Vorfall, der sich an einem späten Sommerabend ereignet, wie immer mit wachen Augen und flinken Gesten zu berichten. Im Nachhinein, denkt man, ist bestimmt vergessen gegangen, dass die Geschichte so eigentlich gar nicht aufgehen kann, und bevor man darüber ernstlich in Zweifel geraten müsste, erfolgt ein zweiter Erzählanlauf, etwa ein halbes Jahr später. Das Glas liegt in der ersten Version im Gras, zerbrochen, und zerschneidet meiner ungelenken Freundin die Handinnenfläche; in der zweiten aber ist es die starke Hand selbst, welche das Glas zertrümmert. Canetti, dessen Grab besagte Freundin und ich nicht ungern aufsuchen und davon unangebrachte Snaps mit krakeligen Botschaften verschicken, schreibt über eine Figur von Wotruba, dass deren hinter dem Rücken verborgen gehaltene Hand eigentlich die desjenigen ist, der sie aus Basalt schlägt: Der Bildhauer wird in der Beschreibung zum Gefangenen seiner selbst, der die Furcht vor der Möglichkeit der eigenen Brutalität am Stein abarbeitet. – Als ich am neunzigsten Geburtstag meiner wunderbaren Grossmutter erfahren habe, dass Äpfel bei ihr bisweilen auch als Wurfgeschosse Verwendung gefunden haben und über Ähnlichkeiten zur eigenen Person nicht ganz unbesorgt war, dachte ich an die schönste aller Freundschaften und wie sie Raum zur Wut lässt und wie alles mit allem zusammenhängt. Ach, der Besuch im Kunsthaus: Da haben wir darüber gesprochen, dass sich Giacomettis kümmerliche Männerkörper immerhin vorwärtsbewegen können, während die weiblichen Figuren so feststehen, als wären ihre Fersen ungeschickt an den Seiten zusammengeleimt und vielleicht noch an den Wänden der beiden grossen Zehen. Wenn auch beide Not empfinden, ist es dennoch bezeichnend, dass nur die eine Fragilität den Anschein erweckt, vor sich selbst davonlaufen zu können, während die andere in ihrer ganzen schweren Stummheit leiden muss. – Davon abgesehen war es, habibi, der schönste Tag. Unsere neue Ausgabe versetzt das schwache Herz in Aufruhr, weil sie etwa den gewaltigsten aller Blicke verhandelt, nämlich den des Zurückschauens (hier kommt mir unweigerlich Grillparzers Barbara in den Sinn und überhaupt diese schmerzhaft schöne Schlussszene), mit dem das Schreiben ja überhaupt erst beginnt. Mein Gespräch mit Franziska Frei Gerlach zur nicht immer nur subtilen Verbindung von weiblicher Autorinnen*schaft und Gewalt schliesslich ist eine weitere Herzensangelegenheit: She knows I’m her biggest fan.
I want money and all your power, all your glory
Es ist also ein ziehendes Herz, mit dem ich mich in eine neue Zeit verabschiede, cyborging all day long, Nadia Brügger
Denkbilder Das Germanistikmagazin der Universität Zürich Frühjahr 2017 – «Gewalt»
2012 habe ich das letzte Mal geweint Franziska Ranner
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verlassen / präteritum Thordis Wolf
25 ESSAY
«Feuersgew[alt]» Oliver Grütter 6
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DS
D É E SSE
Das Unerreichbare denken Ein Gespräch mit Franziska Frei Gerlach
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Genese aus Gewalt Tim Huber 8
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11 PO ESI E
Die menschliche Komödie Tanja Brawand 12
Kalifornischer Orpheus Sebastien Fanzun
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Der Kampf als Schauspiel Lukas Keller
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I LLUSTRATI O N
[ Illustration ¯ Normal Gergely ]
Normal Gergely Hannah Raschle Tobias Willa
Cécile und ihre Freunde Judith Keller 17
Seltene Tropen Philipp Auchter
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Die Seminarleitung informiert
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Autor*innen
«Feuersgew[alt]» Literatur Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Hg. von Friedrich Beißner und Adolf Beck. Stuttgart 1943–1985 [= StA]. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von D. E. Sattler. Frankfurt a. M. 1975–2008, Bd. 7 und 8 [= FHA]. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von Jochen Schmidt. Frankfurt am Main 1992–1994, Bd. 1 [= KA]. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Michael Knaupp. 3 Bde. München und Wien 1992 f., Bd. I [= MA]. Herbert Kraft: Die Geschichtlichkeit literarischer Texte. Eine Theorie der Edition. Bebenhausen 1973. Stefan Metzger: Editionen. In: Johann Kreutzer (Hg.): Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2002, 1–12.
Philologie und «schriftverlust» Denn vieles vermag Und die Fluth und den Fels und Feuersgew[ a[ ]h Bezwinget mit Kunst der Mensch Und achtet, der Hochgesinnte, das Schwerdt Nicht, (FHA 7, 134)
Zu Beginn der 90er Jahre legte Michael Knaupp eine dreibändige Hölderlin-Studienausgabe vor, die gegenüber den bisherigen mit «eine[m] Novum» aufwartete (Stefan Metzger): Knaupp präsentierte die Texte in ihrer historischen Orthographie. Während also Jochen Schmidt, der zur selben Zeit eine Studienausgabe für den Deutschen Klassiker Verlag besorgte, zum Beispiel «Flut» oder «Schwert» setzt, gibt Knaupp die fraglichen Ausdrücke aus Am Quell der Donau mit Rücksicht auf die bei Hölderlin überlieferten Endungen ‹th› bzw. ‹dt› wieder:
Bildlegende und Bildnachweis Abb. 1: Detail der Handschrift (333 /1: 44 f.). Bildrechte: Württembergische Landesbibliothek Stuttgart.
Wenn es auch kein Feuer war, dem der Versschluss hier zum Opfer gefallen ist: Dass just am Morphem ‹-gewalt› die Verwundbarkeit des Textträgers aufscheint, ist von besonderem Reiz. Ebenso aber, dass die Gnome «vieles vermag [...] der Mensch» sich auch für den editionswissenschaftlichen Umgang mit dem «schriftverlust» bewahrheitet: «vieles vermag» die Philologie. Sie wird zur «Kunst», die es, allen Widrigkeiten («Fluth», «Fels») zum Trotz, «de[m] Mensch[en]» möglich macht, den Wortlaut des lädierten («Schwert») Texts immerhin zu rekonstruieren («bezwingt»). Es ist denn auch das Lesenlernen, das Hölderlin im Prosa-Entwurf zu Am Quell der Donau thematisiert: und zu sehen übten die Augen sich und zu lesen die Sylbe der Schriften (MA I, 351). Und zwar, so liesse sich ergänzen, gerade auch «die Sylbe» «zu lesen», die dem Blick bereits entzogen ist: «Feuersgew[alt] a[uc]h» (FHA 8, 581).
Denn vieles vermag Und die Fluth und den Fels und Feuersgewalt auch Bezwinget mit Kunst der Mensch Und achtet, der Hochgesinnte, das Schwerdt Nicht, (MA I, 322) Denn vieles vermag Und die Flut und den Fels und Feuersgewalt auch Bezwinget mit Kunst der Mensch Und achtet, der Hochgesinnte, das Schwert Nicht, (KA I, 352)
[ Text ¯ Oliver Grütter ]
In der Gegenüberstellung dieser Textrepräsentationen deutet sich die mediale Spannung, die Knaupps Ausgabe eignet, in besonderer Weise an: das Zugleich von Distanz und Nähe. Distanz, da die Wahrung der hölderlinschen Orthographie, mit Herbert Kraft gesprochen, die «Geschichtlichkeit» des Textes sinnfällig macht; und umgekehrt Nähe, weil sich gerade an die historische Orthographie die Verheissung knüpft, der Text würde einer interessierten Öffentlichkeit (erst) so ungefiltert zugänglich. Ein Blick in die Erläuterungen der Großen Stuttgarter oder in den «dokumentarische[n] teil» der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe offenbart nun allerdings: Knaupp gibt in den zitierten Versen mehr wieder als das, was materiell greifbar ist. «Feuersgewalt auch» ist in dieser Form handschriftlich nicht beziehungsweise nicht mehr überliefert. Das in FHA 7, 134 faksimlierte Doppelblatt im Folioformat zeigt, so wird D. E. Sattler im «editorische[n] teil» des achten Bandes diagnostizieren, «eine[n] schriftverlust durch papierabriß». Zu lesen bleibt nurmehr:
Denkbilder
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Essay
[ Text ¯ Tim Huber ]
Genese aus Gewalt Sage Homme These are the poems of Eliot By the Uranian Muse begot; A Man their Mother was, A Muse their Sire. How did the printed infancies result From Nuptials thus doubly difficult? If you must needs enquire Know diligent Reader That on each Occasion Ezra performed the caesarean Operation.
Reflexion eines traumatischen Entstehungsprozesses in T. S. Eliots The Waste Land [ Illustration ¯ Tobias Willa ]
Mit diesem Gedicht gedachte Ezra Pound den Briefwechsel zwischen ihm und T. S. Eliot abzuschliessen, in der festen Überzeugung, dass Eliots Gedicht The Waste Land, welches er redigierte, seine Vollendung gefunden habe: «Complimenti, you bitch. I am wrecked by the seven jealousies» heisst es nur wenig oberhalb im Brief – die wohl etwas vulgärere, nicht minder begeisterte Phrasierung dafür, dass Eliot hier zweifelsohne ein Meister*werk geglückt sei, womit Pound dann auch Recht behalten sollte. Dass der Briefwechsel trotzdem fortdauerte, ist Eliots eigener kreativen Unsicherheit während des poetischen Entstehungsprozesses zu verdanken, ja eine richtige Orientierungslosigkeit ist angesichts des gewaltigen, eigens entworfenen intertextuellen Gewebes diagnostizierbar. Eliots ehrgeiziges Projekt, aus dem Ödland der toten Literatur poetische Frühlingsblüten treiben zu lassen, scheint ihn in der späten Entstehungsphase zu überfordern. Der Aprilflieder, der gemäss einem der berühmtesten Gedichtsanfänge aus der toten Erde treiben soll, so legt es der Briefwechsel nahe, will nicht recht gedeihen. Hier kommt Pound ins Spiel, der selbsternannte mäeutische Chirurg. Denn wo Eliot die Übersicht über das eigene poetische Gewucher verloren hat, greift Pound beherzt zum korrigierenden Skalpell und schlägt Wunden ins Eliot’sche Typoskript, so dass dessen Waste Land endlich zu blühen beginnt. Der gut dokumentierte Briefwechsel und das Typoskript dieser Textgenese sind also nicht nur Zeugnisse einer Schaffenskrise und Beleg einer dualen Autor*innenschaft (stellen also insofern auch eine Problematisierung des klassischen Autor*innenverständnisses dar), sondern überliefern auch die gewalttätigen Mutilationen Pounds am Text, ohne welche Eliots Gedicht wohl nie entstanden wäre. Gewalt und Genese sind bei The Waste Land also untrennbar miteinander verflochten. Die Brutalität, welche die Blüten der Poesie erst hervortreibt, ist dem Gedicht – und diese Selbstreflexivität soll im Folgenden interessieren – dann auch in Form der prominenten Eingangszeilen eingeschrieben:
April ist the cruellest month, breeding Lilacs out of the Dead land, mixing (1–2)
Wie also inzwischen klar geworden sein dürfte, verdankt sich die endgültige Form eines der bedeutsamsten englischsprachigen Gedichte des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt auch den Eingriffen Pounds. Dieser scheint nicht nur mutig zusammengestrichen und gekürzt zu haben, sondern ebenso die Organisation des Textverlaufs übernommen zu haben, sobald Eliot die eigene Dramaturgie mehr und mehr entglitt. So ist dem Briefwechsel ebenfalls zu entnehmen, dass die Abfolge der einzelnen Tableaus und Zitate offenbar durch Pound angeregt war. Dieser beharrt in einem Schreiben auf folgendem Ablauf: «The thing now runs from ‹April …› to ‹shantih› without a break. That is 19 pages, and let us say the longest poem in the English langwidge.» Man wird hier wohl Zeug*in einer poetischen Realität: Der museninspirierte Eliot war vielleicht zu inspiriert, um sein Gedicht in dramaturgischer Prägnanz zu realisieren, dazu brauchte es ebenso die Pound’schen Kaiserschnitte. Denkbilder
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Essay
Betrachtet * aber die von Pound redigierten Typoskripte, so kommt * nicht umhin, die «caesarean Operation» als euphemistische Selbstverharmlosung eines gewaltsamen Textmassakers anzusehen. In der Faksimilierung des Typoskripts wird geradezu augenscheinlich – so dünkt es d* Betrachte* zumindest –, weshalb das Gedicht den Titel The Waste Land völlig zu Recht trägt: Die Pound’schen Mutilationen haben eine einzige textuelle Narbenlandschaft hinterlassen. Doch wie reflektiert dies nun das Gedicht? Ist das Gedicht als polyphone Verflechtung von zahllosen Intertexten an sich genommen schon Beleg für eine Poetologie einer Fruchtbarkeit der Gewalt, so ist dem Frühlingsbeginn selbst, der Leben aus dem toten, anorganischen Boden entstehen lässt, diese in den ersten Versen erst recht eingeschrieben; wichtig wird aber auch das «mixing», mit welchem die zweite Verszeile endet. Hier reflektiert der Text seine eigene intertextuelle Bricolage als gewaltsamen Prozess, überhaupt stellt er als Textganzes eine Art frankensteinisches Monstrum dar, welches sein artifizielles Leben der Entnahme und Juxtaposition von Fragmenten aus verstümmelten, toten Urtexten verdankt. Einen noch höheren Ausdruck der Selbstreflexion eröffnet sich d* Lese*, isoliert * den Philomela- und Prokne-Mythos, Zitat aus Ovids Metamorphosen, welches geradezu ausgezeichnet ist, Textgenese und Trauma reflektierend zu verbinden:
The change of Philomel, by the barbarous king So rudely forced; yet there the nightingale Filled all the desert with inviolable voice (99–101)
Durch ihren Schwager, König Tereus entführt, vergewaltigt und verstümmelt – Tereus schneidet ihr die Zunge heraus, um eine Anklage zu verunmöglichen –, verwebt Philomela die Geschichte ihres erfahrenen Leids in einen Teppich, durch welchen ihre Schwester Prokne von der abscheulichen Tat ihres Mannes erfährt. Sie tötet darauf den gemeinsamen Sohn, setzt ihn Tereus als Speise vor und nun folgt die eigentliche Metamorphose: Die beiden Schwestern verwandeln sich in Nachtigall und Schwalbe und entziehen sich so Tereus’ Rache, dieser wiederum verwandelt sich in einen Wiedehopf und ist gezwungen, die beiden Schwestern bis ans Ende ihrer Zeit erfolglos zu jagen. So ungefähr lautet der mythische Inhalt, der sich in prägnant verdichteter Form bei Eliot findet. D* Interpret*in muss sich fragen, was durch diese Reduktion des Mythos akzentuiert wird. Während die Grausamkeit der Tat und der Tatkontext wesentlich ausgeblendet werden, konzentriert sich Eliot in seiner Darstellung dieser Urszene des Erzählens, respektive des Poetischen, auf die neuerlangte Stimme der Nachtigall, welche die ganze Wüste zu füllen vermag. Aus trau-
matischer Gewalt resultiert hier eine Totalität des poetischen Vermögens, welchem die erfahrene Gewalt zwar stets eingeschrieben bleibt, sich aber selbst als neugefundene poetische Stimme aus diesem Trauma erlösen kann, sich unantastbar über dieses erhebt: Die Stimme der Nachtigall ist «inviolable». Ovids Metamorphosen erzählen also in der Darstellung Eliots eine Urszene des Literarischen als Ausdruck von erfahrener Gewalt, jedoch bei gleichzeitiger Selbsterlösung aus dem gewaltsam Erfahrenen durch die Poesie. Dabei stellt der Text die Bedeutsamkeit des Ovid-Zitats selbst hervor, schliesslich liegt hinter «the desert», also der Wüste, ein sehr naheliegender Bezug zum Titel des Gedichts und somit beansprucht der Nachtigallengesang an dieser Stelle poetische Wirkmächtigkeit für das gesamte Gedicht, oder anders formuliert: Philomela figuriert als poetologisches Verfahren des ganzen Gedichts – und was ich besonders bemerkenswert finde – inklusive seines Entstehens durch die Pound’schen Verstümmelungen im Prozess des Redigierens. Meines Erachtens erinnert und vergegenwärtigt sogar die endgültige, durch den Autor verbürgte, bereinigte und gedruckte Form des Gedichts die erfahrenen Mutilationen und lässt sie gerade dort vernarben, wo der Text an späterer Stelle die zur Nachtigall verwandelte Philomela singen lässt («jug jug» ist im Viktorianischen Zeitalter die konventionalisierte Verschrifung des Nachtigallengesangs):
Twit twit twit Jug jug jug jug jug jug So rwwwudely forc’d Tereu (203–206)
So manifestieren sich die Textnarben auffälligerweise in dem die Vergewaltigung anklagenden «forc’d» und dem den Täter anklagenden «Tereu» in Form einer Synkopierung beziehungsweise Apokopierung. Genauso eindrucksvoll behauptet sich hier aber auch eine zum Schweigen gebrachte Stimme gegen das patriarchal auferlegte Schweigegebot, will man dem Text seine brisante Aktualität nicht unterschlagen. We* Eliots The Waste Land genussvoll liest, d* fasziniert die versehrte Schönheit einer oder vieler verstümmelter Zungen, ein stimmloses und zugleich stimmgewaltiges Sprechen, die poetische Artikulation und gleichzeitige Überwindung des Traumatischen. Eliots (oder: Pounds?) Gedicht denkt also Gewalt und Schönheit konsequent zusammen und aktualisiert in bemerkenswerter Form und sprachlicher Vollendung den Philomela-Mythos als ureigenes poetologisches Prinzip und lässt dieses sowohl für Eliots webenden Zugriff auf Intertexte, wie auch für Pounds Eingriffe am Typoskript funktionieren. Gerade die hier unternommene figürliche Lektüre läuft aber auch Gefahr, die unbehagliche Gleichsetzung von Text und verstümmeltem Frauenkörper über die poetische Sublimierung wegzurationalisieren. Es muss betont werden, dass das Gedicht eine derartige Versöhnlichkeit nicht aufweist: Auch in der Erlösungsbewegung bleibt das Gedicht als unerbittliche Tatanklage seinem Trauma eingedenk: Es ist versehrt, es ist schön und es schweigt nicht.
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Literatur T. S. Eliot: The Waste Land, in: Margaret Ferguson/Mary Jo Salter/Jon Stallworthy (Hg.): The Norton Anthology of Poetry. Fourth Edition, New York 1996. T. S. Eliot: The Waste Land, in: Valerie Eliot (Hg.): A Facsimile and Transcript of the Original Drafts Including the Annotations of Ezra Pound, New York 1971. D. D. Paige (Hg.): The letters of Ezra Pound. 1907–1941, London 1950. Anmerkungen Nachhaltig mein Verständnis des hier besprochenen Gedichts geprägt hat das im Herbstsemester 2015 abgehaltene Seminar von Prof. Charles de Roche und Stefanie Heine: «Literatur im Dual: AutorInnen Kritik, Kooperation, Koproduktion». Um nachvollziehbar machen zu können, weshalb ich den durch Korrekturen versehrten Text Eliots als «Narbenlandschaft» bezeichnet habe, habe ich eine exemplarische Seite aus dem redigierten Typoskript angefügt. Bei gewecktem Interesse empfehle ich d* geneigt* Leser*in, sich die von T. S. Eliot, Ted Hughes und Lia Williams gesprochene Audioversion auf Youtube anzuhören, welche der texteigenen Polyphonie durchaus gerecht wird: https://youtu.be/tixX32WKN5Y.
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Essay
[ Text ¯ Tanja Brawand ] [ Illustration ¯ Tobias Willa ]
Die menschliche Komödie Ein plakativer Monolog
Zeus und Jupiter treffen sich auf dem Olymp. Jupiter: Tschau Zeus, du isch alles gued bi dir, gsehsch so chli truurig us. Zeus: Sei Er auch gegrüsst, Jupiter. Ja, in der Tat befinde ich mich in einem Zustand gänzlicher Betrübtheit. Mein Adler traut sich nicht mehr zu fliegen, sintemal er von Menschen gejagt wird – jene, die im Aberglauben leben, das Pulver seines Schnabels liesse sie eine Potenz erreichen wie die meinige. Jupiter: Und was wötsch degäge mache? Zeus: Sechs Milliarden Menschen im Blitz und Donner meines Zorns verglühen lassen. Jupiter (erschrocken): Was, nei sorry das chasch aber nöd bringe. Zeus: Freilich kann ich. Die bestmögliche Zeit ist es gewiss – keine Seele wird uns der Tat bezichtigen. (Schelmisch) Wir schieben einfach alles auf die globale Erwärmung. Jupiter: Nei Zeus! Eifach nöd, hör mal uf z’indiziere, dass s’Läbe vo eim Adler meh wert isch, als es mänschlichs. Zeus (ungehalten): Ach tatsächlich? Beweise Er das Gegenteil! Jupiter: Ja also Mänsche sind intelligänter als Tier. Zeus: Sah Er, Jupiter, die letzte Folge des ‹Bachelor›? Jupiter: Ja okay, isch jetzt nöd gad s’beschde Argumänt gsi … aber sie empfindet Truur und Liebi – Gfühl. Zeus: Er verweist auf die menschliche Kompetenz, Emotionen zu empfinden? Jupiter: Sicher. Zeus: Neuste Studien belegen, dass Tiere dem Menschen in vielerlei Hinsicht in Nichts nachstehen. Kühe werden beste Freundinnen, Löwen depressiv und Hunde glücklich, wenn sie ihrem Herrchen in die Augen schauen (Bodderas 2010: Elke Bodderas, Wie Tiere um ihre Toten trauern, in: Welt. URL: https://www.welt.de/wissen schaft/article11901494/Wie-Tiere-um-ihre-Toten-trauern.html, aufgerufen am 02.02.2017). Jenes sind Fakten, Er beachte den Literaturverweis. Jupiter: Ja, aber jede Erschdsemeschdler weiss, dass Internetquälle nüd wert sind! Ich säg ja nur, dass en Mänsch wertvoll isch. Ganz sicher wertvoller als din Vogel da. Zeus: Inwiefern? Jupiter: So als Prinzip. Zeus: An dieser Stelle muss ich Euch vehement widersprechen! Mein Adler gehört zu den letzten seiner Art. Im Todesfall sind die Konsequenzen für seine Spezies von gravierendstem Ausmass. Wie wertvoll ist hingegen ein Wirtschaftsstudent für die Menschheit? (Verachtend) «So als Prinzip.» Jupiter: Ey chum Zeus, du bisch doch nur sauer, dass dis Huustierli jetzt immer als Emblem underem Rednerpult vom Präsident Trump über all im Fernseh zeigt wird. Zeus: Trump? Ich dachte Er, Jupiter, argumentiere für die Menschheit!
Lasse Er mich es Ihm an einem Beispiel erklären: Siehst du, dort unten, all die Rehe in dem westeuropäischen Wald? Jupiter: Ja…? Zeus: Geht er mit mir d’accord, dass jene Wälder fast keine natürlichen Fressfeinde mehr beherbergen? Jupiter: Qui, je vais. Zeus: Fantastisches Französisch, ich gratuliere. Jupiter: Danke, ich komme direkt von einer Inspektion der Schweizer Bildungsanstalten. Oha, sorry jetzt hani auno plötzli uf Hochdütsch gwägsled, obwohl du ja Mundart verstahsch. Zeus: Nicht der Rede wert, das passiert Vielen, die aus der Schweiz kommen. Also, was geschieht Seiner Meinung nach mit den Rehen, bei insuffizienter Menge an Fressfeinden? Jupiter: Sie vermehred sich bis sie irgendwenn zwenig Fuetter hend, sterbed bis wieder gnueg Fuetter hend und denn fangd alles vo vorne ah. Zeus: Was tun die Menschen dagegen? Jupiter: Sie verschüssed sie – also ih ahgmässniger Zahl. Zeus: Heureka! Er hat es verstanden. Jupiter: Das rächtfertigt ethisch aber immer nonid, dass du sächs Milliarde Mänsche wöttsch umlah. Zeus: Im Gegenteil, wertester Freund; Seiner Meinung ungeachtet, sind für mich Mensch und Tier von gleichem Werte, denn der Mensch ist ein Tier. Überdies eines mit gravierenden Folgen für die sterbliche Welt. Die Polarkappen schmelzen, die Wälder werden abgeholzt und wetterbedingte Katastrophen nehmen zu. Die Menschheit warte te zu lange. Sie ist verloren. Jupiter: Aber d’Forscher säged sie hend no biz (Zeus unterbricht). Zeus: Sie ist verloren! Und mit ihr reisst sie Milliarden an Mitlebewesen ins Verderben. Abgesehen davon, dass sie schon jetzt Millionen aus rein satanistischer Lust zu Tode quälen. Sie hatten ihre Chance und versäumten, sie zu nutzen. Nun werde ich sie im Namen von Gaia auf eine angemessene Zahl dezimieren. So wahr ich Zeus, Vater aller Götter bin! Jupiter: Ja also minetwäge gäll, ihr Grieche hend ja scho immer gmacht was ihr hend welle, nöd mal Latin hender welle lerne wo mir Römer eu überrännt hend. Zeus: Ja und? Das wollen die am Deutschen Seminar ja auch nicht! Jupiter: Jaja isch scho gued. (Jupiter stapft resigniert davon und murmelt leise) In magnis et voluisse sat est! Zeus (schmunzelnd): Latein, hahaha. Latein ist tot. Es blitzt tot…
Und der Adler flog.
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Po e s i e
Kalifornischer Orpheus [ Text ¯ Sebastien Fanzun ]
I.
Nach langem Gang durchs Lichtlose hat sich auf einmal ein heller Schnitt in den Schatten gebildet, zuerst leise schwärend wie leuchtender Staub in unbestimmten Ecken, jetzt fast blickweit aufgerissen. Die Dunkelheit öffnet sich hier zur Welt wie ein riesiges schweres Lid sich hebt und drängt das formlose Schwarz zur Seite. Hinter der Lichtschwelle geht es hinaus auf eine Nebenstrasse. Es ist Nachmittag. Der Himmel ist hoch und blau und blickdicht aufgespannt. Über den gelben Mauern hängen einige Kletterpflanzen. Zwischen den Zweigen drängen sich Schatten, ebenso wie unter dem einzelnen am Strassenrand parkierten grauen Wagen, ansonsten scheint die Öffnung, durch die sie blicken, alle Schatten verschlungen zu haben. Das Licht ist so hart, dass man sich daran verletzen kann. Es füllt die Leere fast restlos. Jemand hat die Sonne in die Mitte der Gasse genagelt. Der Teer glüht und ist winzig porös wie fiebrige Gänsehaut. Man könnte mit der Zunge darüber hinweglecken und sich den Mund mit Sand und Staub belegen. Das alles ist vor ihm aufgesplittert; die Spitze seines nackten Fusses berührt fast die Lichtschwelle. Zum ersten Mal seit langem steht der Fuss still; wie die Nebenstrasse stillsteht und zu warten scheint. Es sind wenige, aber schier unendlich gedehnte Sekunden, in denen er an der Schwelle verharrt. Sie sind so tonlos, dass er zu hören glaubt, wie sich seine Augäpfel murmelnd in den Höhlen drehen, um das Bild aufzusaugen, das sich ihnen weniger bietet als vielmehr aufzwingt. Er weiss nicht, ob er seit langem Durst nun trinkt oder seit langem Trinken nun dürstet. Er sehnt sich nach den ihn ruhig umspülenden Schatten, nach der Dunkelheit, die dem Blick alles entzieht, ausser dem geheimen Licht zwischen ihnen, das aus der Finsternis doch ihre Schatten herausschälte. Er sehnt sich nach dem Gang in lückenloser Finsternis, die sie sich abwechselnd als Kathedrale, dann wieder als Tunnel vorstellten. Wie dunkel es auch wurde um sie, sein Fuss suchte nicht; bei jedem Schritt fand ihn der Untergrund aufs Neue, als würde der Boden herangespült und als höbe nur der Wellenschlag seine Glieder immer und immer wieder und drücke ihn nach vorne. Ihr Atem strich kühl über seinen Nacken, so unmittelbar musste sie hinter ihm sein, dass ihre Haut nur um ein Haarbreit von seiner getrennt war. Da war keine Stelle, die sie nicht beide sahen, denn er sah nichts, was sie nicht auch sah; sie konnte wohl von hinten durch ihn hindurchblicken, sie las auf seiner Netzhaut, was diese ihnen beiden entschlüsselte und wenn es auch nichts war ausser den sie allseits umgrenzenden Schatten; aber andererseits war es auch ihre Haut, die beide umspannte, in der er mit geborgen war und ging, und es war ihr Lächeln, das er seine Züge formen spürte. Der Grund unter ihnen strömte dahin und über ihnen und zu beiden Seiten war nichts ausser Dunkel; der Raum floss und die Zeit war wie ein Zimmer. Wo sie hinter ihnen war, da endete die Zeit wie mit einer Mauer, und wo sie vor ihnen lag, da hatte sie noch nicht begonnen. Im Gehen zu sagen, wir gehen, das war einfach, aber zu sagen, weshalb man ging, weshalb man sich anfangs in Gang gesetzt hatte, das war unmöglich. Jede Folge und Begründung war abgemessen im Zwiegeflüster ihrer Schritte, in dem bisweilen ihr Fussfall nicht mehr von ihrem Herzschlag zu unterscheiden war. Frage und Antwort, Gebot und Verbot fielen nahtlos ineinander. Und nun steht er an der Lichtschwelle; vor ihm diese Nebenstrasse, deren Zusammensetzung ihm ungeheuer brutal erscheint. Er weiss, tut er jetzt noch einen Schritt, so setzt er seinen Fuss auf jenen Grund, an den jedes Wort heranreicht. Doch er weiss auch, er wird mit all dem leben können, er wird in die Knie fallen und den salzigen Belag von der Gasse lecken, er wird in den hohen glühenden Himmel blicken und nicht wegsehen, er wird seine Stirn in die Hitze senken und alle Zusammenhänge verzeihen können, er wird nicht nur einen Ort finden, er wird sich einen schaffen können, er wird diese Ordnung sich einverleiben können bis alles ihm wie neu vertraut ist; ihr liebender Blick wird ihn über die Schwelle schieben; als er sich umdreht zu ihr ist er wie berauscht von Ahnung und Verständnis, die Sonne brennt heiss auf seinen Nacken.
Wie dunkel es auch wurde um sie, sein Fuss suchte nicht; bei jedem Schritt fand ihn der Untergrund aufs Neue, als würde der Boden herangespült und als höbe nur der Wellenschlag seine Glieder immer und immer wieder und drücke ihn nach vorne.
II. Er betritt das Orphon in einer Mischung aus Keuschheit und Gier. Der Ablauf ist immer der gleiche. Da ist dieser tränenförmige Raum, der von einem einzelnen Fenster aus nach hinten sich verbreitert zur gewölbten Rückwand; da ist dieser schwarze Ledersessel gleich vor dem Fenster; da ist dieser eigenartige, dunkle Boden, glanzlos glatt und hart und winzig porös; da ist nichts sonst. Im Sessel sitzend blickt er durch das trapezförmige, weite Fenster auf die von Smog vernebelten Strassenschluchten, deren Grund er kaum erahnen kann. An den gegenüberliegenden Fassaden hängen enorme Werbeanzeigen, an denen er gelernt hat, die Jahreszeit abzulesen. Manchmal zieht ein Gleiter vorbei. Rechts hinten, horizontwärts, kann er inmitten einer dunkelgelben Korona die Stelle erkennen, wo die Sonne hinter der Nebelwand brennt, wie ein in den Himmel gestochenes weiss Denkbilder
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glühendes Loch. Irgendwoher wird Musik abgespielt – immer dasselbe Stück, Murder (Don’t Play That Song for Me) von Incinerations in the Sky. Diese Phase dauert exakt vier Minuten, dann schieben sich langsam zwei schwere Versiegelungsplatten vor das Fenster und tauchen den Raum in völlige Dunkelheit. Die Musik verstummt. Er hört nichts als seine Atemzüge. Im Nachhinein kann er sich nie erinnern, wie es genau anfängt, mit welchen Silben, mit welchen Lauten. Nur für einen verschwindend kurzen Moment ganz am Anfang, für kaum die Dauer der allerersten Silbe, ist er überrascht, fast erschreckt, wie von einer überraschenden Berührung durch kühle Finger, als bildeten seine Trommelfelle eine Gänsehaut, und dann ist es, als wäre die Stimme schon immer da gewesen, als kenne er keinen Zeitpunkt, da die Luft nicht getränkt gewesen war von ihr. Aber als dieses Mal die Stille aufbricht und die Stimme anhebt, verspürt er nicht nur das zarte Schaudern im Gehör; der Schauer ist weiter und kälter, da löst sich auch etwas in ihm, wie etwas Schweres aus seiner Bahn gleitet. Da es strengstens verboten ist, sich während der Vorstellung umzudrehen, ist unbekannt, woher die Stimme jeweils kommt. Man munkelt, von einer ungeheuren und uralten Datenbank an Tonaufnahmen, die irgendeine Maschine per Zufall aussucht und abspielt; manche sprechen von in geheimen, hinter dem Orphon befindlichen Zimmern gehaltenen Sklavinnen, die während des Lieds tonlos den Raum betreten und einen vorgegebenen Text ablesen; andere vermuten einen hochmodernen, vokalen Gynoiden aus japanischer Produktion. Er hat sich über diese Dinge kaum Gedanken gemacht, weshalb auch, wenn es bis jetzt doch immer funktioniert hat. Aber diesmal ist die Stimme ihm so nah vertraut, dass er zuerst fast glaubt, er sei es, der spreche; er würde es vielleicht ganz glauben, wenn da nicht dieses Eindringende wäre, wenn er nicht das Gefühl hätte, eine Zunge streichle durch seine Gehörgänge und wenn er nicht trotz allem wüsste, wo er sich befindet. Doch halb scheint die Stimme aus ihm zu kommen, nicht aus seiner Kehle, aber von einem Ort in seinem Innern her; als striche eine Grammophonnadel entlang der Verwerfungen eines feinen Narbengewebes. Zweifellos würde er diese Stimme überall erkennen; immer. Sie steigt hoch wie aus einer staubigen Nebenstrasse seines Gehirns. Er denkt: Erneut. Er denkt: Erlöst. Er hört ihre Stimme, er hängt an ihr; jede Schwankung ihrer Intonation findet ihre Entsprechung in ihm, bei jedem kurzen Innehalten vor einem neuen Satz glaubt er die Erwartung körperlich spüren zu können. Er lauscht so angespannt, als bestünde etwas in dieser Stimme und nur in ihr, als habe etwas nur in diesen Silben zu einem wenn auch noch so zitternden Dasein gefunden, und er hört zu, als könnte er durch aufmerksamstes Zuhören beschützen, als könnte er sein Lauschen an sie anschmiegen und liebevoll berühren. In jeder Silbe türmt sie sich erneut; jeder Laut gliedert Knochen, Muskeln und Nerven erneut zusammen, befeuchtet ihr Auge, drückt die Locken aus ihrer Kopfhaut. Sein Gehör ist wie eine Schale, in die ihre Stimme hinabstürzt, wie ein Becken, in das sie hineinsinkt. Unerträglich der Gedanke, die Vorstellung könnte jederzeit abrupt zu Ende sein. Als er aufsteht und sich umdreht, ist er wie berauscht von Hoffnung und Entsetzen. – Da ist dieser eigenartige, dunkle Boden, glanzlos glatt und hart und winzig porös und äusserst praktisch, zwei, drei Männer mit Wasserschläuchen können ihn umstandslos wieder sauber waschen, das Blut und die Hautfetzen versinken den Wänden entlang in fast unsichtbaren Rinnen.
An den gegenüberliegenden Fassaden hängen enorme Werbeanzeigen, an denen er gelernt hat, die Jahreszeit abzulesen.
III. Wen, wenn nicht beide, setzt diese Gewalt, die sie vorangetrieben hat, bis hierhin an die Lichtschwelle, an der unumstösslich klar wird, worauf es hinauslaufen muss, worin es mündet; sie ist des Tastens längst müde, und dieser Einigkeit, die sie nicht will, nicht mehr. Das Licht in der Nebenstrasse, wie sie es an ihm vorbei erkennen kann, ist so hart, dass man sich daran verletzen kann und man ahnt, wie aus dieser Strasse weitere Strassen sinnlos in alle Richtungen wuchern. Sie fragt sich, weshalb er will, dass sie versteht, weshalb er nicht versteht, dass sie nicht will, und solange er nicht versteht, will sie nicht. Der Teer glüht und ist winzig porös. Man müsste mit der Zunge darüber hinweglecken und sich den Mund mit Sand und Staub belegen. Sie sieht, wie sich sein Fuss hebt und fragt sich, ob da vielleicht so etwas wie eine glasige Membran ist zwischen dem Asphalt und ihnen, die der Fuss erst noch zu durchstossen hat. Auch wenn da keine ist, fürchtet sie sich. Grundsätzlich traut sie ihren Augen nicht, aber siehe, noch senkt sein Fuss sich nicht ins Helle, da dreht er sich auf einmal um, wendet sich zu ihr, blickt sie an, und sie spürt, wie da etwas anhebt in ihr, wie ein Vogel aus einem Feld aufsteigt, wie die Schwelle sich entfernt, sich entfernt mit ihm, der an ihr hängt, schon ist er kaum mehr als ein dunkler Riss vor dem kleinen Lichtfeld, wäre ihr Gesicht nicht bereits umschattet, es wäre darauf so etwas zu erkennen wie Dankbarkeit.
Grundsätzlich traut sie ihren Augen nicht, aber siehe, noch senkt sein Fuss sich nicht ins Helle, da dreht er sich auf einmal um, wendet sich zu ihr, blickt sie an, und sie spürt, wie da etwas anhebt in ihr, wie ein Vogel aus einem Feld aufsteigt. 51
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Cécile und ihre Freunde
Tobias Willa (*1989) hat bildende Kunst und Design studiert. Heute arbeitet er in Basel als freischaffender Illustrator und in Zürich als Grafikdesignpraktikant. tobiaswilla.ch
Über Gewalt: Ein System, Maschine. Technologisierung von Machtverhältnissen – Ein Naturzyklus. Darwinistische, physikalische Gesetze – Eine Leidenschaft. Zerstörung von Geist und Materie – Eine harmvolle Kräfteverteilung.
[ Text ¯ Judith Keller ]
Die Freunde kehren ihr Innerstes nach aussen und erzählen von ihren Ängsten und den Beobachtungen, die sie über sich selbst angestellt haben. Jeden Abend leeren sie mehrere Flaschen Wein vom Kiosk; nie wird jemand ernstlich betrunken. Für Cécile erscheint alles weit entfernt und sie sieht sich und ihren Freunden zu wie verlorenen Radfahrern auf Wiesenwegen.
[ Illustration ¯ Tobias Willa ]
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Eine Gruppe von struppigen Menschen sitzt um den Tisch, es sind Freunde. Es ist schon spät, man weiss es durch die Spiegelungen im Fenster, in dem sich eine Frau wie einen verworfenen Entwurf entdeckt. Man ahnt es durch das Gefühl, das Gehirn habe sich leicht verschoben, durch den Wein, den sie zu trinken begonnen haben, als vor dem Fenster noch die halbe Tanne in der Dämmerung zu sehen war, deren fehlender Spitz die Sicht freigab auf ein Fenster, hinter dem zuerst eine Frau und dann ein Mann vorbeirannten, als hätten sie die Zeit einzuteilen. Es handelte sich womöglich um einen Streit, hingegen war nicht viel zu hören. Die Frau, die in der dritten Etage wohnt, in der die Freunde um den Tisch sitzen, bemerkt manchmal, dass sie viel geschehen lässt, mit ihr aber nichts geschieht. Die Menschen, die immer kommen wollen, sind ihre Freunde geworden. Sie sitzen jeden Abend um den grün-blechernen Gartentisch im Wohnzimmer und reden. Wird ein Glas auf den Tisch gestellt, erklingt ein knallendes Geräusch. Die Frau, um die sich die Menschen versammeln, heisst Cécile. Sie empfängt die Freunde jeden Abend mit einem freundlichen und verzweifelten Lächeln, an das man sich gewöhnt hat. Krümel von Brot sind auf dem Tisch zu sehen, Käserinden und die schaumige Asche vieler Zigaretten; die Freunde pflegen hier allabendlich zu speisen. Wer zu vorgerückter Stunde in die Gesichter der anderen blickt, sieht ihre Züge durch den Rauch weit entfernt. Die Freunde kehren ihr Innerstes nach aussen und erzählen von ihren Ängsten und den Beobachtungen, die sie über sich selbst angestellt haben. Oft sprechen sie in einem Tonfall des Erstaunens. Jeden Abend leeren sie mehrere Flaschen Wein vom Kiosk; nie wird jemand ernstlich betrunken. Für Cécile erscheint alles weit entfernt und sie sieht sich und ihren Freunden zu wie verlorenen Radfahrern auf Wiesenwegen. Sie ist sich nicht sicher, ob sie alles hören möchte, was die Freunde sagen. Sie neigen dazu, wenn sie nicht über sich selber sprechen, Cécile zu analysieren und ihr zu sagen, wie sie ist. Sie glauben nicht, dass Cécile in der Lage ist, sich allein zu befreien. Cécile nickt liebevoll und zieht mit ihren feinen Fingern an einer Zigarette. Sie unterstützt die Redenden mit befürwortendem Nicken, denn es ist gut, dass lange in die Nacht hineingesprochen wird und die Tage mit dem Fortschreiten der Nacht weiter nach hinten rücken wie die sich unmerklich verschiebenden Tannen am Waldrand. Ausserdem leuchtet ihr alles ein, was sie über sich vernimmt. Sie hört nun eine träge Stimme, die sagt, dass sie Angst habe, an einer Gruppe von Menschen vorbeizugehen, ausser, es wären ein paar müde Hunde dabei. Cécile nickt, denn sie möchte alles Ausgedrückte unterstützen. Was in einen Satz hineingekommen ist, scheint fassbar und richtig. Erst nachher fragt sie sich, ob sie den gehörten Satz selber gesagt habe, aber es war wahrscheinlich nicht sie. Céciles Befürwortung tut den Freunden gut, es mag ein Grund sein, warum sie kommen. Sie kommen immer in einer Gruppe. Kämen sie allein, sähen sie sich von Céciles Scheu gefangengenommen und es wäre ein einziges Schweigen. Wenn Cécile über sich spricht, versucht sie, etwas aus sich herauszunehmen und ins Kerzenlicht zu stellen, damit es nicht länger in ihr sei. Aber sobald sie etwas ausgesprochen hat, hat sie den Eindruck, es wäre vorher gar nicht da gewesen und sie habe es nur erfunden. Erstaunt sagt sie zum Beispiel: «Früher habe ich geweint über die Schönheit der Bäume, mittlerweile scheine ich vertrocknet, nichts kann mich mehr rühren.» Ausserdem scheint sie immer zu nicken, ganz leicht wackelt ihr Kopf, als ob er auf dem Hals stets zitternd sein Gleichgewicht finden müsste. Einiges von der an ihr gefühlten Zustimmung mag dieser körperlichen Besonderheit geschuldet sein. 71
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Plötzlich steht in der Tür zum Wohnzimmer, die sich leise geöffnet hat, ein kleines Wesen mit Löckchen, das nicht schlafen kann. Es ist sicher, dass es nicht stört, und trippelt mit feinen Beinchen zu Cécile, die erschrickt über die späte Uhrzeit und die Rauchschwaden, hinter der sie ihre kleine Tochter erst spät bemerkt. Sie schämt sich, weil sie ahnt, dass die Freunde denken, sie habe keine Autorität und werde von ihrer Tochter regiert, wie sie es sich schon immer gedacht haben. Sie streicht der kleinen Tochter über den Kopf und sagt freundlich, sie solle wieder ins Bett gehen. Doch die Tochter zieht an Céciles Bein und drückt mit ihrer Zunge vom Mundraum aus gegen die Wange. Sie spürt die misstrauischen Blicke der Freunde. Ich erinnere mich, sagt Cécile, allen Mut zusammennehmend, dass auch ich als Kind das nächtliche Schlafen als Demütigung empfand und hinter dem Fenster einen Mörder mit einer Axt vermutete, an den niemand glaubte. Die Freunde hören ihre hilflose, hohe Stimme, die auch Cécile auffällt, sobald sie sich mit den Ohren der Freunde hört. Die Freunde hingegen hoffen auf die Nachsicht des Kindes, dass es seine Grausamkeit erkenne, die Mutter in diesem Augenblick der Freiheit und der Intimität zu beschlagnahmen und zu ertappen. Sieht das Kind mit seinen grossen Augen denn nicht die Tränen der Verlegenheit über dem freundlichen lächelnden Mund der Mutter? Jetzt greifen die Freunde ein und beginnen das Kind an Céciles Stelle wegzuschicken. Wieder haben sie Cécile etwas aus der Hand genommen, sie kann es gerade noch sehen, bevor sie es wieder versteht. Der Vorgang dauert lange, es werden viele pädagogische Sätze geäussert, die Stimmen der Freunde werden härter, bis von unten ein dünner, überall behaarter Mann kommt, der niemanden grüsst und die kleine, nun schreiende Tochter zielstrebig hochhebt, sie wegbringt in ihr Bett im dunklen Zimmer mit den leuchtenden Sternen an der Decke, die in der Nacht wirken, als hätten sie etwas Spitziges vor. Er wird ihr sagen, sie solle jetzt schlafen und dann das Zimmer verlassen. Cécile wird von einer Scham heimgesucht, die heiss auf ihrem Gesicht blüht. Gleichzeitig beneidet sie den dünnen Mann um seine Macht. Im Wohnzimmer ist die Stimmung seltsam geworden. Der dünne Mann ist bei den Freunden nicht beliebt. Es gibt dafür Gründe, die jetzt auf den Tisch kommen. Sie geben ihm die Schuld an Céciles Zustand. Hast du auch nur ein Fünkchen Stolz in dir? wird Cécile gefragt. Als er noch einmal hochkommt, um sich ein Brot zu machen, fragt ihn eine der Freundinnen, warum er eigentlich mit Cécile, die er anscheinend verachte, zusammen sei. Der dünne Mann mit dem langen Gesicht sagt spöttisch, das solche Fragen nur jemand stelle, die es in ihrem Leben zu nichts gebracht habe. Die gestellte Frage macht die frühen Morgenstunden aus. Wer genau hinhört, weiss von den ersten Vögeln und sieht, wie ein Zweig der Tanne schaukelt. Die Freunde beraten, wie Cécile zu helfen sei. Währenddessen betrachtet Cécile ihr verzogenes Gesicht im Wein und befürchtet, ihr Spiegelbild habe sie erkannt. Die Freunde sind sich sicher, dass Cécile den dünnen Mann mit den Tätowierungen verlassen muss. Céciles Mund lächelt, wie sie so zuhört, freundlich, sie versteht alles und hinter ihren gesenkten Augen sammelt sich die gesamte flüssige Ratlosigkeit, die unaufhaltsam nach innen fliesst. Die Dämmerung ist angebrochen und die halbe Tanne ist wieder zum Vorschein gekommen. Die Sätze der Freunde sind weniger geworden. Die ersten Köpfe haben sich auf die Tischplatte gesenkt. Andere liegen auf dem Sofa oder direkt auf dem Boden. Überall sind sie, die Freunde, und atmen tief. Cécile bleibt lange stehen und lauscht. Dann steigt sie leise über die schlafenden Körper und schleicht die Treppenstufen hinunter aus dem Haus. Die Luft des frühen Morgens kommt ihr entgegen. Nichts ist einfacher, als ab jetzt immer weiter zu gehen, immer weiter, mit langen Schritten der Strasse entlang stadtauswärts, an den Tankstellen vorbei dem winterlichen Horizont entgegen, dessen klare Linie nun über den Häusern aufsteigt, sich ihr sogar langsam und deutlich zudreht, so dass sie jetzt auf ihm selbst, dem Horizont, geht. Doch was ist passiert? Von einem unsichtbaren Magneten angezogen sind ihre Beine in eine Seitenstrasse eingebogen und haben die erste schon geöffnete Bäckerei betreten. Cécile will nur ein Brötchen kaufen, aber ihre heisere Stimme hat sich gegen sie verschworen. Sie kauft zwanzig.
«Früher habe ich geweint über die Schönheit der Bäume, mittlerweile scheine ich vertrocknet, nichts kann mich mehr rühren.»
Die hier gedruckte Geschichte wird im September 2017 in der Reihe «Spoken Script » des Verlags « Der gesunde Menschenversand » erscheinen.
[ Illustration ¯ Hannah Raschle ] Denkbilder
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[ Illustration ¯ Hannah Raschle ]
[ Text ¯ Franziska Ranner ]
2012 habe ich das letzte Mal geweint
Every time the sun comes up, I’m in trouble Even when the sun comes up, I’m in trouble
Wenn ich im Taxi zu deinem Atelier fahre, weil du so ein doer bist und das Taxi gar nicht leer ist wie gemeint, sondern von zwei weiteren Gestalten besetzt, die gleichsam einem geheimen Unterfangen nachgehen und wir uns in diesem geteilten Wissen schelmisch zublinzeln und über Blackjack reden und ich erzähle, wie ich einmal in Sofia allein im Casino gesessen und einen Gin nach dem anderen bestellt habe und mit mir die ganze gekränkte Männlichkeit der Welt am Tisch gesessen ist und mit grossen Augen voller Not beobachtet hat, wie ich mit gierigen Händen ihre Jetons zu mir schob, wenn ich einmal mehr Hit me! gerufen habe, wo sie schon längst ihre Augen verdrehten ob meines Unkönnnens, weil man sich bestimmt nicht noch einmal hitten lassen sollte bei, sagen wir, fünfzehn, und wie ich auch da ein geheimes Bündnis mit dem Dealer eingegangen bin, das weder geheim war noch ein Bündnis, und es dich dennoch dazu bewogen hat, mit langen, grossen Schritten den Raum zu durchqueren und dich vor mir mit der Autorität eines Vaters aufzubauen und wie ich aber trotzdem oder schlimmer: gerade deswegen ein zärtliches Verhältnis zu diesem Spiel aufgebaut habe, weil es mich daran erinnert, wie ich mit feuchten Händen den kleinen roten Jeton verteidigen muss und am Tisch meine Sitzposition (seitlich schräg, nah am Abgrund) und im Raum meinen unpassenden Körper und in der fremden Stadt meine unbeholfenen Denkarten und immer dir gegenüber meine ganze Existenz. Aber wie das klingt! Dabei hast du mir doch gelernt, die Worte präzise zu gebrauchen, immer zu sagen, was man meint oder eben immer zu meinen, was man sagt und dass man schon darüber verzweifeln kann, hast du nur mit müder Handbewegung abgetan. Wie ich mich gegen dich abarbeiten muss und jeden Tag wieder gegen einen neuen Hans, erzähle ich den drei Hansen im Taxi, die meine Geschichte ganz richtig schon nicht mehr als angenehme Unterhaltung, sondern immer unbequemeren Vorwurf zu interpretieren beginnen und sich fragen, ob nicht sie damals im Casino in Sofia neben mir gestanden haben und überhaupt die ganze Taxifahrt unausweichlich auf relatos salvajes zusteuert, und während sie mit zögerlichen Blicken plötzlich den jeweils anderen neben sich zu verdächtigen beginnen und ich in einer fremden Sprache meine Übermacht ausrufe und ihr mich ungeduldig fragt, wo es denn hier überhaupt um Gewalt geht? und mit spitzen Fingern auf Buchstaben zeigt, die nur wenig bedeuten, dann sage ich empört aber hier! aber doch überall! Denkbilder
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[ Illustration ¯ Normal Gergely ]
Normal Gergely (1983–) Visual and sound artist from Hungary. The portraits are dark and futureless, which reminds us of an isolated rural community. The industrial view is a main topic in his artworks. normalgergely.tk
[ Text ¯ Thordis Wolf ]
wir sollten sie behalten. sagst du und deine stimme klingt wie die eines bären mit honig im mund. ich mmmhhmmme dich an. du wirfst mir vor: ich höre dir gar nicht zu. wen behalten? frage ich dich. wovon lebt sie und wie lange ist sie schon da oben? wird sie immer grösser oder hört das wachsen plötzlich auf? fühlt sie oder ist sie nur am existieren? hinter solche sätze wirfst du fragezeichen mit voller wucht an meinen kopf. langsam bildet sich dort eine wunde stelle, ich verlange nun nach punkten. wen behalten? wiederhole ich. vergiss es einfach. provozierst du mich. es darf nicht: wehtun. es darf kein fühlen geben. kein haar soll jemandem zu berge oder sonst wohin stehen. auch nicht gekrümmt werden darf es. für küsse und liebe ist schliesslich gar kein platz. nachts, als du schon schläfst, gehe ich in den keller. von dort hole ich die leiter, obwohl wir nicht wissen, wem sie eigentlich gehört. von den sprossen blättert der lack ab. das freigelegte holz: ganz weich und ich muss an das bett denken, in dem du gerade schläfst, nicht ahnend, dass ich in der dusche auf der leiter balanciere. es kostet mich überwindung, einigermassen, doch ein einziger handgriff ist genug. ich stelle die leiter zurück in die ungewissheit des kellers und das glas auf den küchentisch. unter dem goldenen deckel räkelt die spinne acht ihrer beine und ich leg mich schlafen, neben dich. am morgen machst du kaffee und beim frühstück werde ich es dir sagen. kein kompromiss, auch kein zugeständnis von mir an dich. es ist, was zählt. das ist: ich finde auch. wir sollten sie behalten.
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verlassen / präteritum
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Das Unerreichbare denken Liebe Franziska, in deiner Dissertation zu Schrift und Geschlecht hast du dich mit feministischen Entwürfen und Lektüren von Marlen Haushofer, Ingeborg Bachmann und Anne Duden beschäftigt. Dabei trifft weibliche Autorinnen*schaft unweigerlich auf verschiedenste Formen der Gewalt. Wie wird Gewalt im Zusammenhang mit weiblicher Autorinnen*schaft überhaupt thematisiert? In diesen Texten, die in der Rezeption zum Diskursereignis ‹Frauenliteratur› rund um die 1970er Jahre gerechnet werden, spielt Gewalt sowohl thematisch als auch strukturell eine Rolle. Thematisch geht es dabei um gesellschaftliche Ordnungen mit ihren Ausschlussverfahren, aber auch um konkret und individuell erlebte Gewalteinwirkungen. Im Zentrum vieler Texte steht dabei der Frauenkörper. Erzählt wird aber auch, wie Frauen in diese Gewaltstrukturen verstrickt sind, sie selbst stützen. Letzteres zeigt besonders erhellend Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt. Zwar ist, schreibt sie in Malina, die Gesellschaft der allergrösste Mordschauplatz. Doch die wirklichen Schauplätze, so die Vorreden zum Franza-Fragment, befinden sich im Denken: «Einmal in dem Denken, das zum Verbrechen führt, und einmal in dem, das zum Sterben führt.» An solchen Texten hat sich die frühe feministische Theoriebildung über Schrift und Geschlecht bewähren und weiterentwickeln können, so dass auch die Ordnung des Symbolischen und Gewaltverhältnisse in der Sprache und im Schreiben selbst klarer hervortraten. Es ist dieses Zusammenspiel von Theorieentwürfen und literarischen Praxen, das für mich diese Zeit nach 1968 so interessant macht. Gewalt ist immer auch schon mit Sprache – ich denke dabei etwa an Lacans Konzept des Symbolischen – verbunden. Inwiefern sind (Text-)Körper, also Materialität und Text, selbst immer schon Gewaltakte? Würdest du so weit gehen, zu sagen, Literatur selbst sei Gewalt? Das faszinierende an der Literatur ist ja, dass sie eine solche Vielzahl an Möglichkeiten realisieren kann, wie sonst kein anderer Bereich. Insofern kann Literatur Themen nicht nur repräsentieren, sondern Welten schaffen, sie kann also Gewalt sein, sie kann aber auch Glück und Freude oder etwas in sich sehr Vielfältiges sein. Inwiefern Sprache und das Schreiben selbst Gewaltakte sind, führen zum Beispiel die Texte Anne Dudens vor. Sprache und Schrift sind in der Erzählung
Übergang ein gewaltsamer, körperlicher Vorgang, bei dem Sprache auch gegessen werden kann und sich gewaltsam wieder aus dem Körper herausbegeben muss, um Schrift zu werden. Duden parallelisiert dies mit ikonischen Darstellungen von Drachenkämpfen und macht die durchstochenen Drachenmäuler als Verstummen einer ursprünglich anderen, monströsen und weiblichen Sprache lesbar. Sie setzt damit ästhetisch um, wofür kurz zuvor die écriture féminine plädiert hat: Die französischen Poststrukturalistinnen zeigen den Ausschluss des Weiblichen aus der symbolischen Ordnung auf und fordern seine Neu-Einsetzung, ein eigenständiges weibliches Schreiben und sogar ein eigenes weibliches Sprachsystem. In der Tat ist dafür diskurshistorisch ein guter Zeitpunkt: 1968 hat Roland Barthes den Autor für tot erklärt und 1969 Michel Foucault das – stets männlich gedachte – Subjekt ‹Autor› durch dessen Funktion ersetzt. Da ist also ein Platz freigeworden, und die Frauen reklamieren ihn für sich. Für die Möglichkeit einer weiblichen Autorinnen*schaft innerhalb des phallokratischen Gesellschaftssystems wurden von der feministischen Literaturwissenschaft schon etliche Konzepte bemüht: Irigaray spricht vom doppelten Ort, Weigel vom schielenden Blick und Doane vom Transvestismus – sie alle umkreisen den Gedanken der Ortlosigkeit des weiblichen Subjekts. Denkst du, die «Weiblichkeit» befindet sich noch immer in einer schizophrenen Position, bedeutet weibliche Sozialisation noch immer eine «Einübung in die Spaltung»? Und wenn ja: Liessen sich die Konzepte als Utopien neu besetzen? Die Position der Doppelung oder das Einüben in einen schielenden Blick sind klar feministische Konzepte, sie basieren auf der Doppelung von Kritik und Utopie, die feministischem Denken wesentlich ist. Und sie reflektieren, wie du richtig sagst, die philosophische Tradition, die das Subjekt und mit ihm den Autor als männlich gedacht hat. Seither hat sich aber doch einiges getan. Ich glaube, es sind die Alltäglichkeiten, an denen sich das zeigt: Kein Unternehmen meint noch bei den lieben Mitarbeitern die Mitarbeiterinnen mit, und die Forderung nach Diversity gehört heute zum guten Ton. Es ist immer noch ein weiter Weg zu tatsächlicher Chancengleichheit, aber wir sind unterwegs. Ob die Konzepte der Doppelung im Sinn einer gesellschaftlichen Utopie stark gemacht werden können, ist tatsächlich eine gute Frage. Gehen wir von den Erfahrungen der Autorinnen aus, die sich gezwungenermassen darin beDenkbilder
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Ein Gespräch mit Franziska Frei Gerlach über sprachliche Gewaltakte und feministische Möglichkeitserweiterungen funden haben, dann ist das ein schmerzhafter Zustand: Eine Position am Rand oder in einem Dazwischen schärft zwar die Wahrnehmung für Zwischentöne, doch ins Positive umdeuten liesse sich diese Kompetenz nur, wenn sie auf einer freien Entscheidung beruhen würde.
Was wäre, wenn die Psychoanalyse statt von Ödipus von Antigone, und also von einer Geschwisterbeziehung her zu ihrer Welterklärung angesetzt hätte? Wie würdest du das für die Gegenwartsliteratur beurteilen? Wird über Autorinnen*schaft noch immer in Verbindung mit Gewalt nachgedacht oder ist die Beschäftigung damit vielmehr passé? In der Gegenwartsliteratur ist der Weg, Autorin respektive Autor zu werden, ein anderer. Viele haben literarisches Schreiben studiert, mit Mentorinnen und Mentoren an ihren Texten gefeilt und an den Ausbildungsstätten auch viel praktisches Wissen über den Beruf mitbekommen. Geschlecht ist auch im heutigen literarischen Markt eine relevante Kategorie, aber keine mehr, die per se ein Nachdenken über Ausschlussverfahren und Gewalt einfordert. Als Thema hingegen sind Gewalt und Tod in den aktuellen Texten sehr präsent, das ist uns in meinem Seminar über literarische Neuerscheinungen im Herbstsemester 2016 besonders aufgefallen. Wir haben keine genderspezifischen Unterschiede finden können, sehr wohl aber individuelle. In einem meiner liebsten Texte von Bachmann wird zum Schluss die Unmöglichkeit eines anderen Ortes, einer anderen Zeit und Sprache beklagt: «Ach, so gut spielen konnte niemand, ihr Ungeheuer! Alle Spiele habt ihr erfunden, Zahlenspiele und Wortspiele, Traumspiele und Liebesspiele.» – Lässt sich die von Bachmann so oft beschworene Utopie überhaupt in die Wirklichkeit überführen oder besteht ihr grösstes Potential gerade darin, nie erreichbar zu sein? Undine, die hier spricht, ist ja in genauso einer Position des Aussen und Dazwischen, und selbst sie kann nur scheitern. Bachmann zeigt das Utopische als Denkmöglichkeit, nicht als Realität, die eine Utopie per definitionem (als Un-Ort) ja auch gar nicht sein kann. Eine andere Sprache, so Bachmann, lässt
sich nicht erfinden, wir können aber das, was wir haben, verändern. Und dafür müssen wir über die Realität hinausdenken, das Unerreichbare denken. Diese Anstrengung birgt das Potential, Wirklichkeit zu verändern. Eine meiner liebsten Aussagen von ihr bringt das auf den Punkt: «Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten.» Das ist für mich so etwas wie ein persönliches Lebensmotto. Gerda Lerner und Claudia Opitz formulieren gesellschaftshistorische Thesen in die Richtung, dass weibliche Wissensgenealogien immer wieder aufs Neue ausgelöscht werden und deshalb mühsam unaufhörlich ein feministisches Bewusstsein behauptet werden muss. Wie siehst du das? Und welche Rolle spielen sowohl die Erinnerung als auch das Vergessen im Zusammenhang mit Gewalt und Geschlecht? Ich verstehe das gut und versuche mit meiner Lehre, in der ich genau solche Wissensgenealogien thematisiere und an die nächste Generation weitergebe, diesem Vergessen entgegenzuwirken. Da sich feministisches Denken in der Auseinandersetzung mit Diskriminierungen entwickelt hat, spielen darin Machtverhältnisse und die Kritik daran eine grosse Rolle. Ich freue mich aber schon sehr auf jenen Moment, in dem erreichte Geschlechtergerechtigkeit und Humor über weibliche Machtpositionen integraler Bestandteil dieser Wissensgenealogien sein werden. Denn über die eigene Macht kann nur lachen, wer sie wirklich hat. In medialen Diskursen lässt sich unentwegt ein Phänomen beobachten, das bereits Joan Didion in ihren «Sentimental Journeys» aus dem Jahr 1993 beschrieben hat: Weibliche Leidensgeschichten, etwa bei sexualisierter Gewalt, werden zugunsten eines anderen Diskurses überschrieben. Über den weiblichen Körper werden also beispielsweise migrationspolitische Fragen verhandelt, wobei die Beschäftigung mit dem eigentlichen Problem aus den Augen gerät: Wie lässt sich die Geschichte dieser permanenten Verletzung umschreiben? Ob es ein Eigentliches gibt, ist eine Frage der Perspektive. Es kann strategisch wichtig und moralisch richtig sein, ein Eigentliches einzufordern. Unser heutiges Verständnis von Wirklichkeit ist aber doch eines, das viele Facetten zugleich in den Blick nehmen will. In diese Richtung zielen auch die theoretischen Verfahren der Mehrdimensionalität, bei denen dann Gender eine Kategorie unter anderen ist. Damit es hier nicht zu Überschreibungen und zur 72
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[ Fotografie ¯ Julia Gerlach ]
Auslöschung von Geschlecht kommt, ist es wichtig, dass wir Forschenden die verschiedenen Kategorien per se als gleichwertig setzen und dann das Verhältnis der Kategorien zueinander thematisieren: Sind es Machtverhältnisse, Verhältnisse der Interdependenz oder der Intersektionalität? Mit Freuds psychoanalytischem Fokus auf die Beziehung zwischen dem Kind und den Eltern, deren Machtverteilung vertikal funktioniert, gehen Möglichkeiten verloren, welche du in deiner Habilitation stark machst: Das Geschwisternarrativ, welches horizontal wirkt, wird als Gegenentwurf für eine egalitäre Geschlechterbeziehung angeboten. Musil schreibt in seinem Gedicht «Isis und Osiris»: «Aller hundert Brüder dieser eine, / Und er isst ihr Herz, und sie das seine.» Worin siehst du das Potential von Geschwisterbeziehungen begründet? Da hast du passend zum Thema dieses Heftes ein Beispiel genommen, in dem es um Gewalt geht. Aber selbst hier lässt es sich zeigen: Es ist ein Gewaltverhältnis der Gegenseitigkeit, und im Kontext des Gedichts führt es zu einer Geschlechtervermischung und Transzendierung von Geschlecht. Es ist eine Erkenntnis der strukturalen Anthropologie, dass Verwandtschaftsbeziehungen Modell für alle Arten von Beziehungen sein können. Franziska Frei Gerlach (geb. 1965) habilitiert 2010 Machen wir also statt der vertikalen Eltern-Kind-Beziehung die geschwisterzum Geschwisterdispositiv bei Jean Paul und erhält liche Horizontale stark, dann liegen darin die Parameter für eine alternative dafür den UBS-Habilitationspreis der Philosophischen Strukturierung von Welt bereit. Die psychoanalytisch geprägte GeschwisterFakultät der Universität Zürich. Seit 2011 lehrt forschung beschreibt als zentrale Strukturmerkmale: Identitätsversicherung, Franziska Frei Gerlach als Privatdozentin an der Uniemotionale Nähe, soziale Kompetenz und intersubjektive Kontinuität. Und versität Zürich, wobei unter anderem die Gegenda die Geschwisterbeziehung nicht kündbar und gewöhnlich die längste Bewartsliteratur sowie Literatur und Gender zu ihren Schwerziehung unseres Lebens ist, bietet sie sich als besonders stabile Struktur an. punkten gehören. Zu letzterem hält sie im FrühjahrsWas wäre, wenn die Psychoanalyse statt von Ödipus von Antigone, und semester 2017 eine Vorlesung und sorgt so weiterhin für also von einer Geschwisterbeziehung her zu ihrer Welterklärung angesetzt die Tradierung weiblicher Wissensgenealogien. hätte? Diese Frage hat George Steiner gestellt, und sie interessiert mich sehr. Und nicht zuletzt sind Geschwister eine Pluralbezeichnung, die semantisch über die weibliche Form läuft und die Männer ungenannt mitmeint. Wie gehst du mit expliziten Gewaltdarstellungen in der Literatur oder im Film um: Moralisches Problem oder «Kunst darf alles»? Es kommt bei mir sehr auf die Kontexte an, in denen Gewaltdarstellungen stehen. Insofern: Kunst darf nicht alles, sie hat Rechenschaft über ihr Tun zu geben. Und da ich ein Wortmensch bin, bin ich den bewegten Bildern viel stärker ausgeliefert und ziehe da schnell einmal die Reissleine. Mit Franziska Frei Gerlach sprach Nadia Brügger
Literatur Monographien Geschwister. Ein Dispositiv bei Jean Paul und um 1800. Berlin 2012. Schrift und Geschlecht. Feministische Entwürfe und Lektüren von Marlen Haushofer, Ingeborg Bachmann und Anne Duden. Berlin 1998. Herausgeber*schaft KörperKonzepte. Interdisziplinäre Studien zur Geschlechterforschung /Concepts du corps. Contributions aux études genre interdisciplinaires. Münster, New York, München, Berlin 2003. Aufsätze (Auswahl) «Antik? Oh, nee.» Antigone und die Folgen: Sophokles, Hegel, Freud, Butler. In: IASL 39 (2014), H. 1, 1–30. Todesarten bei Jean Paul und Ingeborg Bachmann. In: Jahrbuch der Jean-PaulGesellschaft 48/49 (2013/14), 205–217. Wybervolk. Intersektionalität von Geschlecht, Stand und Nation bei Jeremias Gotthelf. In: DVjs 86 (2012) H. 2, 293–309.
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28.3. 30.3. 3.4. 6.4. 12.4.
Di Do Mo Do Mi
Takis Würger Vom Rausch erzählen Ece Temelkuran Viktor Martinowitsch Flurin Jecker Julia Weber
Viktor Martinowitsch «Mova» (Voland & Quist 2016)
Literaturhaus Zürich Lesungen im Frühling
Vollständiges Programm unter www.literaturhaus.ch
KLIO Buchhandlung und Antiquariat von der Crone, Heiniger Linow & Co.
Wissenschaftliche Buchhandlung mit umfangreichem Sortiment und fachspezifischen Dienstleistungen
Geschichte Philosophie Germanistik
Buchhändlerisch und wissenschaftlich ausgebildetes Personal
Alte Sprachen Soziologie
Eigene Neuheitenkataloge
Politologie
Buchpreise wie in Deutschland
Ethnologie KLIO Buchhandlung Zähringerstrasse 45 CH-8001 Zürich Tel. 044 251 42 12
KLIO Antiquariat Zähringerstrasse 41 CH-8001 Zürich Tel. 044 251 86 10
www.klio-buch.ch
Religion Kommunikation 41 45
Der Kampf als Schauspiel
[ Text ¯ Lukas Keller ]
GEHT DIREKT AUF DIE PSYCHE
Thomas Heri steigt seit 14 Jahren als Marshal T. in den Wrestlingring. Dort verkörpert er einen Polizisten, der für Recht und Ordnung sorgt. Marshal T. ist ein sogenannter Face, das heisst ein Publikumsliebling, der den Part des fairen Wrestlers verkörpert. Dem gegenüber stehen die Heels, die Bösen, denen jedes unfaire Mittel recht ist, um zu gewinnen. Vor 11 Jahren gründete er die Wrestling Academy Rorbas, kurz WAR. Nebst dem regulären Training gibt es immer wieder Sondertrainings mit US-Stars wie Tatanka, Rhino, Kid Kash oder Joe E. Legend. Diese Profiwrestler werden von Thomas Heri extra für die Trainings eingeflogen. Weiterhin veranstaltet er unter dem Banner von WAR auch sporadisch Wrestlingevents. Die bis anhin grösste Show mit über 500 Zuschauern war 2012 der Showdown II. Dort traten sowohl US-Wrestler wie auch Schüler von Thomas Heri an.
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[ Illustration ¯ Tobias Willa ]
Wrestling in einem Literaturmagazin: Das scheint auf den ersten Blick etwas fehl am Platz, aber Wrestling besteht ja zu einem grossen Teil auch aus Schauspiel. Würdest Du bis zu einem gewissen Grad Parallelen zum Theater ziehen? Theater oder Schauspielerei gehört unter anderem zum Wrestling dazu. Es werden Geschichten erzählt. Fair kämpfende treten gegen unfair kämpfende Wrestler an, Gut gegen Böse, man hält sich an Storylines, improvisiert und bezieht das Publikum mit ein. Nebst dem darf man den sportlichen und konditionellen Aspekt nicht vergessen. Es wird hart trainiert bevor man vor Publikum auftreten darf. Man will alles möglichst echt aussehen lassen und sollte den Gegner nicht verletzen. Im Profiwrestling gibt es Autoren, welche die Storylines für die Wrestler schreiben. Wie funktioniert das in der Amateurszene? Dürfen die Athleten bei ihren eigenen Geschichten mitreden? Grundsätzlich bestimmt der Veranstalter die Geschichten und den Ausgang der Kämpfe. Je nach Grösse der Veranstaltung helfen Storyline-Schreiber. Es wird auf die jeweiligen Gimmicks, sprich den verkörperten Charakter der Wrestler, Rücksicht genommen. Mitspracherecht der Wrestler gibt es aber nicht. Wünsche können miteinfliessen, müssen aber nicht. Oft hört man den Vorwurf, Wrestling sei kein Sport, weil die Ergebnisse abgekartet sind. Im Englischen wird Wrestling als Sports Entertainment bezeichnet, was ich einen ziemlich treffenden Begriff finde. Würdest Du Wrestling als Sport bezeichnen? Wrestling halte ich für eine der ehrlichsten Sportarten. Im Wrestling wird zugegeben, dass nicht alles echt ist und Sachen abgesprochen sind. Ein Vergleich sind Filme oder Magier. Alle wissen, dass Filme nicht echt sind und Magier nicht zaubern können. Trotzdem gehen alle in Kinos und an Zaubershows. Für mich ist das Wrestling sportliche Unterhaltung. Dass man als Wrestler körperlich fit sein muss, ist klar. Aber kann man es als Wrestler ohne schauspielerische Fähigkeiten schaffen? Oder ist das genau so wichtig wie die körperlichen Fähigkeiten? Beides ist im Wrestling wichtig. Ohne Kondition und Technik würde ein Wrestler keine 5 Minuten im Ring durchhalten. Ohne schauspielerische Fähigkeiten würden es die Zuschauer keine 5 Minuten aushalten. Unter den Wrestling-Fans gibt es auch viele Kinder. Würdest Du sagen, dass Wrestling gewaltverherrlichende Aspekte beinhaltet und einen schlechten Einfluss auf Kinder haben kann? Keinesfalls! Da halte ich gewisse Sachen, die auch tagsüber im TV laufen, für gefährlicher. Beim Wrestling geht es um mehr als Kampf oder Gewaltverherrlichung. Es ist eine sportliche Unterhaltung. Nicht mehr und nicht weniger.
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Hannah Raschle lebt und arbeitet in Zürich. hannahraschle.tumblr.com
[ Illustration ¯ Hannah Raschle ]
Verbrecherhäuser 1972 – 2015. Bilder aus dem Schweizer Boulevard.
«Sell a cellar, door a cellar, sell a cellar cellar-door, door adore, adore a door, selling cellar, door a cellar, cellar cellar-door.»
Seltene Tropen #4 Das euphonische Wort
Parodie auf Gertrude Stein durch den verärgerten Kritiker George Nathan.
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Da der Klang durch Repetition und Variation seine schönsten Figuren schafft, müsste man eigentlich annehmen, dass Wohlklang leicht zu erklären sei. Weshalb eine bestimmte Folge von Lauten jedoch schöner als andere klingt, lässt sich gar nicht so einfach begründen – einmal abgesehen von so grundlegenden Phänomenen wie den Fugenlauten: «Arbeit-s-amt» klingt ohne das bindende «s» einfach weniger samten. Doch «Rhabarbermarmelade» klingt immer noch besser. Und so haben sich denn die klügsten Menschen ihre Köpfe zerbrochen, warum die Namen ihrer Liebsten [«Marion Cotillard!»] noch schöner klingen als der Sang der «Nachtigall». Ob es wirklich möglich ist, den euphonischen Klang der Worte unabhängig von ihrer Bedeutung zu taxieren, ist mehr als fraglich. Und doch gibt es sie: die banalen Wörter mit glasklarem «Klingklang». Im Englischen etwa hat sich ein über hundertjähriger Gelehrtendiskurs auf «cellar door» eingeschossen; wobei zu bedenken wäre, wie sehr Edgar Allen Poes «The Raven» oder die geheimnisvolle Metaphorik einer Kellertüre (und damit Freuds «Es») bei dieser Wahl Pate standen. Mit Dada entdeckten die Menschen dann «Das große Lalula» und damit den Umstand, dass mit dem Material der Sprache an den Fundamenten ihres Bedeutens zu rütteln ist, gerade wie es Gertrude Stein in ihrer Dichtung erprobt. Es sind dies wertvolle Lehren für all jene, die dem Klang der Sprache erlegen sind. Marcel Proust hat so sehr an den Zauber der Worte geglaubt, dass er selbst seine Aktien nach ihrem Wohlklang gekauft haben soll, etwa von der «Rio de la Plata»-Gesellschaft in Argentinien. Sein Glaube ans euphonische Wort hat Proust ein Vermögen gekostet. In der deutschen Geschichte wurde die Frage nach Euphonie lange an die Nobilitierung der eigenen Sprache geknüpft. Friedrich II. von Preussen etwa schlug vor, die «dumpfen Endsilben» des Deutschen zu mildern und statt «nehmen» und «geben» «nehmena» und «gebena» zu sagen. Und Goethe gab zu bedenken, dass ein Provinzialismus mitten in einer tragischen Rede «die schönste Dichtung verunstaltet». Mit Blick auf die Entwicklung der Hochsprache wird deutlich, dass auch ein klangliches Schönheitsideal auf peniblen Zwängen beruht. Und dass die Liebe für den Wohlklang spätestens dann in Gewalt umschlägt, wenn sie den Menschen – im Geiste der «Urbantschitschen Methode» – in die Gehörgänge geprügelt wird.
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Prof. Dr. Jens Andermann (Romanisches Seminar) Prof. Dr. Frauke Berndt-Höller (Deutsches Seminar) Prof. Dr. Elisabeth Bronfen (Englisches Seminar) Prof. Dr. Monika Dommann (Historisches Seminar) Prof. Dr. Giuriato (Deutsches Seminar) Prof. Dr. Davide Jens Andermann (Romanisches Seminar) Prof. Dr. Dr. Frauke Svenja Goltermann (Historisches Prof. Berndt-Höller (Deutsches Seminar) Seminar) Prof. Dr. (Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaften – Populäre Kulturen) Prof. Dr. Thomas ElisabethHengartner Bronfen (Englisches Seminar) Prof. Dr. Dr. Monika Gesine Krüger (Historisches Seminar) Prof. Dommann (Historisches Seminar) Prof. Dr. Dr. Davide Angelika Linke (Deutsches Prof. Giuriato (Deutsches Seminar) Seminar) Prof. Dr. Dr. Svenja Klaus Müller-Wille Seminar) Prof. Goltermann (Deutsches (Historisches Seminar) Prof. Dr. Dr. Thomas Philipp Sarasin (Historisches Seminar) Prof. Hengartner (Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaften – Populäre Kulturen) Prof. (Slavisches Seminar) Prof. Dr. Dr. Sylvia GesineSasse Krüger (Historisches Seminar) Prof. Dr. Jörg Schweinitz (Filmwissenschaftliches Seminar) Prof. Dr. Angelika Linke (Deutsches Seminar) Prof. Dr. Simon Teuscher (Historisches Seminar) Prof. Dr. Klaus Müller-Wille (Deutsches Seminar) Prof. (Institut fürSeminar) Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaften – Populäre Kulturen) Prof. Dr. Dr. Ingrid PhilippTomkowiak Sarasin (Historisches Prof. Dr. Tristan Weddigen (Kunsthistorisches Institut) Prof. Dr. Sylvia Sasse (Slavisches Seminar) Prof. Dr. Bernhard Tschofen (Institut für Sozialanthropologie Prof. Dr. Jörg Schweinitz (Filmwissenschaftliches Seminar) und Empirische Kulturwissenschaften – Ethnologie) Prof. Zanetti (Romanisches und Vergleichende Literaturwissenschaft) Prof. Dr. Dr. Sandro Simon Teuscher (Historisches Seminar – Allgemeine Seminar) Prof. Dr. Ingrid Tomkowiak (Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaften – Populäre Kulturen) Prof. Dr. Tristan Weddigen (Kunsthistorisches Institut) Prof. Dr. Bernhard Tschofen (Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaften – Ethnologie) kulturanalyse@ds.uzh.ch, www.kulturanalyse.uzh.ch, Schönberggasse 9, Raum A-09A, 8001 Zürich. Prof. Dr. Sandro Zanetti (Romanisches Seminar – Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft)
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Die Seminarleitung informiert
Autor*innen
[ Illustration ¯ Tobias Willa ]
Prof. Dr. Frauke Berndt ist im Frühlingssemester 2017 Distinguished Max Kade Visiting Professor am Department of German, Russian and East European Language der Vanderbilt University (Nashville USA). Die Vertretung ihrer Lehre übernimmt Prof. Dr. Thomas Wortmann. Thomas Wortmann, geb. 1983, ist seit 2013 Juniorprofessor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Seminar für deutsche Philologie der Universität Mannheim. Wortmann hat Germanistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft und Politikwissenschaft in Bonn, St. Louis und Köln studiert und im Jahr 2012 zu Annette von Droste-Hülshoff in Köln promoviert. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Drama und Theater seit 2000, die literarische Mediologie, die Gender Studies und der Film. Im Frühlingssemester 2017 bietet er ein Masterseminar zu «Drama und Theater nach 2000» an.
Tanja Brawand studiert sowohl Kunstgeschichte als auch Germanistik im zuvielten Semester und verpasst niemals einen Afternoon-Tea. Unter Studen** gilt sie als ausgewiesene Expertin dafür, an welchen Orten an der Universität am besten geschlafen werden kann. Sebastien Fanzun (*1991) hat Nautik in Zürich und Rotterdam studiert. Nach zwei Weltumrundungen auf der SS Baltrover ist er nun zurück in der Schweiz und verdient sein Geld mit erfundenen Kurzbiographien. Oliver Grütter studiert Germanistik und Latinistik und ist Mitarbeiter am NCCR Mediality. Tim Huber (*1989) studiert Germanistik und Allgemeine und Vergleichende Literaturwisenschaft in Zürich.
Die Universitätsleitungen der Universitäten Zürich und Basel haben einer Verlängerung der Tätigkeit von Jürg Glauser nach der Emeritierung um ein Semester zugestimmt. Er hält im FS 2017 folgende Vorlesungen: «Skandinavische Mediävistik» (Vorlesung), Freitags 09.00–09.45, am 23. März, 28. April, 5. Mai und 26. Mai jeweils von 08.00–09.45 Uhr. «Aktuelle Forschungsfragen der skandinavischen Meditävistik: Skaldik» (Masterkolloquium), Termine nach Vereinbarung. «Skaldische Dichtung und Rímur. Islands Literatur in der Vormoderne» (Masterseminar), Termine: 24. Februar: 14.00–15.45 Uhr, 31. März: 12.00–20.00 Uhr, 28. April: 12.00–20.00 Uhr, 5. Mai: 12.00–20.00 Uhr. Die Seminarleitung ist Jürg Glauser sehr dankbar, dass er sich über seine Emeritierung hinaus so für das Deutsche Seminar einsetzt.
Judith Keller studiert Germanistik und AVL an der Universität Zürich. Zuletzt erschien ihr E-Book Wo ist das letzte Haus? bei Matthes und Seitz und Beiträge in der Anthologie Lyrik von Jetzt 3. Franziska Ranner, nicht einmal eine finstere Handvoll Wasser soll dir dein Bild zurückwerfen. Ihr grösster Jubel besteht darin, unauffindbar zu sein. Thordis Wolf lebt in Wien, schreibt und sammelt: nichts.
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Virtualität rtualität Virtualität Virtualität Einsendeschluss 7.8. 2017
– Literarische Beiträge – Essays – Illustrationen und zu allem jeweils eine Autor*innenbeschreibung von max. 300 Zeichen inkl. Leerzeichen an denkbilder@ds.uzh.ch
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Augustinergasse 9, 8001 Zürich | Mi / Fr 12 – 18 Uhr, Do 12 – 24 Uhr, Sa / So 11 – 17 Uhr | www.strauhof.ch
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Schreibrausch Faszination Inspiration
10/2/17–– 7/5/17
Impressum
R ED AK TION
Tanja Brawand
Nadia Brügger
Sagal Comafai
Raoul DuBois
Judith Keller
Lukas Keller
Ana Lupu
Sarah Möller
Dario Spilimbergo
Thomas Wismer
Mike Wunderlin
R ED AK TIONSLEITUN G
Nadia Brügger
KOR R EK TOR AT
Thomas Wismer
FINAN Z EN
Sarah Möller
LAYOUT
Alexandra Koveos // alex.koveos@gmx.ch
COVER
UND
H EFTMIT TE
Hannah Raschle
D R UCK
ropress
AUFLAGE
500; erscheint zweimal jährlich im Frühjahr und Herbst ISSN: 2235-7807
AD R ESSE
Deutsches Seminar, Schönberggasse 9, CH-8001 Zürich
E-Mail: denkbilder@ds.uzh.ch
ONLINE–AR CH IV
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Mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Seminars der Universität Zürich und der Kulturstelle VSUZH VSETH. 34
Inserat
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Vergleichender Korpuslinguistik an. HierUniversität wird Linguistik ambietet Computer Die Zürich einenbetrieben. innovativen spezialisierten Master in Vergleichender Korpuslinguistik an. Beteiligte / Seminare: Hier wird Institute Linguistik am Computer betrieben. Deutsches Seminar Englisches Seminar Romanisches Seminar Beteiligte Institute / Seminare: Slavisches Seminar Deutsches Seminar Institut für Englisches Computerlinguistik Seminar Romanisches Seminar Slavisches Seminar Start: für Computerlinguistik Institut jedes Herbstsemester Start: Weitere jedes Herbstsemester Informationen: www.mlta.uzh.ch mlta@cl.uzh.ch Weitere Informationen: www.mlta.uzh.ch mlta@cl.uzh.ch