DENKBILDER Verlegenheit

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38. AUSGABE


Schauspielhaus Zürich April/Mai 2016

r bote fü e g n a l Spezia erende Studi m/ ook.co b e c a f unter ampus c r e t a e th

Ein Liebhaberstück (Arbeitstitel) von René Pollesch, Regie René Pollesch Uraufführung am 1. April

Wer hat Angst vor Hugo Wolf? Ein Liederabend von Herbert Fritsch, Regie Herbert Fritsch Uraufführung am 23. April

Andorra von Max Frisch, Regie Bastian Kraft Premiere am 4. Mai

Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek Ein stadtweiter Theaterparcours am 21. Mai 2016

Der thermale Widerstand (Arbeitstitel) von Ferdinand Schmalz, Regie Barbara Falter Uraufführung Mai 2016

Theaterkasse Tel +41 44 258 77 77

www.schauspielhaus.ch


Editorial

Ich war in grosser Verlegenheit: seit dem Augenblick, da unser neues Thema feststand, dieser schön-betretene, schlecht-greif bare Zustand und klar wurde, dass ein Essay hermuss. Und zwar einer, ganz anders als alle anderen. Einer, der nicht nur erzählt, wie Grillparzer vor Goethe Brot krümelt und dieser jede einzelne Brosame feinsäuberlich auf einem Häufchen sammelt, sondern auch einer, der die zaudernde Bewegung des Semikolons, gleichzeitig voranschreiten und stillstehen zu wollen, beschreibt und benennt, was es denn nun mit der Verlegenheit des Landarztes auf sich hat, die zwar wesentlich zur Textproduktion anregt, indem sie mit einem allzu selbstbewussten ‹Ich› zusammen am Anfang steht, aber mitnichten vor

dem Scheitern schützt und sich schon gar nicht in Erleichterung auflöst. Nur: So, wie der Landarzt noch immer in der Schneewüste des ewigen Präsens umherstreicht und knapp seinen Pelz nicht erreicht, verhält es sich bedauerlicherweise mit dem bloss um ein Haar nicht geschriebenen Versuch über die Verlegenheit (man wird leicht müde, in einer Wohnung, allein). Die in unserem Heft versammelten Texte nähern sich dem Thema, welches Barthes auf die Formel «Ich weiss, dass du weisst, dass ich weiss» bringt, von vielen möglichen Seiten: Sie kreisen um nicht Geschehenes und lediglich Gestreiftes oder lassen ganz laut eine Leere zurück, die anzufüllen fast neuerlich eine Verlegenheit hervorbrächte.

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Wenn Rosa die Wunde des Land­ arztes ist, der am unsäglichsten da scheitert, wo er, anstatt helfend umzukehren, davonläuft, ist dann die blassrosa Wunde des Knaben, in der weisse Würmerköpfchen zucken, gar auch die unsere? Entsteht Verlegenheit vielleicht durch ein Auseinanderklaffen der nicht vereinbaren Wünsche nach Tod und Rettung, das ausgehalten werden muss? Oder ist schon nur der Versuch, ein Ich überhaupt behaupten zu wollen, Anlass genug fürs Verlegensein? Wir haben keine Antwort, aber auch das ist zuweilen schon viel – auf dass euch vor Lesen die Wimpern zu klingen beginnen!

Nadia Brügger


Master of Arts Master of Arts /Cultural Analysis Kulturanalyse  Kulturanalyse  /Cultural Analysis Kulturanalyse?

Kultur ist nicht nur Objekt wissenschaftlichen Wissens, sondern zeigt zugleich Kulturanalyse?

die Modi, in denen sich das Wissen über die Welt und über uns selbst bildet. Kultur ist nicht nur Objekt wissenschaftlichen Wissens, sondern zeigt zugleich Kulturanalyse erforscht die Vielfalt dieser Wissensmodi in kommunikativen, die Modi, in denen sich das Wissen über die Welt und über uns selbst bildet. symbolischen und sozialen Praktiken. Sie diskutiert Kultur im Verhältnis zu Kulturanalyse erforscht die Vielfalt dieser Wissensmodi in kommunikativen, gesellschaftlichen Machtstrukturen und erschliesst die aktuellen Debatten um den symbolischen und sozialen Praktiken. Sie diskutiert Kultur im Verhältnis zu Stellenwert von Kultur. gesellschaftlichen Machtstrukturen und erschliesst die aktuellen Debatten um den Voraussetzung für das Studium sind ein Bachelor mit 180 KP einer universitären Stellenwert von Kultur. Hochschule sowie eine mündliche Zulassungsprüfung. Studienbeginn ist im Herbst Voraussetzung für das Studium sind ein Bachelor mit 180 KP einer universitären und Frühjahr möglich. Hochschule sowie eine mündliche Zulassungsprüfung. Studienbeginn ist im Herbst und Frühjahr möglich.

Organisation Das interdisziplinär ausgerichtete Studienprogramm wird von Vertreterinnen und Organisation

Vertretern eines breiten Spektrums von Fächern der Geistes- und Sozialwissenschaften Das interdisziplinär ausgerichtete Studienprogramm wird von Vertreterinnen und getragen. Sie bilden das Kuratorium und sind hauptverantwortlich für die Lehre. Das Vertretern eines breiten Spektrums von Fächern der Geistes- und Sozialwissenschaften Lehrangebot wird durch Crosslisting von Lehrveranstaltungen sowie Kooperationen getragen. Sie bilden das Kuratorium und sind hauptverantwortlich für die Lehre. Das innerhalb und ausserhalb der Philosophischen Fakultät erweitert. Lehrangebot wird durch Crosslisting von Lehrveranstaltungen sowie Kooperationen innerhalb und ausserhalb der Philosophischen Fakultät erweitert.

Kuratorium Prof. Dr. Jens Andermann (Romanisches Seminar) Kuratorium Prof. Dr. Elisabeth Bronfen (Englisches Seminar)

Prof. Dr. Davide Jens Andermann (Romanisches Seminar) Giuriato (Deutsches Seminar) Prof. Dr. Thomas ElisabethHengartner Bronfen (Englisches Seminar) (Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaften – Populäre Kulturen) Prof. Dr. Davide Giuriato(Historisches (Deutsches Seminar) Gesine Krüger Seminar) Prof. Dr. Thomas (InstitutSeminar) für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaften – Populäre Kulturen) AngelikaHengartner Linke (Deutsches Prof. Dr. Gesine Krüger (Historisches Seminar) Klaus Müller-Wille (Deutsches Seminar) Prof. Dr. Angelika Linke (Historisches (Deutsches Seminar) Philipp Sarasin Seminar) Prof. Dr. Klaus Müller-Wille (Deutsches Seminar)Seminar) Jörg Schweinitz (Filmwissenschaftliches Prof. Dr. Philipp Sarasin (Historisches Seminar) Sylvia Sasse (Slavisches Seminar) Prof. Dr. Jörg Schweinitz Simon Teuscher (Filmwissenschaftliches (Historisches Seminar) Seminar) Prof. Dr. (Slavisches Seminar) Dr. Sylvia Ingrid Sasse Tomkowiak (Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaften – Populäre Kulturen) Prof. Dr. Simon (Historisches Seminar) TristanTeuscher Weddigen (Kunsthistorisches Institut) Prof. Dr. Dr. Sandro Ingrid Tomkowiak (Institut fürSeminar – Allgemeine Sozialanthropologie und Kulturwissenschaften – Populäre Kulturen) Zanetti (Romanisches undEmpirische Vergleichende Literaturwissenschaft) Prof. Dr. Tristan Weddigen (Kunsthistorisches Institut) Prof. Dr. Sandro Zanetti (Romanisches Seminar – Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft)

Information / Koordination kulturanalyse@ds.uzh.ch, www.kulturanalyse.uzh.ch, Rämistrasse 42, Raum RAL H 05, 8001 Zürich. Information  / Koordination kulturanalyse@ds.uzh.ch, www.kulturanalyse.uzh.ch, Rämistrasse 42, Raum RAL H 05, 8001 Zürich.


POESIE Feierabende Sophie Huguenin Frau fiel vom Kasten und starb Marie Luise Lehner Verlegene Tenzone Gian Fermat Überlesen Philipp Auchter Die Prophezeiung Esther Strauß sommerende/im aufwachraum Max Czollek Zombie Voodoo/ Frozen Minne Margarita Martin Piekar Nachsehen Darja Keller Eine Verlegerin der anderen Art Flavia Rüegg Last Tape Julia Rüegger

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DS DÉESSE

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Hölderlins «Fackelschwinger» Oliver Grütter Germanx und Philosox Silvio Fuchs Frag den Lukas Lukas Yerkovich Seltene Tropen Philipp Auchter «Antworten sind nicht so wichtig wie Fragen» – Gespräch mit Frauke Berndt Nadia Brügger

ILLUSTRATION Serie: Verlegenheit Anna-Lina Balke


P O ES I E


Feierabende

Sophie Huguenin

I

n der neuen Stadt würde es bald einnachten und kalt werden. Dennoch sass man vor der Bar am Eck draussen auf dem Boulevard und versuchte jeden letzten Lichtfleck mit der Netzhaut einzufangen, ihn sich flackernd einzuprägen und irgendwo aufzubewahren, für kleine nächtliche Ausflüchte, für hellere Träume vielleicht. Seit dem ersten Abend, den sie hier verbracht hatte, waren die Tage kürzer geworden, die Abende kühler. Bald schon würde die Luft nach gefrorenen Pfützen riechen und in den Ohren klirren. Etwas streifte ihre Wade. Der Hund war sicherlich kein Fami­ lienhund, keiner dieser melodramatisch schauenden, geselligen und geliebten

Kumpanen der Menschen, dessen war sie sich gewiss. Er streunte unter den Tischen herum, zwischen Beinen von Menschen, Tischen und Stühlen, unentschlossen und verloren. Er war hungrig und verschlang alles Essbare, was er auf dem

«Vielleicht kann er Menschen nicht ausstehen, warum auch, dachte sie dann und zog die Hand zurück.» — 5 —

Boden finden konnte und was die Menschen für ihn fallen liessen. Jedes Mal war er hier, wenn sie auf ihrem üblichen Platz sass, doch er liess sich nie von ihr streicheln. Er liess sich von niemandem streicheln. Streckte sie ihre Hand aus, wich er zurück, zog den Schwanz ein und knurrte. Vielleicht kann er Menschen nicht ausstehen, warum auch, dachte sie dann und zog die Hand zurück. Manchmal war ihr Platz, ganz aussen am letzten Tisch, besetzt, wenn sie herkam, von einem schweigenden, in sein Bierglas schauenden Herrn mit speckiger Brille, oder von zwei, gemeinsam in ihre Biergläser schauenden, schweigenden Herren, oder von einem Grüppchen Damen, jede mit zart errötenden Wangen in sich hineinlächelnd, kichernd


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an einem sirupsüssen, entspannenden Ausnahmetrunk nippend. Wenn ihr Platz besetzt war, setzte sie sich woanders hin. Doch war es dann nicht dasselbe. Nirgendwo sonst fielen Überblick und gleichzeitige Unsichtbarkeit auf diese Weise zusammen und spannen sanft einen schützenden Kokon um sie. Meistens jedoch war der Platz frei, dann konnte sie stundenlang so dasitzen. Trotzdem geschah immer wieder etwas Seltsames, das sie von ihrem Platz vertreiben wollte. Wenn jemand durch ihren Kokon hindurch blickte, ihr schamlos und geradewegs in die Augen sah und sie ansprach, auf den leeren Platz neben ihr weisend. Ist hier noch frei. Darf ich mich zu Ihnen setzen. Dann war es ihr, als würde der Kokon von ihr abschmelzen, glühend und schmerzend heiss an ihrer Haut herunterrinnen und zischend auf den Asphalt tropfen. Auf die Hitze folgten eine eisige Kälte, Zittern und Frieren. Warum zu mir. Siehst du meinen Kokon nicht. Beraube mich seiner nicht, bitte, flehte sie dann in ihrem Innern. Wenn das passierte, stand sie auf und ging. Manchmal ohne zu bezahlen. Weil sie dann nackt war und schnell fortmusste, an einen Ort, wo sie vor der Kälte geschützt war. Und wo niemand sie so sehen konnte. Immer öfter geschah dies in letzter Zeit. Der Wirt muss von ihren zahlreichen unbezahlten Besuchen gewusst haben und trotzdem hat er nie etwas gesagt. An jenem Abend jedoch wollte niemand den leeren Platz neben ihr haben. Sie hatte den Blumenstrauss vom Markt, der noch in Zeitungspapier eingewickelt war, auf den freien Stuhl gelegt. Somit war der Platz neben ihr nicht mehr frei und sie spürte, wie sich eine

«Dann war es ihr, als würde der Kokon von ihr abschmelzen, glühend und schmerzend heiss an ihrer Haut herunterrinnen und zischend auf den Asphalt tropfen.»

sichere Ruhe in ihr ausbreitete. Aber die Kopfschmerzen waren noch da und trotzdem, oder eben aus diesem Grund, nahm sie noch einen Schluck von ihrem leuchtend roten Aperitivgetränk, für das die Jahreszeit im Grunde längst zu fortgeschritten war. Die Zigarette schmeckte bitter und der Rauch krallte sich ätzend und beissend in ihrem Hals fest. Sie drückte die Zigarette hustend aus. In diesem Moment bückte sich der Herr am Nachbartisch zu dem Hund hinunter und bot ihm ein Aspirin an. Der Hund steckte seine Schnauze in die

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Hand des Mannes und drehte dann seinen Kopf zu ihr herüber. Es schien ihr, als sähe er sie mit glänzenden Knopf­ augen an und sie blickte zurück. Beide hielten dem Blick lange stand. Sie war die Erste, die wegsah. Als sie noch einen Schluck trank und sich wieder umwandte, war der Hund weg. Der Mann mit dem Aspirin sass noch da, er drehte das Pulverpäckchen zwischen den Knien in den Händen und blickte schweigend in sein Bierglas. Da wusste sie, dass sich bald etwas ändern würde in der neuen Stadt.


Hatte EH KEIN SCHÖNES

Leben


e

n

Frau fiel vom Kasten und starb Marie Luise Lehner

ie traurig. Frau fiel vom Kasten und starb. W es Beileid. erzlich Frau fiel vom Kasten und starb. H Frau fiel vom Kasten und starb. ten gemacht? Was hat sie eigentlich auf dem Kas Frau kletterte auf den Kasten, um vor Mann zu flüchten. Wie traurig. Frau kletterte auf den Kasten, um vor Mann zu flüchten. Herzliches Beileid. Frau kletterte auf den Kasten, um vor Mann zu flüchten. Warum musste sie eigentlich vor dem Mann flüchten?

Mann bedrohte Frau mit Pistole. Wie traurig, herzliches Beileid. Mann hat auf Frau geschossen. Getroffen ins Herz. Frau fiel vom Kasten und starb. Hatte eh kein schönes Leben.

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Verlegene Tenzone Gian Fermat

1. Welch Worte hör’ ich aus dem Mund dir kreuchen? Was ist es, was mir da entgegenströmt? Ein Laut mir unsanft in den Ohren dröhnt, Den ich, wenn ich nur könnt’, zurück würd’ scheuchen. Doch was, wenn, während ich versonnen döste – Auch mein Gehör ist fehlerhaft, gewiss –, Mir mein Verstand, benommen den Letkiss Tanzend, sachte Sinn von Zeichen löste. Was bleibt mir übrig, ich hab’ keine Wahl Als hoffend nun auch meinen Text zu lesen Der Hörerschaft, gewaltig an der Zahl. Vom Rednerpult schau ich auf all die Wesen Die Vorahnung der Schande eine Qual Der Zwang zu reden macht mich ganz verlegen.

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2. Nach meinem (deinem!) Text muss ich nun schändlich Verlegen and’rer Leute Lesung hören Was sie mit aller Kraft ins Mikro röhren Wird mir nur dank dem Bier verständlich. Halb ehrt es mich, halb kränkt es mich zu hören Wie es dem schon gesung’nen Lied gelingt – Und jenem Stümper, der es so gestohlen singt – Mein Publikum aufs Neue zu betören: Ein and’rer stieg aufs Podium, und er las, Derweil ich schwitzte, ganz dasselbe, was Ich brachte als das Eig’ne. Glaubt man das? Das Urteil steht, allein es fehlt der Richter. Entlastung bringt mir erst der nächste Dichter, Der’s nochmal bringt – doch diesmal schlechter.

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Überlesen Philipp Auchter

Ich möchte lieber nicht gelesen werden. Hier lieber nicht. Eigentlich über­ haupt gar nicht. Wo tut es Ihnen weh, fragt der Doktor. Und er will den Finger auf eine Stel­ le meines Körpers legen. Er will irgendeine Ursache eruieren, unter meiner Haut. Gelesen werde ich selten. Und wenn, dann möchte ich es ei­ gentlich nicht. Hier gibt es nichts zu lesen. Gehen Sie weiter. Na gut. Bitte schön. Lesen Sie nur. Tun Sie sich gütlich. Weiden Sie sich an meiner Lesbarkeit! Hier, ich kann Ihnen mein Ge­ sicht empfehlen, das ist schon ganz zerlesen! Es ist schon etwas vergilbt, etwas angestossen an den Rändern. Einige Stockflecken und Eselsohren sind da, gewiss.

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Glauben Sie nur nicht, dass ich dank Ihnen gelesen werde. Lieber nicht. Lieber nicht dank Ihnen. Geküsst vielleicht schon. Geküsst werde ich zuweilen ganz gern. Nur gelesen, gelesen lieber nicht. Und wenn ich selbst mal lese, lese ich lieber gleich die Welt. Ich setze mich vor den Bildschirm und lese den Youtube-Channel irgendeiner Raumstation. Ich überlese die Oberfläche der Erde. Die Erde mit ihren Wolken und ihren grossen Kontinenten. Ich überlese alles auf einen Blick und überlese das Elend und den Krieg, die Schönheit und Dummheit auf Erden. Abends lese ich gerne mal ein Bier. Dazu ein paar Salzstangen. Ein Beefsteak lese ich zuweilen ganz gern. Doch selbst möchte ich lieber nicht gelesen werden. Dann schon lieber überlesen. Überlesen und überflogen. Sie werden mich doch überlesen. Sie müssen es versprechen.

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Die Prophezeiung Esther Strauß

I

ch kann nicht sagen, dass ich auf meinen Spaziergängen durch die leicht aneinanderstiessen. Ja, wäre es der Prophezeiung, die mich Sammlung hastig zu passieren. Schon Frühling gewesen! Wir hätten uns ununlängst ohne mein Zutun er- alleine deshalb scheint es mir unglaub- ter der aufkeimenden Sonne für dünne reichte, besonderen Glauben würdig zu sein, dass ich an diesem Jacketts entschieden, wären uns im Muschenke. So schien es mir tö- letzten, wie gewöhnlich verregneten seum der Berührung durch den Fremricht vor meinen Freunden und Samstag in einer Ecke des Museums den gewahr geworden und voneinander Kollegen, die sich zum Ende jeder Wo- für einige Minuten vor einem Holbein fortgesprungen. Doch wir trugen die che in einer Bar unweit meiner Woh- verweilt haben soll. Und doch erinne- gepolsterten Jacketts des Winters und nung versammeln, von ihr zu sprechen. re ich mich, wie ich mit noch feuchtem lehnten uns an den anderen, ohne vonAuch meinem Vater, einem Greis, mit Haar das Eichhörnchen betrachtete, das einander zu wissen. Ich sage mir, dass dem ich in regelmässigen, stets ähnlich mich mit stumpfem Blick aus der Male- es nicht mehr als ein paar Augenblicke verlaufenden Telefonaten alles teile, was rei heraus ansah. Das Bild, das der Kä- gewesen sein können, in denen wir Seite mir geschieht, habe ich nichts erzählt. fig des Tieres geworden war, galt nicht an Seite vor dem für mich im Grund beEs ist nichts Erstaunliches an dieser Ge- ihm, sondern der Dame, auf deren Arm langlosen Holbein standen. Es ist nicht schichte, sodass sie mir ohne Weiteres das Eichhörnchen vom Maler gesetzt so, dass der Mann seine Hand in meibereits entglitten sein könnte, hätte es worden war. Wäre ich dem Eichhörn- ne legte, mir zuflüsterte. Er beugte sich mich nicht noch im Nachhinein über- chen, dieser Kreatur, in diesem Moment nicht einmal vor, um – in den Anblick rascht, wie ganz und gar versunken ich nicht verfallen gewesen, hätte ich – wie der Dame vertieft – mit seinem Haar an jenem Samstag im Museum gewesen es meine Art ist – höflich beiseitetre- versehentlich meinen Kragen zu streisein muss. Ich gebe die Schuld daran, ten können, als der Mann von einem fen, vor den Augen des Eichhörnchens. dass ich den Mann, der sich aus einer Augenblick zum nächsten neben mir An das, was an diesem Samstag vor den Gruppe vorbeitrabender Touristen ge- erschien. Ich hätte ihm gewiss freien Augen des Eichhörnchens nicht geschelöst hatte, um plötzlich neben mir zu Zugang zu dem mir ohnehin gleichgül- hen ist, denke ich heute, wenn ich hastig stehen, erst viel zu spät bemerkt habe, tigen Holbein gewährt. Tatsächlich aber und wie in Eile die Gemälde der deuteinem Bild. Ich mache mir nichts aus standen wir unschicklich nahe beisam- schen Maler passiere. den deutschen Meistern und habe es men vor der kaum 40 Zentimeter breimir zur Regel erkoren, ihre Gemälde ten Malerei, sodass unsere Schultern — 15 —


Max Czollek sommerende in den plastiktütenvorstädten gehen schon die wimpern über schotter auf tischen die brillen lassen einen zu keiner tageszeit mehr aus den augen pflanzengedärm hängt heissgelaufen zwischen fliesen wie röntgennegative am wochenende fahren die wälder durch gewaschene frontschutzscheiben warten auf einen gott der noch einmal in die gepuderten hände klatscht

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im aufwachraum konntest du die finger schon immer so durch die haare wer brachte dir das bei zwei sandkörner für das tote meer wir waren senkblei trieben auf dem abend die körper im lametta der feiertage an deren ende kein visafreier hafen wartet zählten wir rückwärts unsere finger derweil rippengebirge durch weisse laken sprangen sorglos von seinem rand man würde uns an unseren teilen erkennen

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Martin Piekar Zutaten: Final Destination Club, wochenends, nachts, kurz nach der Happy Hour, draussen, Unterhaltung, Grüppchenbildung Zombie Voodoo wir sprechen niemals klarer als den Mund zu halten wir tagen nicht solang wir nächtigen können im Schlepptau utopisches Archipel ein jeder für die Anderen Flirtdekadenz des Zweitgesichts obwohl ich mir nicht sicher bin eindeutig interessiert nicht dressiert desolat-elektrisch schaffen uns den Cocktail im WIR → ein besoffenes Medium obszön wie Wünsche ohne Quellcode kein Medium ohne Opferbereitschaft kein Idealist will sich nicht outen die Anspornhaftigkeit der Maskerade Leidenschaften und Obsessionen sind maskiert noch viel näher an der Oberfläche der Erfüllung zum Bersten der Schamhaftigkeit ein Lagerungsschwindel es macht uns bocken des Flirtfaktors ohne Gesichtsverkleidung bliebe nur das Gezänk vieler Egos


Zutaten: Final Destination Club, Frankfurt am Main, Cocktailbar, nicht das erste Mal Frozen Minne Margarita Komm, schlaf mit mir – als Blick, erkennst ihn an, vertrauter Heimlichgruss. Verhältst dich blass und chic, verharre ich im lohen Küss-mich-Blues under der linden, an der Bar. Was bleibt sind gärende Gedanken; klar verzweigt, verstrickt in Trieb und Ambition. Gefroren und matt im Spiel. Ich habe wohl verloren; es nur noch nicht gezeigt. Ein Bote ist die Neige, in der du meine grauen Zellen spannst und diese Herzensschweigeminute provozierst. Mir zeigen kannst: Dir wohnt kein ungefickter Geist mehr inne. Als Gegensang betreiben wir die Minne, die Minnetorheit, Minneparadox, verwundert wegen der Elektroschocks in unser beider Sinne. Zeig her! – den Mund wie Feuerstein und Zunder: geschürzt und geschützt. Betrunken und auweia, wir haben uns, an uns, zu weit erhitzt. Pass auf, bevor ich wieder nach dir schau und tandaradai, o tandaradai. Wer postet oder zwitschert: obsolet, da jener keiner unsren Tanz versteht, geht er so schnell vorbei. Mit deinem klirrenden Lächeln, ich seh, versuchst du nicht zu betten, was nicht zu ketten ist. Mit holden Eiswürfeln im Dekolleté versuchst du nicht zu retten, was nicht zu retten ist. Komm, lass mein Lied einen Teil deines Körpers sein. Lass meine Verse, lass sie; nur ein letztes Paar. Deine Augen, Lippen, Drinks. Verstecks im Haar, wenn ich nur noch ein tageliet bin. Allein.




Nachsehen

Darja Keller

N

eben Zoe traf Artur sich mit zwei, drei anderen Frauen, eine von ihnen war Assistentin am Institut und arbeitete in der Bibliothek. Zoe hatte davon gewusst; Lisa hatte es ihr gesagt, bevor sie sich zum ersten Mal mit ihm verabredet hatte. Artur schien daraus kein Geheimnis zu machen. Die Assistentin war schlank und rothaarig und ihre Haut war fein und weiss. Zoe stellte sich so oft vor, wie Artur ihr über das Haar strich, mit den Fingerkuppen die Linie ihres Schlüsselbeins nachfuhr, Träger eines Leibchens abstreifte. Irgendwann hatte sie das Gefühl, die Bewegungen selbst auszuführen; sie öffnete Knöpfe einer Bluse, einen hellgrauen BH mit Spitze. Wenn Zoe die Assistentin auf

der Terrasse sah, musterte sie ihre Beine in den hellen Strümpfen, den langen Mantel, die groben schwarzen Schuhe. Die Assistentin trank den Kaffee immer schwarz und sie trank viel davon, und sie rauchte Manitou-Zigaretten, die es nur an speziellen Kiosken gab. Als sie auf dem Weg zu dieser Party waren, war es noch Sommer, und Zoe spürte die feuchte, warme Nacht auf ihren Armen und den Belag vom Rotwein auf der Zunge; sie streifte ihre Schuhe ab und lief barfuss, und Lisa tat es ihr nach. Es war ein hübsches Quartier, in dem Arturs Wohnung lag, ein kleines, für die Stadt typisches; Blumen an den Balkongittern, manche Häuser trugen Erkerfenster vor sich her. Ein paar Jugendliche tranken Bier in einem Hauseingang. Und wer ist da so, was ist das — 22 —

«Irgendwann hatte sie das Gefühl, die Bewegungen selbst auszuführen; sie öffnete Knöpfe einer Bluse, einen hellgrauen BH mit Spitze.»


für eine Party, an die du mich da mit- Ein paar Leute sassen auf dem Tepnimmst, fragte Zoe und reichte Lisa die pich, andere auf dem Sofa, eine schmaWeinflasche. Der Gastgeber heisst Ar- le Tür führte in die Küche. Es roch nach tur, sagte Lisa, er arbeitet mit mir zu- Rauch und nach Pizza, von irgendwo sammen, im Büro nebenan, und die drang Musik, leise Frauenstimmen Party, na ja, es wird wohl so eine Par- und Gitarre. Lisa drängte sich an ein ty sein, wo die Leute herumsitzen und paar Leuten in der Küche vorbei und Trinkspiele spielen und die Musik eher reichte Zoe eine Dose Bier aus dem leise ist. Kühlschrank. Sie stiegen ein steinernes TreppenZoe stand gerade mit Lisa am Fenshaus hoch, es war kühl, einen Fahrstuhl ter und rauchte, als jemand fragte: Ist gab es nicht. Im vierten Stock klingel- das jetzt deine Freundin, Lisa? Die, te Lisa, aber niemand öffnete die Türe; von der du immer erzählst? Ein junLisa drückte zaghaft die Türfalle hi- ger Mann zog eine Zigarette aus einunter und ging den schmalen Gang ner Schachtel Parisienne und lächelte. entlang; links und rechts lagen Schuhe Während er mit ihnen redete, blickte übereinander, Taschen, Sommerjacken er mehrmals unruhig über die Schulter, aus leichtem Stoff, ein Harass Bier, über sein Blick schweifte zwischen den verden Zoe fast gestolpert wäre. schiedenen Gruppen hin und her und Das Wohnzimmer war schwach be- blieb dann wieder an Zoe und Lisa hänleuchtet, alle Fenster standen offen. gen. Ja, lachte Lisa, das ist die berühm— 23 —

te Zoe. Und das ist Artur, sie wies auf den Mann, Zoe nahm einen Schluck von ihrem Bier – draussen regnete es jetzt, und wenn sie die Hand auf den Sims legte, wurde sie von den Tropfen benetzt. Artur trug eine Brille und hielt seine Zigarette mit merkwürdig abgespreizten Fingern. Eigentlich mag ich keine Partys bei mir zu Hause, sagte Artur, Lisa hat mich dazu überredet. Seid ihr gut befreundet, fragte Zoe, ach, na ja, wir arbeiten zusammen, antwortete Artur. Später setzten sie sich auf die steinernen Stufen im Treppenhaus, sorry, ist nicht so bequem, sagte er und steckte sich eine Zigarette an. Und, was hat dir Lisa über mich erzählt, fragte er, ein wenig schief lächelnd, ach nichts, antwortete Zoe und lächelte auch. Das Treppenhaus war dunkel, und ihre Knie


«Willst du was trinken, fragte er, fuhr ihr dabei mit den Lippen wie beiläufig über ihre Wange, ihren Hals und darunter, sie nahm seine Hand und zog ihn ins Schlafzimmer.» berührten sich, wenn sie nebeneinander sassen. Am Ende ihrer ersten Verabredung standen sie am Bahnhof vor der blauen Tafel, ihr letzter Zug war schon lange gefahren, sie wussten nicht recht weiter, er küsste sie. Sie gingen die paar Strassen zu ihm nach Hause, ab und zu fuhr sie ihm durchs Haar, ab und zu legte er den Arm um sie und sie küssten sich während des Gehens, manchmal knapp an den Lippen vorbei. Das graue Treppenhaus, wieder die vier Stöcke nach oben wie damals mit Lisa – er schloss die Türe mit einer Bewegung auf. Kannst deine Tasche in mein Zimmer stellen; sein Zimmer war leer bis auf die ungeöffneten Briefe auf dem Schreibtisch, Klamotten auf dem Boden, einen Schrank, ein Nachttischchen, ein Bett mit zwei Decken. In der Küche: verlegenes Stühlerücken. Kann ich kurz das Bad benutzen? – Klar, du weisst ja, wo; warst ja schon mal hier. Zoe stand unruhig vor dem Spiegel, wusch sich die Hände, öffnete den Haarknoten, was noch – sie fuhr mit den Händen langsam, wie prüfend, über ihren Körper – dann öffnete sie die Tür und ging zurück in die Küche. Willst du was trinken, fragte er, fuhr ihr dabei mit den Lippen wie beiläufig über ihre Wange, ihren Hals und darunter, sie nahm seine Hand und zog ihn ins Schlafzimmer.

Als er sie auszog, ging er vor ihr in die Knie, er streifte ihr die Strümpfe ab und küsste dabei ihre Beine, die Innenseite ihrer Oberschenkel, ihre Scham durch den Saum ihrer Unterhose, dann ihren Bauch und die Brüste. Schön mit dir, sagte er nachher jedes Mal, und dann schlang er den Arm um sie und zog sie an seinen schmalen Körper und sein Atem ging sofort langsam und regelmässig; er schien es gewohnt zu sein, so einzuschlafen. Spät in der Nacht, nachdem sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, stand Zoe auf und rauchte am offenen Fenster im Wohnzimmer eine Zigarette, wie damals, als sie mit Lisa auf dieser Party war. Durchs Fenster sah sie in das Haus gegenüber; da sass ein Mann in einem schwarzen Schlafanzug am Küchentisch und strich das blaue Tuch, das darauf lag, glatt, immer wieder. Zoe dachte an Arturs warmen

Körper im Zimmer nebenan, an seine schmalen Schultern und das dunkle Haar auf dem hellen Kissen. Der Mann am Tisch strich weiter über das blaue Tuch, und der Himmel über den Wohnblocks war dunkel und verhangen. Zoe war kalt, und diese Kälte war das beste Gefühl der Welt; sie warf die Zigarette aus dem Fenster und schaute den Mann am Tisch nicht mehr an. Als sie zurück zu Artur ins Bett stieg, legte er eine Hand auf ihren Rücken. Am nächsten Morgen stand er früh auf und zündete sich eine Zigarette an und sagte, er müsse bald ins Büro, willst du noch duschen; er reichte ihr ein Handtuch. Artur meldete sich zwischen ihren Treffen kaum bei ihr, Zoe klickte sich während den Vorlesungen durch seine Facebook-Profilbilder. Seht ihr euch mal wieder, fragte Ian, der neben ihr sass, keine Ahnung, mal sehen, sagte Zoe, tu doch nicht so cool, lachte Ian. Wenn der Zug im Hauptbahnhof hielt, zog Zoe jeweils den Lippenstift nach, und wenn Artur vor ihr auf die Rolltreppe stieg, sah sie an ihm hinunter, sie sah ihn an und versuchte sich alles einzuprägen, die dünnen Beine, die schmale Lederjacke, das rotbraune Haar. Wenn er neben ihr ging, liess sie die Hand so ein bisschen aus der Jacke fallen, und manchmal nahm er sie dann

«Wenn er neben ihr ging, liess sie die Hand so ein bisschen aus der Jacke fallen, und manchmal nahm er sie dann in seine und sie drückte ein bisschen zu fest, als dass es beiläufig wirken könnte.» — 24 —


in seine und sie drückte ein bisschen zu fest, als dass es beiläufig wirken könnte. Meist kauften sie sich zusammen ein Bier am Kiosk; manchmal brachte Artur ihr eines mit. Sie gingen etwas ziellos in der Stadt umher; manchmal setzten sie sich auf den Steg, der auf den See hinausführte, oder sie stiegen in ein Tram und irgendwann nahm Artur sie bei der Hand und sagte, komm, hier müssen wir aussteigen. Dann stand Zoe auf einem Bürgersteig und schaute sich um, die Luft war frisch und kühl und die Stadt war ihr so fremd, wenn Artur sie an diese Orte mitnahm; sie sassen auf hellen Polstern, und Artur liess sich jeden Drink auf der Karte vom Kellner erklären, bis Zoe zu lachen anfing und fragte, willst du nicht einfach ein Bier trinken? Dafür gehe ich doch nicht in eine Bar, sagte Artur, schlug die Beine übereinander und drehte sich wieder zum Kellner, also, was ist genau in diesem da drin? Artur stieg morgens jeweils am Helvetiaplatz aus und Zoe sah ihn von hinten verschwinden, und nach der vierten Verabredung sah sie ihn nicht wieder. Erst zwei Wochen später verstand sie, dass Artur ihr nicht mehr antworten würde – wieder an einem Mittwochmorgen gegen neun Uhr im Tram, wenn es da am friedlichsten ist, der Fluss zog unter tiefruhenden, blau beschienenen Wolken vorbei und das Rot von Zoes Jacke glänzte. Ihr Haar hing

in nassen Strähnen herab, und manch- und Blasen warf. Lisa lachte gerade über mal versuchte sie sich daran zu erin- irgendetwas und sah ihn dabei von der nern, wie sein Shampoo gerochen hatte; Seite her an; dann drehte sie den Kopf das letzte Mal, die blauen Sitze im Tram, zu Zoe, streckte die Arme nach ihr aus, die schmalen Lippen, kommst du mal lächelte und sagte gedehnt, hey, Zoe. wieder vorbei, klar. Bis dann, seine Hal- Willst du einen Punsch haben? testelle. Er küsste sie kurz und trocken Zoe setzte sich an den Küchentisch und sagte, machs gut, bis bald wieder und liess sich von Ian Punsch aus eimal, und sie dachte wirklich, bis bald nem Krug einschenken; sie nahm eiwieder mal, wie peinlich. nen grossen Schluck und verbrannte Die Tür zu Lisas Wohnung war nur sich die Zunge.
Hast du noch mal was von Artur gehört, fragte Lisa. Nein. Denk nicht so viel darüber nach, meinte Lisa, Ian drehte sich um und legte Lisa die Hände auf die Schultern, wir müssen Zoe aufheitern, sagte Lisa, darum ja die Schokolade, meinte Ian. Zoe ging zum Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Ian erzählte von seinem Ethikprofessor und liess seine Hand unauffällig auf Lisas Rücken ruhen, ab und zu strich er ihr durch das kurze Haar und schaute sie von der Seite her an, dann wieder bemüht auf die Tischplatte, und Lisa lächelangelehnt. Während Zoe ihre Stiefel te darüber, wenn er gerade wegschauabstreifte, hörte sie leise Gitarrenmu- te. Zoe stand beim Herd und tunkte ab sik und eine hohe Frauenstimme, da- und zu den Finger in die geschmolzene zwischen das Knirschen des Platten- Schokolade. spielers. Sie trat in die Küche; es roch Sie übernachteten bei Lisa; am Mornach Punsch und Schokolade, ein we- gen tranken sie Orangensaft mit Zimt nig wie auf dem Jahrmarkt. Das Licht und warteten, bis der Filterkaffee durchwar warm, die Stadthäuser dunkel vor gelaufen war, Zoe ging nicht an die Uni. dem Fenster. Ian stand am Herd und Sie war vorher am Kiosk Zeitungen und rührte in einer kleinen Pfanne, in der Zigaretten kaufen gegangen, die Zeitunhalbgeschmolzene Schokolade zischte — 25 —


gen legte sie Lisa hin, sie selbst las nur die Leserbriefe. An diesem Abend nahm Lisa sie wieder auf eine Party mit. Ein Freund von Ian legt auf, in so einer kleinen Bar, in Basel, meinte sie, komm schon, es tut dir sicher gut, ein bisschen von hier wegzukommen. Sie nahmen den Zug gegen halb zehn; Zoe beobachtete sich selbst im Schwarz der Fensterscheibe, im gelben Zuglicht, es war der erste richtig kalte Tag. Sie hatte ihre Jacke wie ein Polster schützend auf den blauen Sitzbezug gelegt, sodass sie am Fenster eine Kuhle bildete, in die man sich hineinschmiegen konnte, den Kopf an der kalten Scheibe. Lisa sass Zoe gegenüber und schminkte sich vor einem kleinen schmierigen Spiegel, die Schale hellblau, mit einem Riss in der Mitte. Sie kannte die Dinge, die Lisa in ihrer Tasche oder ihrem Rucksack mit sich herumtrug; sie kannte den Spiegel, das kleine Plastiketui mit der Wimperntusche, dem dunkelroten Lippenstift, dem weissen Puder. Lisa trug Lippenstift auf. Draussen verdunkelte sich der Himmel, und es begann langsam zu schneien. — 26 —


Eine Verlegerin der anderen Art

Flavia Rüegg

V

erlegen wendet sie den Kopf zu Boden. Wohin hat sie den Gedanken verlegt, den Gedanken, wohin sie das Buch gelegt hat? Auf dem Boden, unter dem Tisch, hinter dem Vorhang liegt es nicht. In einer Minute müsste sie zu sprechen beginnen. Sie sollte dem erwartungsvollen Publikum aus ihrem jüngst verlegten Buch vorlesen. Auf dem Podium sitzt sie bereits. Sie hält jedoch den Blick gesenkt. Die ganze Verlegerschaft, die inmitten eines gut gefüllten Saals sitzt, horcht gespannt, wartet darauf, dass sie mit dem Lesen beginnt. Die Verlegerin, eine nahe Vertraute der Verlegten, sucht ihren Blick, drückt die Daumen in den Fäusten und streckt diese ihr, die sie besser im Bett verlegen wäre, als hier auf der Bühne ohne das verlegte Buch zu sitzen, ihr, der Verlegenen, entgegen.

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DS DÉ ES SE


Hölderlins «Fackelschwinger» Hermeneutische Verlegenheit

Aber indessen kommt als Fackelschwinger des Höchsten Sohn, der Syrier, unter die Schatten herab. Seelige Weise sehns; ein Lächeln aus der gefangnen Seele leuchtet, dem Licht thauet ihr Auge noch auf. Sanfter träumet und schläft in Armen der Erde der Titan, Selbst der neidische, selbst Cerberus trinket und schläft.

(zitiert nach: Groddeck [2012], S. 305 [Arbeitsreinschrift im Homburger Folioheft. Grundschicht der Seiten 307/5–10 ohne spätere Änderungen, S. 301–305])

Oliver Grütter

W

enn in der neunten und letzten St rophe von Hölderlins Elegie Brod und Wein «der Syrier» «als Fackelschwinger» «kommt», so bleibt die Deutung immer einen Schritt zurück: Die Identität des Ankömmlings ist ungewiss. «Fackelschwinger» verweist auf der einen Seite, so Jochen Schmidt in seinem Kommentar zur Elegie, auf Dionysos; πύρφορος (pýrphoros, ‹Feuer bringend›) lautet ein in der griechischen Dichtung bezeugter Beiname des Weingottes, da die Di— 29 —

onysosfeste zur Nachtstunde nur vom Licht der Fackeln erhellt wurden. Auf der anderen Seite könne das fragliche Epitheton Christus evozieren: Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen, und wie wünschte ich, es wäre schon entfacht!, so ruft Jesus nach Luk 12,49. Obwohl zumindest, ganz buchstäblich, ‹klar› scheint, dass es sich um eine numinose Bezeichnung handelt, geht vom «Fackelschwinger» weniger Licht aus, als man vermuten würde. Es ist ein Zwielicht, in das er die Schlussverse der Elegie taucht; und vielleicht ist ihm seine zwischen Zeus- und Gottessohn oszillierende Beziehbarkeit auch poe-


tologisch eingeschrieben. So vermerkt Johann Christoph Adelung in seinem Wörterbuch, dass das Verb ‹schwingen› beispielsweise die Pendelbewegung einer Uhr bezeichne. Im «Fackelschwinger» wäre so der changierende Anspielungscharakter des Beinamens angedeutet, aber auch die gleichsam hypnotische Wirkung, die solch eine ‹pendelnde› Doppeldeutigkeit entfaltet und im Bild des buchstäblich hypnotisierten Höllenhundes subtil angedeutet ist (das griechische ὕπνος [hýpnos] bedeutet ‹Schlaf›): Selbst der neidische, selbst Cerberus trinket und schläft. In dem Masse aber, wie Hölderlin das Geheimnis des «Fackelschwinger[s]» dadurch bewahrt, dass er ihn in die

«Hölderlins Elegie provoziert eine um die Antwort auf die Frage nach der Identität des ‹Fackel­ schwingers› stets verlegene Deutung.»

«Schatten» und damit auch in ein hermeneutisches Dunkel lenkt, provoziert der Text eine um die Antwort auf die Frage nach der Identität des «Fackelschwinger[s]» stets verlegene Deutung. Leseethisch besehen, sucht die Elegie dabei weniger einer am Ideal des Durchsichtigen geschulten ‹Ver-Ein-Deutung› zu spotten. Die Betretenheit der Lektüre ist Hölderlin vielmehr dem Moment religiösen Staunens verwandt. So heisst es in dem Entwurf gebliebenen Gesang Am Quell der Donau: «Oftmals, wenn einen dann […] die heilige Wolk umschwebt, | Da staunen wir und wissens nicht zu deuten» (MA I, 353, 105 f.). So betrachtet, ist eine verlegene Deutung immer auch etwas Wunderhaftes.

Literatur Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders der Oberdeutschen. 4 Bde. Leipzig 21793–1801, Bd. 3 [= Adelung]. Bibel: Elberfelder Studienbibel mit Sprachschlüssel. Das Neue Testament, revidierte Fassung. Wuppertal und Zürich 21995. Groddeck, Wolfram: Hölderlins Elegie Brod und Wein oder Die Nacht. Frankfurt am Main und Basel 2012 (editionTEXT 8). Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe. ‹Münchner Ausgabe›. Hg. von ­Michael Knaupp. 3 Bde. München und Wien 1992f., Bd. I [= MA]. Schmidt, Jochen: Kommentar zu Brod und Wein. In: Friedrich Hölderlin. Sämtliche Gedichte. Hg. von Jochen Schmidt. Frankfurt am Main 2005 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 4), S. 722–749.

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CALL FOR CONTENT

Wald

s s u l h c s e d n e s n i E 8. August 2016 Literarische Beiträge, Essays Illustrationen, Fotografien und auch sonst alles an denkbilder@ds.uzh.ch

Germanx und Philosox X nennt mich einen Germanistikund Philosophiestudierten oder auch Germanisten und Philosophen, bald auch noch Gymilehrer, Gesellschaftsformer oder hauptberuflichen Birkenstockträger. Aber wex weiss schon, wex x ist. Auf jeden Fall bin ich leidenschaftlicher Verfechter gendergerechten Sprechens jenseits polemischer Geschlechterkampfrhetorik. In meiner Masterarbeit bei Frau Professorin Dürscheid, die zu diesem Text angeregt hat, untersuchte ich in einer Korpusanalyse den gendergerechten Sprachgebrauch politischer Parteien der Schweiz. Die theoretische Auseinanderset-

zung mit gendergerechtem Sprachhandeln und der Frage nach Sprache und Gender überhaupt führt in eine Sprach-Realität fernab derer von Herr und Frau Schweizer Parteimitglied. Hier besteht gendergerechte Sprache noch immer darin, ‹Mann› und ‹Frau› sprachlich gleich sichtbar zu machen. Was – so meine Ergebnisse – durchaus gelingt, wenn x sich darum bemüht. Die in meiner Arbeit zur Anwendung kommende X-Form ermöglicht darüber hinaus, alle Menschen, unabhängig ihrer Gender-Identität, gleichermassen sichtbar zu machen. Bestehende gesellschaftliche Normen, wie die Einteilung in genau

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zwei Geschlechter, werden irritiert und dekonstruiert, ohne dem gängigen Vorwurf, dass gendergerechte Sprache unverständlich und holprig wirke, anheim zu fallen. Sie macht aus Germanisten Germanxs [germanikses] und bei unbekanntem Gender im Singular heisst es einx Germanx [ainiks germaniks]. Sollte ich kalte Füsse bekommen und einmal nicht mehr wissen, wex ich bin, nenn ich mich einfach Philosox [philosoks]. Silvio Fuchs Link zur Masterarbeit: www.ds.uzh.ch/_files/uploads/ studarb/44.pdf


FR AG DEN LUK AS Dominik Hürlimann: Lieber Lukas, ich bin 23 und studiere Germanistik und Publizistik. Vor Kurzem habe ich beschlossen, dass ich Dichter werden will, fühle mich aber von anderen nicht ernst genommen, wenn ich in den Klamotten meiner Grosseltern und mit meiner Schreibmaschine bei Schreibwerkstätten auftauche. Was kann ich tun?

Lieber Dominik

Lukas Yerkovich ist der vielversprechendste Nach­ wuchsschriftsteller der Schweiz. Da die Literatur­ szene seine Genialität aber ignoriert, will er jetzt sein literarisches Wissen mit d** Lese** der D ­ enkbilder teilen, indem er sich ihrer Fragen und Anliegen annimmt. Sende auch Deine Frage an: denkbilder@ds.uzh.ch

Zuerst habe ich mich gefreut, denn Du hast grosses Potenzial! Dass Du die Kleider Deiner Grosseltern trägst, zeigt, wie stark Du mit Deinen Wurzeln verbunden bist. Dies ist eine wichtige Voraussetzung, um die wahre Poesie auf dem Papier festhalten zu können. Auch dass Du mit einer Schreibmaschine Deine Texte verfasst, ist äusserst lobenswert. Sie zwingt Dich langsamer zu schreiben. So hast Du Zeit, jeden Buchstaben wohl zu prüfen, bevor er getippt wird. Zudem lässt sich auf diese Weise, im Gegensatz zum Computer, Dein Schreibprozess genau verfolgen. Das bewusste Überarbeiten von Texten und die Analyse Deiner Textgenese werden Dich in Deinem Schaffen vorwärts bringen. Nun aber zu Deinem Problem: Zuerst einmal, besuche keine Schreibwerkstätten mehr. Die meisten Leute, welche behaupten, sie könnten Dir das Schreiben beibringen, sind nicht mehr als Lügn** und Abzock**. Um wirklich

ein guter Dichter zu werden, musst Du die Worte in Dir selber finden. Und dabei kann Dir niemand helfen. Erst wenn Du ganz auf Dich und Deine Fähigkeiten vertraust, wirst Du Dein Ziel erreichen. Dazu gehört auch, dass Du Dich nicht von der Meinung anderer beeinflussen lässt. Natürlich nehmen Dich die Ande** bei den Schreibwerkstätten nicht ernst, weil sie verzweifelte Möchtegern-Dichte** sind! Sie wissen nicht, was wir wissen. Sie haben nicht verstanden, wie wahre Dichtkunst betrieben wird und wie Meiste**werke erschaffen werden. Glaub mir, von diesen Leuten willst Du gar nicht ernst genommen werden. Kurz gesagt: Bleib Dir selber treu und löse Dich von den Urteilen andere**, nur so kannst Du ein guter Dichter werden. Und wenn es dann immer noch nicht klappt, bist Du wohl einfach nicht bestimmt für das traurig-schöne Dichte**leben.

Lukas Yerkovich


«Und so wahr wie mir Gott alles Guts geben soll, Herr Doktor, ich saß neben Salomon Rothschild, und er behandelte mich ganz wie seinesgleichen, ganz famillionär.»

Seltene Tropen Ein Streifzug durch die unwegsameren Gebiete der Rhetorik

#2 Das Portmanteau

Philipp Auchter Wenn Hyazinthos, ein einfacher Diener in Heinrich Heines Reisebild Die Bäder von Lukka, seinen Witz über den schwerreichen Bankier Rothschild reisst, dann kombiniert er die Worte ‹Millionär› und ‹familiär› zu einer Wendung, die beide Worte mit einem Schlag ihrer semantischen Unschuld beraubt. Der Witz ist – einem Diktum Jean Pauls zufolge – «der verkleidete Priester, der jedes Paar kopuliert» und entsprechend zielt die Wortwitz-Technik Heines darauf ab, den Dingen ihren romantischen Schleier vom Kopf zu ziehen. 1871, gut 40 Jahre nach Heines Witz, erfindet Lewis Carroll einen Begriff für jene Technik, die aus zwei Worten von ähnlichem Klang eines macht: Humpty Dumpty, der ein menschenähnliches Ei (und eine Paronomasie) ist, erklärt Alice in Through the Looking-Glass die seltsamen Worte im Gedicht über den Jabberwocky (ein ziemlich furchterregendes Tier, das offenbar viel ‹jabbert›, also brabbelt, und daher gewissermassen das Wappentier dieser rhetorischen Figur sein darf): «You see it’s like a portmanteau — there are two meanings packed up into one word.» Ein Portmanteau – selbst ein Kompositum aus dem frz. ‹porter› und ‹manteau› – bezeichnet im Englischen einen

Reisekoffer, gewöhnlich aus steifem LeLange nach den drei Witzbolden (ahd. der, der sich in zwei gleiche Teile öffnen für ‹kühner Verstand›) Heine, Carroll lässt. Praktisch ist dieser Koffer: Will * und Freud, erweist sich das Portmanzum Beispiel ‹fuming› (rauchend) und teau heute immer dann als praktisches ‹furious› (rasend) gleichzeitig sagen, so Reiseutensil, wenn die Sprache in die wird ein perfekt ausbalancierter Ver- Verlegenheit gerät, einen Gegenstand stand irgendwann auf ‹frumious› kom- angemessen zu bezeichnen. Neben den men! Dann sind die Buchstaben aller- bereits etwas verblassten Portmanteaus dings schon ordentlich durcheinander aus dem Englischen: Smog, Brunch, geraten. Carrolls Portmanteaus unter- Motel, Workaholic, gibt es auch origischeiden sich insofern von jenen Hei- nelle Wortschöpfungen aus deutschem nes, als ihr Spass darin besteht, dass * Sprachmaterial: Besserwessi, Schleppziemlich lange raten muss, aus welcher top, Sozialibi, – und natürlich im JuVerbindung die phantastischen Worte gendslang: Applelepsie, Swaggetarie*, entstanden sein könnten. merkelwürdig etc. Lassen Heines Wortwitze d* Lese* Bei der leichtfüssigen Innovationsfädurch ein polemisches Kaleidoskop bli- higkeit des Portmanteaus geht leider zucken, so spielen Carrolls Portmanteaus weilen vergessen, dass es sich bei dessen ganz mit der eskapistischen Lust am Schöpfungen eigentlich um Witze hanNonsens, in welchem das Unbewusste delt. Als im vergangenen Sommer über unbeschwert zum Ausdruck kommen den möglichen Austritt Griechenlands darf. In diesem Sinne berichtet Sig- aus der Eurozone spekuliert wurde, mund Freud in seiner Schrift Zur Psy- schien das Wort ‹Grexit› – aufgetaucht chopathologie des Alltagslebens über ein aus den Niederungen des WirtschaftsPhänomen, das heute als ‹Freud’scher journalismus – diesen schlimmstmögVersprecher› geläufig ist. Dabei offen- lichen Ausgang der Verhandlungen in baren scheinbar sinnlose Fehlleistun- eine valable, benennbare Handlungsalgen die tatsächlich sinnvollen Mecha- ternative umzuwerten, die schon desnismen des Unbewussten; etwa, wenn wegen keine Katastrophe sein konnte, ein Mann von Tatsachen berichtet, die weil es sich dabei ja nur um ein lustiges «zum ‹Vorschwein› gekommen» sind. kleines Wortspiel handelte.


«Antworten sind nicht so wichtig wie Fragen»

Mit Frauke Berndt sprach Nadia Brügger

Liebe Frau Berndt, im Frühlingsse­ sertation, wichtig. Vor ein paar Jahren mester werden Sie unter anderem ein bin ich dahin zurückgekommen – und Seminar zu Freuds Lektüren geben. zwar letztlich durch die Erfahrung, Karl Wagner, dessen Lehrstuhl Sie dass wir alle an die Literatur eine übernehmen, hat 2003 seine erste Menge Fragen stellen, und die PsyVorlesung an der Uni Zürich gehalten choanalyse nicht als Anwendungsdismit dem Titel: Vor Freud. Schliessen ziplin, sondern als Dialogpartnerin die Sie damit vielleicht bewusst an Ihren Möglichkeit eröffnet, Fragen zu stellen. Vorgänger an? Was kann ich in der Literatur, sozuJa, toll, dass Sie es gesehen haben. sagen durch die Buchstaben hindurch, Wenn man irgendwo neu hinkommt, sehen und erkennen, in der Krypta des setzt man sich ja damit auseinander, Textes? Und nicht, weil ich glaube, dass wer eigentlich vor einem da war – und der Text ein Unbewusstes im engeren das ist doch eine Serie von ganz gros- Sinne hat, sondern weil ich der Meisen Forscherpersönlichkeiten, die vor nung bin, dass Literatur im Grunde mir diesen Lehrstuhl innehatten: zu- genommen dann auch wie der Appaletzt Peter von Matt und Karl Wag- rat, den die Psychoanalyse als Modell ner, beide beste Psychoanalysekenner. hat, wirklich Einsichten in WissensMein erstes Seminar ist ein kleines Si- bereiche gibt, für die wir die Literatur gnal für eine Kontinuität. Und dann brauchen und die eben auch nur die war die Psychoanalyse für mich aber Literatur eröffnet. auch ganz früh, also zu Zeiten der Dis— 34 —

Ein zweites Seminar, auf das sich die Studier** am DS freuen können, ist dasjenige zu Medea, der mythologi­ schen Kindermörderin. Das Besondere an dem Thema Medea ist: Solche Seminare besucht man nicht unbeteiligt. Deswegen kann man auf der Grundlage des Medea-Stoffes sehr gut über verschiedene Aspekte der Literatur nachdenken – nicht nur über alle formalen Fragen wie literarische Gattungen, Poetik, Rhetorik und Ästhetik, sondern damit verbunden auch über gendersensible Fragen, die Sie angesprochen haben: Ist Mütterlichkeit etwas Essentielles, Biologisches oder etwas rein Kulturelles? Und für mich ist das gar nicht so, dass ich sagen würde, ich hätte da jetzt eine Antwort parat, das wäre in gewisser Weise auch vermessen. Für mich ist wichtig, dass man lernt, diese Fragen historisch zu


stellen und theoretisch zu ref lektieren. Wenn man jetzt eine ganz gewagte These formulieren würde: Die Tabuisierung des Kindesmordes in dem Sinne, in dem wir ‹Tabu› mit Freud denken würden, ist ein Neuzeitphänomen. Dass man so etwas beobachtet, darum geht es mir – und dann überlegt, was für Verwechslungen mit unserem Mutterbild entstehen, wenn wir es nicht historisieren, wenn wir nicht sehen, dass Mutterliebe das Pendant zu romantischer Liebe und damit eine Erfindung des 18. Jahrhunderts ist. Und wir hängen so daran – genau so wie an der Mütterlichkeit ja auch an der Liebe. Mythologische Themen grundsätzlich (FB möchte dazu eine Seminar-Reihe machen: Medea, Elektra, Antigone, Anm. d. Red.) sind Diskussionsfelder, auf denen wir sehr genau darüber nachdenken können, wie wir mit unseren Denkmustern umgehen. Ihre Dissertation hat sich mit der Topik der Erinnerung beschäftigt. Würden Sie sagen, dass es eine Verle­ genheit der Erinnerung oder gar des Vergessens gibt? (lacht.) Sagen wir mal so: Die grosse Verlegenheit der literarischen Texte, die sich mit Erinnerung beschäftigen, was da (bei den autofiktionalen Texten, mit denen sich FB in Ihrer Diss. beschäftigt hat, handelt es sich um Moritz, Keller, Raabe, Anm. d. Red.) wirklich als Verlegenheit inszeniert wird, ist: «Ich kann mich gar nicht erinnern. Wo fängt meine Erinnerung eigentlich an?» Wir kennen das aus der Entwicklungspsychologie, die Erinnerung setzt relativ spät ein, bis ich also Erinnerungen habe, dauert es eine Weile. Literatur reflektiert darauf: An die Stelle der Amnesie tritt sozusagen die Topik, die mir Bilder zur Verfügung stellt: die Mutter-Kind-Dyade,

die Adoleszenz usw. Die wichtigen Stationen sind reich bebildert – und das war das Thema der Dissertation, im Grunde diese Schnittstelle von individueller Erinnerung und kulturellem Gedächtnis freizulegen. Also, ja, eine Riesenverlegenheit. Am schönsten zeigt sich das in Walter Benjamins Berliner Kindheit um 1900, weil der natürlich nach der Psychoanalyse genau darüber Bescheid weiss und auch das Mittel gegen die Verlegenheit kennt, nämlich: die Allegorie.

Monografien Anamnesis. Studien zur Topik der Erinnerung in der erzählenden Literatur zwischen 1800 und 1900 (Moritz – Keller – Raabe), Tübingen 1999. Poema/Gedicht. Die epistemische Konfiguration der Literatur um

Eine Frage zum Schluss: Was erwar­ ten Sie von Zürich? Abgesehen davon, dass Zürich eine fabelhafte Stadt ist, ist es vor allem so, dass die Universität Zürich vom Selbstverständnis und natürlich auch vom internationalen Ranking her eine sehr bedeutende internationale Universität ist, was ich einerseits als eine Herausforderung und andererseits aber auch als eine grosse Chance empfinde. Ich bin total glücklich, dass ich diese Stelle bekommen habe. Ich glaube, dass Zürich ein wunderbarer Standort ist, um die deutschen Literaturen in den Dialog der Länder, Kulturen und Menschen zu stellen, die diese Literaturen überall auf der Welt erforschen. Im Hinblick auf die Internationalisierung der Germanistik habe ich also viel vor – vor allem für die Studierenden. Auch für meine Forschungsschwerpunkte zur europäischen Auf klärung sowie vor allem zur literarischen Epistemologie – ich arbeite über das faszinierende Thema der Ambiguität – ist der Forschungsstandort mit seinen spannenden Persönlichkeiten ideal. Daher freue ich mich wirklich sehr auf die kommenden Jahre!

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1750, Berlin, Boston 2011. Zus. mit Lily Tonger-Erk: Intertextualität. Eine Einführung, Berlin 2013.

Aktuelle Projekte Zus. mit Daniel Fulda (Hrsg.): Erzählende und erzählte Aufklärung, Hamburg [2016]. Zus. mit Eckart Goebel (Hrsg.): Literatur und Psychoanalyse, Berlin, Boston [2017] Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie (HKP).

Aufsätze Amazonen und Tugendheldinnen. Zur Ikonographie der ‹femme forte› im 17. Jahrhundert, in: Frühneuzeit-Info 7 (1996), H. 2, S. 276–281. Zus. mit Stephan Kammer: Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Die Struktur antagonistisch-gleichzeitiger Zweiwertigkeit, in: Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, hrsg. von Frauke Berndt u. Stephan Kammer, Würzburg 2009, S. 7–30.


Literaturhaus Zürich Lesungen im Frühling

Vollständiges Programm unter www.literaturhaus.ch

30. 3. 6. 4. 12. 4. 21. 4. 26. 4.

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Mi Mi Di Do Di

Karen Duve Birgit Vanderbeke Tim Krohn Joanna Bator Neel Mukherjee

Tadeusz Dąbrowski, «Auflösung», in: «Die Bäume spielen Wald», aus dem Polnischen von Renate Schmidgall © Carl Hanser Verlag, Edition Lyrik Kabinett 2014.

N I C H T SME H R A U S S E RGR A U E N R E CH T E C K E N ,


Impressum REDAKTION: Tanja Brawand, Nadia Brügger, Daniel Grohé, Sophie Huguenin, Lukas Keller, Ana Lupu, Sarah Möller, Dario Spilimbergo, Thomas Wismer  REDAKTIONSLEITUNG: Nadia Brügger  KORREKTORAT: Daniel Grohé  FINANZEN: Sarah Möller  DESIGNKONZEPT: Alex Spoerndli  LAYOUT: Thomas Wismer  COVER UND ILLUSTRATION: Anna-Lina Balke (Serie: Verlegenheit)  DRUCK: ropress  AUFLAGE: 500; erscheint zweimal jährlich im Frühjahr und Herbst  ISSN: 2235-7807  ADRESSE: Deutsches Seminar, Schönberggasse 9, CH-8001 Zürich  E-MAIL: denkbilder@ds.uzh.ch  ONLINE-ARCHIV: www.issuu.com/denkbilder

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Auto** der aktuellen Ausgabe

Philipp Auchter ist wohl einer der avanciertesten Kenner der Uni-Mensa. Für seine Lyrik und Kurzprosa hätte er zahlreiche Preise verdient, darunter auch den grossen Preis von Kuala Lumpur. Sein Schwerpunkt liegt knapp unterhalb des Bauchnabels. Er forscht an der Schnittstelle zwischen Schreibtisch und Kaffeepause.

Max Czollek ist Mitglied des Berliner Lyrikkollektivs G13 und Kurator für das Projekt babelsprech (www.babelsprech.org). Seit der Spielzeit 2013/2014 organisiert er die Lesereihe Gegenwartsbewältigung am Maxim Gorki Theater. Letzte Veröffentlichungen Jubeljahre (2015, Verlagshaus Berlin) sowie Lyrik von Jetzt 3. Babelsprech (2015, Wallstein Verlag).

Gian Fermat wurde 1991 in einem kleinen Bündner Bergdorf geboren. Er lernte schnell, dass Sprache kein Spass war, deshalb publizierte man ihn in Heften, Magazinen, sogar im Internet und man gab ihm 2015 den Qualia-Literaturpreis. Er hat Kreatives Schreiben in Biel studiert und macht das nun vermehrt.

Oliver Grütter studiert Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft sowie Lateinische Philologie und ist am Lehrstuhl von Prof. Dr. Christian Kiening tätig.

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Sophie Huguenin bezeichnet ihr Schaffen als luziden Tagtraum und schreibt sich selbst Dilettantismus zu. Sie schreckt vor kaum einem Medium zurück, alles sollte ausprobiert werden. Zurzeit durchforstet sie den Urwald etlicher sozialer Netzwerke nach zufälliger Kunst. Sie sammelt Blumen am Wegrand. Auch die Farbe einer Tomatenscheibe in einem Langstrassenhamburger kann Faszination in ihr auslösen.

Darja Keller studiert Germanistik, Philosophie und Slavistik in Zürich. Sie hat einen Blog bei NZZ Campus und schreibt gerne Kurzgeschichten. Die Agglo-Gemeinden auf den S-Bahn-Linien 6 und 12 sind ihre Lieblingsin­ spiration dazu.

Marie Luise Lehner studiert Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Sie hat Prosa und Lyrik in zahlreichen Anthologien publiziert, schreibt Theaterstücke und Hörspiele, ausserdem macht sie Filme.

Martin Piekar, geb. 1990, studiert in Frankfurt am Main, zuletzt: «Bastard Echo» in Verlagshaus Berlin, 2014. 2016 erscheint dort zusammen mit Jan Kuhlbrodt «Überschreibung» als E-Book in der Edition Binaer. Arbeitet am zweiten Gedichtband, der voraussichtlich im Frühjahr 2017 erscheinen wird.

Flavia Rüegg studiert im Master Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft sowie Philosophie und ist um kein Wortspiel verlegen.

Julia Rüegger, geb. 1994 in Basel, studiert Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Theater und Philosophie in Hildesheim. Sie schreibt Lyrik und Prosa und veröffentlicht in verschiedenen Anthologien und Zeitschriften, zuletzt in der Landpartie und der Liesette.

Esther Strauß, geb. 1986 im Dada-Dorf Tarrenz, lebt in Wien. Studium der Malerei & Performance an der Kunstuniversität Linz. 2015 schläft, schreibt und träumt Strauß auf der Couch von Anna Freud im Freud Museum London. Zuletzt veröffentlicht in: Lyrik von Jetzt 3. Mehr: www.estherstrauss.info.

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Last Tape Julia Rüegger Ich fühle meine Erfahrung mit jedem Tag schwinden und meine Weisheit schwarz und meine Ziele aus den Augen ich vergesse jeden Tag mehr und lerne alte Freunde im Supermarkt kennen Meine Tage waren nie ungezählter und meine Stunden nie verzogener nie lebte ich weiter hinter dem Mond Ich schlafe immer öfter im Stehen Während er am Telefon sitzt und wartet schau ich meinen Körper an wie einen Satelliten als könnte jemand etwas sagen wollen mitten in den Schwund der Nacht Es gibt mich nur noch auf den alten Abzügen von 1998 auf den Tonspuren eines schreienden Babys im Frauenspital damals im 2. Stock und als verwackelte Freundin in einem weggesteckten Poesiealbum auf dem Boden eines umgekippten Schranks Beinahe stündlich vergesse ich meinen Körper an der Uni meinen Kopf im Aschenbecher die aufgesprungenen Lippen im Lavabo sowie die Hände am Zeitungsständer und die Füsse auf dem vor langer Zeit einmal gegangenen Höhenweg nach La Chaux-de-Fonds Vielleicht die Blasen noch da aber die Narben schon längst nicht mehr so vollständig wie früher

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Peter Liechti (Foto: zVg)

«Im Wanderlustzwang liegt das Ungesunde.» (Peter Liechti)

Alles und mehr im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg: Von DADA über den Film- und Sprachkünstler Peter Liechti oder Lyrik mit Hanspeter Müller-Drossaart, Catalin Dorian Florescu mit seinem neuen Roman oder der Kulturphilosoph Georg Seesslen über die grassierende Kultur der Zahlen Junge Autor/innen lesen: Laura Vogt, Mirjam Richner, Antoinette Rychner – Ein Fest fürs junge Schreiben – Literaturmagazine treten gegeneinander an im Kampf der Magazine

Programm: www.aargauer-literaturhaus.ch


Master of Arts

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