DENKBILDER Abrakadabra

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denkbilder Das Germanistikmagazin der Universität Zürich Nr. 35 / Herbst 2014


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Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Joseph v. Eichendorff

Max Weber

Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort. —2—

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FERNES FERNES ONNERGROLLEN ONNERGROLLEN DEUTSCHSCHWEIZER LITERATUR UND ERSTER WELTKRIEG

24. SEPTEMBER – 30. NOVEMBER 2014 WWW.STRAUHOF.CH

Lesen heisst durch fremde Hand träumen. Von wem stammt dieser Satz?

Eine Auswahl aus unserem Literatur-Programm im Herbst/Winter 2014:

Die ersten drei, die uns die Lösung per Mail an info@aargauer-literaturhaus.ch schreiben, erhalten einen Gratiseintritt für das Literaturhaus (bitte Name/Adresse nicht vergessen!)

Charles Lewinsky und sein für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman «Kastelau» Buchvernissage mit Simone Lappert Ein Abend mit Milena Moser Dialog zwischen Olga Grjasnowa und Lukas Bärfuss (ebenfalls für den Deutschen Buchpreis nominiert) Schwerpunkt Gastland Finnland mit Ulla-Lena Lundberg Die spoken word-Künstler Jürg Halter und Heike Fiedler Eine Hommage an den 2013 verstorbenen Schriftsteller Jürg Amann mit Silvio Blatter, Andreas Neeser, Hugo Ramnek und Hardy Ruoss

Besuchen Sie das Aargauer Literaturhaus in Lenzburg: www.aargauer-literaturhaus.ch

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ABRAKADABRA Essays Poesie in Zeiten des Replay — Philipp Auchter Vom Zauber des Dadaismus — Ana Lupu Die Magie zeigt sich im Verschwinden — Aurel Sieber Unerhört — Fabian Schwitter

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Poesie Rotat — Daniel Grohé So etwas habe ich noch nie gefühlt, Marco — Dominik Holzer Inspiration — David Ritzkowski Vier Sprüche aus einem merkwürdigen Zauberkoffer — Emanuel Tandler Febris — Michelle Steinbeck Prosaminiaturen — Judith Keller Wenn der Dattelkern fliegt — Meret Gut

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DS Déesse Spuren einer verzauberten Welt — Maximilian Benz Das Zauberhaus — Daniela Stauffacher Medikamentennamen — filibusta & cybertacky86

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Poesie in Zeiten des Replay Wie die zeitgenössische Dichtung in der Musik eine Form findet und mit den Mitteln der Wiederholung zum Zauberspruch wird

Philipp Auchter Der Zustand der Melancholie muss nicht als Vorbote einer Depression verstanden werden. Zwar kann er leicht in einer solchen enden. Die Melancholie entspricht jedoch vielmehr einer Warteschlaufe. Im Modus des Replay will sie alles noch einmal überfliegen. Schwebend in einer Wolke aus Klang ruft sie einen geistigen Zustand hervor, in dem sich der Mensch von seiner Umwelt abhebt und in einem ästhetischen Raum um sich selber kreist. Leicht berührt dabei sein gedanklicher Körper die Gegenstände seiner Vergangenheit und Zukunft. Denn die Zukunft ist darin nur eine Abwandlung der Vergangenheit, ausgemalt in den Farben einer Zärtlichkeit, die der Geist in diesen Stunden für sich selber hegt. In meiner Wiedergabeliste Top 25 Most Played ordnen sich die Lieder nach der Zahl ihres Erklungenseins.

Im Moment zählt der zweitoberste Titel 51, der oberste über 100 Wiedergaben. Beide Lieder sind denkbar einfach. Sie bestehen aus Wiederholungen und Abstufungen der immer gleichen Harmonien: immer wieder da hinauf, immer wieder hierhin zurück. In einem der Lieder sagt zuweilen ein österreichischer Junge einen Satz von Robert Burton auf: «Wir sind allesamt verrückt, nicht sporadisch, sondern immer» (Die Anatomie der Melancholie, 1621). Ich habe das Lied beim Schreiben gehört, auch beim Schreiben von Abschiedsbriefen. Ich habe es gehört, als ich meiner Liebsten in den Armen lag. Und ich werde es wieder hören, wenn sich über das herbstliche Land allmählich der Winter neigt. Wenn ich in den Spiegel schaue, beginnt die Frage Form anzunehmen: Was ist es, das ich stets wie-

derholen will? Was will ich nur begreifen? Weshalb lasse ich es nicht einfach los? In diesem Moment. Im letzten Moment. Wieder.

Der offene Track Die Lieder, die ich so gerne im Replay höre, gehen auf eine Entwicklung in der elektronischen Musik zurück. Ihnen gemeinsam ist die Affinität zur Wiederholung. In Klangsequenzen und Samples bildet der Beat eine Struktur heraus, die sich mit den Mitteln der Variation und Transformation fortsetzt und in dieser Fortsetzung ihren Sinn für Anfang und Ende aufgibt. Der Musikjournalist Ueli Bernays hat in einem bemerkenswerten NZZ-Artikel, Das Ende der Schlüsse, über den ‹Track› in der Pop-Musik nach-

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gedacht. Dabei spielt für ihn das Format der Wiedergabe eine zentrale Rolle. Die Songs wurden nämlich schon vor der eigentlichen Track-Kultur «in den Setlists von Radio und Party-DJs, in Mix-Tapes und Kassetten» zu PlayLists montiert. «Später wurde die Mix-Kultur durch die Format-Radios und durch die Random-Repertoires digitaler Abspielgeräte gefestigt.» Mit der zunehmenden Wiederholbarkeit, so beobachtet Bernays, geht der Musik allmählich ihr narrativer Sinn verloren. Das kompositorische Moment besteht nunmehr darin, die Titel untereinander zu verbinden: «Typisch für all diese musikalischen Ketten ist, dass sie Unendlichkeit simulieren». Durch Überblendungstechniken verliert der Schluss an Bedeutung und geht in grösseren Bögen auf. Der Song verliert seine narrative Logik und wird zum offenen Track. Darin gewinnt der ‹Fade Out› als strukturierendes Element an Bedeutung (vgl. Street Spirit von Radiohead). Er wird im Zuhörenden eine Sehnsucht auslösen: «als würde die ausgeblendete Musik in einer anderen Welt, an einer anderen Party weiterklingen, um uns irgendwann nochmals zu begegnen, wieder zu erfreuen.» Dass die Track-Struktur der elektronischen Musik mit ihren Loops und Samples weitreichende Konsequenzen für unsere Kultur mit sich bringt und bis in die Empfindung unserer Zeit hineinragt, zu dieser Einsicht gelangt Peter Weber schreibend in seinem Buch Die melodielosen Jahre. Weber horcht in lyrischer Prosa dem Soundtrack seiner Jugend nach und spürt in der poetischen Verdichtung seiner Gegenwart einen «Wechsel des rhythmischen Paradigmas» auf. Er umschreibt in Worten eine Ver-

änderung in der Musik, von der auch seine Sprache nicht verschont blieb: Tonuswechsel Musik, Vorbotin, ganz gegenwartshörig, ist das flinkste Reagens, sie bindet Schwanendes, verknüpft das Kommende im Moment, formt vor, was wir nachformulieren. Sie bildet schnell und leicht, was wir schweren Körpers nachleben. Nerven kennen keine Parolen, nur Reize und Impulse. Eilende Musik legt die Beete vor, in die die Sprache fällt. In der vorauseilenden Musik wurden die Gleise für Wiederholung gelegt, bevor man davon wußte. Der Wechsel des rhythmischen Paradigmas bahnte sich in den achtziger Jahren an. Erst als Geräte zur Wiederholung verfügbar waren, setzte er sich durch: ein Tonuswechsel, der auch das musische Gewand und das Sinngewebe der Sprache veränderte. (31) Die Musik erscheint dabei eher als Symptom, als «flinkstes Reagens», einer tiefergreifenden Umwälzung im Denken. Die Monotonie der elektronischen Musik gibt den atemlosen Rhythmus einer Zeit wieder, der die Puste für die grossen Melodien ausgegangen ist. An deren Stelle tritt die Repetition einzelner Versatzstücke, isolierter Überbleibsel. Das Treibgut aus zerborstener Hochkultur dient an den Stränden des globalen Datenmeers zum Bau provisorischer Hütten und Kultstätten. Die fragliche Musik stammt aus den Jahren nach der Wende, «als die Luft laut mitrechnete und die Boxen Paradoxes sprachen: Fern! Jetzt! Fern! Jetzt! Fern! Jetzt!» (84). Alles Erzählerische wurde «eingegrenzt durch

die strikten rhythmischen Gitterungen» einer elektronisch zergliederten Zeit (87). Mit der zeitlichen Verknappung verschiebt sich Webers Sprachgefühl kritisch, doch das elektronische ‹Fracking› setzt auch ungeahnte Energien frei: Geheiß und Verheißung Mit der Ankunft des Monotonen und den so entstandenen Druck- und Betonungsverschiebungen in der Musik war ihm Deutsch nicht mehr geheuer. Die Sprache war umstellt, im Innersten berührt, durchwummert, durchblitzt. Bebender Boden, diese tiefen Töne in der Luft, überall didaktische Spitzen, Ausrufezeichen, die bald Massen und Millionen zur Bewegung aufforderten. Die Frankfurter Wolkenkratzer schienen auf Quarzen zu tanzen, der Fernsehturm in Berlin war ein einziges Ausrufezeichen, die Sprache war befehlerisch verstellt, voller Aufforderungen. Vergiß! Vergiß! Vergiß! Vergiß! sagt jede Synkope zur Baßpauke. Die repetitive Musik zwang der Sprache neue Plötzlichkeiten auf, schickte Reize und Impulse ins Innerste. (150) Wenn der wummernde Subwoofer zum Herzschlag wird und jede Synkope «Vergiß!» in die Trance der tanzenden Clubbesucher hineinspricht, dann überwältigt die Musik das Zeitgefühl der Menschen. Ihr Impuls dringt tiefer als in die Gehörgänge – bricht bis in die Sprache ein. Die Sprache, aus dem Geiste der Musik geboren, von Rhythmen getragen und in der Lyrik als Gesang vernommen, musste selbstredend

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dem neuen Takt der Musik folgen. Sie hat sich im Sprechgesang neu gefunden. ‹Rap› ist im Englischen primär ein harter Schlag gegen etwas, ein Trommeln auf den Tisch, also genuin instrumental, zielt auf die akustische Seite der Sprache ab. Aufbauend auf Lauteffekten sucht der Rap seine Botschaft in Gleichklängen, in rhythmisch stringenten, möglichst komplexen Stab- und Endreimen. Diese neue Technik bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Bedeutung der Texte.

Das Ende der Geschichten Auch im Poetry-Slam, in Nordamerika aus dem Rap hervorgegangen, will der Dichter seinem Wort durch dessen Laut Gewicht verschaffen. In der wirksamen Präsentation weichen die stillen Erkenntnisse den grossen Behauptungen. Im Wettbewerb muss der Slam-Poet ankommen, muss gegen das Desinteresse, das gegen ihn besteht, die Stimme erheben. Er will Präsenz markieren. Jedoch ist die Erzeugung von Präsenz in einer Welt der medialen Ablenkung ein hartes Geschäft. Die Konkurrenz operiert multimedial mit Bild und Ton und Text und vor allem mit Links, die über das eigene kulturelle Artefakt hinausweisen. In diesem Umfeld ersetzt die Stimulation langsame Bedeutungsformate, da sie Aufmerksamkeit wirksamer zu binden vermag: «Der sogenannte Sinn vollendeter und zeitloser Werke wird immer häufiger durch die Stimulation verketteter Suspense-Kadenzen verdrängt. Ausserhalb solcher Track-Formen werden Zeitgenossen rasch nervös», so Ueli Bernays. Die gesellschaftliche Relevanz, welche die Literatur in einer veränderten

Aufmerksamkeitskultur eingebüsst hat, verschafft sich die Slam-Poetin wieder, indem sie das sprachliche Ereignis in ihr Zentrum stellt. Ihr Wort erklingt auf der Bühne durch ihren Körper und gewinnt dadurch eine physische Überlegenheit. Durch gesteigertes Tempo und eng getaktete Pointen überflutet der Slam den Zuhörer mit seinen Reizen. Es ist die Übertragung der Clubmusik auf die Literatur: Wenn deine Bewegung, dein Körper Vom kleinen Zeh bis zum Scheitel zur Musik wird, Wenn deine Mimik, deine Gestik, deine Zeit nichts mehr zählt, Sondern nur noch den Beat fühlt, Wenn du mit Box und Boden Verschmilzt wie ein Stück Butter in der Kürbiscremesuppe, Wenn pure Energie durch deine Adern fließt In jedes Glied bis in die Fingerkuppe, Wenn du die Kontrolle verlierst, Weil die nächste Bewegung von selber passiert, Wenn die Vibration im Boden, Der Bass im Bauch Dir die Fußsohlen rasiert, Wenn du die Serpentinen zwischen Kick und Snare Ohne Bremsen, ohne Zweifel runterjagst, Wenn du nicht mehr denkst, Sondern nur noch bist Und nicht mehr nach den Stunden fragst, Dann versprech ich dir das irdische Nirvana Für Agnostiker und auch für Atheisten Die Übungsekstase für Sonntagsexorzisten.

So spricht Moritz Kienemann in seinem Slam In Oktaven. Er greift die Ambiance des Technoclubs als Referenzpunkt für das Lebensgefühl einer Generation auf. Er versteht ihre ‹Melodielosigkeit› als eine absolute Metapher für den Verlust ihres Daseinsgrunds. Der Wunsch nach Selbstauflösung in der Trance, von der er spricht, reagiert auf das Gefühl, dass sich Geschichten überhaupt nicht mehr erzählen lassen: «Die Leute sagen immer, wir seien desillusioniert. Dabei ist doch auch das eine Illusion.» Eine Generation, die vergessen hat, «wofür und wogegen» sie eigentlich «noch kämpfen soll», tragen die Füsse nicht auf Demonstrationen, sondern auf Partys. Dort singt sie «in Oktaven, wenn’s doch eigentlich nur um die Terz geht. Also verzeih mir, wenn ich dir sage, dass es uns einfach nur an Herz fehlt.» Dass der Endreim, «Terz geht» – «Herz fehlt», in rhetorischer Hinsicht nicht gerade raffiniert ist, spielt für den Poetry-Slam keine Rolle, denn der einzelne Reim (als Setzung einer Beziehung zweier Worte) soll sich ohnehin im Flow des Vortrags verlieren. Die ‹Terzlosigkeit› einer Generation steht somit in einer gewissen Korrespondenz mit der ‹Verslosigkeit› ihrer Lyrik. Die Terz wäre ja eine erste Setzung zum Grundton: eine primäre Figur der melodiösen Entfaltung. In den Oktaven aber stürzt die stringente Melodie des Versmasses über die offene Kaskade des Slams hinab und verliert in dessen freien Fall ihren Sinn – also im ursprünglichen Sinn des Wortes: ihre Richtung. Der Flow, das eigentliche Ziel des Poetry-Slams, muss daher nicht als zielgerichteter Strom, sondern als Sturzbach verstanden werden. Im Flow findet der Slam die Alternati-

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ve zur obsolet gewordenen Dichtung. Das bewusst gemachte Erlebnis des eigenen Bedeutungsverlusts entfaltet eine kathartische Wirkung. Wir erfahren Sinn in der ausgestellten Sinnlosigkeit. Im Lied Der Anfang ist nah beschwören der Berliner Rapper Käptn Peng und seine Band Die Tentakel von Delphi einfach alles herauf: «alle erschienenen und unerschienenen Erscheinungen, Menschen, Tiere, Meinungen, Gefühle, Fraktale, Zikaden, Mutanten, Schamanen, Fackelträger, Geistreisende und mikroenzyklopenjagende Weichorganismen». Ihnen allen sagt Peng «Hallo» und will mit ihnen tanzen. Daraus erwächst eine groteske Liste, die auf assoziativer Bedeutungsebene operiert. Der Text erzählt nicht, er zählt. Im ‹stream of consciousness› kann der Zuhörer seine eigenen Vernetzungen herstellen. Daraus ist keine Geschichte zu spinnen. Die Herausforderung besteht darin, aus dem Überfluss an Information, der im Strom der Gleichklänge die Ohrmuschel flutet, einzelne Versatzstücke überhaupt wahrzunehmen. Die angespannte Achtsamkeit auf die heraufbeschworenen Dinge, die mit den Bildern eines durch Stopptrick animierten Videoclips ephemere Verbindungen eingehen, ermöglicht dem Rezipienten eine sogartige Konzentration auf die eigene kognitive Leistung des Verstehens. Hallo Schmerzen – hallo Verderben Hallo Zorn, hallo Tränen, hallo Scherben Hallo Vernichtung – hallo Sterben Hallo Vorfahr’n, hallo alle Erben Hallo Zeugung – hallo Verbeugung Hallo Potential, hallo Vergeudung Hallo Täuschung – hallo Beleuchtung

Hallo Verleugnung deiner eigenen Bedeutung Hallo Möglichkeit, hallo Stille Hallo Entwicklung, hallo freier Wille Hallo Hologramme – hallo Ball aus Licht Hallo, alles, was du siehst, besitzt du nicht Jeder, der in Liebe weint, jeder, der im Zorn lächelt Jeder – der ständig seine Form wechselt Hallo Entdeckung, dass Bewusstsein lediglich Raum ist Hallo realisier’n, dass Realität nur ein Traum ist Dass Realität nur ein Traum ist

Der Zauberspruch Wenn der Bezug zur Realität sich ins Traumhafte verkehrt, dann träumt die Dichtung ihren ältesten Traum: kraft ihres Wortes eine eigene Wirklichkeit zu erschaffen. Sobald die Worte ihren Dienst an der aussersprachlichen Bezugswelt quittieren, beginnen sie, in ihrer eigenen Welt vorhanden zu sein. Sie erzeugen hier einen eigenen Sound und eine Korrelation der Dinge, die sich nicht in der Referenz auf eine aussersprachliche Realität erschöpft. Befreit von der Illusion, der aussersprachlichen Realität habhaft werden zu können, feiern die Worte den Verlust ihrer Referenzialität als kreativen Schöpfungsakt. Sie beschwören eine Wortwelt, deren Artikulation schon zum eigentlichen Gegenstand ihrer Verlautbarung wird. In ihrem Erklingen erzeugen die Worte ihre Präsenz performativ. Der Abgesang auf eine äussere, entzogene Wirklichkeit erwirkt den Freiraum, in dem neue Tänze getanzt, Zaubersprüche

gesprochen, Traumbilder geträumt werden. Und zur gleichen Zeit auf dem goldnen Kamel gemäss den Bewegungen des Tieres sanft hin und her schwankend aber in festem und bequemem Reitersitz zwischen den goldnen Hügeln also den Höckern die Zügel edel und mutig und edelmütig angepackt und so das Reittier handhabend während dem edlen Tier bei jedem Schritt also bei jedem Tritt sacht die Füsse aufgingen sich also gehen liessen (16) So beginnt der Lyriker Michael Fehr einen majestätischen Satz in seinem Buch Kurz vor der Erlösung, der über mehrere Seiten hinweg das Bild eines reitenden Königs in die Wüste malt. In seinem «gräulich kardinalsroten» Mantel reitet der König in einer «tiefnächtiglich mattvioletten und mattgräulichen fahlen Wüste» dahin. Michael Fehr schöpft aus inneren Bildern, aus Farben und Farbkombinationen, deren Atmosphäre er bis in die feinsten Paronomasien der Worte nachspürt, um zu ergründen, wie Klänge und «Farben mit oder gegen oder unter einander in Aktion geraten.» ‹Kurz vor der Erlösung› bezeichnet dabei jene Liminalität, auf deren Schwelle sich Worte in Gesang verwandeln. Im Gesang möchte diese Poesie präsent werden. Ihre Bestimmung findet sie in der Stimmung, die sie selber hervorruft. Kein Wunder, dass beinahe alle Figuren des Buches am Ende zum Gesang finden, wie der einsame Jäger auf seinem «anthrazitgräulichen und

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militärgrünlichen», schwankenden und verschneiten Hochstand: dann merkwürdig hörend wie in der fernen Stadt die Glocken der Kathedrale hell anschlugen und klar und überdeutlich merkwürdig präzise hörend das sonore Brummen in den Tiefen der Glockentöne und das soprane Summen in den Höhen der Glockentöne darauf selber eine seltsame Helligkeit und Heiterkeit und Leichtigkeit und Lichtigkeit spürend darob sich rührend Mut fassend gegen die böse beengende Unsicherheit und gegen die böse beklemmende Ängstlichkeit ankommend aus eingeengter Kehle mit eingeklemmter krächzender und unendlich leiser Stimme aber immerhin mit Stimme der magere hagere karge kahle fahle Jäger melodierte und modulierte Halleluja Alleluja (37)

berauschende Akt der Musik gewordenen Dichtung. Magisch werden die Worte nicht in der Absicht, die Dingwelt zu verändern, sondern in der Möglichkeit, als Klangereignis eine Übermacht über die Wirklichkeit zu erlangen. In dieser subjektiven Erfahrung erweist sich die Sprache endlich ein Stück weit losgelöst von ihrer alltäglichen Aufgabe, die Welt durch ihre Logik narrativ zu erschliessen. Verbleibende Konturen einer vorstrukturierten Welt reizen die Phantasie zu ihrer Umschreibung, Umbesetzung, Umsortierung. Als Klangteppich verweben die Worte das Gefüge der Zeit in neuen Mustern und erheben sich über die langweilige Welt der Menschen. Dergestalt fliegend überwinden sie leicht Wüsten und Wälder und verknüpfen Nahes mit Entferntem. Sie gemahnen den Reisenden dabei an jene Erfahrung der Melancholie, in de-

ren kreisenden Bewegung die Sehnsucht nach einem Stillstand der Zeit geschrieben steht. Leicht möglich, dass der Reisende seine Sehnsucht mit jenen Zaubersprüchen stillt, deren Worte der Welt für einen Moment Einhalt gebieten.

Literatur Ueli Bernays: Das Ende der Schlüsse. Neue Zürcher Zeitung, Freitag, 28. Februar 2014, Pop und Jazz, S. 47.

Mit den Mitteln der Wiederholung und der Variation erzeugen die Worte einen Klangraum, in dessen Nachhall sie sich ihrer Bedeutung sacht entheben. In der zeit- und besinnungslosen Repetition erlangen sie endlich den Status von Zaubersprüchen. Durch ihr Erklingen allein beschwören sie eine Kraft herauf, die sich über eine logisch durchdrungene Welt hinwegzusetzen vermag. Dieser Vorgang ist der eigentlich

Michael Fehr: Kurz vor der Erlösung. edition spoken script. Luzern 2013. Peter Weber: Die melodielosen Jahre. Frankfurt a. M. 2007. Youtube »Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi – Der Anfang ist nah«, (2013) »Moritz Kienemann ‹In Oktaven› @ Podium.Bar, Stadtheater Ulm (05.03.2011)«

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Vom Zauber des Dadaismus Ein Gedicht Tristan Tzaras

Ana Lupu «Nun ist’s nicht mehr der Gegenstand, der die äußersten Enden seiner Flugbahn in der Iris vertauscht und sich fehlerhaft auf die Oberfläche projiziert. Der Photograph hat ein neues Verfahren erfunden: er hält dem Raum das Bild, das dessen Grenzen sprengt, entgegen und die Luft reißt’s mit gesenkter Stirn und geballten Händen in ihr Innerstes um es zu verwahren.» So Tristan Tzara in dem von Walter Benjamin als Die Photographie von der Kehrseite aus dem Französischen übersetzten, 1922 erschienen Text. Dieses Zitat liefert einen Ansatz, um sich mit dem Gedicht abrakadabrakadaver, französisch Carnage abracadabrant zu befassen [s. Seiten 14/15]. Die scheinbare Ungegenständlichkeit des vorliegenden Gedichts, wird beim Lesen desselben erzeugt: Die aneinandergereih-

ten, unmittelbar aufgedrängten und rasch niedergeschriebenen Wörter sind wie Risse aus einem anderen Text. Von ihrem Ursprung losgelöst, finden die Wörter, die vom Einfall diktiert zu sein scheinen, zu einem Wortspiel, das ihre Gespaltenheit doppelt sichtbar macht. Indem sie voneinander differieren und sich stets einer Fixierung auf (unmögliche) Bedeutung entziehen, sind sie umso mehr in der eigenen Schriftlichkeit gefangen. Es entsteht eine Intimität zwischen Wort und Ding, die das Eine mit dem Anderen identifizieren lässt. Der Reiz des Ästhetischen wird durch den gewaltsamen, doch schöpferischen scheinbaren Zufall der Simultaneität dieser objets trouvés gesteigert. Wenn also in einer Inversion von Verhältnissen der Photograph «dem Raum das Bild entgegenhält», dann widerspiegelt hier der

Text seine Unlesbarkeit, seine Medialität, wie etwa die readymades Marcel Duchamps, die, so Dietrich Mathy, von «keiner Gebrauchsmanipulation veränderten Gebrauchsgegenständen» gegen Rationalität und Normativität revoltieren. Kunst und Leben sind für den Dadaisten durch Umstülpen, Zersetzen, Subversion und Verlachen sich selbst vorgelagert. Die Skepsis gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft und ihrem Kunstbegriff führt zu einer Vorstellung von Kunst, die im pathetischen Manifestton ihre negative Komponente findet. Anti-Kunst wird zur Anti-Lyrik, einer, so Hauck, «parasitären [...] Konstruktion eines kontingenten Materials», dessen Textelemente laut Kieruj «auf den Raum der gegenwärtigen Gleichzeitigkeit reduziert wer-

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den» und wie Zufallsprodukte ohne zeitlichen Bezugsrahmen erscheinen. Wenn das Gedicht eine Partitur einer experimentierenden Lebenshaltung ist, dann sind Abrakadabra und Dada Wörter, die keinen programmatischen Sinn bergen (was im Fall «Dada» in Hulsenbecks und Tzaras Manifesten von 1916 bzw. 1918 deutlich wird). Sowohl das vorliegende Gedicht, wie der Dadaismus insgesamt, üben eine Sprachkritik auch und gerade durch Mittel literarischer Polyphonie aus, die laut Mathy der «Dichtung eine Sphäre von Magie, von Zauber und Beschwörung» «abgewinnt». Ist abrakadabrakadaver ein Protest, so deutet der Ausdruck «carnage» aus dem französischen Original umso mehr auf eine Destruktion, deren Ohnmacht im Medium der Sprache selbst vollzogen wird. Der Zauber besteht aber nicht allein im Bewusstsein eines manipulierten Sprachgebrauchs und dem Versuch, durch Demontage den Leser zu provozieren (vgl. Baudelaires Les Fleurs du Mal), sondern auch im Kultus, den die Kunstrichtung des Dadaismus durch öffentliches Vortragen ins Leben ruft: Die Textproduktion als kollektives Ereignis einer immer neu zu bestimmenden Raum-Zeitlichkeit. Henri Béhar schreibt in diesem Sinne im Vorwort der bei Flammarion 2011 erschienenen Werkausgabe Tzaras: «Rien n’est figé, tout évolue, se transforme, et la position de l’observateur intervient dans la perception du poème.»

Literatur Tzara, Tristan. Carnage abracadabrant. In: Henri Béhar (Hg.): Poésies complètes. Tristan Tzara. Paris: 2011. Tzara, Tristan. abrakadabrakadaver. Aus dem Französischen von Oskar Pastior. In: Karl Riha und Waltraud Wende-Hohenberger (Hg.): Dada Zürich. Texte, Manifeste, Dokumente. Stuttgart: 1992. Benjamin, Walter. Kleinere Uebersetzungen. Tristan Tzara, D’Annunzio, Aragon, Proust, Léon Bloy, Adrienne Monnier, Saint-John Perse, Balzac, Jouhandeau. Frankfurt am Main: 1999. Hauck, Johannes. Avantgardistische Lyrik in Frankreich zwischen 1900 und 1920. In: Hans Joachim Piechotta, Ralph Rainer Wuthenow et al. (Hg.): Formationen der literarischen Avantgarde. Die literarische Moderne in Europa. Opladen: 1994; S. 188–204. Kieruj, Mariusz. Zeitbewusstsein, Erinnern und die Wiederkehr des Kultischen. Kontinuität und Bruch in der deutschen Avantgarde, 1910–1930. Frankfurt am Main; Bern: 1995. (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur; Bd. 39); S.80–95. Mathy, Dietrich. Europäischer Dadaismus oder: Die nichtige Schönheit. In: Hans Joachim Piechotta, Ralph Rainer Wuthenow et al. (Hg.): Formationen der literarischen Avantgarde. Die literarische Moderne in Europa. Opladen: 1994; S. 102–123.

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Carnage abracadabrant Tristan Tzara Se lever sous la manivelle de l’accordéon, orchestration, fluctuation calculation des résidus lents, malades – quelle gorge rigide, garage des fouets sages et parallèles et la cavalcade classée sous l’accolade. Roman policier, nez artificiel pour éclairage rose de jour de fête, pickpockets, imperméable, ballons aux bords des lacs, biberons, soir de printemps, les machines marchent pour le grand réveil qui loue le carambolage dieu. De Cambodge arrivé avec son bouledogue, parti 5 h 05 tué minuit précis. L’antenne tremble sous l’abat-jour, cuisine des sabbats météorologiques, bagages, soupe stellaire dans l’ouragan lueur solennelle. Strident éclairage DO majeur, projections d’hélices et poudre blanche dans la bouteille clé de premier ordre garantie pour toutes les malles je m’amuse dans le triangle de fer. Étiquette dans la pharmacie et confession de la jeune amoureuse : L’amertume des machines à coudre les nuages et des étoiles éteintes dans un verre d’eau des anges de carrousel bleu robinet pour les instincts et la baguette sonne sur les mensonges des colliers grelots et cadenas.

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abrakadabrakadaver Aus dem Französischen von Oskar Pastior aufgestanden unter kurbeln der akkordeone einer orchesterversion einer kalkulation eines langsam kränkelnden bodensatzes – welch rückständig starre gurgel und garage kluger paralleler peitschen und dann kavalkade abgeheftet unter einer akkolade ein kriminalroman, künstliche nase zwecks rosiger verklärung der feiertage picknicktaschen regenmäntel luftballons an uferpromenaden schnuller abende im frühling, die maschinen sind im gang fürs große erwachen mein gott in der ausgeliehenen karambolage eingetroffen aus kambodscha mit eigener bulldogge, abgereist um 5 uhr 5, kaltgemacht genau um mitternacht die antenne zittert unterm lampenschirm, meteorologische hexenküche, eine bagage, stellare suppe im orkan ein feierliches glänzen schrill verklärung c-dur propellerprojektionen weißer puder in der flasche ein garantiert prima schlüssel für alle schweren reisekoffer ich amüsiere mich im eisernen dreieck etikette in apotheken und liebesgeständnisse eines jungen mädchens: bitterkeit von wolkennähmaschienen und in einem glas wasser gelöschten sternen die engel vom blauen ringelspiel ein hahn und ventil für die triebe und das trommeln auf den lügen von halsketten handschellen hängeschlössern

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Die Magie zeigt sich im Verschwinden Hermann Burgers Diabelli, Prestidigitateur und die Unbestimmtheit präziser Sprache

Aurel Sieber Das Handwerk eines Taschenspielers besteht darin, seinem Publikum auf elegante Art und Weise einen Bären aufzubinden. Der Zuschauer seinerseits will vom Zauberer sensationell getäuscht werden. Der Magier muss zaubern, eine Show bieten, die auch nach mehrmaligem Überdenken nicht recht verstanden werden kann. Hermann Burger, dessen Werk dank einer kürzlich erschienenen Gesamtausgabe wieder neu entdeckt werden kann, machte sich diesen Umstand nicht nur als Hobby-Zauberer, sondern auch in seinem dichterischen Werk zunutze. Diabelli, Prestidigitateur. Eine Abschiedsvolte für Baron Kesselring ist der Abschiedsbrief eines Zauberers an seinen Mäzen, in dessen Verlauf sich der Verfasser gleich selbst wegzaubern wird. Er spricht darin völlig offen über die Zauberei – so offen jedoch, dass der

Wissbegierige sich fühlen wird wie ein Durstiger, dem man «einen Feuerwehrschlauch ins Gesicht hält» (Strässle 2009: 403). Folgende Berichterstattung über eine Volte, einen Kunsthandgriff im Kartenspiel, gibt ein treffendes Beispiel für diesen Burgerschen Sprachschwall: «Das Spiel wird linkshändig gehalten, mit der Rechten teilt man es etwa in der Mitte, indem man die obere Hälfte, Paket eins, mit dem Daumen an der rückwärtigen, mit dem Mittel und Goldfinger an der vorderen Seite erfasst und hochhebt, um die vom Zuschauer gezogene Karte, und, bitte, den Zuschauer nicht zur Eile antreiben zu wollen, die Eile ist dann Ihre Sache, auf das Paket zwei, legen zu lassen, worauf man die Hälften wieder zusammenbringt, indessen unauffällig

den kleinen Finger der Linken zwischen die Pakete schiebt, die sogenannte Kleinfingersperre einschaltet – so weit, so gut; sobald, Herr Baron, die rechte Hand das ihrige auf das untere Spiel gelegt hat, lässt sie Teil Nummer eins los und ergreift klammheimlich Teil Nummer zwo, der in der gleichen Weise mit dem Daumen an der rückwärtigen, mit dem Mittel und Goldfinger – immer wieder stossen wir aus die Paarung Mittel und Goldfinger – an der vorderen Schmalseite gehalten wird, worauf unter der Deckung der Rechten die linke Hand, das erste Paket seitlich herauszieht, bis es vertikal an der rechten Längsseite des zweiten Paketes anliegt, während die Finger der rechten Hand den ihrerseits gehaltenen Teil Nummer zwei etwas anheben, damit

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er über die Längskante des vertikal stehenden ersten Paketes hinweggleiten und selbiges glissando unter sich begraben kann, was dergestalt vor sich geht, dass man sich nun unten, weiland oben befindliche erste Paket automatisch und lautlos ins Innere der linken Hand fällt. Wo, bitte, liegt Ihrer Meinung nach nun das gezogene Blatt?» (Burger, Diabelli: 57f.) Burger spricht aus eigener Erfahrung, wenn er bemerkt, dass die Aufklärung eines Zaubertricks nur ein «enttäuschendes Aha-Erlebnis» auszulösen vermag (Burger 1986: 54). Denn um bei den Recherchen für Diabelli nicht ständig auf Verschwiegenheit und Ablehnung zu stossen, sah er sich genötigt, den magischen Eid abzulegen. Nur so war es ihm möglich, an die Tricks der Zauberer heranzukommen. Die Enttäuschung des aufgedeckten Zaubertricks ist für ihn eine so «schale Aufklärung, wie wenn man das Wort ‹Prestidigitateur› im Fremdwörterduden nachschaute» (Burger 1986: 54). Damit schlägt er die entscheidende Brücke zwischen der Zauberei und der Sprache. Hinter dem «Fremdwortungetüm» verbirgt sich bereits die Essenz von Burgers Poetik der Verschleierung. Wollte er über Zauberei schreiben, so musste er sein Handwerk aus der Sicht eines Eingeweihten zwar glaubwürdig darstellen, aufgrund seines Eids aber immer kaschieren, worum es tatsächlich ging. Burger erkennt in dieser Poetik der Verwischung die Umkehrung von Wittgensteins berühmtem letzten Satz aus dem Tractatus: «Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen». Er spricht genau davon, worüber man nicht sprechen dürfte.

Obwohl der Fachterminus ‹Prestidigitateur› den Stand des Taschenspielers, der auf schnelle Finger angewiesen ist, genau umschreibt, übt er aufgrund seiner Fremdartigkeit auf den Grossteil der Leserschaft genau den gegenteiligen Effekt einer aufklärenden Bezeichnung aus. Burger nutzt diesen Umstand gezielt aus, indem er den Zauberer stets in seiner Fachsprache erzählen lässt und dabei ein dichtes Netz aus Fremdwörtern spinnt. Er stellt so auf sprachlicher Ebene nach, was der Prestidigitateur mit seinen Fingern vormacht: Er weist den Zuschauer resp. den Leser als Laien aus und verwirrt ihn durch seine (sprachliche) Akrobatik. In seiner poetologischen Schrift Schreiben als Existenzform weitet Burger die Unbestimmtheit, die dem Fremdwort anhaftet gar zum Prinzip seines Schaffens aus: «Ich liebe das Fremdwort, den Fachterminus, weil in ihm die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten weniger erstarrt ist. Es ist das dynamischere, das gleichsam motorisierte Wort» (Burger 1986: 102) Sowohl die Zauberei als auch die Literatur erheben die in Verschlingungen geratene Kommunikation zwischen Zauberer und Publikum, zwischen Autor und Leserschaft zur Tugend. Weder in der einen noch in der anderen Disziplin ist es für das Glück des Rezipienten wichtig, dass er mit Gewissheit die Anatomie des Dargebotenen verstünde. Vielmehr ist es die ständige Verfolgung eines entschwundenen Sinnes, die zum Glück führt. Freilich hält die Literatur im Unterschied zur Zauberei keinerlei Auflösung bereit. Sie nimmt die Konstituierung des Sinnes aus den Händen

eines erwählten Kreises und verteilt sie gerecht unter der Leserschaft. Literarische Texte haben als wichtigstes Ziel ihr Gelesenwerden, nicht die Überbringung einer Wahrheit. Unbestimmtheit, die eine Interpretation provoziert, ist die «Basis einer Textstruktur, in der der Leser immer schon mitgedacht ist» (Iser 1993: 248). Mit dem Einsatz einer überpräzisen Sprache bezweckt Burger paradoxerweise keine minutiöse Darstellung eines Sachverhaltes, sondern schafft damit die Voraussetzungen für die Beteiligung des Lesers am Text. Denn jemand muss in all die Leerstellen springen, die sich aufgrund der unstabilen Beziehungen zwischen Zeichen und Bezeichnetem überall auftun. Mithin unterscheidet sich Literatur gerade durch diese offene Beteiligung von Texten anderer Gattungen: «The truest respect which you can pay to the reader‘s understanding, is to halve this matter amicably, and leave him something to imagine» (Laurence Sterne, Tristram Shandy: 1,36). Literatur Burger, Hermann (1979): Diabelli. Erzählungen. Frankfurt a.M. Burger, Hermann (1986): Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben. Frankfurter Poetik Vorlesung. Frankfurt a.M. Iser, Wolfgang (1993): Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Texte. In: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik: Theorie und Praxis. München, S. 228–251. Strässle, Thomas (2009): Nachwort zu Schilten. In: Burger, Hermann: Schilten. München. Sterne, Laurence (1759–1767): The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman.

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Unerhört Die sagenhafte Magie des Sehens

«The greatest thing a «Das Mediale, das ist human soul ever does die Unmittelbarkeit aller in this world is to see geistigen Mitteilung, something and to tell ist das Grundproblem what it saw in a plain der Sprachtheorie, way. [...] To see clearly und wenn man diese is poetry, prophecy, and Unmittelbarkeit magisch religion – all in one.» nennen will, so ist John Ruskin das Urproblem der Sprache ihre Magie.» Walter Benjamin

Fabian Schwitter Sehen und gesehen werden. Wäre diese Wendung in dieser Welt nicht so verkommen, würde sie das Wundervollste bezeugen, was es gibt. Es ist die Antithese zum biologistischen fressen und gefressen werden. Der Wolf und das Lamm, ein strohfressender Löwe – gäbe es da nicht noch die Schlange – bei Jesaja 65 am Ende: «Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören.» So übersetzt Luther die absolute Hinwendung. Die Hinwendung Gottes zu den Menschen. Und wie sich die ersten beiden Menschen am Ende der Schöpfungsgeschichte als «Gegenüber» im Paradies begegnen. Bereits am Anfang – und noch vor diesen ersten Menschen – tritt alles in einem Dualismus auseinander. Die Schlange als Reminiszenz der Grenze? Die Vorwegnahme einer in sich verschlungenen, sich winden-

den Einheit, wie sie in den ersten Sätzen des Johannesevangeliums beschrieben ist? Die listige Schlange, die immer schon wusste um jenes Auseinandertreten? Gesehen haben und es sagen, einfach sagen. Sehen und sagen. Die Zeit spielt eine Rolle, aus Morgen und Abend, ihr in sich gekehrter Rhythmus. Das gegenläufige Ineinanderfliessen der chaotischen Graustufen, wüst und leer. Ein «Strudel» die Dämmerung – manchmal gewaltsam und manchmal unmerklich. Und die Sprachtheorie, wie sie Walter Benjamin formuliert: Die «Identität zwischen dem geistigen und dem sprachlichen Wesen» als «unbegreifliche Paradoxie». – «Dennoch hat diese Paradoxie als Lösung ihre Stelle im Zentrum der Sprachtheorie, bleibt aber Paradoxie und da unlösbar, wo sie am Anfang steht.» –

Der Name dieser Paradoxie: , mit seinem «Doppelsinn». Das Wort , wie es «im Anfang war», wie in der Sprache. – «Im Wort wurde geschaffen» und in der «Verbindung von Anschauung und Benennung» erfüllt sich die Schöpfung durch den ersten Menschen Adam. «Gott gibt den Tieren der Reihe nach ein Zeichen, auf das hin sie vor den Menschen zur Benennung treten.» Der Mensch sieht die Tiere und er sagt sie einfach, indem er ihnen ihren Namen gibt – den Namen, den sie tragen. Darin besteht die Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott. In der Sprache sind sich Mensch und Gott gleich. In dieser wundersamen Verschlingung von sagen und sehen. So erscheint die creatio ex nihilo weit weniger wunderlich. – «Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und

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die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.» – Sprechen, erkennen, benennen. Sagen, sehen, sagen. In der Sprache, das Sehen eingefasst im Medium, jener «Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung». Die Sprache das Medium und darüber hinaus nichts, als wäre alles aus der Luft gegriffen – begriffen durch die Sprache und in ihr lebendig. Der Hauch der Inspiration. – «Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde und blies ihm den Odem des Lebens in die Nase.» – Und das Erkennen als intuitive Evidenz, so wie Adam die Tiere erkennt und benennt vor der Verstossung aus dem Paradies, vor dem Wissen um das Wesen der Dinge. – So, als ob Gott bereits gewusst hätte, was er schaffen würde, noch bevor er schuf. «Und Gott sprach: Es werde Licht.» Fortan ist Licht die Metapher für Erkenntnis und Wahrheit. Der erste Schöpfungsakt in der Sprache. Das

ge sind, was sie sind. So sind sie gut. – Wissen, was die Dinge sein sollen und ob sie sind. Die Dinge sagen, um sie hernach zu erkennen: «jede Sprache teilt sich selbst mit. Oder genauer: jede Sprache teilt sich in sich selbst». Und das So-Sein der Dinge, die «Identität» utopisch «zwischen

«Ein zweites Mal, so die Vermutung, erfüllt sich die Schöpfung durch den Menschen, diesmal jedoch auf tragische Weise.» dem geistigen und dem sprachlichen Wesen». Diese Paradoxie findet sich schon in der Formulierung des sechsten Tages, wo die absoluten Dinge sich gleichsam selbst übertreffen und das Absolute, das «selig in sich selbst ruht» und über jedes Gericht erhaben ist, überbieten, als müsste Gott gleichsam noch deutlicher sehen: «Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.» Eine Ahnung davon, dass in der Sprache – und vielleicht nicht nur in der «Sprache des Menschen» – die Dinge doch «überbenannt» sein könnten? Die folgenschwere Ent-

«Später wird erkennen dann ganz profan – im besten Fall – Liebe heissen und Zeugung bedeuten.» Sehen präfiguriert. – Weit wunderlicher: Als hätte Gott trotzdem erst erkennen können, was er geschaffen hatte, nachdem es gesagt war. «Und Gott sah» die Dinge nicht nur, er fällte auch ein Urteil über ihr Wesen. «Und Gott sah, dass das Licht gut war.» Gott sah, dass das Licht ist, was es ist. Er sah, dass die Din-

einzige, tiefste Schuld bestraft – und erwartet.» Ein zweites Mal, so die Vermutung, erfüllt sich die Schöpfung durch den Menschen, diesmal jedoch auf tragische Weise. Die «Traurigkeit der Natur» kündet davon, wenn der Wind durch die Äste der Bäume weht und das Rau-

fesselung des grausam richtenden Wortes vom «Guten und Bösen», wie Benjamin es beschreibt, ist angelegt. Das Urteil: «Dieses richtende Wort verstösst die ersten Menschen aus dem Paradies; sie selbst haben es exzitiert, zufolge einem ewigen Gesetz, nach welchem dieses richtende Wort die Erweckung seiner selbst als die

schen ein Raunen und Seufzen ist – «wo auch nur Pflanzen rauschen, klingt immer eine Klage mit.» – «Das Traurige fühlt sich so durch und durch erkannt vom Unerkennbaren. Benannt zu sein – selbst wenn der Nennende ein Göttergleicher und Seliger ist – bleibt vielleicht immer eine Ahnung von Trauer.» – Wie der Mensch, als er «nackt» vor Gott stand, «bar», nachdem der Herr gerufen hatte: «Adam, wo bist du?» – Die «Sprachlosigkeit» als Unfähigkeit zu «erkennen». Später wird erkennen dann ganz profan – im besten Fall – Liebe heissen und Zeugung bedeuten: «Und Adam erkannte seine Frau, und sie ward schwanger». Erst im Neuen Testament kehrt das anfängliche Licht zurück, nachdem zwischen Genesis und Neuem Testament lange davon gekündet worden war. – Bei Johannes: «Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.» Die Hoffnung auf Erlösung und die

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neuerliche Hinwendung, als ob sehen und sagen dereinst überwunden würden. Aber noch einmal – vielleicht als Omen erneuter Überbenennung, des allzu grossen Versprechens – der Aufschub: «Es war ein Mensch, von Gott gesandt, der hiess Johannes. Der kam zum Zeugnis, um von dem Licht zu zeugen, damit sie alle durch ihn glaubten. Er war nicht das Licht, er sollte zeugen von dem Licht.» – Das Sehen als Scheitern. Die Verbindung zwischen Gott und den Menschen in der Sprache: «Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht.» – Durch Gott gemacht, was sich durch den Menschen erfüllt: die Schöpfung. Und die Sprache als Ahnung der Einheit in der Sprache. Endlich – «und erwartet» – statt gerade, klar und deutlich, genügsam selbstgenügsames Sehen erst – Blindheit vielleicht, die Blindheit der Liebe – helle Hörigkeit «bar» jeden Ansehens, Antwort noch vor dem Ruf – eben noch einmal jene «Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung» in der Sprache.

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Auf den Gängen war alles ruhig. Nur der alte Landolt war wieder ausgebüxt und humpelte verwirrt im Nachthemd durchs Halbdunkel, nicht wissend, dass ihn die Schwestern gleich wieder zurück auf sein Zimmer bringen würden. Als er hinter einer der Türen lautes Stöhnen und Schreie hörte, beschloss er aus einem plötzlichen Impuls heraus, sie zu öffnen. Die Schreiende, eine junge Frau, deren blonde Locken nass vor Schweiß über ihre Schultern fielen, lag, halbnackt, auf einem Bett; daneben standen, über sie gebeugt, zwei Gestalten in blau. Da ihn niemand bemerkte, blieb der Alte im Türrahmen stehen und beobachtete völlig entgeistert das Spektakel. Erst, als das Kind plärrend in den Armen der völlig entkräfteten, aber glücklichen Mutter lag, bemerkte ihn der Arzt und ließ ihn zurück auf sein Zimmer bringen. Daniel Grohé

Rotat

Bereits zum dritten Mal innerhalb einer Woche wurde er vom Geschrei der Kinder auf der Straße geweckt. Grell drängte sich das Sonnenlicht zwischen den Lamellen der Rollläden hindurch ins Zimmer und malte Streifen auf die Wände. Ein Blick auf die Anzeige seines Weckers zeigte ihm, dass es noch Vormittag war und er erst vor fünf Stunden seine Nachtschicht im Hotel beendet hatte. Wo blieb da die Gerechtigkeit? Er gähnte, stand auf und kurbelte die Jalousie ein Stück weit nach oben, um hinaussehen zu können. Wieder war es die Kleine mit den blonden Locken aus dem Nachbarhaus. Eine Weile lang sah er ihnen gedankenverloren zu. «Was solls?», dachte er schließlich, drehte sich um und versuchte weiterzuschlafen.


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Raureif lag auf Wiese und Pflanzen im Garten. Im Kamin glommen noch die letzten Stückchen Glut unter kalter Asche, aber langsam drang der Frost auch ins Innere des Hauses vor. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch es dämmerte bereits. Unter der Wolldecke in seinen Armen schaute nur ein Büschel blonder Haare hervor: sie schlief noch. Lange waren sie beieinander auf der Couch gelegen, eng umschlungen und in warme Decken eingewickelt, und hatten den Flammen zugesehen, bis der Schlaf sie übermannt hatte. Er mochte die leisen Geräusche, die sie von sich gab: die Seufzer, das schwere Atmen.

«Alt ist sie geworden», war das erste, das ihr bei ihrer Begegnung durch den Kopf schoss: «Alt und grau.» Es war lange her, dass sie ihre Mutter zum letzten Mal gesehen hatte. Wahrscheinlich hatte sie damals bereits alt ausgesehen und es war ihr nicht aufgefallen. Vielleicht waren es aber auch nur die Monate im Heim, die sie alt gemacht hatten. Und in der Tat erzählte sie dann auch hauptsächlich von Dingen, die sie nicht ertrug: dem schlechten Essen, dem unfähigen Personal und vor allem den vielen Alten um sie herum. Alle seien sie senil oder schwachsinnig, und meistens sogar beides, und es sei völlig unerträglich, sich auch nur mit einem von ihnen zu unterhalten, beziehungsweise die gesammelten Erzählungen über ihr unwürdiges Dasein über sich ergehen zu lassen. Sie konnte die Leiden ihrer Mutter aufs Beste nachempfinden, denn auch ihr fiel es gerade schwer, deren Gequassel auszuhalten, und sie wünschte sich, doch nur einen Espresso bestellt zu haben, denn ihr Tee wollte und wollte nicht weniger werden. Sie seufzte, schenkte sich nach und beschloss, Geld für die Sterbehilfe zu spenden.

Keine von beiden hatte ein Wort gesagt, seitdem sie das Haus der Großmutter betreten hatten, das nun seltsam leer und verlassen wirkte, obwohl alles noch da war: alle Möbel, die Bücher und Pflanzen, selbst das benutzte Frühstücksgeschirr lag noch ungewaschen in der Spüle. Doch bald würde sich das ändern, ein Teil davon unter den Verwandten verteilt und der Rest entsorgt werden, bis nur noch das leere Haus übrig bleiben würde, eine Hülle ohne Inhalt. Nachdem sie eine Weile lang stumm nebeneinander gestanden waren, entschied sich die Tochter, ihre Mutter alleine zu lassen und die Treppe auf den Dachboden hinaufzusteigen. Hier stapelten sich Kisten voller Dinge, die seit Jahren nicht benutzt worden waren. Sie durchstöberte einige davon und fand schließlich, verborgen zwischen alten Pullovern, eine kleine Holztruhe. Sie war unverschlossen und in ihrem Inneren befand sich nichts weiter als ein Deck Karten. Einige sahen wie gewöhnliche Spielkarten aus, andere stellten Figuren dar, deren Bedeutung sich ihr nicht immer erschloss. Als sie ihre Mutter rufen hörte, steckte sie die Karten in ihre Tasche, ohne zu wissen, was sie damit anfangen wollte, und rannte die Treppe hinunter.


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Alles dreht sich, alles tanzt: Der Narr mit der Herrscherin, der Teufel mit dem Papst, Sonne und Gestirne. Und mittendrin sitzt sie, die Hohepriesterin, und dreht ihr Rad. O Fortuna, wie der Mond so veränderlich. Im Triumphwagen fährt er, von Wein umrankt, mit lärmendem Gefolge über den Himmel – ein Heer von Gauklern. Aller Macht beraubt, taumeln Herrscher und Herrscherin singend unter ihrem Gefolge. Tod und Gehängter liegen sich wie Liebende in den Armen und der alte Eremit blickt mit grauen Augen aus seinem Turm und lacht laut meckernd über das, was er sieht. Fort ist alle Enthaltsamkeit; fort alle Ordnung und alle Gerechtigkeit.

«Das Klopfen an der Tür unterbrach die regen Diskussionen nur einen kurzen Moment lang, dann fiel allen wieder ein, dass es nicht die Nachbarn waren oder gar die Polizei, die sich über den Lärm zu fortgeschrittener Stunde beschweren wollte, sondern nur einer von ihnen, der sich vor geraumer Zeit aufopferungsvoll auf den Weg zur nächsten Tankstelle gemacht hatte, um noch mehr Wein und Zigaretten zu kaufen, und nun zurückgekehrt war. Sie alle saßen um den großen Esstisch im Wohnzimmer herum, das Licht war gedimmt, die Luft rauchgeschwängert. Gerade wurde die nächste Flasche entkorkt – das Gespräch drehte sich gerade um die Zukunftspläne der Anwesenden – als die Gastgeberin, eine blonde Biologiestudentin, vorschlug, die Karten danach zu befragen, was die Zukunft bringen würde. Sie besitze ein Deck Tarotkarten, das sie vor Jahren auf dem Dachboden ihrer Großmutter gefunden, aber noch nie benutzt habe, und sogleich meldete sich eine andere Studentin, die von sich behauptete, die Karten lesen und deuten zu können. Die Gläser wurden also zur Seite geschoben...» Er legte den Kugelschreiber weg und versuchte sich zu erinnern, was dann geschehen war, doch das Ergebnis des Kartenlegens blieb im Nebel seines Gedächtnisses verborgen.

Als sie es sich gerade im Bett bequem gemacht – alle Kissen lagen perfekt, das Bettzeug war frisch gewaschen – und ihr Buch, das sie bereits seit Tagen fertiglesen wollte, denn sie war an einer spannenden Stelle stehengeblieben und hatte ihrer Prüfungen wegen nicht weiterlesen können, aufgeschlagen hatte, fing es wieder an. Erst hörte sie nur das rhythmische Quietschen des Bettgestells aus dem Nachbarzimmer, dann kam leises Stöhnen dazu, das langsam immer lauter wurde. Seit ihre Mitbewohnerin bei einem Fest in ihrer Wohnung diesen Typen kennengelernt hatte, ging das fast jeden Abend so. Während der Prüfungszeit war es schon ärgerlich genug gewesen, aber jetzt, da sie einfach nur ihre Freizeit genießen und in Ruhe lesen wollte, störte es sie noch viel mehr. Sie hatte sich gerade aufgerappelt und wollte laut gegen die Wand klopfen, als sie es sich doch anders überlegte, in ihrer Schreibtischschublade ein paar Ohrstöpsel suchte und sich wieder ins Bett legte. Schließlich hatten es die Karten so vorhergesagt. Was sollte man da machen.


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Biologin. Ich arbeite in einem Labor der Universität. Nein, natürlich nicht. Wer will als Kind schon Biologe oder überhaupt Akademiker werden? Bis ich fünfzehn war, wollte ich unbedingt Tierärztin werden. Irgendwann habe ich gemerkt, dass es das Kleine und Winzige ist, das mich viel stärker fasziniert. Ich wollte wissen, wie Leben funktioniert und woraus es besteht und so bin ich schließlich in der Biochemie gelandet. Was ich genau mache? Ich untersuche hauptsächlich den Aufbau und die Struktur von Proteinen. Das klingt vielleicht langweilig, aber das ist es nicht. Proteine sind riesige, komplex gefaltete Moleküle, die alle möglichen Funktionen in einem Organismus erfüllen. Und zu verstehen, wie solche Proteine aufgebaut sind, kann ungemein wichtig sein. Am faszinierendsten finde ich, dass sie alle – und nur schon im menschlichen Körper gibt es zigtausend verschiedene – aus den gleichen dreiundzwanzig Grundbausteinen aufgebaut sind. Je nachdem, wie diese Bausteine angeordnet sind, entstehen völlig andere Moleküle mit völlig anderen Eigenschaften. Ja, ich arbeite viel im Labor, was manchmal auch etwas eintönig ist, aber ich bin auch froh, nicht nur am Schreibtisch sitzen zu müssen. Was machen Sie denn beruflich? Oh, warten Sie, der Kellner kommt. Haben Sie sich schon entschieden? «Regnet es noch immer?» «Ja, Mutter, es gießt richtig. Ich habe die Kleine gerade zur Schule gefahren, damit sie nicht so nass wird. Wie geht es dir?» «Gut, aber mir fehlen das Haus und der Garten. Mein Zimmer hier ist so klein. Nicht, dass ich den Platz unbedingt bräuchte; ich habe ja nicht viel, aber ich fühle mich so eingeengt. Als hätte ich nicht genug Luft, um zu atmen.» «Ich werde nachher mal mit der Heimleitung reden.» «Nein, tu das nicht. Ich möchte den Leuten hier doch keine Umstände machen.» «Wie geht es deinem Gedächtnis?» «Ich merke, wie es schlechter wird. Es ist so frustrierend. Nicht nur, dass ich manchmal da stehe und nicht weiß, was ich machen, wo ich hin wollte. Gestern habe ich mir alte Bilder von uns angesehen und gemerkt, dass ich mich an manche Dinge nicht mehr erinnern kann.» «Hast du mit Dr. Weinmann darüber gesprochen? Nimmst du deine Medikamente?» «Ja, ja.»

«Asche zu Asche, Staub zu Staub», sprach der Pfarrer und warf eine Schaufel voll Erde auf den Sarg. Einer nach dem anderen trat nun an den Rand des Grabes, um Abschied zu nehmen. Alle waren sie gekommen: entfernte Onkel und Tanten, die sie kaum kannte, Leute, die sie nie gesehen hatte und die sie nie wieder sehen würde. Sie schüttelte einem nach dem anderen die Hand und empfing Beileidsbekundungen. Ihre Tochter stand vor ihr, drückte sich fest an sie und verstand nicht, was sie hier sollte, was die vielen Menschen sollten, das viele Gerede und warum sie unbedingt ihr Kleid tragen musste. Wie oft sie sich diesen Moment vorgestellt hatte, der alles andere als unerwartet gekommen war – aber dann doch zu plötzlich.


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Bevor ich Dir schreibe, muss ich ja oft Fahrradfahren, ich fahre dann durch Altstetten mit meinen schwarzen, schimmernden Bikerhosen, die ich ja ziemlich sexy finde, weil das Gemächt darin riesig aussieht, was ich ja niemals zugeben würde, wie gesagt fahre ich durch dieses Altstetten mit seinen hässlichen, seelenlosen Blöcken und seinen süssen, bleichen Ziegelstein- und Riegelbauhäuschen, in deren Gärten das Gehänge der süssen, bleichen Hortensien mit ihren mächtigen, gedüngten Dolden in die Ereignislosigkeit hineingedeiht und gegen die Häuser voller süsser, bleicher Menschen anblüht und die Menschen hier machen abends lauschige Spaziergänge mit ihren Familien und tragen ihre Kinder auf den Schultern durch deren süsse, bleiche Kindheit, und als ich heute beim Waldrand ankam, wurde mir klar, dass es, wenn ich Dir schreibe, nur darum geht, was es heisst, jetzt zu leben, wie allein man damit ist, wie sehr man das teilen muss und es

Meine liebe Jelena

Dominik Holzer

nicht aussprechen kann, das dachte ich und stach in den Wald, hinter mir waren die Hügel leer, die Wiesen waren leer, ich wusste, dass die Flüsse durch das Land glänzen und sehr leer sind, ich sah bis hinter den See, wo die Berge hoch sind und ihre Tiefe leer und ich sah die Menschen durch den Wald und unten durch die Stadt gehen und sich ausleeren, man kann uns ja zusehen beim Unsausleeren, beim Wandern an der schönen Blüemlisalp zum Beispiel leeren wir uns in die wohltuende, erholsame, fantastische Aussicht, in diese wunderbare Weite, Ives, beim jugendlichen Glühen und Küssen leert man sich ins andere Geschlecht hinein, mit den Sätzen ich liebe dich, Anna und dem Flüstern von Sätzen wie: so etwas habe ich noch nie gefühlt, Marco, beim Kinderzeugen, ist ja klar, beim Arbeiten leeren wir uns ins Nichts, beim Altwerden leeren wir uns in die Spitäler, Spitalbetten und Pflegeheimklos, man schleudert ununterbrochen seine tiefe Seele aus den Zellen hinaus, ich habe

Ein briefliches Suchen

So etwas habe ich noch nie gefühlt, Marco


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keine Ahnung, wie das in anderen Ländern so ist, aber hier ist das so, hier kann man zusehen, wie wir aufwachsen, um uns auszuleeren, ich kam also einen Hügel hinauf und plötzlich traf mich das rote Licht, ich wusste nicht, dass mich Licht noch so treffen kann, vor allem ein Abendrotlicht, ein pathetischer Dämmerungsschein, ein blutroter, samtweicher, tausendmal gesehener Hochsommerabenddämmerungsschein, der durch die Buchen wie durch schwarze Gitterstäbe auf meinen schwitzenden, keuchenden, stinkenden Körper fiel und dass mir das noch ein Weinen in die Augen stossen kann, das ich fast nicht unterdrücken kann, das wusste ich nicht, hast du jemals solch rotes, krasses, rotes, krasses, krasses Licht gesehen, ja, man hat es gesehen, aber trotzdem wird kein Kind behaupten können, dass da nicht etwas Göttliches im Licht sitzt, da vergisst selbst der beste Anwalt seine ärgsten, steuerhinterzieherischsten Gedanken und sogar den ehrgeizigsten Möchtegerndichterling lässt kurzzeitig die narzisstische Selbstverwirklichungsneurose los, ich hielt an und musste dann schnell weiter, sonst hätte ich wirklich noch geheult und da war ein Bünzlihüttchen am Waldrand, von wo aus sicher gerade jemand pissen gekommen wäre, wenn ich mich dem Hochsommerabenddämmerungsscheinflennen hingegeben hätte, also nahm ich die Abkürzung, um dem potentiellen Pisser zuvorzukommen und fuhr durch Schlamm und spritzte mir den ganzen Waldweg an meinen Arsch in den Bikerhosen, ich fuhr durch ein Maisfeld und dachte, dass es das Unnatürlichste der Welt ist, dass man sich von der Landschaft, in der man lebt, abschneidet, dass man trennt, zwischen sich und der Landschaft, in der man atmet, aber der Schweizer hat die Berge von sich abgehackt, hat das denschaftslos. Alles ist von irgendeinem Bundesamt ins Schöne subventioniert. So fuhr ich durch unsere Leidenschaftslosigkeitslandschaft. Ich weiss nicht, Jelena, ich glaube, wir haben nie darüber gesprochen, aber ich glaube, dass Du, genau wie ich, wusstest, als Kind, dass Du zaubern kannst, nicht, hattest du nicht auch Feen im Ahorn und in Deiner Stimme eine Macht, die Blätter in Käfer verwandeln und Warzen verschwinden lassen konnte, nicht, ich weiss nicht, ich fuhr durch den Wald und merkte wieder einmal, wie mir mein Verstand mein Jetzt raubt, alles, das Banale und das Erhabene ver-

«…aber der Schweizer hat die Berge von sich abgehackt, hat das Grosse, Schroffe und Gewaltige aus seinem Wesen verbannt und daraus resultiert die atemberaubende und allgegenwärtige Leere in diesem Land, daher kommt es, dass kein Schweizer etwas Grosses sagen, singen, tanzen oder tun kann, weil alles schön ist und gut…»

Grosse, Schroffe und Gewaltige aus seinem Wesen verbannt und daraus resultiert die atemberaubende und allgegenwärtige Leere in diesem Land, daher kommt es, dass kein Schweizer etwas Grosses sagen, singen, tanzen oder tun kann, weil alles schön ist und gut, und niemand will etwas und niemand braucht etwas, natürlich, der ganze, langweilige Luxusgesellschaftskritiksermon, aber es lässt sich nicht leugnen, dass alles, was in der Schweiz wächst, bürgerlich ist, harmonisch, klein und bis in die allerhintersten und allerverdrängtesten Abgründe hinein lei-


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Leben dann anfängt, wenn man dann endlich einmal dieses oder jenes erreicht haben wird – das alte Achtsamkeitsgebrabbel. Aber vielleicht hat wirklich nur dann ein Rihannalied wieder ein Hölderlingewicht, wenn man das verfolgt und es wieder wie beim ersten Mal Verliebtsein wird und man könnte die Rihanna dann hören, die Kopfhörer aufsetzen, hinausgehen, der Dämmerung entlanggehen und den ganzen, überschweren, von niemandem gefühlten, um jedes Atom schwirrenden Weltschmerz spüren, sich wie in einem Videoclip fühlen und wissen, dass

«Diese Frau ist fünfundvierzig, hat sich einen knallblauen Strich unter die Augen und rot-grünen Schimmer auf die Lider geschminkt, arbeitet bis zwölf Uhr nachts in dieser Tankstelle und kann noch freundlich zu einem Studenten auf Sauftour sein, ich glaube, ich mache etwas falsch.»

sinkt im endlosen Zerdenken des Durchschnittsgehirns, die Amywinehousetexte legten sich den Vögeln um die Schnäbel und die Foucaultgedanken standen vor den Bäumen und ich sah und hörte und fühlte nichts, das Abendrotlicht vorhin war nur ein Unfall gewesen und ich wollte Dir doch etwas Magisches erzählen heute und merke, dass es selbstverständlich nichts Magisches mehr gibt, es sei denn, dass man in jedem Scheissmoment, beim Prämienverbilligungsantragschreiben, beim Inderschlangestehen und beim ständigen Müdesein immer Jetzt! sagt, dass man sich nie erlaubt, zu denken, dass das

Meine Liebe. Ich umarme Dich, bis bald.

alles von Leben durchdrungen ist. Aber ich weiss nicht. Ich gebe mich lieber der Magielosigkeit hin als der Vorstellung, dass Rihanna von meinem unaussprechlichen Leben weiss. Was tust Du gerade? Ich vermisse Dich. Mir ist, als hätte ich mich wieder einmal ausgeleert. Da kommt mir gerade in den Sinn, ich war gestern mit zwei Freunden noch feiern, wir sind fünf Minuten vor zwölf noch in eine Tankstelle, die um zwölf schliesst, haben um zwei vor zwölf vor der Kasse gestanden und ich hab mit meinem Rucksack durch eine elegante Drehung ein paar Dosen aus einem Regal geschlagen, die Kassiererin war erstaunlich gut gelaunt und half mir augenblicklich, die Dosen zurückzustellen, ich sagte, entschuldigen Sie bitte, es tut mir leid, dass ich Ihnen den Laden ausräume und schaute ihr billiges Make-up an, sie sagte, das macht doch nichts, ich hab ja den ganzen Tag drauf gewartet, dass was passiert, schön, sind Sie noch gekommen und bringen ein wenig Action in diese leere Bude, das hat sie so gesagt, ein bisschen freudig gelächelt, ohne einen Hauch von Ironie und ich dachte: Diese Frau ist fünfundvierzig, hat sich einen knallblauen Strich unter die Augen und rotgrünen Schimmer auf die Lider geschminkt, arbeitet bis zwölf Uhr nachts in dieser Tankstelle und kann noch freundlich zu einem Studenten auf Sauftour sein, ich glaube, ich mache etwas falsch. Ich habe mich dann sehr herzlich verabschiedet, meine Freunde haben sich darüber lustig gemacht. Wie das so ist.


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David Ritzkowski Die Inspiration ist eine verlogene Schlampe. Monatelang hat sie mir vorgegaukelt, dass sie hier auf mich warten würde. Komm nach Frankreich, flüsterte sie mir ins Ohr, komm in unser Liebesnest. Dort werden wir beide allein sein und ich werde Dich küssen, nicht nur so im Vorbeigehen auf den Nacken, sondern richtig. Ich werde meinen Rock hochziehen und die Beine breit machen und Dich naschen lassen so viel und so lange Du willst. Ich werde es Dir richtig besorgen. Komm nach Frankreich, Du wirst es nicht bereuen. Jetzt bin ich hier. Aber Mademoiselle lässt auf sich warten. Ich weiß, dass sie sich hier irgendwo aufhält. Das ist ja ihr Revier, ihr Dorf. Sie hat’s hier schon mit vielen anderen getrieben. Überall im Haus zeugen Gemälde, Skulpturen, Zeichnungen und gerahmte Gedichte von ganzen Künstlerrudeln, die sie hier beglückt hat. Aber mich lässt sie zappeln. Spielt ein Spielchen mit mir. Treibt sich in den steilen Gassen herum, lungert unter Torbögen, versteckt sich hinter dem Lorbeerbaum im Innenhof; wenn ich auf der Dachterrasse stehe und in die Dunkelheit starre, sehe ich das Glimmen ihrer Zigarette, wie der Rauch zwischen Hoftor und Dachgiebel des Nachbarhauses nach oben steigt und Fragezeichen formt. Ich höre, wie ihre Absätze übers Kopfsteinpflaster davonklackern und wie der Wind in den losen Papieren raschelt, die sie unterm Arm trägt. Gestern glaubte ich, ihren Schatten auf dem Plateau unter dem Turm zu sehen. Ich zog die Sportschuhe an und rannte den Pfad zwischen den Klippen empor, um sie zu fangen. Ich lief die ganze Hochebene entlang über die Weiden, durch den Eichenwald und auf der anderen Seite hinab bis zum Nachbardorf,

Inspiration über die alte Brücke entlang der Eisenbahngleise und bis zur Hauptstraße und dann wieder empor, in niemals enden wollenden Serpentinen, zurück ins Dorf. Als ich schwitzend und keuchend das Haus erreichte, hörte ich sie lachen. Du bist so geil auf mich, kicherte sie, Du hast keine Geduld. So wird das nichts. Du musst lernen zu warten. Du musst noch so viel lernen. Also warte ich. Ich füttere die Katzen, bringe die Esel auf die Weide, mache Feuer im Kamin, zünde Kerzen an, stelle eine Flasche Rotwein bereit, spiele Tangos von Piazzolla und hoffe, dass sie irgendwann zur Tür hereinkommen wird. Was sollte ich auch sonst tun? Ich bin auf sie angewiesen. Ohne sie werde ich hier sehr einsam sein.


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Emanuel Tandler Gravitätisch steht sie vor dir – die Tür mit dem goldenen Schlüssel. Für einmal sind es nicht vielerlei Ein- und Ausgänge, zahllose Haupt- und Nebentüren, nicht Teile, Einzelteile, Einzeleinzelteile; bloss die Tür mit dem goldenen Schlüssel im Schloss. Vertraust du ihn, diesen schimmernden Drehpunkt, ganz der Tür an und lässt zögerlich von seiner Wendung, so wird auch der Nächste, wenn er eintreten will, dem eigenen Zögern begegnen. Lass das Nachdenkliche aber nicht los, denn der Kopf des goldenen Schlüssels, an Wert und Form zwar unvergleichlich, ist nur der Kopf einer verzahnten Sache. Bleibt er verzahnt, so wird dein Durchblick nicht am Schlüsselloch verblassen, vielmehr allein und vor der Tür deiner Phantasie belassen. Vertrau, dass der Letzte vor dir und vor der Tür weder den Schüssel herausge-

zogen, noch die Tür verschlossen, aber dir die offene Tür hinterlassen hat. Kaum ist sie geöffnet, die Klinke umfasst und niedergedrückt, das Oben und Unten der Kanten im rechten Winkel zum Rahmen verschoben, die gelenkige Scharnierfunktion und Doppelseitigkeit der Tür erfasst, und endlich auch ihre Schwelle überschritten, wirst du fragen: «Und was nun, wo bleibt der Zauber hinter der Tür?» Blickst du nur wenige Schritte von der Schwelle entfernt am Boden entlang, auf einen kleinen Bereich unter dem Türschloss, so findest du – merkwürdigerweise – einen schwarzen Koffer. Darin mögen vier Zaubersprüche sein, die das ewig Rätselhafte im Nu eines kurzen Augenblitzes zum Vorschein bringen. Lies aber zuvor die geringfügige, an den Koffergriff geschnürte Notiz, und du wirst verstehen, dass dein Fund, dein Nach-

denken, dein Phantasieren, dein Vertrauen und dein Zögern ein längst erhofftes, aber unerwartetes geheimes Treffen vergangener Zauberer ist. Denn, obschon der Schimmer des goldenen Schlüsselkopfs für dich ein trügerisches, nicht leicht zu erkennendes Zeichen der Zauberer Hoffnungen war, wird in der Notiz nur beiläufig angemerkt, dass man dich erwartet hat, jedoch deutlich bemerkt, dass gerade sie und er am Rande mit überkreuzten Beinen an der Wand lehnen, dass ich und es in der zweiten Reihe Platz nehmen, und dass ihr und wir der Zauberei gespannt in der vordersten Reihe zusehen. Bleibt der goldene Schlüssel also vor Ort, deine Hand seinem Kopfe fern, aber dem Hokuspokus der Wörter im schwarzen Koffer nah, so bewegen sich, vielleicht, die vier Sprüche ganz leicht über die Schwelle hinweg und fort.

Vier Sprüche aus einem merkwürdigen Zauberkoffer


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Mit Müh und Not und ein bisschen Hoffnung entschied ich mich nach längerem Zwiegespräch mit mir selbst, draussen nun endlich ein paar Schritte zu tun. Hätte ich da bereits gewusst, wie nutz- und erfolglos sie ausfallen würden, wäre ich bestimmt zuhause geblieben. Doch meine angespannten Nerven, die anschleichende Verzweiflung und die spürbare Angst in einzelnen Körperregionen verlangten nach frischer Luft. Dem Lüften war ich aber bald schon überdrüssig geworden, weshalb ich ausnahmsweise und fast schon übermütig die Lenkerin des anfahrenden Trams herbeiwinkte. Ihre Richtung war mir einerlei, Hauptsache ihr Ziel war eine Station, wo Menschen im Strom verkehrten. An einer mir pas-

Erster Zauberspruch send und vergnüglich scheinenden Strasse stieg ich aus, um direkt weiter ins Menschengewimmel miteinzusteigen. Anfangs dachte ich, dass einiges im Gewühl stocke, doch schnell war mir klar, dass alles ausser mir ganz ordentlich, hinter- und nebeneinander wie die Ameisen dem Geschäft nachging. Die ameisenhafte Ordnung verblüffte mich umso mehr, da ich überzeugt war, dass jeder im Geiste der Vorderste sein wollte. Sicherlich gab es überhastete Momente und das eine oder andere leichte Rempeln war nicht zu verhindern, doch alles in allem war das Ganze seltsam still und reibungslos. Schwebten hier tatsächlich nach einem ungeschriebenen Gesetz der Höflichkeit Männer, Frauen und Kinder leise und

ohne jegliche Berührung aneinander vorbei? Fragend packte mich plötzlich die Angst, dass meine eigene Planlosigkeit hier am Ende ein riesiges Durcheinander verursacht. Da ich meiner Phantasie einiges zutraute und das ordentliche Treiben bereits als ein wildes Unter- und Übereinander vor mir sah, nahm ich sofort das nächste Tram und verschwand in der Gegenrichtung.


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Dritter Zauberspruch Sie ist ein dünner Streifen umgeben von lauter Bäuchen. Ihr droht es durchaus, zerknüllt zu werden. Die Bäuche haben morgens studiert und wollen nach dem Kneten des aufgetragenen Lernteigs nun endlich die richtigen Teigwaren verzehren. Auch sie studiert; die vollgepackte Lerntasche am Stuhlbein verrät es. Doch ihre schmale Figur, die dünnen langen Finger, das Knöcherne der Schultern, ihre Ruhe beim Essen, die vorsichtigen Bewegungen und ihr sanfter Umgang mit Besteck und Glas wollen nicht recht in die Mittagssphäre der Studenten passen. Ihm fällt sie auf; das Zarte an ihr unterbricht seinen gewohnten Kantinentakt, aus dem die Übrigen, die kauenden Mäuler, nicht fallen. Der Takt der Mehrzahl ist nicht ungefährlich. Er macht sich breit, bedrängt die Einzelne. Die Gefahr denkt er sich nicht aus, er hört sie: Neben ihm sind zwei tuschelnde Stimmen und zum Getuschel passend die empörten Gesichter zweier Studentinnen. Anfangs ein musternder Blick, dann ein Glotzen, dann ein Schielen, dann ein einstimmiges Urteil, das im vereinbarten dünnen Mitleid der Dünnen gilt. Und er? Ihre Magerkeit ist Besorgnis erregend. Er aber will weder die Empörung teilen, noch den schmalen Körper und die feinen Gesichtszüge mit Mitleid schmälern. Am liebsten will er sich mit ihr, der Ausnahme, gegen die anderen beiden Visagen verschwören. Und sie? Ist bereits aufgestanden, hat mit der einen Hand die Taschenriemen, und mit der anderen das Tablett mit leerem Teller und Glas fest im Griff. Seinem Versuch, Sympathie bei ihrem Vorübergehen zu zeigen, ist sie längst zuvorgekommen, schenkt ihm ein nachsichtiges Lächeln und verschwindet.

Zweiter Zauberspruch

Seid ihr rotierende und auswechselbare Teilchen in der Maschine der Folgsamkeit? Oder kennt man euch als Experten einer stets revolutionären Wissenschaft, die minutiös und mikroskopisch in der Sorge um sich selbst immer auf neuen Wegen zum eigenen Wohlbefinden vorstösst? Wäre es vielleicht auch möglich, dass ihr vielmehr einer ganz alten Geschichte angehört, deren Ursprung euch nicht mehr einfallen will? Seid ihr vielleicht die Nachfahren jener ungeheuerlichen Sippschaft, welche zwar von der Arche Noahs herunterkam, aber abgründigerweise nicht dieselbe war, welche die Arche gebaut hatte? Was, wenn sich damals unter die Tiere Ungeheuer mischten, was anlässlich des Durcheinanders beim Verladen leicht passieren konnte? Wäre es für die Ungeheuer nicht ein leichtes Spiel gewesen, Noah und dessen Familie während der Sintflut umzubringen und sich nachher als Noah und dessen Familie auszugeben? Könnt ihr das Gegenteil beweisen? Oder beruft ihr euch auf Zeugenschaft der geretteten Tiere? Hat es nicht auch ihnen, die bis dahin die menschliche Sprache beherrschten, die Sprache verschlagen angesichts dessen, was sie auf der Arche miterlebten? Erinnern euch heute die tierischen Laute nicht an Klagen? Vielleicht an die Anklage, dass die, die als Menschen auftreten, eigentlich gar keine sind? Beunruhigt euch diese Geschichte nicht? Beeinträchtigt sie etwa nicht eure Folgsamkeit oder euer Wohlbefinden? Auf was beruht letzteres und welcher Arche seid ihr aufgesessen? Oder wird das Euphratwasser eines Tages etwas Neues herantragen und alles vergessen machen? Wird es euer Glück sein, dass auch diese Arche verschwindet?

Wir sind alle hipp und bewohnen je einzeln einen Stern, doch hier sitzt das Problem bereits im Kern: Während die Sterne fern leuchten aus eigener Kraft, rücken wir – ganz allein – dem Verglühen immer näher. Die Wissenschaft hat ihre Ansicht kundgetan. In Wirklichkeit aber sind die Sterne nichts anderes als kosmische Bestandteile, die die Einsamkeit seit jeher liebten, und sich allmählich voneinander über Tausende von Lichtjahre hinweg entfernten. Es wundert nicht, dass sie, die vermeintlich Winzigen, die Stimme der Finsternis besser ertragen als wir, die vermeintlichen Riesen. Uns schmerzt stets das Etwas, das nach einfachen menschlichen Beziehungen strebt. Diese, unsere Verhältnisse, müssen sich aber nicht erst am Himmel verkehren, als Stück faul Holz im Mond oder als verwelkte Blum in der glühenden Sonn verenden. Guckt der Mond freundlich, und leuchten die Sterne von weit her, so verdichtet sich unser Gefühl der Gegenwart weit mehr, wenn wir uns gemeinsam um einen Zauberkoffer versammeln. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der fremde Schein in der Mondnacht uns die Gelegenheit bietet, das Gefühl der menschlichen Ewigkeit unter glühenden Gesichtern zu erleben. Da hält das Leben an, und die Vorstellung vom Ende verschwindet.

Vierter Zauberspruch


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1 ich habe einen schnauz. ich muss ihn verstecken, niemand darf mich so sehen, der schnauz macht mich hochgradig unattraktiv. ich setze mich hinter einen baum und befühle den schnauz, da kommen über die wiese mädchen aus meiner klasse spaziert. ich schlage mir die hand vor den mund, aber sie haben ihn schon gesehen und feixen – endlich sind sie einmal schöner! wir wollen ans hopffest, sagen sie süss, mit den buben tanzen, komm auch. vielleicht, sage ich tief und würdig, wenn ich hier fertig bin.

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ein fenster in der wand fliegt auf heraus schnellen zwei rothaarige hexen sie schreien und schreien und erschrecken mich so dass ich nicht mehr weiss wer ich bin was ich hier mache ich packe meine sachen und renne durch die stadt.

Michelle Steinbeck

Febris

ich verstecke mich im roten zimmer im schrank. dort muss ich gegen meinen willen lachen, weil auf der matratze im zimmer sitzen drei kleine kinder in windeln. sie sitzen da im schneidersitz und rauchen wasserpfeife und haben ein riesengaudi. ich habe es ihnen deshalb nicht verboten, bin nur in den schrank gekrochen und hab ihnen zugesehen, selber ein wenig geraucht, ohne schlauch, einfach nur so, es war genug in meinen lungen.

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ich habe also ein kind, in einer durchsichtigen schachtel, es ist ruhig und still und herzig. ich vergesse es oft und habe ein schlechtes gewissen, dann stopfe ich ihm etwas in den süssen kleinen mund. meine mutter meint, ich solle das kind weggeben, ich würde ja überhaupt nicht nach ihm schauen. aus trotz fange ich an zu weinen. dann will ich mich betrinken. ich nehme das kind mit in die kneipe, es ist schnell gewachsen. wir sitzen an einem langen tisch, das kind schnitzt mit dem messer kerben ins holz. ich spendiere allen eine runde weisswein; ich muss vernünftig sein wegen dem kind. ich mag überhaupt keinen weisswein. das kind hat mich von anfang an eher genervt, sage ich zu einem bärtigen mann, willst du es nicht haben? der bärtige nimmt einen grossen schluck weisswein, dann nimmt er meinen kopf und haut ihn gegen die wand.

während die strasse rauscht und die autos sausen und die sirenen tönen und der regen klebt, kommen unausstehliche menschen und feiern party in meinem schrank. ich flüchte auf die strasse. auf der strasse steht der südtirolische dichter matthias auf einem bein. heda, rufe ich, altes haus, wie geht’s der trompete? der dichter matthias hat nur eine krücke und steht schräg. er sagt: ich bin doch nur zwanzig jahre alt. er ist sehr traurig, seit sie sein bein amputiert haben. ich gehe in den schrank zurück und da ist verwüstung und ein kleines vergessenes kind.

ich bin jetzt beim bachelor dabei. der typ ist nett und ich sage ihm, er soll unbedingt einmal den satz «ich habe etwas sehr spezielles organisiert» einbauen. er lacht ein wenig künstlich; ich glaube, er hat angst vor mir. ich bin speziell, weil ich spielen muss, mir wären beide beine amputiert worden. ich habe sie noch, aber es ist schon so in meinem kopf, dass ich alleine zum essen gehe und weine, und mich frage, wieso ich keinen rollstuhl habe. es ist verwunderlich, wie integriert ich dennoch bin. ich schätze, meine chancen sind nicht schlecht.

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wir werden von einem mann belästigt. meine schwester schneidet ihn in stücke. es blutet nicht, wie pouletfleisch. der kopf vom mann sagt, jetzt passiert etwas. meine schwester sagt, jetzt setzt er sich wieder zusammen. und er setzt sich wieder zusammen.

10 ich ging in der eiseskälte spazieren, um leere häuser zu sehen und grosse plakate und die gesichter der menschen. die haben mir alle zugelächelt, dabei habe ich gestaunt und gestarrt und nicht in die gegend gegrinst. ich wollte alles sehen und ich habe viel gesehen, es war anstrengend und schwer.

mein vater hat eine neue freundin, eine junge schicke brünette. ich hocke ihr mit dem arsch auf die schöne frisur und schreie. irgendwann fangen meine schwester und ich an, jede woche mit ihr und ihrer mutter basketball über ein volleyballnetz zu spielen. wir verlieren immer und regen uns grausam auf und kreischen übertrieben, wenn wir einen punkt machen.

9 im zimmer sind stockbetten, darin fünf kranke und zwei tote. es ist abend, es wird nacht, ich bin der arzt, der aufpasst. ich muss den raum schön kühl bewahren, wegen den toten. (die andern sind eh auf demselben weg.) die toten rühren sich nicht; einer im anzug mit krawatte, schön pomadierte haare, der andere dick und weisslich mit halblangem fettigen haar. die kranken röcheln und wälzen, einige sind vielleicht auch schon tot. ich schaue lieber nicht genau. ich schaue aus dem fenster, ziehe die schweren vorhänge zur seite, draussen die gaslampe, schnee, der im lichtkreis tänzelt. irgendwann schlafe ich ein. es ist viel zu warm für die toten, denke ich noch, bald wird es grausam stinken. am morgen sind zwei betten leer, es windet durch die offene tür. die toten zucken mit den augenlidern, grunzen, reiben sich das gesicht. der dicke bewegt die zehen.

natürlich habe ich verloren. ich stehe vor dem hotel, sehe links und rechts und weiss nicht wo ich bin. ich stehe blöd da, bis mir von oben ein scheinwerfer direkt in die augen strahlt. ein gesicht taucht auf im himmel, es ist ein junger burscht, kopfüber. kannst du mir helfen, fragt er. ich sage nein, und er landet mit seinem rotweiss gestreiften fallschirm neben mir. er springt auf und stellt sich vor, er heisst samuel. er sieht aus wie vom land, unbedarft; er lacht und ich traue ihm nicht, aber ich bin froh, nicht mehr allein zu sein. samuel geht neben mir und schleift seinen fallschirm wie einen umhang aus glacépapier hinter sich her. zusammen finden wir meinen heimweg und ich schüttle ihn ab.

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Ein Mann wünscht sich von der Frau, mit der er zusammen ist, dass sie ihn umhaut. Da es nicht so ist, kann er sie nur schätzen. Dass er sie nur schätzen kann, aber von ihr nicht umgehauen ist, erfüllt ihn mit einer komplizierten Schuld, die er an langen Sonntagnachmittagen in Worte zu fassen sucht. Sie aber will lieber von ihm geschätzt werden als ihn umhauen. Sie verstehen sich nicht ganz.

Fridolin sieht oft Dinge, die ihn in Erstaunen versetzen. Zum Beispiel sitzt er draussen vor einem Café auf einem bequemen Stuhl, der auf einem belebten Platz steht. Während er verschiedene Menschen beobachtet, bleibt sein Blick an einem Mann hängen, der kräftig in die Masse an Fahrrädern greift, die im Sonnenlicht des belebten Sommers dicht beieinander stehen. Der Mann greift beidarmig hinein, packt drei oder vier Fahrräder, trägt sie ein paar Meter über den Platz und schwingt sie in den grossen Lieferwagen, dessen Tor breit offen steht. Der Lieferwagen und der Mann fallen niemandem auf. Er verrichtet seine Tätigkeit animiert, verschwindet kurz im Dunkeln des Wagens, kommt wieder zum Vorschein, packt die nächsten Fahrräder und schwingt sie in den Lieferwagen. Er pfeift nicht, aber er weiss, was er zu tun hat, und dies verleiht ihm Schwung. Der Mann erinnert Fridolin an einen Vater, der die von der Sonne träge gewordenen Kinder energisch und ohne Berührungsängste vom Strand einsammelt und ins warme Auto verfrachtet, egal ob es seine Kinder

sind oder nicht. Der emsige Mann geht zwischen den Fahrrädern und dem Wagen hin und her. Dies tut er weder hastig noch besonders gemütlich, auf jeden Fall so, dass man ihn fast nicht beobachten kann. Auch Fridolin muss, wenn er kurz niest, was er an jenem Tag oft muss, den Mann immer wieder von Neuem suchen. Dann schaut er ihm erstaunt zu. Der Mann bemerkt Fridolins erstaunten Blick und blickt ihn nun seinerseits erstaunt und etwas irritiert an. Ohne näher zu kommen sagt er laut zu Fridolin, so dass es alle hören können: „Na und? Na und? Willst du jetzt etwa die Polizei rufen?“ Die Leute schauen Fridolin kurz etwas angewidert an und wenden sich dann wieder ihren Gesprächen zu. Der Mann packt noch einige der Fahrräder mit seinen riesigen Armen, wirft sie in den Lieferwagen, verschliesst die Ladetür, steigt in den Wagen und fährt langsam davon.

Beziehung

Fridolin

Judith Keller

Prosaminiaturen


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Anstatt zu sagen, sie heisse Judith, sagte sie immer, sie verheisse Judith. Dies ist ihr nicht unterlaufen. Es schien ihr dann, sie könne noch immer erscheinen.

Name

Sie wollte die Dinge gut machen, aber sie fand, es gelinge ihr nicht. Ich akzeptiere, dass ich nicht alles gut machen kann, sagte sie, aber sie akzeptierte es nicht. Sie schrieb einen Abschiedsbrief. Ihrer Meinung nach war auch der Abschiedsbrief nicht gut. Nur ihrem Ehrgeiz verdankte sie ihr Leben, der Abschiedsbrief war nie gut genug.

Ehrgeiz

Das Komitee verlangt von dem Mann, der Asyl sucht, dass er sich glaubhaft macht, indem er chronologisch und detailgetreu erzählt, wie und warum er gefoltert wurde. Dem Mann, der Asyl sucht, ist etwas passiert, was er sich bis heute nicht ganz vorstellen kann. Dies glauben ihm die Befrager nicht. Sie glauben nur, was sie sich vorstellen können.

Vorstellen


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Meret Gut Auf dem Baum wartet der Tod, im Gras wartet das Beben, auf der Wolke sitzt der Drache und unter Wasser keucht die Hexe. Von weitem eilen die Glocken schrill über das Land. Wie Kübel werfen sie den Ton über die Felder in die Erde. Die kleine Kirche, auf dem Felsen über dem Dorf gebaut, blickt in alle Richtungen. Rotblaue Fähnchen vom Turm gespannt in den Wiler, an seinem Fuss über die Treppen, karstig zerrt die Schnur. Zerdrückende Häuser umringen den Dorfplatz, beugen sich, Ungeduld, der Dreck unter den Balkonen in die Hinterhöfe gefugt, wo die Hühner scharren, Beine in den Wollfäden verwickelt, Tavernen. Jahrmarkt, wenn die Zigeuner ihre Kunststücke zeigen und das wenige Geld aus den Dörfern holen. Irrwegig glänzt die Sonne aus dem Dunst. Sonderflug.

Unterwegs, an der Leine den Bären. Die Glocken haben gerufen, aus dem pelzigen Wald, wo die wechselnden Hütten liegen. Mein Haar ist lang mit Läusen, die in der Hitze des Tages hervorkommen und totgestrichen werden. Im Sack über den dünnen Schultern hat es Puppen, deren Glieder klappern, um Geschichten rückwärts zu erzählen, in den Höfen auf dem Weitweg, mit Köpfen, die nach hinten schauen. Und ein kleiner Spiegel im Sack, schwarz, verkohlt, abgenutzt, fingernagelreifig. Es steht: Ich will töten und zum Leben erwecken. Der Spiegel weiss, wenn man in ihn hineinsieht und er zieht dann hungrig die ganze Farbe aus dem Gesicht. Auf allen Vieren trottet der Bär, eine Stoffschnur umbindet seinen Hals und mein Handgelenk. Verbunden, gebunden, abhängig durchdrungen, barfüssig entlanggeschlin-

gert, abgewetzt. Der Bär trägt eine Wolldecke auf den Rücken gebunden, gekraust, seitlich niederhängend, ein dünnes Weglein durch die hohe Wiese zum Dorf laufend. Wir fragen nach dem Weg und alle zeigen sie in Richtungen, die sie kennen. Wir klagen nichts an, weil wir von weit her kommen. Wesen, denen niemand Achtung schenkt in einer Zeit, wo jeder nur für sich sorgt, wo die Seltsamigen im Schatten des Waldes breitnarbig, dünnhäutig von Wiler zu Wiler ziehen. Krummer Rücken, freche Augen, die Dörfler, wo man die Augen senkt. Magische Kräfte im Wald erprobt und die Anrufung des Grossen Bären auf den Feldern vor der Nacht, brüllend, Schlupfwinkel suchend, wo die Mäuse die Kleider zerreissen für ihre Nester, doch beim Jahrmarkt gilt es dann zu la-

Wenn der Dattelkern fliegt


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chen, damit die Münzen fliegen, verdreht die Seele, vergessen das Los. Schwarzes Seelenkraut, Eule mit spitzen Flügeln, koche meine Haarknäuel und ziehe dann die Lebensfäden aus meiner Haut, an meiner Brust wachsen Federn. Die letzten Nächte waren nasskalt gewesen, das lange Starren in das zungende Feuer, gebrannte Augen, Wiedergutmachung. Mussten mit Gewalt verschwinden, als wir die Hühner stahlen. Die Knochen meines Kiefers beissen dann ins Leere, gedachte Fesseln um die Fussgelenke, nicht fallen im nassen Gras, rennen, doch wir schlagen das Rad, fliehen, singen wie die Schlangen, verschwindend, geglückt. Das eine Auge des Bären ist blau, das andere braun. Verstecke. Eulengefieder, Druidentücher, Unkenmilch. Und dann Nächte ohne Feuer, damit sie uns nicht finden. Die Dörfler wollen ihre Zukunft wissen, deshalb holen sie uns immer wieder, vergessen die Gestohlenen. Sie wollen über sich hinaussehen, wollen hundert Tage länger leben als ihr Nachbar. Schicksale glauben sie zu haben. Zerbissene Strassen. Aber es gibt nur den Wind und die Kraft, dagegen zu stehen. Wir hören ihn nicht und er hört uns nicht. Wie Laub, ohne Scham, ohne Schrei. Da. Nah und näher kommen die Menschen, die gierige Menge, zusammengerufen durch die Lust der wachsenden Seltsamigen. Die Decke ausgebreitet, Hitze des Platzes, der Spiegel, der Bär. Spiele die Cithare, der Bär tanzt, die Menge kommt. Spann das Seil. Meinen Schlüssel an ein Seidenband um den Hals gebunden, wo die Härchen blond durch den Sommer geworden sind. Wer ihn findet. Wer ihn findet. Spucke in die Hände, rot gerieben, warm, wissend, verwünschend. Spinnen, die das ganze Leben einen endlosen Faden hinter sich herziehen und das

Kunststück ist, dass das Muster einen Sommer lang hält, den Faden klebrig durch die Finger ziehend, von Land zu Land. Lachen. Tau. Launiges Schicksal. Wir trinken mit verbundenen Augen aus deinem goldenen Kelch. Schicksal, so zeig dich der Menge jetzt, wir wollen dich sehen, dass die Federn von meiner Brust fallen. Beweise. Beruhige nicht das Gewissen der Menge, die Blut sehen will. In meiner Handlinie schlängelt sich ihr Leben. Bär, komm, säe den Aberglauben, zeige deine Zähne, und lass dir eine der Murmeln nehmen, die da sind auf deinen weichen Handballen. Lass uns die Menge verzaubern mit ihrem eigenen Bluthuhn. Menge, die Zukunft kann man ändern, wenn man sich eine gibt. Kommt und hört, wer ihr seid, wer ihr sein werdet, ob im Himmel oder in der Hölle aufgehängt. Wenn der Nebel blau zu Boden schrumpft; und der Horizont ist der Wald auf den Hügeln. Schwarze, glänzende Pfützen in den Feldern, der Mensch war hier und grub, grub Jahrtausende. Jeder von euch ist ein Soldat. Die Schafe sind dicht zum Hause gedrängt, ängstlich zwischen euren Beinen. Das Gewissen raubte euch der harte Winter. Im Sommer liebt ihr zu viele Mägde, alle auf einmal. Doch gebt alles nun. Der Ziegendreck wärmt eure Füsse, die Hunde sind zu faul, um zu bellen. Was habt ihr ausgegraben, die Seele nur, um zu überleben, gräbt ihr sie aus den Körpern. Genug, so komm denn nun einer vor und zieh eine von drei Murmeln von des Bären Pfote. Narr, König oder Zauberer. Drei Kristallmurmeln sind es, Glas, darin eingeschlossen ist die Feder einer weissen Taube, der Panzer einer grauen Assel oder der Zahn eines schwarzen Wolfes. Bist du eine weisse Taube, frei wie der Himmel, dumm wie das Korn auf dem Feld, dick wie der Aberglaube, ein

Narr? Bist du eine graue Assel, weise wie die Berge, freundlich wie das getrocknete Heu, alt wie der Kirchturm, ein König? Bist du ein schwarzer Wolf, reisserisch wie der Sturm, gierig wie die Fische im Teich, launisch wie die Zeusel an der Schaukel, ein Zauberer? Wer bist du, wer wagst du zu sein? Bis die Knochen brechen. Die Worte dämmern vor sich hin, plötzlich ausgespuckt, taumeln, erhalten den Sinn, bekommen Konturen, malen Zeichen in die Luft, Tintenspuren und verbrennen schreiend, wenn du sie vergisst. Und dann lass ich die Puppen noch tanzen. Nur ihr Körper bewegt sich und die Köpfe drehen viele Male oben drüber, der König hat immer das gleiche Gesicht, nur der Narr zwinkert und lacht. Schau bei dem Menschen nur auf die Bewegungen seines Körpers, auf den Tanz seiner Lippen. Sie sagen alles über ihn aus. Ob er Wärme verteilt oder Kälte spuckt. Murmeln. Der Narr, der König und der Zauberer. Der Narr ist auf den König angewiesen, der König auf den Zauberer und der Zauberer auf den Narren. Sie wechseln die Krone. Und so sterben sie nie aus. Mein Bär wird unruhig in der Menge, die Tatzen schlagen auf dem Boden auf, die Augen tränen in der hellen Sonne. Schicksal, ich lasse dich bald frei. Zuletzt halt ich euch den Spiegel vor. Er wird weiss werden und ihr werdet erbleichen. Ihr werdet die Wahrheit sehen, drei Gesichter aus einem Hals, Lebenszeiten. Manche fallen in den Spiegel hinein, die nimmt sich der Bär. Die Guten bleiben zurück im Dorf und erst bei Anbruch der Dunkelheit werden wir etwas von euch verbrennen. Ihr wart anders, bevor ihr das erste Mal in einen Spiegel geschaut. Gebt die falschen Augen zurück, ihr sucht nur den Sinn, das Lob, bevor ihr wieder alt werdet. Spiegelschrift.


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Die Assel reitet auf dem Wolf und die Taube fliegt zu hoch am Himmel. Der Wolf merkt nichts und rennt durch den dunklen Wald. Wir klagen nichts an, wir nehmen einfach alles mit, mit den Augen, mit dem Atem, mit den geschlossenen Händen. Taube, Assel im Wolf. Vergesst die Puppen, nehmt die Fäden in die Hand. Ihr seid eine Frage der Zeit, Kadabra, mit den Augen, mit dem Atem, mit den geschlossenen Händen. Die Menge schwankt zurück. Schwarzes Seelenkraut, Eule mit spitzen Flügeln, koche meine Haarknäuel und ziehe dann die Lebensfäden aus meiner Haut, an meiner Brust wachsen Federn. In meiner Handlinie schlängelt sich das Leben. Wir tanzen nochmals. Gebt nun alles. Wir säen den Aberglauben und ihr werdet träumen von uns und Kräuter gegen uns nehmen, die wir euch verkaufen. Mein Stirnband in die Haare geflochten, von Sonne, Wind und Wasser ausgebleichtes Blau, das waren die Sommer. Mein Kleid hat Fransen und der Bär hat das Fell. Wir verbeugen uns nicht, weiterziehend, lachend, traurig erbebend, streichelnd das Fell. Ich lasse dich bald frei. Unterwegs, an der Leine den Bären. Nachts rollen wir uns zusammen ein, Trockenblatt, schummrig, mein Rücken an seinem Bauch, seine Lefzen auf meinem Scheitel, meine Hüfte in der Wärme unter dem Baum, den Mantel als Decke, die Sterne hinterm Ohr, meine Füsse in seinem Beinfell. Verschlingende Erde. Durchwelkt. Unsere Haare machen uns zu den schönen Tieren, die wir einmal waren. Weit vorne auf der ziehenden Flur im schwarzen Feld nahe dem Dorf brennt ein Feuer und Kinder tanzen im Rauch. Bald ist das Jahr um. Die ungelösten Wahrheiten, die unentdeckten Verbrechen, die unverstandenen

Augen bringen die Luft zum Weinen, zum Tönen. Es wird diese Luft sein, die dir einst weggenommen wird, bevor du stirbst. Ich setze mich nochmals auf und spiele auf der Cithare, lasse sie verstimmt, weil sich auch meine Stimme verändert hat. In der Nacht leuchtet es oft unter dem Himmel von Kriegen anderswo und der Bär schläft dann nicht. Wir klopfen zusammen am Lebenstor und der Schlüssel dreht sich, aber niemand macht auf. Von weitem traben die Glocken dumpf über das Land. Erinnerung an den Jahrmarkt heute, viel gewonnen, beinahe vergessen. Taumelnd. Die Kamine rauchen friedlich in der Abenddämmerung und wärmen die Nacht. Das Holz wird dunkel von den Ställen, von der Sonne schattenlang. Die Faulheit des gefeierten Dorfes, wo heute unentdeckt der Opferstock ausgebrannt wurde. Dein Halsband, Bär. Das Leder wird glatt von der Reibung, es biegt sich, es lässt sich umwickeln, in unseren Falten können wir Dinge verstecken, mit dem Alter das Leben. Der Mond durchflutet die Wälder der Nacht, er fliegt leise überall hin, dass wir ihn alle sehen. Ich rufe den Grossen Bären an, Sterne, und durch zwei teil ich dann den Nebel, die Weiterreis, das Welteneis. Am Feuer will ich verbrennen, das Richtige gilt es zu finden. Den Einen such ich in der Menge. Die warmen Augen werden mich ziehen zu ihm. Aus meiner Manteltasche werde ich den Dattelkern hervorkramen, werfe ihm in den Mund, dem Auserwählten, den Dattelkern. Er wird es verstehen, mir ihn wieder zuspucken und wie die Riesen werden wir uns wälzen über die Welt in uns hinein, unter den Wurzeln durch die unterirdischen Höhlen, versteckend zwischen der Kohle des Feuers, verbrennend an der Sehnsucht der Wahrheit, fordernd durch die Glut der Ich lasse dich frei.

Wasser, gespannt durch den Willen des Lebens, die Unschuld der Vögel. Sonderflug. Der Schlüssel liegt auf der Wiese. Auf dem Baum wartet der Tod, im Gras wartet das Beben, auf der Wolke sitzt der Drache und unter Wasser keucht die Hexe. Gib alles. Wenn das Moos trocken geworden ist und von den Bäumen abfällt, dann ist es Zeit, Abschied zu nehmen. Gib alles und mehr.


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LITERATURHAUS ZÜRICH LESUNGEN IM HERBST: Franz Hohler 5. November 2014 Lesung Noémi Kiss, 29.1.2014, Literaturhaus Zürich

Poetikvorlesungen mit Georg Klein 6., 13. und 20. November 2014 Stefanie Bart und Saskia Hennig von Lange 25. November 2014

Vollständiges Programm unter www.literaturhaus.ch

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Spuren einer verzauberten Welt

Maximilian Benz Lector, intende! Dunkel war es, intolerant, kriegerisch, zivilisatorisch rückständig – das Mittelalter. Man mag sich das Leben zu dieser Zeit gar nicht recht vorstellen. Entweder kalte und zugige oder vom Rauch der Feuerstellen verqualmte Behausungen, in denen Menschen mit entweder schlechten oder gar keinen Zähnen mehr im Mund ungewürzte Speisen aßen, zum Beispiel feine Getreidegrütze. Die durchschnittliche Lebenserwartung war genauso niedrig, wie die Lebensfreude gering war; neben Krankheit, Mangel und Not stand über allem eine (böse!) Kirche, die auf nichts anderes aus war, als die Menschen zu terrorisieren, um sich vor allem selbst zu bereichern. Wen wird es da überraschen, dass auch die geistigen Hervorbringungen des Mittelalters enttäuschen, ja meist gar

nicht der Rede wert sind? Exzeptionelle Gestalten wie Thomas von Aquin machen den Kohl nicht fett, sondern bestätigen die traurige Regel. Vor den titanischen Leistungen antiker und moderner Denker – und das heisst immer auch: gemessen an ihnen – müssen mittelalterliche Entwürfe zwangsläufig und zurecht verlieren. Mit kühl verachtendem Blick von der Gegenwart auf das Mittelalter zurück- oder mehr noch herabzuschauen, ist natürlich nur eine Möglichkeit. Demgegenüber ist das Mittelalter nicht nur für Verächter der Dentalhygiene eine erwägenswerte Alternative. Denn betrachtet man das Mittelalter mit den tränenfeuchten Augen der Kulturkritik, wird es erneut, nun aber unter anderem Vorzeichen, zur Gegenwelt. Für den ge-

hetzten Menschen in einer globalisierten Welt mag es eine Verheissung sein, dass die bekannte Welt einmal hinter dem nächsten Wald geendet hat. Und mehr noch: Zeit war damals nicht nur nicht Geld, sondern im Überfluss vorhanden. Wie toll der Sternenhimmel geleuchtet haben muss im Mittelalter – und zwar über allen! Ach und weh, das wird man derzeit wohl nur noch in Montana erfahren können. Der Weg in die Moderne ist, wie man seit Max Weber weiss, der einer allmählichen Entzauberung der Welt im Zuge fortschreitender Intellektualisierung und Rationalisierung. Sollen wir das ernsthaft richtig finden? Wohl kaum – und umso mehr drängt sich der Gedanke auf, dass man es im Mittelalter eben auch hätte nett und vielleicht ja sogar besser haben

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können; in zahlreichen Städten wird an Wochenenden in Form von vollkommen realitätsnahen Mittelaltermärkten der empirische Beweis dafür erbracht. Dunkel war es, geheimnisvoll, magisch, eine Welt voller Götter und Dämonen, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem nichtlinearen Verhältnis standen, in der ein ausgeprägtes Analogiedenken vorlag und in der die performative Kraft der Sprache, eingebunden in einen grossen kosmischen Zusammenhang, geglaubte und vielleicht ja auch erfahrene Wirklichkeit war. Man denke nur an die magischen Praktiken, die mit Sprechakten einhergehen (was dem Literaturwissenschaftler freilich doppelte Freude macht). Exzeptionelles Zeugnis hierfür sind, Abrakadabra, die sogenannten Merseburger Zaubersprüche. Der kürzere der beiden Zaubersprüche sei hier originellerweise vollständig zitiert, da man sich (und dieses ‹man› schliesst auch posthermeneutische Präsenzliebhaber ein, siehe unten) sonst gerne auf den längeren, besser verständlichen Spruch stützt: «Eiris sazun Idisi, sazun hera duoder. suma hapt heptidun, suma heri lezidun. suma clubodun umbi cuoniouuidi: insprinc haptbandun, inuar uigandun. H.» Auf eine mythologische Szene der Vergangenheit, in der die Idisen – wer auch immer das sein mag – mit einem Kriegsgeschehen in Verbindung gebracht werden und dabei – wie und wen auch immer – hemmten, zurückhielten oder fesselten, folgt eine Beschwörung, die imperativisch auf die Gegenwart bezogen ist. Diese Abfolge von narrativer Miniatur

(‹historiola›) und Beschwörung (‹incantatio›) lässt sich auch in anderen Zaubersprüchen erkennen; im vorliegenden Fall diente der Spruch wahr-

Denn es gehört zu den Widersprüchen unserer modernen Existenz, dass wir uns von vormodernen Zaubersprüchen gerne verzaubern las-

«Das Mittelalter ist nicht nur für Verächter der Dentalhygiene eine erwägenswerte Alternative.» scheinlich dazu, Geiseln zu befreien. Das ist natürlich ungemein praktisch und ich bin mir sicher, dass sich das EDA, hätte es diesen Zauberspruch gekannt, einigen Ärger hätte vom Hals halten können. (Nota: Man braucht mehr Altgermanisten, auch im Aussendepartement.) Ob es wohl dieser praktische Nutzen war, der im 10. Jahrhundert einen Fuldaer Mönch die beiden Zaubersprüche in einer Sakramentarhandschrift nachtragen liess? Es ist natürlich nicht einfach einzusehen, welches konkrete Interesse ein Mönch an einem Lösezauber für Kriegsgefangene haben sollte. Auch was den zweiten Zauberspruch betrifft, der im Fall eines Reitunfalls die Heilung des Pferdes verspricht, fielen einem leicht ein paar andere Probleme ein, die einen Mönch im 10. Jahrhundert umgetrieben haben dürften. Vielleicht war der Mönch aber auch mit seiner Tätigkeit als Schreiber unzufrieden und wollte einfach nur den Abt ärgern, indem er solch heidnischen Unsinn niederschrieb. Monatelang bei ungünstigen Lichtverhältnissen in unbequemer Haltung enorm langweilige Texte aufzuschreiben, kann den Un- und Übermut eines Mönches wecken; er war doch auch nur ein Mensch! Der Zauber der Zaubersprüche wäre so allerdings ein wenig entzaubert und deshalb ist es vielleicht doch besser, dass wir nichts über die Motivationen des Mönches wissen.

sen; so wird es niemanden überraschen, dass es kein Geringerer als Hans Ulrich Gumbrecht war, der ihnen in David Wellberys Neuer Geschichte der deutschen Literatur sieben Seiten widmete. Yeah. Und auch sonst lassen sich in der Gegenwart allerhand magische Prakti-

«Es gehört zu den Widersprüchen unserer modernen Existenz, dass wir uns von vormodernen Zaubersprüchen gerne verzaubern lassen.» ken finden. Wer hat sich nicht schon einmal in auswegloser Lage Engelkarten ziehen lassen, ein defektes elektronisches Gerät liebe- und hoffnungsvoll gestreichelt oder seiner Kräuterhexe für die Pferdesalbe gedankt, die alle Knieschmerzen linderte? Zu weit darf das freilich heutzutage nicht mehr gehen. Die Natur des Menschen ist eben immer seine Kultur und im Zweifelsfall einer «benrenki» (Knochenverrenkung) suchen wir dann doch lieber den Orthopäden auf. Den Zauber holen wir uns auf anderem Wege. Und ist es nicht wirklich Zauber genug, wenn

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wir mit eingegipstem Bein nicht alleine aus dem Spital humpeln müssen oder, um es vielleicht noch ein bisschen zauberhafter enden zu lassen und zumindest ein wenig die Nähe von Zauber und Kitsch in unseren Zeiten anzudeuten, wenn wir mit der Aussicht auf ein bequemes Bett spätnachts zu zweit trotz aller menschengemachter Beleuchtung in den Sternenhimmel blicken und trotz aller Vermessung der Welt und des Weltalls ganz tief spüren, dass die Sterne, so nah und doch so fern, nur für uns leuchten?

Maximilian Benz ist Oberassistent am Lehrstuhl von Christian Kiening. Er arbeitet zurzeit an seiner Habilitationsschrift mit dem Arbeitstitel Arbeit an der lateinischen Tradition. Innovationen volkssprachlichen Erzählens im 13. Jahrhundert. In diesem Semester hält er das Seminar Glosse, Bibeldichtung, Zauberspruch. Die Medialität althochdeutscher Literatur.

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Das Zauberhaus Die vierte Wand gab’s schon lange vor Avatar. Und wer meint, gezaubert werde nur im Zirkus, war noch nie im Theater. Ein Streifzug durch den grössten Zauberkasten der Stadt.

Daniela Stauffacher «Abrakadabra!» Die Tür gleitet auf und wir hinein. Nein, natürlich nicht. Seit Max Weber will dieser beliebte Klassiker einfach nicht mehr so richtig hinhauen. Wir haben einen Schlüssel. Dieser schnurrt immerhin behaglich im Schloss, und mit einem kurzen, entschiedenen Klicken wird uns Einlass gewährt. Es summt ein Staubsauger gleichmässig vor sich hin, es blicken gleichgültig die denkmalgeschützten roten Wände auf uns herab. Da stehen wir nun, meine treue Begleiterin mit ihren andächtigen Augen und ich mit meinem silbernen Schlüssel, und sind peinlich berührt. Wir schauen einer Dame zu, wie sie sich zurechtmacht – und das macht man nun mal nicht. Durch das Schlüsselloch zu spähen, während ein reizendes Geschöpf in den samtenen Tiefen sei-

nes Boudoirs verweilt, mag noch dem süssen Gelüst nach Entzauberung huldigen; der kalten Neugier stattzugeben und zu beobachten, wie eine Frau ihren Lippenstift trotz des ruckelnden Trams makellos aufzutragen vermag, ist bereits gottlos. Nein, wir wollen es nicht wissen, wir lassen ihr Geheimnis Geheimnis sein und wenden uns vom Reinigungspersonal ab, das mit beflissener Hingabe die Spuren des letzten Abends aus dem Antlitz des Theaterfoyers saugt. Da stehen wir nun, weder bestellt noch abgeholt, und es beschleicht mich der leise Verdacht, dass das Ganze keine allzu gute Idee gewesen ist. Wir hatten uns aufgemacht, um jenes Haus zu ergründen, das zeitweise unsere zweite Universität ist, deren Pforten sich öffnen, wenn

sich jene etwas weiter oben an der Rämistrasse schliessen. Unser Artikel sollte ein geschickt inszeniertes Selfie werden, das Theater im Vordergrund und wir – gewissermassen als diskretes Inventar – im Hintergrund, auch im Bild, ja, aber so, dass es eigentlich gar niemand merkt. Nun tummeln wir uns am heiterhellen Nachmittag halb lässig, halb beschämt im Foyer herum und fühlen uns fürchterlich fehl am Platz; gar nicht mehr inventarisch, sondern eher wie einer, der einem Japaner just in dem Moment vors Objektiv läuft, als er seine Angetraute vor dem Grossmünster auf seinen Mikrochip ziehen will. Und während die Sekunden gemächlich vor sich hin plätschern, stellt sich allmählich die Gewissheit ein, dass wir es hier nicht mit einem Gemeinplatz zu tun

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haben; dies ist nicht die Wartehalle eines Bahnhofs, nicht die Garderobe eines überfüllten Restaurants. Wir stehen im Vorraum eines enormen Zauberkastens. Gleich hier hinter den grossen Flügeltüren wird seit dem Ende des letzten Jahrhunderts unaufhörlich Welt konstruiert und komprimiert, umgeformt und einge-

Gerade als meine Begleiterin anfängt, an ihrer Jacke zu nesteln, und die Ahnung sich breitmacht, dass es nun besser sei, wieder zu gehen, kommt ein blonder Jemand aus dem Kassenraum geschossen. Er habe uns bereits erwartet, ruft er uns schon von Weitem zu, und ein paar rosa Hemdsärmel fuchteln durch die

«Den Weltuntergang will man schliesslich auch nicht in der zweiten Reihe miterleben.» rahmt, nachgeahmt und abgeschafft, totgesagt und ausgelacht. Hier leben Menschen, die wurden nie geboren, hier stirbt der Gleiche an fünf Tagen in Folge. Hier darf man klatschen, wenn einer weint. Hier flüstern Stimmen ohne Gesicht. Hier steht alles auf dem Spiel, und es geht um nichts.

Luft. «Tatsächlich?» Aber natürlich, meint er auf Wienerisch, schöne Frauen erwarte er immer. «Na, bravo!» Was er denn für uns tun könne, fragt er. Wir erklären. Er legt seine blonde Stirn in Falten und nickt etwas ungläubig. Als das Wort Selfie fällt, blitzt eine Reihe weisser Zähne und er fängt wieder aufgeregt an

zu fuchteln. Er wolle auch aufs Bild, lacht er, komplimentiert die schönen Augen der Begleiterin und mich in sein Kassenbüro. Alexander – der Gute heisst so – weiss viel über alles Mögliche. Das Publikum kennt er, im Gegensatz zu vielen anderen, höchstpersönlich. An ihm komme schliesslich keiner vorbei. Kunst sei für ihn Kapital, meint er ernst und setzt mit einem Lachen nach: «Und Krise ist immer!» Am meisten bedauert er, dass damals in den Sechzigerjahren der geplante Abbruch und Umbau des Pfauens nicht realisiert wurde. Jörn Utzon, der Architekt des Sydney Opera House, hatte den Wettbewerb für den Neubau des Hauses gewonnen. Doch die dazu benötigten 80 Millionen Franken sprengten das Budget und die Stimmbürger der Stadt Zürich entschieden sich 1975 für einen kostengünstigeren Umbau für 19,7 Millionen durch Schwarz +

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Gutmann. Alexander findet «die Lait total deppert», die das entschieden haben. Jetzt hocke man auf einem historistischen Bau fest, und das gebe es doch in der Stadt schon zur Genüge. Aber er wolle ja nicht herumjammern wie die Katze auf dem heissen Blechdach, im Gesamtbild mache sich das schlecht. Auf unsere Frage, welchen Platz er einem Studenten denn empfehlen könne, nickt er vielversprechend und führt uns aus der Kasse heraus. Im Stechschritt durchschreitet er das Foyer, Treppe rauf, dann rechts, dann links, nochmals links, und zieht eine kleine Holztür auf. Loge, gut und günstig. Da sehe man was fürs Geld und sitze nicht zuhinterst. «Den Weltuntergang will man schliesslich auch nicht in der zweiten Reihe miterleben», meint er lässig und zwinkert. Nur auf die Technik müsse man aufpassen und er deutet zur Seite. «Da nützen sonst die schönsten Sterbeszenen nichts, wenn sie hinterm Scheinwerfer g’schehn.» Ohne dass wir es gemerkt haben, hat uns Alexander an den Ort gebracht, der gerade eben noch so unendlich weit entfernt hinter den stillschweigenden Flügeltüren gewesen war. Und jetzt sind wir hier. In der Höhle des Löwen, im Herzen des Zauberhauses. Der rote Samt pulsiert träge vor sich hin, die Bretter bedeuten bedächtig ihre Welt. Hier drin wurde noch gespielt, als 1944 in Deutschland die letzten Theater geschlossen wurden. Hier drin wurden Der gute Mensch von Sezuan und Galileo Galilei uraufgeführt. Hier drin wurden Dürrenmatt und Frisch institutionalisiert. Hier drin hat die Jelinek... «Ja servus, ihr zwei!», brüllt Alexander plötzlich und winkt von der Loge herab auf die Bühne. Zwei sitzen dort unten,

kläglich gescheitert beim Versuch, als Teil des Inventars durchzugehen. Alexander beugt sich zu uns herüber und flüstert: «Die warten auf... Ach, was weiss ich denn, auf wen die warten. Die hocken immer da rum. Kommt, ich stell aich vor!» Auf Irrwegen gelangen wir in kürzester Zeit von der Loge hinab auf die Bühne, wo die zwei sitzen. Sie hat einen Namen, der klingt wie Rosmarin, und ist Schauspielerin, er ist russischer Regisseur und hat noch keinen Namen. Und Alexander ist verschwunden. Rosmarin ref lektiert gerne im

das Leben die Peitsche etwas zu oft geübt hat.» «Das ist von Brecht», sagt sie und schlägt bedeutsam die Lider nieder. «Das ist doch Chabis!», sagt eine Stimme auf Berndeutsch hinter uns. Wir drehen uns um. Vor uns im Zuschauerraum steht ein Mann, etwas dick, etwas klein, etwas wie ein Hausmeister oder ein Muggel. Er bedeutet uns mitzukommen, und wir leisten nur zu gerne Folge. Er murmelt etwas vor sich hin, immer wieder den gleichen Satz: « Machen Sie kein sentimentales Theater, Studer. Machen Sie kein sentimentales Theater. Äuä!» Wir versuchen Schritt zu halten, während er in Richtung Flügeltüren stapft, hinter denen das Foyer vorzimmert. Hinter uns schallt es von der Bühne «Nach Moskau!» und wir sehen gerade noch Rosmarins rechten Arm am linken Bühnenrand verschwinden. Studer bleibt stehen. «Der da», Studer nickt in Richtung der leeren Bühne, «wollte die vierte Wand unbedingt aufrechterhalten − das hat mir natürlich gepasst. Kommt nämlich selten vor, dass das einer hier will. Als ehemaliger Maurer spüre ich den Mangel solch fehlender Wände natürlich sehr. Also hab ich sie gebaut. Alle viere. Eine schicke Sache war das. Alles mit Holz verkleidet. Nussbaum, und so weiter. Und dann kommt der, und sagt, man höre die Schauspieler hinter der Wand nicht mehr. Die müsse weg. Und das merkt der Affe drei Stunden vor der Premiere.» Was mit der Wand denn gemacht wurde, frage ich. «Verheizt haben sie sie. Für den Robert Walser von letzter Saison. Einfach so hingestellt und keiner wusste, was es mit dieser elenden

«Da fragt man sich schon, was das ganze Theater denn eigentlich soll.» Spiegel, der Regisseur gerne im Geiste. Ansonsten sind die beiden eher schweigsam. Dies dafür besonders laut und aufdringlich. Meine Begleiterin wirft mir einen bangen Blick zu, der sagt: «Ich möchte jetzt gehen!» Dann, plötzlich und mit einem Augenaufschlag, der ein zentnerschweres Lid die Schwerkraft überwinden liesse, sagt Rosmarin: «Meine Mutter starb an einer Bemerkung.» Schweigen. Dann er, die Beine werden übers Kreuz geschlagen, Blick in die Ferne gerichtet, die Stimme kühl und etwas zu hoch: «So weiss ich wohl, welche Musik und Kunst ich n i c h t haben möchte, nämlich alle jene nicht, welche ihre Zuhörer berauschen und zu einem Augenblicke starken und hohen Gefühls e m p o r t r e i b e n möchte, – jene Menschen des Alltags der Seele, die am Abende nicht Siegern auf Triumphwägen gleichen, sondern müden Maulthieren, an denen

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Wand auf sich hatte. In der Presse hat man sich mokiert. Da fragt man sich schon, was das ganze Theater denn eigentlich soll.» Studer scheucht uns durch die Flügeltüren, und mit einem Knall kracht sie zu. Studer ist auf der anderen Seite geblieben, sein Schimpfen wird allmählich leiser.

man uns nie gegeben. Seit Goethe vertraut man den Lehrlingen nicht mehr. Unsere Reportage spielt dort, wo es weder Publikum noch Theater gibt: Draussen vor der Tür. Oder eher: Drinnen im Kopf. Wir pressen die Nase an die kühlen Scheiben. Einzig das beschlagene Glas ist unser Zeuge, als ich flüstere:

Alleine stehen wir im Schauspielhaus. Keiner da. Gar keiner. Nicht einmal wir. Die ganze Geschichte ein fauler Zauber. Ist nämlich Sommerpause. Auch Zauberer fahren in den Urlaub. Einen Schlüssel hat

«Hat der alte Hexenmeister Sich doch einmal wegbegeben! Und nun sollen seine Geister Auch nach meinem Willen leben.»

Meine Begleiterin schaut andächtig und sagt bestimmt: «Abrakadabra!» Die Tür gleitet auf und wir treten hinaus auf die Strasse. Daniela Stauffacher ist Botschafterin des Zürcher Schauspielhauses und Kontaktperson für Theater Campus.

HERBSTSEMESTER 2014 Kultur plus. Erkundungen im urban jungle

Im vielfältigen kulturellen Angebot der Stadt Zürich die Perlen finden und mit andern das Besondere erleben und bereden. Wie’s geht: www.hochschulforum.ch

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Ein feines Essen in gemütlicher Atmosphäre und mit anregenden Gesprächen unter Studierenden verschiedener Fakultäten. Jeden Freitag im Semester 2014, 12.15, Studierendenfoyer, Hirschengraben 7, 8001 Zürich (5 Min. von Uni/ETH)

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Prüfungsangst, Unsicherheit über die eigene Zukunft, Leistungsdruck, Glaubenszweifel oder Studienschwierigkeiten. Sich zusammen mit einer aussenstehenden Person zu orientieren, ist hilfreich. Präsenzzeiten im Turmzimmer KOL-Q-2, UZH Zentrum, jeden Dienstag im HS 2014, 12.30-14.00 Uhr: Eine Person (ökumenisch) ist präsent und hat Zeit für ein Gespräch unter vier Augen Weitere Infos/Angebote: www.hochschulforum.ch

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Medikamentennamen Etwa Mitte Dezember des Jahres 2011 schrieb filibusta an cybertacky86 mitten in der Nacht eine Nachricht:

Ich weiss nicht, wie es dir geht, aber Namen von Medikamenten haben auf mich eine sehr irritierende Wirkung, die zwischen Befriedigung und Widerwillen mäandriert. Der Witz an Medikamentennamen ist der, dass sie fast immer wie etwas tönen, aber nie ganz. Namen wie ‹Dafalgan› zum Beispiel. ‹Dafalgan› tönt wie ‹Amalgam›, hat damit aber nichts zu tun. Dafalgan hat den Inhaltsstoff Paracetamol. Aus der gleichen Familie gibt es noch das Präparat Perfalgan und Titralgan. Nun könnte man meinen, dass -algan etwas bedeutet, was mit dem Wirkstoff Paracetamol in Verbindung steht. Stimmt aber nicht. ‹Algan› hat etymologisch überhaupt nichts zu tun mit dem gemeinten Wirkstoff und ist auch keine Ableitung aus einer chemischen Formel oder so ähnlich. Des Weiteren hat der Präfix Daf- überhaupt keinen eruierbaren Sinn. Man darf also ruhig davon ausgehen, dass der

Name ‹Dafalgan› komplett frei erfunden ist, vermutlich ohne irgendeine Überlegung, einfach so ins Blaue hinaus. Das Beunruhigende an dieser Vorstellung ist nun: warum gerade ‹Dafalgan›? Diese Frage bleibt im Raum stehen und hat auf mich die beschriebene Wirkung einer nicht recht einlösbaren Befriedigung. Man kann nun spekulieren, besonders wichtig bei so einem Namen sei, dass er nach möglichst nichts klingen soll, was es schon gibt. Das Problem ist aber, dass ‹Dafalgan› sehr wohl nach etwas klingt: nämlich nach ‹Amalgam›, mit dem es aber rein gar nichts zu tun hat, ausser dass dieses auch in der Chemie beheimatet ist. ‹Amalgam› hat übrigens eine Bedeutung: Es ist eine Entlehnung des griechischen Wortes , und das heisst ‹weich›. Vielleicht kann ich mit diesem schwachen Trost doch noch ruhig schlafen. Sonst brauch ich am Ende noch ein Dafalgan.

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Darauf ergab sich am nächsten Morgen folgende Replik:

Ein äusserst fein gezogener Gedanke hast du mir da beschert. Ich will nur noch angefügt haben, dass Medikamentennamen meiner Meinung nach in der Regel nicht etwas anderes anklingen lassen, sondern viel eher einen Verweis auf die eigene Zugehörigkeit sind: Sie zeigen, dass sie ein Medikament betiteln (es ist die reine Tautologie: Medikamentennamen klingen nach Medikamentennamen). Dieser Effekt ergibt sich in der Regel genau aus dem von dir beschriebenen Wechselspiel eines Klangs, von dem man nicht so recht weiss, wonach er klingen soll, und der bei zweitem, fundierten Hinschauen auch gar nie wirklich Sinn ergibt. Es liegt somit eine Verwehrung von Sinn im doppelten Sinne vor: Der Unwissende lernt nichts und der Gelehrte versteht nichts. Ich will mir allerdings im Tiefen ziemlich sicher darüber sein, dass gerade scheinbare Wortstämme wie

-algan nicht aus dem Blauen geschöpft wurden, sondern eine verborgene, nicht zu verstehende Beziehung zu dem Wirkstoff besitzen, die ebenso ungeklärt bleiben muss wie das Wirken des Wirkstoffes selber. Medikamentennamen sind moderne Zaubersprüche, die man in der Apotheke sagen muss, um Heilung zu erlangen. Man darf sie allerdings keinesfalls verstehen, da sie sonst in den Kreis der Kognition eintreten und aus dem Kreis des Glaubens austreten würden. Dies hätte zur Folge, dass sie mindestens die halbe Heilkraft einbüssten. Mein inniger Rat deshalb an dich: Beschäftige dich nicht mit solchem Tand, sonst wird die Quittung zweierlei sein: Zum einen wirst du dich nicht mehr oder nur gemindert mithilfe von Medikamenten heilen können und zum anderen wird die anstehende Arbeit nie fertig werden.

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Illustrationsverzeichnis Seiten 6 | 9 Oliver Leonardo Maag

Seiten 15 | 17 | 19 | 20 | 23 | 51 Nora Salgo und Mo Müller

Seite 29 Linda Walter

Seite 32 Luc Marrel

Seite 35 Lisa Gerig

Seite 38 Isabel Krek

Seite 53 Denkmalpflege Zürich

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Impressum Redaktion

Philipp Auchter, Nadia Brügger, Daniel Grohé, Maaike Kellenberger, Esther Laurencikova, Ana Lupu, Aurel Sieber, Luca Thanei, Thomas Wismer

Leitung

Philipp Auchter

Korrektorat Nadia Brügger

Kommunikation Aurel Sieber

Finanzen

Luca Thanei

Layout

s

Alex Spoerndli

Umschlag Laura Frey

Druck

Sautercopy Zürich

Auflage

500. Erscheint zweimal jährlich im Frühjahr und Herbst

ISSN

2235-7807

Adresse

Deutsches Seminar Schönberggasse 9 CH-8001 Zürich denkbilder@ds.uzh.ch

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Online-Archiv

www.denkbilder.uzh.ch Die Zeitschrift ist Mitglied beim Verband Schweizer Jugendpresse

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