DENKBILDER Zwang

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DENKBILDER

Das Germanistikmagazin der Universität Zürich Nr. 34 / Frühling 2014

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d u t , S e h 체r rich c f 채 t r r 체 o h p Z s me b e e s g g au r n e und l h A l t s e e i s n n u p u 체 e e us p K s n s , m i s cha l a e a h Ku erc D c S u ie t s a m e r d he a b r te t e / t a hin om e Th cke ok.c i l B ebo ac


ZWANGHAFT Editorial von Philipp Auchter

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enaugenommen gehört es bereits zum kreativen Prozess der DENKBILDER, dass unsere AutorInnen ihre Texte in Bezug auf einen vorher festgelegten, assoziationsreichen Begriff – eben ein Denkbild – schreiben. Dieses Vorgehen hat sich immer wieder als Triebfeder erwiesen, um ungeahnte Gedanken in Bewegung zu setzen. Die Denkbilder ermöglichen eine seltene Konzentration auf jene Bilder, zu welchen nur die Sprache unser Denken zu zwingen vermag. Diese Bilder sind lediglich metaphorisch bildhaft. Sie erzeugen wie eigentliche Bilder eine dimensionale Gleichzeitigkeit von Bedeutung, doch anders als Bilder bleiben sie ein Produkt der intellektuellen Kräfte, die in uns wirken und Formen erzeugen. Diese Kräfte umkreisen ein Zentrum, das sie niemals zum Stillstand – zum Stillleben – bringen. Sie erzeugen kein identifizierbares Bild, nicht mal ein Phantombild, das als Beweismittel vor Gericht verwendbar wäre. In dieser höchst ungesicherten Zone treffen die Texte gleich Lichtstrahlen auf einen virtuellen Brennpunkt, von welchem sie in alle möglichen Richtungen ausfächern.

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wingt uns dieses Magazin, die Texte auf ein bestimmtes Denkbild hin zu entwerfen und zu lesen, so engt uns das so weit ein, wie es neue Räume erschliesst. Wir müssen deshalb den ZWANG, dem wir uns in diesem Heft annähern, als enges Tal und als weites Feld zugleich begreifen. Die Quantenphysik lehrt uns, dass die intensive Betrachtung eines Gegenstands diesen Gegenstand vor allen Dingen verändern wird. Eine derartige Vertiefung in die Materie muss jedoch keine Beliebigkeit zutage fördern. Sie transformiert im günstigen Fall den gewohnten, festgefahrenen Blick auf die Welt. Sie ermöglicht eine Differenzierung, welche gerade von jenem Kategorisierungszwang befreit, in welchen sich der Mensch im Alltag hineinmanövriert.

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ahrung findet das poetische Denken in der Verknüpfung von Worten mit Bildern. Zum Begriff ›Zwang‹ kommen mir unwillkürlich WERKZEUGE in den Sinn: eine Zwinge, eine Zange, ein Hammer. Ferner Sicherheitsmauern, Kirchenbänke, Flugzeugsitze, Todestrakte, Vernichtungslager: Orte des Ausgeliefertseins. Als Kind habe ich mir oft vorgestellt, wie ich in jener euphorisierten Masse stehe, die Hitler grüsst und wie ich krampfhaft mich zwin-

ge, meinen Arm unten zu behalten. Später hat sich meine Idee vom Zwang verfeinert. Ich erahne ihn heute in gewöhnlicheren Begebenheiten, habituellen Abläufen meines Handelns. Gleichzeitig ist meine kindliche Sicherheit vor ihm verschwunden. Seine Ursprünge sind diffus geworden. Seine Erscheinungen mannigfaltig.

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ngesichts der Aufgabe, über Zwang zu schreiben, haben unsere AutorInnen die FREIHEIT bewiesen, jegliche zwanghaften Konnotationen zum Thema beiseite zu lassen. Sie haben sich ferner nicht angemasst, über jene Zwänge zu schreiben, von denen sie selbst verschont blieben. Im vorliegenden Heft findet sich deshalb kein Text über totalitäre Staaten, kein Text über Guantánamo und keiner über die Ausschaffungshäftlinge in Zürich Kloten. Man kann dies beklagen. Man kann sich aber auch für die Gründe interessieren. Der rohe, äussere, gewaltsame Zwang – die meisten von uns kennen ihn kaum. In der Lebenswelt sehen wir uns mit anderen Formen von Zwang konfrontiert: mitzukommen, anzukommen, zu genügen, in allen möglichen Konstellationen Sinn zu ergeben und Sinn daraus zu machen, gesellschaftsfähig und -kritisch zugleich zu sein.

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enn man die Texte in dieser Sensibilität liest, wird man daher immer wieder auf den einen Zwang stossen – den Zwang, glücklich zu sein. Die FEINHEIT dieses unterschwelligen Anspruchs ans Leben darf uns nicht über seine perfide Paradoxie hinwegtäuschen. Da sich kein Zustand von Glück erzwingen lässt, drängt uns der Imperativ zum Glücklichsein fortwährend, ihn in einem nach aussen gekehrten, inszenierten Glück zu erfüllen. Diesem kollektiven Zwang, der in der Ratgeberliteratur – den neuen ›Knigges‹ unserer Zeit – seine Blüten treibt, haben wir in unserem Magazin weitgehend widerstanden. Hingegen wollen wir nun als Verbündete der Literatur den Blick für die kleinen Dinge im Dunkeln des Dickichts schärfen. In diesem pfadfindenden Vortasten greifen wir schliesslich nach den Schlingen, mit welchen der Zwang unser Leben in Formen verstrickt, von denen wir uns zu Recht zu fragen beginnen, ob wir sie brauchen.

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Niemand muss über Witze lachen, Hauptsache, sie sind gut. (Zsuzsanna Gahse: Die Erbschaft)

Besuchen Sie das Aargauer Literaturhaus in Lenzburg: www.aargauer-literaturhaus.ch Eine Auswahl aus unserem Programm in diesem Frühjahr: Die spoken word-Artistin Sandra Künzi mit ihren «Mikronowellen» Komik bei Zsuzsanna Gahse und Ralf Schlatter Verena Stefan mit ihrem neuen Buch «Die Befragung der Zeit» Markus Bundi mit dem Text-Musik-Programm «Mona kussecht» Silke Scheuermann: Lyrikerin und Prosaistin und ein Abend zu Ehren von Hermann Burger zum Erscheinen der mehrbändigen Werkausgabe mit Martin R. Dean und Ruth Schweikert

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INHALT Essays 04 Leben und Lernen in der Zange der Zwänge Roman Keusen

06 Schutzflügel Daphni Antoniou

10 Kleine Form des Denkens Ein Aphorismus E. M. Ciorans Ana Lupu

12 Muße und viele bahnbrechende Essays zu Benjamin

08 Die Unternehmer unserer Selbst oder: Wir haben Listen zu schreiben Sofie Gollob

Literarische Beiträge 16 Leben Julia Bänninger

18 Aberglaube Demian Lienhard

22 Lückenhaft Daniel Grohé

24 Ryokan Timofei Gerber

25 Das ist wie Fahrrad fahren Roman Kaspar Colesseli

26 Ich solle Philippe Hürbin

27 Michael Fehr Sagt Michael Fehr

28 Ein Irrer im Dunkeln Cédric Weidmann

30 Abendende Aurel Sieber

31 Der Kreislauf Ana Lupu

32 Tautogramme Juliane Franke

34 Du bist doch frei. Sag ich dir stets. Regula Fleischhauer

41 Die Seminarleitung informiert

42 Die brennende Kerze Aus dem Geiste der Redaktion

DS Déesse 36 Annäherungen – Befremdungen Ein Gespräch mit Wolfram Groddeck Philipp Auchter

44 De Mensae Universitatis Turicensis Philipp Auchter und Aurel Sieber

Impressum REDAKTION: Alexandra Arpagaus, Daniela Bär, Nadia Brügger, Daniel Grohé, Timofei Gerber, Sofie Gollob, Maaike Kellenberger, Esther Laurencikova, Nadine Loepfe, Ana Lupu, Carla Peca, Aurel Sieber, Luca Thanei REDAKTIONSLEITUNG: Philipp Auchter FREIE MITARBEIT: Daphni Antoniou, Julia Bänninger, Roman Colesseli, Michael Fehr, Regula Fleischhauer, Philippe Hürbin, Nico Huser, Roman Keusen, Demian Lienhard, Cédric Weidmann GESTALTUNG UND LAYOUT: Nadine Loepfe, Philipp Auchter, Aurel Sieber, Boris Buzek Cover: Nico Huser Illustrationen: Sofie Gollob, Nico Huser, Isabel Krek, Demian Lienhard, Aurel Sieber, Franziska Staerkle MARKETING: Aurel Sieber, Timofei Gerber FINANZEN: Luca Thanei WEBDESIGN: Sascha Wild DRUCK: Druckzentrum ETH Zentrum, AUFLAGE: 500 JAHRGANG: 34. Ausgabe, 20. Jahrgang, FS2014. Erscheint zweimal jährlich im Frühjahr und Herbst ISSN: 2235-7807 ADRESSE: Deutsches Seminar, Schönberggasse 9, CH-8001 Zürich E-MAIL: denkbilder@ds.uzh.ch ONLINE-ARCHIV: www.denkbilder. uzh.ch. Die Zeitschrift ist Mitglied beim Verband Schweizer Jugendpresse.

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Leben und Lernen in der Zange der Zwänge Von Roman Keusen

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nd täglich zwingt der Zwang – so lässt sich der Inhalt meines Lebens etwas zynisch auf eine Formel bringen. Denn wahrhaftig: Ich habe immer mehr das Gefühl, dass immer weniger in meinem persönlichen Alltag auf Freiwilligkeit basiert. Das fängt damit an, dass in meinem Zimmer alles – ja, alles – vom mikroskopisch kleinen Staubkorn bis zum wandfüllenden Bücherregal seine exakte Ordnung haben muss. Wird diese durch einen «Eindringling», üblicherweise meine Schwester oder meine Mutter, auch nur um ein Jota verschoben, so kann ich es gleich nach der Entdeckung dieser für mich signifikanten Ungereimtheit nicht unterlassen, so lange alle betroffenen Objekte im Raum zu justieren, bis die ganze «kosmische Energie», wie ich sie nenne, wieder an ihrem richtigen Platz ist. Doch hier fängt der Zwang erst an, mich zu bezwingen.

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Auch beim Essen habe ich so meine zwingenden Gewohnheiten. Ich will eine Speise nach der anderen essen und erst am Schluss etwas trinken, denn sonst vergeht mir der Appetit. Ausserdem dominiert die gleiche Sorte Tiefkühlpizza, die ich mir jedes Mal ofenfrisch zubereite, mein Abendessen. Bietet mir jemand etwas zu essen an, das ich nicht mag oder nicht kenne, so lehne ich es regelmässig ab und weise darauf hin, dass es sich für mich nicht lohnen würde, davon zu probieren, denn es würde sowieso kaum in meinem Magen ankommen. Noch wählerischer bin ich bei Getränken, denn andere Flüssigkeiten als Wasser und Milch lasse ich mir prinzipiell nicht auftischen. Das ist so in meinem Verstand verankert, und wer immer versucht, mich umzuprogrammieren, wird Bekanntschaft mit meiner Sturheit machen.

och der Zwang geht bei mir noch viel weiter, er dringt je länger je mehr in alle Lebensbereiche vor und beeinflusst mein Denken und Handeln. Er ist wie ein grosser Bruder, der mich kontrolliert und mich mit schlechtem Gewissen und unruhigen Nächten straft, wenn ich ihm nicht gehorche. So gibt es in meinem Tagesablauf Rituale und Routinen, die mich ständig begleiten und es sogar müssen, damit ich abends überhaupt einschlafen kann. Der täglich mehrfache Blick aufs Kalenderblatt ist nur einer meiner – noch harmlosen – «Tics», die andere als Zeitverschwendung abtun würden. Ernsthafter wird es schon, wenn meine Gedanken in Abwesenheit von Zuhause um die eine Frage kreisen, ob die neuen Blätter in meinem Studienordner auch am richtigen Ort abgelegt sind, obwohl ich das zuvor schon zwei- bis dreimal überprüft habe.

Auch mein Hang zu langen, verschachtelten Sätzen ist letzten Endes ein Zwang. Denn manchmal habe ich es lieber kompliziert, wenn es auch einfach ginge. Und in der Sprache, da fühle ich mich wohl, weshalb ich keinen Aufwand scheue und an Sätzen feile, bis sie zu inhaltlich logischen, formal aber unübersichtlichen Konstrukten geworden sind. Es gibt noch viele weitere derartige «Tics» oder «Zwänge» in meinem Leben, deren Aufzählung ich hier jedoch abbreche, um den Text nicht zu lange werden zu lassen oder mich noch weiter vor unter Umständen nicht fachkundiger Leserschaft psychisch zu entblössen. Jedenfalls bin ich mir bewusst, wie absurd all diese Dinge aus der Sicht eines Durchschnittsmenschen meiner Altersklasse sein müssen, doch so sehr ich meine Zwänge als solche erkenne, so wenig kann ich daran ändern, denn

bisher hat mir nach jedem Versuch, selbiges zu tun, etwas gefehlt und ich musste meine zwanghafte Routine wieder, mindestens in abgeschwächter Form, aufgreifen, um nicht der Trübsal zu verfallen. Psychologische Beratungsgespräche haben mir da auch wenig genützt, denn in Bezug auf Zwänge scheine ich unverbesserlich zu sein. Das wird man akzeptieren müssen. Ich bin froh, als Student über viele Freiräume zu verfügen und mir meine Zeit selbst einteilen zu können, denn das dürfte mich von psychischem Druck befreien und für eine positivere Lebenseinstellung sorgen. Denn manchmal habe ich mir wirklich schon überlegt, ob der Freitod nicht eine Lösung wäre, um dem Land der Zwänge für immer zu entfliehen. Doch dazu konnten mich auch meine Zwänge noch nicht zwingen.

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um Schluss soll natürlich gesagt sein, weshalb mein Leben so von zwanghaften Verhaltensweisen geprägt ist, denn diese kommen nicht von ungefähr. Ich bin Autist, habe das Asperger-Syndrom und bin daher in meinem Leben auf ein hohes Mass an Struktur angewiesen, um glücklich sein zu können. Es ist nicht untypisch für Menschen mit Asperger-Syndrom, sehr auf eine innere wie eine äussere Ordnung zu achten und Unregelmässigkeiten im Alltag zu vermeiden. Damit dies durchgesetzt werden kann, braucht es Zwänge, die so lange wirken, bis das angestrebte Ordnungsziel erreicht ist und sofort wieder einsetzen, wenn neue Unordnung im «System» entsteht. Ein Teufelskreis, dem man schlecht entrinnen kann. Doch man kann mit ihm leben. So, und jetzt zwingt mich etwas, hier damit aufzuhören, euch meine Zwangsgeschichte aufzuzwingen...

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SCHUTZFLÜGEL Von Daphni Antoniou

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en Seraphim gleich, gesichts- und geschlechtslos, von Flügeln beschwingt, präsentiert sich der «o.b. Flexia» mit seinen «SilkTouch Schutzflügeln». Kein profaner Baumwollzylinder also, vielmehr ein schwebender Hauch, in einen seidenweichen Schleier gehüllt, gefolgt von einem himmelblauen Schweif. Nebenan im Gestell steht bereits sein Pendant: Die «Always Ultra Normal Plus Binde»; hier gar mit doppelt geschwungenen Flügeln. Diese kleinen weissen Engel stehen im Dienste der emanzipierten Frau. Sie sind ihre treuen Begleiter. Ihre Flügel sorgen dafür, dass die Binde «dort bleibt, wo sie hingehört» und sie schützen vor der Gefahr des «Vorbeilaufens und Verrutschens». Es ist dieser Schutz, der es der menstruierenden Frau erlaubt, sich mit Leichtigkeit auf einen Fahrradsattel zu schwingen und ohne Sorge von ihrem Bürostuhl aufzustehen, mit ihren Freundinnen einen atem-

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beraubenden Auftritt im Club zu haben, einen ruhigen Schlaf zu geniessen. Selbst die Ausübung des mit höchster Entspannung verbundenen Lotussitzes ist durch seine Kraft auch an den «schwierigen Tagen» möglich. Welch eine Errungenschaft: Ein (sorgen-)freies Leben. Befreit von der Scham durch Abgesandte der himmlischen Ordnung. Doch die zeitgenössischen Hygieneartikel vermögen nicht nur die Schande der Frau unsichtbar zu machen. Als ätherische Wesen sind sie auch mit der alchemistischen Fähigkeit gesegnet, Wasser in Wein zu verwandeln. Mit Hilfe eines Sternenmantels aus «ActiPearls*» «neutralisieren» die «Always Ultra» Gerüche, anstatt sie bloss zu «überdecken». Und Flüssigkeit wird im Kern der Binden durch Zauberhand zu Gel. Die Frau braucht Schutz, um sich zu emanzipieren, um letztlich gleichberechtigt zu sein. Unter der Protektion durch Hygieneartikeln ist sie nicht mehr gezwungen, sich


den Regeln der Natur zu unterwerfen. Die Beschützte kann an jedem Tag enge Hosen tragen und Tennis spielen in kurzen weissen Röckchen. Sie erlangt Flexibilität durch Produkte, die sich ihrer Physiologie oder Höschenform perfekt anpassen. Eine gelungene Übertragung der Eigenschaften von Zellstoff auf die Frau. Nein, vielmehr: Eine empathische Verbindung, eine wahrlich symbiotische Freundschaft.

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ich über die Natur zu erheben, sie zu zähmen, ist der Anfang jeder Kultur. Die jüdisch-christliche Kultur hat die Menstruation von jeher tabuisiert. Unrein sei die Frau. Sie soll lieber kein Brot backen an diesen Tagen und keine Schnittblumen berühren. Alter Aberglaube, mag sein. Aber wer erinnert sich nicht an das zunehmende Ausbleiben der Mädchen im Schwimmunterricht? Wer kennt keinen Witz über Migräneanfälle? Und diese zauberhafte Allegorie über die Piraten und das Rote Meer. Die rote Farbe des Blutes ist primordial. Sie passt nicht in unsere aufgeklärte Zeit. Zu affektiv ist sie. McDonalds wechselte erst kürzlich den roten Hintergrund des gelben M gegen einen «dezenteren» grünen aus. Da stelle man sich eine Tamponwerbung vor, die anstatt mit transparentblauer Flüssigkeit mit Blut operiert. Welch ein Skandal, eine ästhetische Zumutung. Und wieder diese Alchemie. Blut gehört in die Requisite von Splatterfilmen. Mit Wohlgefühl und Sauberkeit hingegen geht es nicht zusammen. Alles Rote am Menschen muss versteckt werden. (Paviane zeigen ihren Hintern, aber wir sind ja keine Tiere.) Ganz wie Robert Musil seinen Helden Homo (man achte auf den Namen) in der Novelle «Grigia» sprechen liess:

ist es jeden Tag. So unrein, dass selbst ein Stück Stoff vor ihr geschützt werden muss. Ist es aber wirklich die Natur, die Blutung, vor der die Frau Schutz suchen muss? Oder ist es die gesellschaftliche Stigmatisierung, die sie im Falle einer sich optisch oder olfaktorisch abzeichnenden Blutung zu fürchten hat? Beides wohl: Ersteres aufgrund von Letzterem. Was wäre, wenn es nicht als Perversion gälte, was Philip Roth in seinem Buch «The Dying Animal» beschreibt: «Than came the night that Consuela pulled out her tampon and stood there in my bathroom, with one knee dipping toward the other and, like Mantegna’s Saint Sebastian, bleeding in a trickle down her thights while I watched.» Wessen Schutz bräuchte sie da, und vor was? Folgt man der Aussage der jungen Feministin Laurie Penny, so würde die Weltwirtschaft am Tage zusammenbrechen, an dem die Frau sich am Morgen in ihrem Körper wirklich wohl und kraftvoll fühlte. Durch Werbungen wird den Frauen suggeriert, sie seien nicht schön und sauber genug. Sie werden angehalten, sich die mangelnde Schön- und Sauberkeit finanziell zu erwerben, wodurch sie zur wichtigsten und abhängigsten Konsumentengruppe gemacht werden. Verheerend ist dabei, dass die «Fesseln» des zeitgenössischen Kapitalismus «so grundlegend zur Erfahrung des Frauseins gehör[en], dass sie quasi unsichtbar» sind. Es tut den Frauen gar nicht so weh, sich die Beine zu epilieren, wenn sie sich erst daran gewöhnt haben. Und mit einem roten Fleck am Hintern rumzulaufen sieht einfach wahnsinnig unsexy aus.

«Es gab eine zart scharlachfarbene Blume, es gab diese in keines anderen Mannes Welt, nur in seiner, so hatte es Gott geordnet, ganz als ein Wunder. Es gab eine Stelle am Leib, die wurde versteckt und niemand durfte sie sehn, wenn er nicht sterben sollte, nur er.» Der Preis der Gleichberechtigung der Frau und ihrer vermeintlichen Freiheit ist die Vertuschung oder Negierung der natürlichen Körperlichkeit. Ihr Ziel ist die uneingeschränkte Funktionalität. Die Linie wird über den Zyklus erhoben, die Ebene über Berg und Tal, der Kalender über den Mond. 24/7. Die Aphanisis der Blutung durch die Hygieneartikel ist dabei nur der Anfang. Hormonspiralen wie zum Beispiel «Mirena» werden damit beworben, dass die Menstruation nach der Implantation verringert wird, wenn nicht gar ganz ausbleibt.

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as würde da aus der Hygieneartikelindustrie, hätte sie nicht auch für die von der Periode befreite Frau Produkte im Angebot, die ihr Schutz bieten? Slipeinlagen, meist ohne Flügel, dienen dem «Wäscheschutz». Sie verleihen der Frau jeden Tag, nicht nur während der Menstruation, das Gefühl von Frische. Es ist nicht damit getan, dass die Frau während ein paar Tagen im Monat unrein ist, sie

Literatur: Musil, Robert: Drei Frauen. Im Anhang: Autobiographisches aus dem Nachlass sowie ein Nachwort von Adolf Frisé. Hamburg 2008 (1952). Penny, Laurie: Fleischmarkt. Weibliche Körper im Kapitalismus. Aus dem Englischen übersetzt von Susanne von Somm. Hamburg 2012. Roth, Philip: The Dying Animal. London 2006 Bild: Film-Still aus dem Film «Finnisterrae» von Sergio Caballero (2010); (Cinematography by Eduard Grau).

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Die Unternehmer unserer Selbst oder: Wir haben Listen zu schreiben Von Sofie Gollob

Jetzt – es ist Januar, nicht wirklich kalt, aber eben doch der wartende Monat Januar – bin ich aus meinem Rhythmus gefallen, der zeitweilig, scheinheilig vorgegeben hat, das Leben zu sein. Ich begebe mich in die Traumwelt der Selbstverwirklichung, geboren aus dem Bewusstsein, dass es da immer mehr zu tun, mehr zu erreichen gäbe: «Ein unternehmerisches Selbst ist man nicht, man soll es werden.»

Erstens: «Arbeitskraftunternehmer» Solange ich an der Uni beschäftigt bin, was soviel heisst, als dass ich Seminararbeiten, Essays, Vorträge und dergleichen vorzubereiten habe, so lange funktioniert alles mehr oder weniger. In solchen Zeiten begnüge ich mich damit, morgens früh aufzustehen, um jene Angelegenheiten zu erledigen, weil ich – so versichere ich mich zumindest selbst – wenigstens ansatzweise einen Weg gehe, der irgendwohin führt – wohin weiss niemand so genau, aber zumindest habe ich Termine, die einzuhalten sind, einen Leistungsnachweis, der mit kleinen grünen Häkchen zu füllen ist. Eine unsichtbare Hand trägt diese Häkchen ein, irgendwann sind sie da und ich erschrecke jedes Mal ein wenig, weil sie über den weiteren Verlauf meines Studiums entscheiden. Obwohl sich der Leistungsnachweis mittlerweile mit Häkchen gefüllt hat, warte ich weiter.

Zweitens: «Regime des Selbst» Ich denke, dass ich nur vorgegeben habe, auf diese Häkchen zu warten, weil ich einen Vorwand brauchte, nicht mit dem eigentlichen Leben beginnen zu müssen. Ich denke, dass das Studium selbst ein Wartezimmer ist. Doch im Grunde gefällt mir dieser Gedanke nicht, weil er eine schlechte Metapher ist und weil es das eigentliche Leben – natürlich, selbstverständlich – nicht gibt. Dennoch liegt ein Vorwurf im Januar. Ich denke: Scheisse, es ist Januar und du hast noch immer nicht...

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« Ich denke, dass das Studium selbst ein Wartezimmer ist. »

Du hättest doch... Das wäre noch... Um die aufkommende Unruhe zu mildern, schreibe ich eine To-do-Liste. In allen bisherigen Semesterferien habe ich solche Listen verfasst. Es ist nicht der Januar, nicht das neue Jahr, das mich dazu veranlasst, Listen zu erstellen. Die Listen sind mein eigens zusammengestellter Leistungsnachweis. Meist bestehen sie aus spontanen Einfällen; abends vor dem zu Bett gehen notierte Vorsätze, die festgehalten werden müssen, damit sie nicht verloren gehen. Es können banale Dinge auf diesen Listen stehen, wie das Reparieren der Deckenlampe, deren fehlendes Licht spätestens seit November ein alltägliches Problem darstellt. Vielfach handelt es sich jedoch um Dinge, von deren Umsetzung ich mir ein Mehr an Selbst verspreche. Es bietet sich hier ein Sprachspiel der Verschriftlichung an: Das Festhalten ist tatsächlich ein Festhalten, das Aufschreiben ein Zuschreiben. Mithilfe der Listen halte ich an Vorstellungen meines potenziellen Selbst fest und schreibe ihnen zugleich eine bestimmte Stellung innerhalb meines Lebens zu.

etliche Texte geschrieben, zahlreiche Bücher gelesen, perfekt Französisch gelernt und viele Schweizer Berge erwandert. Ich denke: Vielleicht wäre ich absolut glücklich.

Viertens: «Fraglose Plausibilitäten» Ist hier Kapitalismuskritik angebracht? Sie macht sich stets schön und der frustrierende Mangel an Strenge meiner Hand kann so zumindest historisch relativiert werden. Das Problem dieser Angelegenheit besteht darin, dass es keine klare Grenze mehr zwischen Arbeitsalltag und Freizeit gibt, sondern jegliches Handeln auf die Akkumulation von Humankapital zielt. Durch Internalisierung wirtschaftlicher Ansprüche wird das Individuum zum Unternehmer seiner Selbst. Bereits in den Ideen der 1968er angelegt, gehen Selbstverwirklichung und ökonomischer Erfolg spätestens seit der Thatcher/ReaganÄra Hand in Hand. Von daher kommt das Gefühl, der berufli-

« Bereits in den Ideen der 1968er angelegt, gehen Selbstverwirklichung und ökonomischer Erfolg spätestens seit der Thatcher/Reagan-Ära Hand in Hand. »

Drittens: «Selbstoptimierungsimperative» In To-do-Listen steckt eine ordnende Autonomie und ihre Übersichtlichkeit lässt mich ruhiger schlafen; jetzt ist das Leben handhabbar, bzw. ich selbst habe es handhabbar gemacht. Keine Hand wird grüne Häkchen auf diese Liste setzen können, es sei denn meine eigene. Zugleich sind sich meine To-do-Listen – abgesehen vom Punkt mit der Deckenlampe – in allen Semesterferien auf unangenehme Weise ähnlich. Die Ordnung der Listen zerbröckelt unter meiner eigenen Hand. Gerade weil diese Listen nur von meiner Hand kontrolliert werden, gerade weil sie nicht einen gefüllten Leistungsnachweis bedingen, bleiben sie unabgeschlossen. Ich denke, dass ich es schlicht nie schaffen werde, all die Punkte auf den Todo-Listen abzustreichen und mein Leben daher nie vollkommen handhabbar wird. Vielleicht müsste ich nur diesen Listen folgen, um endlich meinem eigentlichen Leben zu begegnen, und das eigentliche Leben wäre somit als das Höchstmass an Selbstverwirklichung zu verstehen. Würde ich je so weit kommen, alle Punkte mit eigener Hand abhaken zu können, wäre dieses Mass erreicht. Ich hätte Hunderte von Bildern gemalt,

che Erfolg sei ein persönlicher, von daher kommt dieser Antrieb, stets mehr und effizienter leisten zu müssen – es droht der Stillstand auf allen Ebenen. Ich denke, dass es bei einem geisteswissenschaftlichen Studium nicht reicht, auf grüne Häkchen im Leistungsnachweis zu warten, zumal sich kaum jemand für sie interessiert. Es wartet auch niemand darauf, dass ich Schweizer Berge besteige, doch ist eben dieses Besteigen von Bergen ein gerngesehenes Hobby, da es für Ehrgeiz, Tatkräftigkeit und Durchhaltevermögen steht. Mit meinen persönlichen Listen versuche ich ein (gedanklich aufgebautes) Defizit abzubauen, indem ich dort notiere, woran es mir im verinnerlichten Leistungsnachweis fehlt. Die Autonomie meiner Listen beruht jedoch genauso auf einer Täuschung wie die Vorstellung, das Studium sei das Leben. So plausibel es ist, einen Leistungsnachweis mit grünen Häkchen zu füllen, so plausibel ist es, sportlicher, belesener, kreativer, schlicht und einfach aktiver zu sein. Bald ist Februar und ich denke: Das neue Semester beginnt bald.

Literatur: Bröckling, Ulrich. Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a. M. 2007. Illustration: Sofie Gollob

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KLEINE FORM DES DENKENS

Ein Aphorismus E. M. Ciorans Von Ana Lupu

« Du bist gezwungen, über alles – und vor allem über die Einsamkeit – bejahend und verneinend zugleich zu denken. »

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ls «schnappschüssige Allgemeinheiten» bezeichnete der Essayist Emile Michel Cioran seine Aphorismen. Der Aphorismus ist eine kleine Form, eine Formel. Ein Bruchstück, das auf unverbindliche Art eine Wahrheit ausdrückt. «Schnappschüssig» sind Ciorans Aphorismen insofern, als sie stets eine Pointe als letzte Schussfolgerung eines ganzen Gedankengangs auf den Punkt bringen. Dahinter steckt jedoch eine lange Formulierungsarbeit, die sich auf die literarische Laufbahn des Autors zurückführen lässt: Der seit 1937 in Frankreich lebende Cioran erlangte erst in französischer Sprache Anerkennung für sein Schreiben. Wie seine Generationskollegen Eugène Ionesco und Mircea Eliade gehörte Cioran zu den rumänischen in Paris lebenden Exilautoren. Er wird jedoch weniger für den Gehalt seiner Beobachtungen gerühmt als für die Art, wie er die Spannung zwischen der menschlichen Täuschung, dem Betrug, den menschlichen Hoffnungen und deren Desillusion als Voraussetzung für Handlungsfähigkeit zur Sprache bringt.

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Sein Schreiben ist stets von Pessimismus, Skeptizismus und Schwermut geprägt. Eine Negativität, die auch die Titel seiner Werke verraten und dem Leser das schwer Verdauliche nicht verschweigen: «Précis de décomposition» (1949), «Syllogismes de l‘amertume» (1952), «La Chute dans le temps» (1964), «De l‘inconvénient d‘être né» (1973), «Écartèlement» (1979). Dekadenz, Agonie und die Vorstellung generellen Zerfalls sind Grundthemen, um die seine Kulturkritik an der Moderne kreist. Die Zerrissenheit des Wahrgenommenen ist für Cioran nur noch durch «Fragmente» (seine Aphorismen) in Worte zu fassen. Dafür wählt er meist eine nörgelnde und (selbst) ironische, ins Komische mündende Sprache. Er selbst sagt, dass er aus «auszubrüllender Verzweiflung» angefangen habe zu schreibn. Bei einer derart verspürten Lebensnot, die mehr als nur von Missstimmung zeugt, ist verständlich, dass Schreiben zu einem Befreiungsakt, einer Therapie, einem Ausdruck und Ausgang aus einer Grenzsituation wird.


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ioran wurde oft von Schlaflosigkeit heimgesucht. Die widerliche Langeweile stellte sich wie ein taumelnder Zustand ein, was jedoch in der Einsamkeit des Schlaflosen zum Ventil seines Denkens und Schreibens wurde. Steckte hinter diesem kränklichen Wachsein mehr als eine Müdigkeit, ein Nichts, das sich in einer depressiven Monotonie abzunützen drohte? Im zitierten Aphorismus, der aus dem Werk «Gedankendämmerung» (1940) stammt, werden Einsamkeit und Denken in Verbindung gebracht. Es handelt sich nicht um eine Erfindung Ciorans, das Bild ist bis in die Antike bekannt und begegnet uns auch in mittelalterlichen Miniaturen: ein Weiser, der, das Kinn in die Hand stützend, sitzend nachdenkt. Von diesem friedlichen Bild weicht Cioran ab. Er verfremdet die Norm, indem er vom Zwang und von der Ambiguität zwischen Bejahung und Verneinung im Denken schreibt. Gleichzeitige Bejahung und Verneinung können, so Schödelbauer, als eine «Qual» gesehen werden, die erst zur Erkenntnis führt, nachdem sie «als Mittel der Erkenntnis in Anschlag gebracht» wurde. Laut Schödelbauer wohnt dem Denken eine Wiederholung inne, die erst im Akt des Denkens als solche kenntlich gemacht werde. Wenn man also gezwungen ist, über «alles» bejahend und verneinend zugleich zu denken, dann ist damit auch das Denken selbst miteinbezogen und gemeint. Die Antithese ja/nein spricht von einer ›Denkekstase‹ und vom Wissensüberdruss. So scheint ihm wesentlich, dass jede geistige Tätigkeit auch ihre eigene Schwäche mitreflektiert; die Einsicht, dass die Anstrengung bei der Anstrengung bleiben wird. Er pflegte zu sagen: «Sobald sich der Geist in Bewegung setzt, [...] ›arbeitet‹ [er] nicht, er zersetzt». Denken ist also in gewisser Hinsicht das Gegenteil einer Handlung, es ist eine, so Cioran, «verfehlte Handlung», der er meist die Nutzlosigkeit zuschreibt. Seine Aphorismen werden sich der Rhetorizität von Sprache bewusst. Das hemmungslose Pendel, das zwischen Bejahung (Denken als Modus des Daseins) und Verneinung (Denken im Verfahren der Negation) fortpendelt und sich im Denken (und Schreiben) selbst beschwingt – es thematisiert den Gegensatz zwischen Metaphysischem und Realem. Denken wird so zu einem im Denkakt verunsichernden Prozess, in dem, so Große, «ein destruktives Prinzip wirkt», das die Voraussetzung des Denkens überhaupt ist und als «ohnmächtiges, wirkungsloses Denken erfahren» wird.

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er Angelpunkt des Aphorismus liegt jedoch im Zwang. Zwanghaft finden sowohl Bejahung wie Verneinung ›zugleich‹ statt. Denken spielt sich innerhalb dieses Zwangs ab, gestaltet sich zu einer macht- und sinnlosen Handlung aus. Als «unfehlbare Hybris» bezeichnet Cioran das Denken; als «ein Hochmut des Sichlosreissens, der sich umso zerstörerischer von der Lebenskraft des Denkenden nähren muss». Geht man vom Wort ›Hybris‹ im Sinne eines tragischen, selbstverschuldeten Handelns

aus, so ist der Zwang wie eine Art Verblendung, die den Denkenden, das tragische Wesen, zur Selbstüberschätzung führt und ihn nur durch das Denken selbst von diesem Fehlverhalten befreien kann. Mit dem unvermeidbaren, tragischen Ausweg durch den Zwang kommt ein doppelter Aspekt der negativ konnotierten Einsamkeit, über die man «vor allem» zu denken gezwungen sei, ins Spiel: Es ist, so Cioran, ein «Fluch», zur Einsamkeit gezwungen zu sein und gleichzeitig, wie beim tragischen Helden, ein Segen, auserwählt zu sein; dies ist die ›conditio sine qua non‹ des Einsamen in seiner Einsamkeit.

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n einem Vers der «Todesfuge» Paul Celans findet sich ein ähnlicher Gegensatz: «Sein Auge ist blau/ er trifft dich genau». Dort korrespondieren Reim und Akt des Reimens und es wird der Widerspruch, durch Sprachkunst ein grausames Delikt auszuführen, entlarvt. Mit Celan, der einen grossen Teil von Ciorans Werk ins Deutsche übersetzte, teilte Cioran nicht nur das Quartier latin, sondern auch die Auseinandersetzung mit der (Un)möglichkeit einer Zukunft und der menschlichen Schuld. Sind sowohl reale wie auch geistige Welt in ihre Paradoxien zu zerfallen verurteilt, so erwachsen Denken und Schreiben doch aus einer Bedingtheit, die es dem Denken und Schreiben zu integrieren gilt. Die Leistung der Aphorismen bleibt es dann, so Sarca, «ein sprachliches Mittel der Spannungsabfuhr» zwischen zwei Formen zu sein; Denken und Ausdruck des Denkens: Zwang und Möglichkeit zugleich.

Literatur: Cioran, Emile M. Gedankendämmerung. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Frankfurt am Main 1993. Cioran, Emile M. Begegnungen mit Paul Celan. In: Akzente (36) 1989, S.319-­321. Große, Jürgen. «Für mich ist er kein freier Mensch gewesen». Cioran, Nietzsche und der Nietzscheanismus. In: Weimarer Beiträge 58 (2) 2012, S. 238-­261. Sarca, Maria Ioana. Außenseitertum und metaphysisches Exil. Eine vergleichende Auseinandersetzung mit den Werken Emil Ciorans und Josef Winklers – Frankfurt am Main [u.a.]: 2008. Schödlbauer, Ulrich. Le pet N. Die Niederlage des E. M. Cioran. In: Rüdiger Schmidt (Hg): Nietzsche im Exil. Übergänge in gegenwärtiges Denken. Weimar 2001, S. 52-­63. Bild: Emile Michel Cioran.

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MuĂ&#x;e und viele bahnbrechende Essays zu Benjamin

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V

or wenigen Wochen wartete ich auf den Bus und dachte über mögliche Inhalte dieses Essays nach. Ich wurde dabei von einem Drogenabhängigen gestört, der wissen wollte, ob ich ihm nicht den nächsten Schuss spendieren könne. Dachte: Stefan Hentschel. Sagte: Ich bin Student. Auf meine Ausrede reagierte der Junkie unerwartet: «Ja, im Leben musst du ja eh nur zwei Dinge Herr Student: Steuern zahlen und Sterben!» Dass dieser moribunde Löffeljunge vor mir keinem Steuerzwang mehr unterlag, war mir klar. Auf die Einschränkungen, die ihm seine Sucht täglich auferlegen, kam ich leider zu spät. Nein, ich blieb stattdessen gedanklich am ›moribunden Löffeljungen‹ hängen: Ja auch ich sterbe. Auch Du stirbst. Das scheint ein ziemlich kollektiver Zwang; das passt, dachte ich. An dieser Stelle sollte also ein Essay über einen Drogenabhängigen folgen, an dessen urkomischer Antwort ich gerne Walter Benjamins – bzw. eben des Junkies Tod – als Sanktion allen Erzählens aufgehängt hätte. Doch musste ich mir bereits beim Einsteigen in den Bus eingestehen, dass ich für solche Wagnisse schlicht keine Zeit zur Hand haben würde. Ich steckte also – buchstäblich noch nicht einmal angefahren – in einer Sackgasse, die ironischer erschien als jeder Lehrsatz eines lokalen Folienrauchers: Mein Essay über den Zwang unterlag Wochen vor den ersten Worten dem umfassenderen Zwang, dass ich keine Zeit haben würde.

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ach Jürgen Habermas lautet die klassische Formulierung der ethischen Frage «Wie will ich leben?». In einer chronometrisierten Gesellschaft lässt sie sich bruchlos in die Frage «Wie will ich meine Zeit verbringen?» überführen. Wenn ich nun im Bus sitze und mich frage, was mit meinen elusiven Zeitresten eigentlich noch anzufangen sei, so kann es sich dabei also nicht um eine individualethische Frage handeln. Denn «meine» Zeit, so stellt der Soziologe Hartmut Rosa fest, ist immer soziale Zeit; ihr Takt, ihre Rhythmen, Perspektiven und Horizonte entziehen sich meiner Verfügung. Die Zeitstrukturen unserer Gesellschaft haben damit einen unaufhebbaren normativen Charakter; sie bestimmen nämlich, wie wir als Kollektiv zusammenleben. In einer unzulässigen Verkürzung – wer hat schon Zeit für die Vollversion – lassen sich die Anfänge einer zeitgenössischen Zeitnot, die ich im Bus zu spüren bekam, in der zunehmen-

den Beschleunigung der Moderne verorten. Am Ursprung der Zeitnot steht paradoxerweise ein Streben nach zeitsparenden Technologien. Ein Streben, das bis heute zur Senkung des Zeitbedarfs und damit zur fortlaufenden Freisetzung von Zeitressourcen führt – zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts dient in der Fachliteratur oft die Erfindung der Eisenbahn und das mit den verminderten Reisezeiten verbundene Gefühl der «Raumverkürzung». Wie kam es also, dass ich mich nun plötzlich mit 4G im Biogas-Bus ernsthaft über eine Haltestelle aufregte, bei der die Türen geschlossen blieben? Beantwortete mir der röhrende Motor unter meinem Hintern nicht bereits Habermas' ethische Frage: «Mit Muße und vielen bahnbrechenden Essays zu Benjamin!»? Die Umsteigemöglichkeiten, die mir bereits im Wageninnern mit «knapp» angezeigt wurden, sprachen indes eine andere Sprache. Im Gedanken an den bevorstehenden raschen Antritt aufs nächste Trittbrett lag die Erkenntnis, dass die Einführung zeitsparender Technologien nicht nur eine quantitative Veränderung der Zeitressourcen mit sich bringt, sondern vor allem eine qualitative. Konkret heißt das: Es wird von mir erwartet, dass «knapp» für mich kein Hindernis darstellt. Konkret heißt das: Ich werde gezwungen, in immer kürzeren Abständen einen Tweet zu zwitschern – die Retweets folgen schließlich in Sekundenbruchteilen. Auf die Errungenschaften zeitsparender Technologien reagiert die Gesellschaft also nicht mit Muße und einer unaufhaltsamen Flut an Essays zu Benjamin, sondern vereinfachend gesagt mit einer Verdichtung von Handlungsepisoden: Wir machen mehr.

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artmut Rosa konzipiert in seiner Habilitationsschrift «Beschleunigung» zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts einen geschlossenen Akzellerationszirkel. An dessen Ursprung steht erwähntes Streben nach zeitsparenden Technologien, was zu einer Beschleunigung des sozialen Wandels führt, was wiederum eine Beschleunigung des individuellen Lebenstempos zur Folge hat. Die Beschleunigung des Lebenstempos bringt nach Rosa auch eine Veränderung der Subjektform mit sich, in der sich jede und jeder Einzelne wiederum nach technischen Hilfsmitteln und Zeitressourcen sehnt. Die Beschleunigung wird so zu einem selbstantreibenden Prozess, die Zeitnot tatsächlich zum Zwang. Als ich mittlerweile schon beinahe am Ziel meiner Fahrt einem trägen Verkehrskreisel begegnete und geradewegs halblaut ausrastete, befand ich mich also eigentlich mitten in der Kreisbewegung des Akzellerationszirkels. Und wie sich der figurative Kreisel an den gegenständlichen

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Verkehrskreisel anlehnte, wurde deutlich, wie individuelle und kollektive Rationalität im Angesicht der roten Bremslichter auseinanderfielen: Ich wollte schneller, was auf gesellschaftlicher Ebene doch nur die Ursache meiner Zeitnot darstellte. Die Verbindungsmöglichkeit war bereits vom Monitor verschwunden, ich würde unerhörte sieben Minuten warten müssen, wobei zwei noch im Stau abzusitzen waren, negatives Multitasking, Glück im Unglück sozusagen. War geschlagen und durfte neben der alten Schachtel, die wohl Ewigkeiten brauchen würde, bis sie sich aus dem Sitz gequält hatte, weinerlich werden: Denn müssen unter dem Zwang eines von Rosa beschriebenen Akzellerationszirkels die verpassten Chancen nicht immer unwiederbringlicher werden? Werden die Grenzkosten eines nicht geschriebenen Essays inmitten einer Beschleunigung des Lebenstempos nicht mit jeder Sekunde höher? Wenn ich heute nicht fähig bin, die Möglichkeit eines Essays mit den restlichen Zeitansprüchen zu synchronisieren, so lautet die Wahrheit: Ich werde wohl keine Zeit mehr dafür finden. Denn weitere Möglichkeiten und Aufgaben ergeben sich bereits während der Lektüre dieses Satzes. Das Timing ist schlicht vorbei. Es zeichnete sich mit dem anschwellenden Geächze meiner Sitznachbarin-Zeiträuberin langsam ab, dass für mich anstelle des Zeitmanagements eben jener Begriff des «Timings» wichtig sein könnte. Es schien mir, dass das Timing

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– in Anbetracht der unzähligen individuellen Zeitpläne um uns herum – die einzige Möglichkeit sein würde, dem Zwang der Zeitnot zu entkommen. Ich murmelte mir zu, dass man in Zukunft seine Zeit wohl nicht mehr nach ihrer sinnvollen Ausgestaltung planen sollte – der zeitliche Aufwand und die stetige Ausrichtung nach der beschleunigten Variabel «sinnvoll» wäre dafür doch viel zu hoch. Stattdessen wird man gezwungen, sich zu überlegen, welche Aufgabe oder Aktivität sich im gegebenen Augenblick optimal erledigen ließe. Meine ethische Frage als ein an der Zeitnot Leidender lautet nicht: «Wie will ich meine Zeit verbringen?», sondern: «Für was wäre jetzt der optimale Zeitpunkt?».

Rosa, Hartmut: Beschleunigung, stw 1760, Frankfurt a. M. 2012. Illustration: Aurel Sieber

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LEBEN Von Julia Bänninger

Illustration: Isabel Krek

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ch renne. Die eiskalte Luft brennt in meinen Lungen und der heisse Atem verdunstet als graue Wolke vor meinem Gesicht. Es scheint heute nie richtig hell zu werden, beinahe blendet der weisse Himmel über mir. Rotz läuft mir aus der Nase, während ich weiter über den feuchten Waldboden laufe, eine Mischung aus brauner Erde und totem Laub. Die schwarzen Äste der kahlen Baumkronen heben sich vom Weiss der Wolken ab und trotz des Schmerzes in meiner Brust renne ich weiter. Oder vielleicht gerade deswegen, damit ich mich spüren kann. Ich kann nicht stehen bleiben, konnte es noch nie. Länger als ein halbes Jahr bin ich bis jetzt noch an keinem Arbeitsplatz geblieben. Seit dem Auszug aus dem Elternhaus dauerte mein längster Aufenthalt in einer WG neun Monate – gleich lange, wie es dauert, ein Kind auszutragen. Und obwohl ich in meiner letzten Beziehung die Welt zu Füssen gelegt bekam, lief ich davon, aus Angst, stehen zu bleiben. Aus Angst, nicht mehr zu finden, was ich mir erhoffe. Aber was ich suche, weiss ich selbst nicht so genau.

hindern kann wahrzunehmen, kann ich meinen Kopf nicht davon abhalten nachzudenken. Und so drehen sich die Erinnerungen, Gedanken und Vorstellungen in meinem Kopf, und ich kaue sie wie einen zähen Kaugummi, den ich weder ausspucken noch herunterschlucken kann und der mit den Jahren immer grösser wird.

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ch schliesse mein Fahrrad ab, trete in das Lokal und grüsse den Mann hinter der Theke. In einem Nebenraum ziehe ich die schwarze, kratzige Bluse an und habe noch kurz Zeit für einen Kaffee, bevor meine Schicht beginnt. Schon jetzt wünschte ich, es wäre sechs Stunden später. Später bewegen sich auf der Tanzfläche schwitzende Menschen zu mässig guter Musik. Mich überfällt das schreckliche Bewusstsein einer Langeweile: mich langweilen diese Leute, die stierenden, betrunkenen Blicke, abgestumpft und taub. Warum bin ich hier? Was zwingt mich, hinter dieser Bartheke zu stehen und klebrige Drinks zu mischen? Was zwingt mich zu leben?

Als ich später von meinem kleinen Fenster auf das gegenüberliegende Gebäude blicke, beobachte ich die Nachbarin, die wie gewöhnlich ihre weisse Bettwäsche über den grauen Balkon hängt. Sie trägt die dicken Haare zu einem Dutt im Nacken gebunden und ihre Lippen hat sie rot geschminkt. Mit kräftigen Stössen schüttelt sie den Staub der letzten Nacht aus der schweren Decke. Es scheint befriedigend zu sein, eine kleine Bestätigung des Alltags. Es ergibt Sinn zu leben. Meine Nachbarin zündet sich eine Zigarette an und bläst zufrieden den grauen Rauch aus, der vor ihrem Gesicht in der kalten Luft verschwindet. Ich frage mich, ob sie ab und zu auch noch rennt, oder ob sie stehen geblieben ist, da auf dem Balkon mit der schneeweissen Decke.

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ch stosse abends mein Fahrrad aus der gläsernen Eingangstür unseres Wohnsilos. Auf dem kleinen Spielplatz gegenüber lachen einige Kinder in einer fremden Sprache. Wann habe ich aufgehört Kind zu sein? Am Boden liegen Zigarettenstummel und eine leere Chipspackung. Ich hebe sie auf, um sie in einen der vollgekritzelten Mülleimer zu werfen. Auf der Bank daneben sitzt eine junge Mutter und beobachtet die spielenden Kinder. Als ich mich nähere, wirft sie mir einen unbeteiligten Blick zu, um den Kopf sogleich wieder wegzudrehen. Neben ihr schläft ein Baby im Kinderwagen. Ich wäre vielleicht zufriedener, wenn ich manchmal aufhören würde zu denken, dauernd zu hinterfragen. Doch genau wie man seine Sinne nicht daran

Ein junger Mann mit strubbligen Haaren bestellt ein grosses Bier. Er gibt Trinkgeld und ich bedanke mich freundlich lächelnd. Er lächelt nett und verschwindet tanzend in der Menge. Am nächsten Morgen regnet es. Das erkenne ich an den feinen Wassertropfen, die vom Stoff der eingerollten Markise auf dem Balkon perlen. Als ich mein Mobiltelefon in die Hand nehme, fühle ich die Nervosität in mir aufsteigen. Doch mein Entschluss ist gefasst, schon lange eigentlich. Der Besitzer der Bar, in der ich arbeite, nimmt nach dem zweiten Klingeln ab. Irgendwie hatte ich gehofft, er würde nicht rangehen. Etwas unsicher erläutere ich die Gründe meiner Kündigung: keine Perspektive, Rückenschmerzen, zu viel Stress… eigentlich alles Ausreden, was aber nur ich weiss. Mein Chef ist verständnisvoll. Trotz des Regens hole ich die abgetragenen Turnschuhe hervor und renne schliesslich durch das einsame Nass. Abgesehen von einer älteren Dame, die ihren kleinen Hund ausführt, wagt sich niemand bei diesem Wetter auf die Strasse. Zufrieden und befreit laufe ich in Richtung Waldweg. Irgendetwas wird sich schon finden, ich muss nur weitersuchen, immer weitersuchen. Früher oder später wäre ich sowieso gegangen, wäre davongerannt. Mit einer Mischung aus erwartungsvoller Neugier und Angst vor der neuen Freiheit, diesem grossen Loch, renne ich weiter.

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ABERGLAUBE Von Demian Lienhard

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ag für Tag musste es sich wiederholt haben, während mehrerer Monate schon. Und trotzdem hattest du es nie zuvor gesehen. Vielleicht doch. Vielleicht hattest du es auch gesehen, aber es war dir nie aufgefallen, nicht so, dass du dir darüber Gedanken gemacht hättest. Immer wart ihr an der Porta San Lorenzo verabredet, an jener Bresche in der Stadtmauer, durch welche die Tiburtina geradezu den dunkelgrünen Apenninausläufern am Horizont entgegenläuft. Immer war sie zu spät, und doch, auch wenn sie sich jedes Mal aufrichtig entschuldigte und stets einen plausiblen Grund oder gar eine Verkettung mehrerer Gründe bereithielt, hatte sie ihren Schritt nicht einmal dann beschleunigt, wenn sie von rechts auf die Tiburtina eingebogen war, obwohl ihr doch bewusst gewesen sein musste, dass du bereits warten und sie deshalb von weither sehen würdest, dass sie ihre schwarzen Locken und ihr steifer Gang unweigerlich verraten würden. Immer schlug sie dir vor, doch noch einen Cappuccino, ein Cornetto oder eine Brioche zu nehmen, bevor ihr im Tunnel das Gleisfeld unterqueren würdet, das sich zum Bahnhof hin stetig verbreitert. Selten nur konntest du ihr diese Bitte abschlagen, obwohl sich doch eure Verspätung dadurch umso deutlicher erhöhte, deswegen dein ganzer Tagesablauf durcheinandergeriet, sich der Beginn des Feierabends bis weit nach der Dämmerung verschob. Aber auch dann, wenn ihr endlich durch die Unterführung gingt, wenn ihr vor der Santa Bibiana das ausgefranste Asphaltbett der Straßenbahnschienen überschrittet, ließ sie sich immer wieder aufhalten. Las hier ein Wahlplakat, versuchte da, eine abgemagerte Katze anzulocken, die eben durch die Umzäunung der Kirche geflüchtet war, half bereitwillig einem Alten, der gerade von der Messe kam, die dichtbefahrene Straße zu überqueren. Wenn schließlich die hohen Pappeln der Piazza Vittorio Emanuele in euer Sichtfeld traten, wurde sie unvermittelt still, antwortete nur noch in kurzen, plötzlich abreißenden Sätzen. Ihr Händedruck merklich fester, die Schritte kürzer,

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der Blick starr nach vorne gerichtet. In der Galerie, von der die engen Treppenschächte in den Untergrund führen, löste sie sich von deiner Hand und ließ sich zurückfallen, einen, zwei Meter vielleicht. Es waren nur einige Schritte, während derer sie getrennt von dir ging, einige Sekunden, bis sie unterhalb der Treppe deine Hand wieder ergriff. Tag für Tag musste es sich wiederholt haben. Dort auf der Treppe. Dort, wo die im Travertin verankerten Stahlgitter den Eingang zur U-Bahn markieren. Wie hatte es dir nur entgehen können. Wie nur. Immer wieder hatte sie vorgeschlagen, anstatt der Metro den Bus zu nehmen. Natürlich sei er stets hoffnungslos überfüllt, selbstverständlich brauche er mindestens doppelt so lange. Aber die Stadt, die man dabei sehe, die bronzenen Kuppeln, die marmornen Türme und Bögen, die Sonne, die sich auf dem glatt geschliffenen Kopfsteinpflaster spiegle, dass all dies die Unannehmlichkeiten entschädige. Und dass es unten auf dem Marsfeld immer etwas zu sehen gebe, dass man da durch Gassen, Märkte, Straßencafés – geradezu mitten durchs Leben fahre. In diesem Punkt aber bliebst du hart. Seist schließlich nicht in die Nähe einer U-Bahnstation gezogen, um danach den Bus zur Arbeit zu nehmen. Sie nahm deine Weigerung hin, beharrte nicht länger auf ihrem Ansinnen, da ihr die sachlichen Argumente fehlten, um dich davon zu überzeugen. Umso merkwürdiger schien es dir, dass ihr fortan immer häufiger mit dem Bus zur Arbeit fuhrt. Auf einmal nämlich war sie gezwungen, irgendwo auf dem Weg einen Zwischenhalt einzulegen, um durchaus wichtige Besorgungen zu machen, die nur dort, nur genau dort zu machen waren, um ein Arztzeugnis abzuholen, ein bestimmtes Geschenk zu kaufen, das es nur dort gab, eben weit weg von der Metrolinie. Etwas eigenartig war dir das schon vorgekommen, ohne Zweifel, doch sie musste es wissen, sie, die gebürtige Römerin, sie, die kaum einen Tag ihres Lebens außerhalb dieser Stadt zugebracht hatte. Immer aber, wenn ihr am Morgen trotzdem mit der U-


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Bahn zur Bibliothek gefahren wart, bestand sie darauf, sie auch abends zu nehmen. Hier ließ sie nicht mit sich verhandeln. Zurück an den Ausgangspunkt, zurück zur Station, an der ihr eingestiegen wart. Keinesfalls wollte sie dann länger wegbleiben, als bis die letzte Bahn fuhr. Und hattet ihr diese trotzdem verpasst, was ab und an vorgekommen war, so bestand sie darauf, dennoch an der Piazza Vittorio Emanuele auszusteigen, obwohl euch der Nachtbus nur wenige Straßen von ihrer Wohnung entfernt abgesetzt hätte. Tag für Tag musste es sich wiederholt haben. Dort auf der Treppe. Dort, wo die im Travertin verankerten Stahlgitter den Eingang zur U-Bahn markierten. Eigentlich hätte es dir schon früher auffallen müssen. Eigentlich. Und dann, du weißt nicht mehr warum, hast du auf einmal zurückgeschaut, zu ihr. Erinnerst dich, wie sie sofort die Hände nach hinten warf, als sie deinen Blick bemerkte, wie sie versuchte, sich möglichst unauffällig zu geben. Dennoch, sie verrenkte sich so ungelenk, derart gespielt, dass du selbst dann bemerkt hättest, dass sie etwas vor dir verbergen wollte, wenn du sie nicht bereits Sekunden zuvor gesehen hättest. Aber du hattest es gesehen, klar und deutlich. Gesehen, wie sie unmittelbar auf dem Treppenabsatz stehengeblieben war, gesehen, wie sie dabei Mittel- und Zeigefinger eilig über ihren Mund streichen ließ, um sie dann auf den unterhalb des Kinns bereitgestellten Daumen stoßen zu lassen, gesehen, wie sie sich in jenem Moment leicht in die Lippen kniff und eine Bewegung ausführte, als würde sie etwas sorgfältig zu Boden legen. Schon damals hast du sie gefragt, was das zu bedeuten habe. Damals, in der Metro A, nachdem dir im dichten Menschengeschiebe auf der Treppe die Finger an ihrem Mund aufgefallen waren. Doch kurzes Zusammenzucken ihrer Augenlider nur, gelassenes Umschichten des Tascheninhaltes auf der Suche nach niemals vorhandenden Arbeitsunterlagen, eine beifällige Frage dann, was du von einem gemeinsamen Museumsbesuch am folgenden Sonntag hieltest. Fortan drängte sie noch öfter darauf, den Bus zu nehmen. Wenn es aber trotzdem unvermeidlich war, mit der U-Bahn zu fahren, erfand sie stets eine neue Ausrede, weshalb sie dich erst unten auf dem Bahnsteig treffen konnte. Allmählich verblasste deine Erinnerung. Bald warst du dir nicht mehr sicher, ob du das tatsächlich gesehen hattest, oder ob ihre merkwürdige Bewegung vielleicht doch nur einem Zufall des Augenblickes geschuldet war. Warst deshalb fest entschlossen, sie bei der nächsten Gelegenheit unter keinen Umständen nach hinten fallen zu lassen, wenn ihr kurz vor dem Schacht stündet, sie genau im Auge zu behalten, wenn sie die Treppen hinabstiege. Als sie nun in der Galerie den Schritt unmerklich verlangsamte, in der Hoffnung, du würdest wie üblich vorausgehen, wurdest auch du langsamer. Schließlich kam sie zum

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Stehen. Als du ihr deswegen einen fragenden Blick zuwarfst, vermochte sie ihre Verlegenheit nicht mehr zu verbergen. Sie zögerte kurz. Dann sagte sie hastig, dass sie gerne die Kleiderauslage beim Chinesen gegenüber betrachten würde, dass sie da etwas gesehen habe, was ihr vielleicht gefallen könnte. Dass du doch schon hinabgehen und ihr einen Fahrschein kaufen solltest, unglücklicherweise habe sie ihre Jahreskarte bei einer Freundin vergessen. Sie sei gleich soweit und würde nachkommen. Stiegst langsam die Treppe hinab, enttäuscht darüber, dass es dir erneut nicht gelungen war, sie beim Hinabsteigen zu beobachten. Doch dann, auf der letzten Stufe, kam dir ein Einfall. Anstatt bis zu den Fahrscheinautomaten vorzugehen, würdest du dich hinknien, die Hände vor den rechten Schuh gelegt, als bändest du deine Schnürsenkel. Befändest dich so in einer Position, von welcher der gesamte Schacht zu überblicken wäre. Gleichzeitig schienen dir die losen Schnürsenkel ein geeigneter Vorwand dafür zu sein, dass du noch keine Fahrkarte besorgt hättest und sie dich deshalb bereits unterhalb der Treppe wiedertreffen würde. Nur wenige Augenblicke vergingen, bis sie in dein Sichtfeld trat. Zunächst war sie hinter drei Männern verborgen, wurde erst sichtbar, nachdem sie auf dem Treppenabsatz innegehalten hatte und die Männer vor ihr weitergegangen waren. Wieder fuhr sie sich mit Zeige- und Ringfinger über die Lippen, wieder folgte diese Bewegung, als würde sie etwas aus ihrem Mund ziehen und behutsam auf den Boden legen. In dem Moment, als sie sich wieder aufrichtete und die Treppe hinabsteigen wollte, trafen sich eure Blicke. Dachtest, sie wäre nun im Zugzwang, sie müsste sich nun erklären, weil ihr bewusst sein musste, dass dir nichts entgangen war. Und doch, sie tat, als wäre nichts gewesen, kommentierte deine losen Schnürsenkel, setzte dir einen Kuss auf die Haare, als du aufstandst, erzählte von einem königsblauen trägerlosen Oberteil, das sie beim Chinesen gesehen habe. Auf der Rolltreppe, die zu den Bahnsteigen hinabführt, fragtest du sie schließlich, ob sie das vor jeder Fahrt mache. - «Ja.» - «Warum?» - «Egal.» - «Sag doch.» - «Damit ich heil ankomme.» - «Wie?» - «Frag nicht. Meine Großmutter hat es mir beigebracht.» Sie weigerte sich fortan, auf deine Fragen einzugehen. Doch für dich stand fest, dass das Aberglaube sei. Das hast du damals schon gesagt. Reiner Aberglaube. Doch was diese Gesten bedeuten sollten, was sie sich da aus dem Mund zog, was und warum sie das zu Boden legte, das leuchtete dir nicht ein. Noch nicht. Einige Wochen vergingen, in denen sie die gemeinsame U-


Bahnfahrt zu vermeiden suchte. Und dann sagte sie es dir doch. Auf einmal, ohne, dass du gefragt hättest, zwischen einem Himbeerjoghurt auf den travertinweißen Treppen an der Antonio Gramsci und dem Grüßen eines Freundes, der euch auf dem Weg zum Kaffeeautomaten im Erdgeschoss der Architekturfakultät entgegenkam. Dass sie ungern untertags fahre, sie diesen muffigen Geruch nach abgestandenem Urin und vergorener Milch verabscheue, ihr dieses Herandonnern, das Ruckeln und das Quietschen der Bahn, das flackernde Licht in den Wagen Angst bereiteten. Dass sie jedes Mal erleichtert sei, wenn sie wieder an die Oberfläche komme. Dass sie ihre Seele oben lasse. Sie deshalb aus dem Mund ziehe und vor dem Schacht niederlege, damit wenigstens sie heil davonkomme, falls etwas passiere. Und dass sie deswegen immer an den Einstiegsbahnhof zurückkehren muss, um ihre Seele wieder abzuholen. Aberglaube. Hattest es doch gleich gesagt. Reiner Aberglaube. Eure Beziehung war nach dreieinhalb Jahren in die Brüche gegangen, im Frühling desselben Jahres, in dem sie nach

einem Bluthustenanfall in einem Zug der Linie A zu Boden ging. Aus dem künstlichen Koma ist sie nie mehr aufgewacht. Nimmst noch immer täglich die Metro an der Piazza Vittorio Emanuele in Richtung Flaminio. Gibst täglich Acht, wenn du den Treppenabsatz im Schacht betrittst, ob du nicht doch etwas findest. Etwas von ihr, das sie da hat liegen lassen. Hast noch nie etwas gesehen. Dass das Aberglaube sei. Und dass du das gleich gesagt hast. Reiner Aberglaube. Und manchmal geht dir durch den Kopf, dass man vielleicht auch an anderen Treppenabgängen nachschauen müsste. Wer weiß denn schon, von welcher Station sie an jenem Tag losgefahren war.

Bilder: Die Metrostation Vittorio Emanuele (vorne); Blick auf die Santa Bibiana (oben); von Demian Lienhard.

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LÜCKEN

Von Dan Man hat von mir verlangt, ein Geständnis abzulegen, aber ich kann nur wiederholen, was ich schon so oft wiederholt habe: dass ich mich nicht erinnern kann. Zwar ist der Vorwurf gegen mich bestimmt berechtigt – noch kenne ich mich gut genug, um das sagen zu können –, aber wie soll ich eine Tat gestehen, an die ich mich nicht erinnern kann? Seit ich bemerkt habe, wie sich die schwarzen Flecken in meiner Vergangenheit ausbreiten und sich langsam in die Gegenwart vortasten, habe ich versucht, die Lücken, die entstehen, mit allen Mitteln zu überbrücken; habe angefangen mir Notizen zu schreiben und Tagebuch zu führen, doch bald schon habe ich auch vergessen, mich daran zu erinnern, und so bleibt mir nichts anderes übrig, als das zu erzählen, was noch von mir übrig ist. Ich weiß nicht mehr, wann es zum ersten Mal passiert ist. Soweit ich mich zurückerinnern kann, war es ein Teil von mir. Es geschah immer ganz plötzlich, dass mich dieser Drang erfüllte, mir etwas anzueignen; in meiner Umgebung eine Lücke zu hinterlassen und gleichsam etwas aus dieser Umgebung in mich aufzunehmen, nicht, weil ich es gebrauchen konnte, sondern einfach aus dem plötzlichen Wunsch heraus, mein Leben, das sonst so leer war, mit Spannung und mit Inhalt zu versehen. Die Lücken, die ich hinterließ, waren meine Fußabdrücke in der Welt. Manchmal geschah es ganz unbewusst und erst im Nachhinein, bereits zuhause angelangt, bemerkte ich den Gegenstand in meiner Tasche. Natürlich machte ich mir jedes Mal Vorwürfe, ja, ich litt unter diesem Zwang so sehr, wie ich ihn im Augenblick der Tat genoss. Erst habe ich erfolglos versucht, gegen den Trieb anzukämpfen, habe mir selber Hindernisse gelegt und mich anschließend gestellt, in der Hoffnung, mein Unterbewusstsein wolle mir weitere Peinlichkeiten ersparen, – aber dem war nicht so. Im Gegenteil: Ich wurde immer kreativer. Dann begann ich, meine Taten zu glorifizieren und mir einzureden, dass sie eigentlich ein Akt der Selbstbestimmung, ein Drängen aus den Fesseln der gesellschaftlichen Zwänge seien. Nachdem ich keinen Ausweg mehr aus der Nische, in die ich gedrängt worden war, sah, versuchte ich sie mir schönzureden, mich dort häuslich einzurichten. Insgeheim wusste ich natürlich, dass es nur eine Ausrede war und entsorgte

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NHAFT

niel Grohé auch weiterhin jedes noch so heroisch erbeutete Stück sofort in der Mülltonne, damit es niemand zu Gesicht bekomme. Ich begann mich zurückzuziehen und lebte in ständiger Angst, dass jemand etwas bemerken könnte. Ich weiß nicht, ob es so etwas wie Schicksal oder ausgleichende Gerechtigkeit ist. Wahrscheinlich war es nur die konsequente Weiterführung meines Triebs, dass ich irgendwann begann, mich selbst zu bestehlen; mich selbst zu stehlen. Es waren keine Gegenstände, die ich mir wegnahm, sondern mein Leben. Es gibt Menschen, die anfangen sich selbst zu verstümmeln, sich Glieder abzuschneiden, um immer weniger zu werden. Andere nehmen Drogen, um sich selbst zu zerstören, doch bei mir handelt es sich um eine viel perfidere Art der Selbstauslöschung: Ich begann zu vergessen. Anfangs waren es nur kurze Momente; ich stand plötzlich in einem Geschäft, ohne zu wissen, was ich dort wollte; ich saß in der Straßenbahn und hatte mein Ziel vergessen. So beunruhigend die Situationen auch waren, ich versuchte mir einzureden, dass es sich um eine ganz normale Begleiterscheinung des Alters handelte, dass viele Menschen unter derartiger Vergesslichkeit litten. Erst als ich bemerkte, wie Teile meiner Vergangenheit verschwanden, realisierte ich, was los war. Natürlich hätte ich einen Arzt aufsuchen können, doch es schien mir ganz klar, dass ich genauso, wie ich meine bisherige Situation ertragen hatte, auch mein Ende ertragen musste. Was bleibt noch von einem übrig, wenn alle Taten, alle Erlebnisse und Erinnerungen verschwinden? Mein Leben lang war ich in diese Zelle eingesperrt gewesen und nun fing mein Wächter an, mir stückchenweise diese letzte Lücke, diesen letzten Rückzugsort meines Seins zu nehmen. Ich spürte, wie ich mich langsam auflöste. Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt je etwas anderes war, als ein Produkt meiner Zwänge. Ich fühle mich wie ein Stück Formfleisch, eingezwängt zwischen meinen Trieben, zerdrückt, sodass am Ende nur sie übrigbleiben. Ich weiß nicht mehr, ob ich gestohlen habe; ob ich es bin, der gestohlen hat. Wie soll ich also ein Geständnis ablegen, für jemanden, den ich kaum noch kenne, über etwas, das ich nicht weiß? Alles, was mir übrig bleibt, ist

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Ryokan Von Timofei Gerber

Es wäre uns vielerlei zu entnehmen wie die Hand beispielsweise durch das Innere des Mantels fährt sich fast schon eine zweite Haut aneignet aber massenproduziert grössenstandardisiert dass sie manchem ein wenig zu gross ist und leicht hängt von einem anderen aber an den Knöpfen gut sichtbar beinahe zu gut ausgefüllt. Und wenn man sie dann diese Haut meine ich abends nach tüchtigem Dienst in Eile entfremdet umstülpt plötzlich am Arm geschieht nichts und man merkt es spätestens am Morgen oder meist gleich schon am Abend. Das fallende Ahornblatt sagt man zeigt ja auch oftmals beide Seiten aber wählen Sie ihm eine richtige lächerlich ihre Mäntel richtig tragen das lernet können alleine die Menschen die zwanghaft Umhergestülpten.

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Das ist wie Fahrrad fahren, man verlernt es nie. Sprichwort, Volksmund

Von Roman Kaspar Colesseli

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xadata-Server und private banking: With us you‘re up to twenty times faster in starting your own tradition. Alles strömt in eine Richtung. Businesskoffer und Trenchcoats. In der Nähe der Bars riechts gut, nach Kaffee, kommt man jemandem zu nah, riecht es oft nach Bier. Die Frage ist, woher kommen all‘ diese Leute. Aus Köln? Aus Wien? LX 3916 nach Nizza, so viele Passagiere? Eigentlich ist es mir scheissegal, aber in meiner Funktion als Gate-Agent obliegt es mir, einem Bruchteil dieser Leute gegen Vorweisen ihres boarding passes Zutritt zu ihrem Flug nach Bremen zu gewähren. Die meisten verstehen gar nicht, dass sie es vom Zug oder Taxi bis auf den Flieger durchschnittlich mit sechs unterschiedlichen Firmen zu tun haben, die Fluggesellschaft ausgenommen, von Rollstuhlfahrern oder Schwerbeladenen rede ich jetzt gar nicht. Es ist ziemlich leicht, den Missmut oder sogar Hass eines Buchungsfehlers so auf andere abzuwälzen. «Entschuldigen Sie bitte, mein Herr, aber das ist kein E-Ticket, das ist nur eine Buchungsbestätigung.» Erstmal müssen sie natürlich auf diesen strassenverkehrsuntauglichen bulligen Bus. «Ist das wieder eine Turbo-PropMaschine», fragt jemand. «Ja, es ist die gute alte Saab 20, wie immer». Eigentlich wollte er mir nur seine goldene Vielflieger-Karte zeigen und sichergehen, dass seine Punkte – in diesen Stunden mit Gold aufgewogen – verbucht sind. Er geht nicht weg, bleibt einfach da stehen und arbeitet auf seinem iPad. Arbeitet. Es scheint zum dresscode dazuzugehören und klar, der ist einkommensabhängig. Ich würde ihm gerne den mehrgliedrigen Teleskophandgriff seiner Businesstasche, der sich auf Hüfthöhe als Kleiderständer anbietet, in seinen Sack rammen. Da ist auch wieder diese hübsche blonde Dame, der ich 5 Kilo Übergepäck erlassen habe. Sie weiss, dass ihr Zweiteiler sehr gut aussieht und ausser mir sind sich darüber auch die 21 Herren auf dem Flug nach Bremen einig. Rot wäre zu auffällig gewesen, aber dafür trägt sie ihre Fesseln auf schmeichelnden hochhackigen Schuhen. Pfui. Hans Emil Jakobssen erhält einen Anruf. Ich rede mit Amsterdam, Codeco hat sich aufgehängt, keine 15 Minuten vorm boarding. Muss ich manuell boarden, versteck ich mich auf dem Klo. Die Abfertigung war auch schon da, bei diesem albernen Unwetter in nem kleinen Panda um die Ecke gedriftet. Hat meine guten Passagierlisten – auf Endlospapier fein säuberlich, zweifach, jeweils in der Mitte gefalzt – in den Regen mitgenommen. Ich muss mein Funkgerät immer in der Hand halten und der Depp hat ne Gürtelhalterung. Und überhaupt, wenn er nicht so kurze Hosen trüge, würde er in Neono-

range durchaus etwas hermachen, es mit mir in der Menge aufnehmen. Nix bahnt dir den Weg durch die Stosszeit des Flughafens wie ein plärrendes und knackendes Funkgerät. Unsere sind von EADS, zuverlässig, the only brand that‘s battle tested. Vom Flughafenbetreiber gemietet. Sicher ein Verlustgeschäft. Einzige Schwachstelle ist die über einen vierpoligen Anschluss angeschraubte Antenne - sie eignet sich bestens dazu, die Knöpfe von Aufzügen auch aus grösserer Entfernung zu bedienen. Schwerindustrie, Krupp und Schindler. Die Hälfte hier sind sowieso Ingenieure, manche tragen sogar noch ihre Kongress-Badges. Manchmal vergessen sie Tagungsmaterial auf schwerem Hochglanzpapier in glossigen Ordnern. major player in biomedical engineering. Ich hatte die Hälfte der Passagiere hinter mir. Der Rest kommt erst nach Aufruf. Christine von der Voice ruft vier davon auf, keiner regt sich, alle schielen in verspannter Laxheit von ihren Sitzplätzen aus zum Bus – der Fahrer steht ja auch noch rum und «ich fliege ja so oft, dass ich besser weiss, wann man einzusteigen hat». Dann seh ich den Jakobssen weinen. Ich wippe auf dieser hoffnungslos fehlkonzipierten Kreuzung aus Medizinball und Barhocker mit Korksitzfläche. Er weint und lehnt sich an die Wand, lässt einen Teil seiner Zeitung fallen und presst das Telephon ans Ohr. Zwei Passagiere, die wohl mit ihm gesprochen haben, boarden ratlos. In diesem Umfeld eine andere Emotionsregung als gut begründetes Ärgernis über die Nachlässigkeit von irgendjemandem zu sehen, ist sehr selten. Meist entlarven sich dann selbst Vielflieger als lausige Kenner des Flughafenbetriebes. Jakobsen weint immer noch. Und wie. Er ist fast 2 Meter gross, hat blonde Haare in ordentlicher Frisur, ist geschmackvoll angezogen und trägt sogar gute Schuhe. Am besten hat mir aber seine Aktentasche gefallen. Eine seiner kleinen Töchter sei wohl gestorben, hatte ich jemanden beim boarden flüstern gehört. Auf dem Rückweg ist mir schwindelig von der Kippe, die ich in etwas mehr als drei Zügen vernichtet habe. Diese schale Scheisscola hätte ich auch einfach irgendwo hinkippen können, das Gefühl wär das gleiche. Ich hab Durst und keine Lust, auf nem öffentlichen Klo zu kacken. Meine Schuhe glänzen, eine matte Stelle von den verdammten Rollern unter den Bürostühlen polier ich an der Bürstenborte der Rolltreppe raus. In der Lounge warten privilegierte Passagiere auf ihren Tee und den Ausruf. Die wirklich privilegierten sieht man nicht oder sie schlafen. Jakobssen geht mir nicht mehr aus dem Kopf.

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Ich solle Von Philippe Hürbin

Illustration: Franziska Staerkle

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ch solle mich beeilen, sagt meine Mutter, sie befürchtet, ich würde trödeln, so dass wir schliesslich zu spät kämen; sie ist ständig von Angst erfüllt, wir könnten zu spät zum Ritus kommen; besonders, wenn wir sie begleiten müssen, um Streit zu vermeiden, des Friedens wegen sozusagen, dieser Zwang bereitet ihr positive Missverständnisse, da Mutter sich ihres Zwingens nicht bewusst ist, damit ihr Irrtum bestehen bleibt, wir kämen aus eigenem Entscheid mit. Während, wie in einem Fangspiel, Mutter, nachdem wir bei der Kirche angekommen, möglichst viele Bekannte aufzuspüren und anzusprechen beschäftigt ist, beginne ich, das Ende zu erwarten; ich suche mir einen Platz im Gebäude... Die Mutter ist nachgekommen, sie ist mit der Platzwahl nicht zufrieden, wir müssen weiter vorne Platz nehmen. Nun wird Musik gespielt, das Procedere beginnt; ich wehre mich gegen jede Art von In-ihr-Versinken, ich wehre mich gegen ihre Hypnose, die mich damit einverstanden sein lassen will, was in der heutigen Nacht gesagt werden wird; da ich kein Kenner der Musik bin, weiss ich nicht,
was gespielt wird, ich nehme an, dass es ein Haydn, Beethoven oder ein Bach ist, der zum Besten gegeben wird, zerhackt, in Stücklein geschnitten, die als mundgerecht für das Volk gehalten werden. Einzug. Der Ritus selber fängt endlich an; die Teilnehmenden, den Blick nach vorne fixiert, in eine Leere stierend, wo sie etwas zu sehen glauben, es folgt allgemeines Sich-Erheben; nach einigen Worten die Anweisung des Regisseurs: man darf sich wieder setzen. Ich nenne ihn in Gedanken den Regisseur, auch wenn er anderes zu sein glaubt; er ist ein Regisseur, dessen Drehbuchautor verschollen ist und der darum improvisieren muss. Plötzlich wird mir klar, warum ich diese Events in meiner Kindheit liebte: Schon der vorangehende

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Teil des Abends war schön gewesen, der Glanz legte sich auch über diesen Teil, überhaupt alles märchenhaft, und mit Magie hatte es ja auch zu tun – das denke ich mir, während der Regisseur an die Mythen erinnert, jedes Jahr erinnert
er daran, das Publikum ist wohl vergesslich. Es wird wieder gesungen. Der Regisseur improvisiert nicht gerne, darum geht es rasch vorwärts; gesungen wird nun das Schlusslied. Ich bedauere, dass auf die grosse lateinische Lobeshymne verzichtet wurde. Wie die Kaiserhymne «Heil dir im Siegerkranz», überhaupt wie sämtliche Marschmusik jener Zeit, erinnert dieses Lied an die Zeiten, in denen man sich noch nicht zu schämen brauchte, solchen Blödsinn zu glauben; irgendwann wurden sie alle von der Historie überholt und mussten Zeitgemässerem den Platz räumen. Das Schlusslied dauert an, tatsächlich ist die Nacht still, doch einsam ›wachen‹ heute vermutlich nur Prostituierte in den Städten. Zu Beginn waren Kerzen verteilt worden; während des Ritus habe ich stetig an der Kerze, die mir gegeben worden, Stück um Stück abgebrochen, mit den Fingern zerrieben; jetzt, am Ende des Ritus, halte ich nur noch den Docht in meiner Hand, auf dem Boden vor mir das Wachs, das wie Schuppen vom Docht sich löste. Ich verberge den Docht, um Mutter nicht zu verstimmen. Wie ich aus dem Gebäude trete, fällt der Druck der Schatten von mir. Nur kurz dauerte die Entführung an einen dieser Orte, wo immer noch nur mit schwarz und weiss angestrichen wird, wo sich die viel zu Vielen und Hinterweltler zusammenrotten. Wieder ging eine Wiederholung zu Ende, nächstes Jahr wird sie sich wieder ereignen. Daran klammert sich die Mutter als ihren einzigen Halt – Sinnzuweisung durch Repetition.


Michael Fehr Sagt Auszug aus dem Gefüge seiner endlosen poetologischen Universalarbeit

Ich sage Kritik ist schlimm wenn du ein Leben lang nicht darüber hinweg kommst du steckst tief im Dreck wenn du kritisierst die Kritik ist ein Ausdruck oder Ausbruch des Zweifels wer aber zweifelt mag ehrgeizig sein und hat doch keine Kraft schafft nichts auf der Welt vielleicht erreichst du etwas wenn du zweifelst aber du schaffst nichts erreichen kann passieren unter ehrgeizigem Zwang bist du aber zwanglos so schaffst du willst du etwas erzwingen so wühlst du im Dreck und ruderst und schiessest Klumpen umher das Umgraben der Erde ist aber erst der Anfang du brauchst nicht länger umzugraben als nötig bist du erst zwanglos so sitzest du an einem trockenen Ort in einer halben Nussschale wo auch noch vom Fleisch der Nuss darin ist und lässt dich durch den Dreck treiben schiessest hier und dort ein Stücklein öliges Fleisch aus deinem Boot ganz zweifellos und das nächste Mal wenn du vorbei kommst fährst du durchs Grüne es regnet Äpfel Birnen Nüsse

www.michaelfehr.ch 27


Ein Irrer im Dunkeln Von Cédric Weidmann

Die Tür schliesst sich mit der letzten Verabschiedung. Der kleine Leo dreht sich zur Nacht um, die vor ihm liegt. Es ist früher Sommer, ein frischer Wind fegt den kühlen Duft nasser Blätter über den Asphalt. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite steht eine Hecke. Der kleine Leo macht sich auf den langen Weg nach Hause. Geniesserisch wirft er den Kopf in den Nacken und betrachtet den lückenlos schwarzen Himmel. Sobald er aus dem schwachen Schein des Hauses tritt, schwimmt er in Dunkelheit. Mit langsamen Schritten kostet er die Nacht und sein vollkommenes Wissen vom Nachhauseweg aus. Selbst blind hätte er jeden Randstein gekannt. Wieso fürchten sich die anderen Kinder vor der Dunkelheit, fragt er sich, wenn sie so wunderbar dunkel ist? Er fühlt sich von ihr komplizenhaft umgeben. Es ist ein Bündnis, das zwischen ihnen beiden geschlossen wurde. Er geniesst sie, wofür sie ihm Schutz gewährt. An einer grossen Birke geht er vorüber, während er sie mit der Hand streift. Ein Hund bellt von weither. Er hört ja alles. Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten, wenn man sich selbst in der Dunkelheit bewegt. Viel schlimmer ist es, im hellen Schein einer Lampe den Würgern und Schleichern ausgeliefert zu sein. Wo sie den Hals, an dem sie zupacken, schon von weitem sehen können. Der kleine Leo beginnt jetzt zu rennen. Ihm ist eingefallen, dass er einfach lieber rennt. Natürlich ist er kein Idiot. Die Mörder verstecken sich nicht in den Büschen und warten auf Kinder, die vorbeischleichen. Nicht ausgerechnet auf seinem Nachhauseweg. Ein Mörder geht lieber zu einer Schule und steht dort rum, vielleicht in der Uniform des Hauswarts oder als Schulbusfahrer verkleidet. Wie er so rennt und seine lauten Schritte von den Mäuerchen widerhallen hört, wird er sich bewusst, wie laut er ist. An kriechende Monster, deren Tentakel ganze Laternenpfähle umschlingen und die mit glitschigem Keuchen unter den stehenden Autokarrossen hindurchwabbern, glaubt er nicht. Er glaubt nicht an so Sachen.

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So etwas gibt es nicht. Natürlich ist es nicht ganz unmöglich, wie es auch nicht unmöglich ist, dass es Mörder in der Nachbarschaft gibt. Es gibt zwar keine Hinweise, die Nachbarn sind ganz nett, aber meistens sind es gerade die Netten. Leo stolpert um die Ecke. Er hört nichts mehr ausser dem Schlagen seines Blutes. Japsend zieht er die Kurve und gerät ins Licht einer Strassenlaterne. Jetzt. Jetzt ist der Moment für einen Mörder, auch wenn es immer noch unwahrscheinlich ist, dass es einen solchen Mörder gibt, einen Würger, mit bewarzten Fingern und einem Blick, der den Wahnsinn und die pure Unwahrscheinlichkeit seines Verhaltens verheisst. Ja, der Junge merkt es jetzt, wo er stolpert und den Halt verliert, weil es im Gebüsch raschelt und der Wind ein Fenster aufschlägt, er merkt jetzt, dass das überhaupt nichts bringt, zu sagen, es sei unwahrscheinlich, dass ein Irrer auflauert, denn dass er auflauert, ist schon irre und einem Irren ist die Wahrscheinlichkeit egal. Stampfend rennt er zum Haus hinab. Die Lichter der Häuser dünnen hier zu dichtem Schatten aus. Die Lunge keift mit dem rasenden Puls und Leo fragt sich im Ernst, obwohl es ziemlich unwahrscheinlich und abwegig wäre, ob sein Herz nicht die Anwohner wecken würde, dann tritt er in die Nische vor der Haustür. Er nestelt im Hosensack, doch das Metall entgleitet seinen verschwitzten Fingern, er fährt herum, er hat ein Geräusch gehört, oder vielmehr gefürchtet, er hätte eines überhört. Den Schlüssel steckt er zitternd in die Tür, das Rascheln oder Schlurfen ist nun direkt hinter ihm, und er dreht den Bart herum — der Schlüssel bricht. Ein Klicken. Das Licht des Vorzimmers leuchtet Leo entgegen. Die Mutter steht mit zugekniffenen Augen im Nachthemd vor ihm. «Erst so spät?», fragt sie. Leo drückt ihr mit einer automatischen Bewegung den Schlüssel in die Hand und wirft einen prüfenden Blick auf die geschlossene Haustür. Er lacht fast. Aber richtig — also richtig richtig — geglaubt hat er es natürlich auch nicht.


Illustration: Franziska Staerkle

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ABEND ENDE VON AUREL SIEBER

Lasst mich Atem holen. Es stockt und würgt leicht, am unteren Ende der Speiseröhre zupfts bereits; Wo ist eigentlich Timo? es schreit aus tiefen Mägen elchgleich ein blau angelaufener Wal ins Nebelmeer, worin er versinkt und gleich anschliessend wieder an der Oberfläche kratzt , ganz weich und sanft.

Schliesslich platzt wieder der Regenbogen herein. Es graupelt. Die Kloschüssel geht sofort entzwei. Die Vorrichtung quittiert den letzten Handkuss und gibt auf, sie häckselt schon den ganzen Nachmittag. Am Boden liegt ein Haufen Eingemachtes, frisch ab der Presse. Bevor es zu spät wird, folge ich schliesslich dem letzten Speichelr i n n sal. Es schneit schon ganz heftig; all-

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Illustration: Aurel Sieber

mählich auch mit Überdruss. Wohin nur? Wir werden es verbrennen müssen, oder einmachen, wegsperren, im Frühling wieder auftauen. Die Gefühle sind mir schon längst im Hals stecken geblieben. Wo ist nur Timo, der Arme? – Ach, vielleicht bei sich. Es säuselt ja auch schon wieder ein lauer Sommergedanke. Wenn nur nicht der Regenbogen ständig an der Türe hämmerte und mir langsam, – gemächlich beinahe – im katachrestischen Nebeldunst verworrener Gedanken den Atem abdrehte.


Der Kreislauf Von Ana Lupu

Der Waldsaum leuchtet schwül im kahlen Sonnenlicht, Dahinter ruhet still, gekost vom Lichterstrahl, ein Teich. Von weiter Fern‘ her weht es warm und weich, Wenn durch das frische Gras ein kleiner Stein vom Felsen bricht. Ein brütender Gedanke; vertraut und ahnungsschwer Vergräbt sich in dem Traum. War das die Spur, mein Lieb? Und sie zu lesen das, was von dir übrig blieb? Erahnte sie gerade – erkannte sie nicht mehr. Einzig ein milder Hauch, der lüftend um mich schwebt, Geleitet mich gar sanft, bevor ich ihn erlebt‘. Das Licht, es blendet mich: Ein Vogel zieht vorbei. Bei hellem Himmelsblau, in Lüften eingedacht, Bewegt der Stein den Teich: das Wasser quellet sacht, Eh‘ zwanghaft eine Welle – ein Bild von dir gibt frei.

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Tautogramme Von Juliane Franke

Ziegenhirte Zacharias

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ehn zänkische Zwickauer Ziegen ziehen zehn Zentner Zuckerrüben zähneknirschend zum Zwickauer Zoo. Zweiundzwanzig zwangsgestörte Zebras zuzeln zur Zeit ziehender Ziegen zweihundertzwanzig zypriotische Zitronen. Zwickauer Ziegen zertrampeln zehn Zentner Zuckerrüben ziehend zackenförmig Zacharias Zukowskys Zuhause. Zweiundzwanziguhrzweiundzwanzig zieht zartbesaiteter Zacharias Zukowsky zähflüssige Zabaione zusichnehmend Zahlenbilanz: Zwei Zentner Zuckerrüben zerkrümelt, zerstörtes Zuhause, zunehmend Zahnschmerzen. Ziemlich zermürbend! Zwickauer Zeitung zeigt zum zweiten Zoojubiläum zehn Zwickauer Ziegen Zacharias Zukowskys Zypressen zernagend. Zahnkranker Ziegenhirte Zacharias Zukowsky zerrupft zerknitterte Zwickauer Zeitung zu zweitausend Zeitungsschnipseln. Zahnendes Zebrababy Zoe zerknabbert Zacharias Zukowsky zusehend zufrieden zypriotische Zitronenschnitze. Zauberhaft!

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Ausserhalb Arkadelphias

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ls auch an acht aufeinanderfolgenden Augustabenden achtzehnhundertachtundachtzig Anders Andersen, aus Aarhus angereister, armstarker Abholzer, abermals abblätternde Ahornbäume außerhalb Arkadelphias abästete, ächzte Anders Andersen, argusäugig, aber argwöhnisch abseits auftauchende Abendszene ansehend: Am ausufernden Auensee angelten augenscheinlich acht abgemagerte Angler aufs Achtfache angeschwollene Aale. Als alle achtzehn aussortierten Aale auf aberwitzige Art an achtzehn Angeln aufgehängt, ahnten alle acht alten Angler, Arien anstimmend, altersmäßig auf achtundachtzig aufzusteigen. Angleranführer August Aurich, aus altem Adelsgeschlecht, also auch adäquat angezogen, äffte als Abschiedsgruß: «Adieu, Altersgenossen!» 
Als Anders Andersen alle Arbeiten abgeschlossen, Avocados auszuzelnd am Auenwald angekommen, Arbeitgeber August Aurich anvisierend ausgequetscht: «Ausreichend Aufträge außerhalb Arkadelphias?» «Ähm...», August Aurich antwortete, «Auftragslage am allerschlechtesten!» Anders Andersen ahnungslos aufschauend als August Aurich, abgefeimter Arbeitgeber, am achten Abend Äpfel abbeißend Anders Andersens abgeschlossenen Arbeitsvertrag annullierte. Alles andere als amüsant! Äußerst abgekaterte Angelegenheit, ahnte Anders Andersen. Als Allerletztes auf Arbeitslosigkeit abgezielt! Anstatt auszuwandern, arbeitete Anders Andersen ab April achtzehnhundertneunundachtzig augenscheinlich als Auftragskiller. Anders Andersens Auftaktauftrag: Am achtzehnten Aprilabend August Aurich abzuknallen. Armer August - abgekratzt!

Bei Brettschneiders

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ebrillter, buckliger, bierbäuchiger Brauereimeister B. bimmelte, blühende Buschwindröschen bringend, beherzt bei Brettschneiders. Biedere Behausung betretend bekam B. beim Blickfang beider barbusiger, blonder Basen beinahe beklemmende Brustschmerzen. Beide Blondinen betrachteten B. blauäugig.
Beutegierig beobachtete Babette B., bis Brigitte beipflichtete: «Babette backt Brötchen!» B. brüllte: «Bonfortionös belegte Blutwurstbrötchen!» Bärbel, Bierflaschen bugsierend, Bowle beschwipst, befummelte B.s braunes Bärtchen. Bettina, Bärbels beste, bulgarische Busenfreundin, briet brasilianische Bratkartoffeln, blanchierte belgischen Brokkoli, brühte bolivischen Brennesseltee, buk bulgarischen Baumkuchen. B. bekam brutale Blähungen beim Betrachten Bettinas bulgarischer Backkünste. B., besonders bierdurstig, begrabschte beide Beine besoffener Bärbel begierig. Biegemachend beschloss B., Bratkartoffeln befüllten Beutel Borowskis berüchtigtem Bruder Bernd beizusteuern. Brillant!

Gurkengesänge

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rauhaarige Gräfin Gundula Gondel griff gierig giftgrüne Gurken, ging geschwind gen Gütersloh. Göttergleicher Graf Gerhard Gerte grabschte Gesäß gurkenschwenkender Gundula. «Genial gedacht», glaubte glatzköpfiger Gerhard. «Grenzdebiler Grapscher», grübelte Gundula grimmig. Gurkengabel greifend gackerte Gundula grimasseziehend griechische Gesänge gegen Gerhard. Göttergatte gefiel Gesangsstunde, garnierte Gundulas Geträller Geige spielend. Gewaltig gruselig!

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Du bist doch frei. Sag ich dir stets. Von Regula Fleischhauer Du bist doch frei. Sag ich dir stets.! ! Ich zwing dich.! Ich zwängle.! Wieso?! Weil ichs kann.! Tag und Nacht.! Ich geb nicht auf.! Weisst du was?! Du willsts doch gar nicht anders.! Gib es zu.! Schick mich weg und ich werd gehn.! Nein?! Nein.! Du zwingst dich selbst.! Zwingst mich, zu zwängeln.! Hast diesen hohen Ton im Ohr, von dem du dich fragst, ob ihn wohl alle hören können.! Können sie?! Kannst dus?! Woher sollst du wissen, ob er wirklich da ist?! Heisst «wirklich» denn auch «bloss in deinem Kopf»?! Was ist schon dabei?! Hör doch einfach auf damit.! Niemand zwingt dich.! Ausser dir.! Stimmt das?! Hast du dich das nicht schon hundertmal gefragt?! Zuletzt vor einer Stunde?! Vor einer Minute?! Schau auf die Uhr, sie wirds dir sagen.! Nein.! Nein?! Schau nicht hin.! Was passiert denn, wenn du hinschaust?! Nichts.! Weisst du.! Schlimmes.! Weisst du auch.! Dreh dich um und lauf davon.! Du kannst es.! Tus einfach.! Auf drei.! Nein?! Du wirsts bereuen, wenn du dich jetzt nicht dazu zwingst.! Wirst du?! Ja.! Was spricht dagegen?! Nichts.! Der Zweifel.! Solltest dus nicht lassen, wenn du schon dran denkst, drauf zu verzichten?! Nein.! Doch.! Du weisst es doch schon lange.! Wieso schickst du mich nicht weg?! Ich würde auf der Stelle gehn.! Du bist doch frei.! Sag ich dir stets.! Ich bin doch bloss in deinem Kopf.! Was heisst das schon?! Schick mich weg und ich werd gehn.! Ich zwing dich.! Ich zwängle.!

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Cover und Illustrationen: Nico Huser


Annäherungen – Befremdungen Ein Gespräch mit Wolfram Groddeck über Wiederholung und über Zwang Von Philipp Auchter

Wolfram Groddeck an seinem Arbeitsplatz in Basel.

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Herr Groddeck, ein wichtiger Aspekt der poetischen Wiederholung ist, wie Sie sagen, dass das Gesagte so besser in Erinnerung bleibt.1 Ist die Poesie ein steter Kampf gegen das Vergessen? Ich weiss nicht, ob man es als Kampf bezeichnen soll. Es ist die wahrscheinlich ursprünglichste Bestimmung der Poesie, dass sie eine mnemotechnische Funktion hat. Die Rhapsoden können sich die unendlich langen Geschichten der Odyssee halt merken, weil sich die Hexameter wiederholen, wenn auch variierend. Oder die ganzen Merksprüche: «Messer, Scher und Licht sind für kleine Kinder nicht.» Gerade sie sind ein Beispiel für die Funktionalität der lyrischen Form. In der älteren Literatur gibt es unzählige Beispiele dafür. Die Abfassung der Gedichte in Versen ermöglicht, dass man einen Text besser im Gedächtnis behält. Einen längeren Prosatext auswendig zu können, ist schwieriger als ein gereimtes Gedicht. Ich würde deshalb sagen, Lyrik ist eine Technik des Nichtvergessens. Dass man menschheitsgeschichtlich etwas nicht vergisst, also bei Celan die Erfahrung des Holocausts, ist dann natürlich noch eine andere Ebene. Wenn ein Gedicht nicht vergessen werden will, dann beansprucht es in einem gewissen Sinne Ewigkeit. Ich denke, das ist fast das Primäre bei Lyrik. Lyrik will sich einprägen.

VIII.

Es stehen unbeweglich Die Sterne in der Höh‘ Viel tausend Jahr‘ und schauen Sich an mit Liebesweh.

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Sie sprechen eine Sprache, Die ist so reich, so schön; Doch keiner der Philologen Kann diese Sprache verstehn.

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Ich aber hab‘ sie gelernet, Und ich vergesse sie nicht: Mir diente als Grammatik Der Herzallerliebsten Gesicht.2

Das Gedicht von Heinrich Heine aus dem Zyklus Lyrisches Intermezzo haben Sie in Ihrer Vorlesung besprochen. Im zweiten Vers kommt eine figura etymologica vor: «Sie sprechen eine Sprache». Die figura etymologica ist, wie Sie sagen, ein «subversiv repetierendes Wortspiel»; sie wendet sich reflexiv auf das eigene System der Sprache. Wenn wir davon ausgehen, dass Lyrik etwas Anderes erzeugt; der Welt etwas gegenüberstellt, – woran will sie dann erinnern? Es gibt ja auch den Wunsch nach einer Kunst des Vergessens. Das gehört eigentlich in die Dialektik des Erinnerns mit hin-

ein. Man kann sich ja nichts merken, wenn man nicht sehr viel vergisst. Das ist schon mal so ein Grundparadox. Man könnte nun sagen, dass die Liebeslyrik ein Versuch sei, ein Liebeserlebnis irgendwie lebendig zu halten. Wenn nun dieses Gedicht von Heine tatsächlich einen Liebeshintergrund hätte, was gerade im Buch der Lieder nie so ganz sicher ist, dann würde das Erlebnis hier in die Sterne hineinversetzt und dort nie mehr vergessen werden. Es spielt allerdings am Schluss des Gedichts eine Ironie hinein, indem das Gesicht der Geliebten als «Grammatik» bezeichnet wird. Ich finde es eine schöne Beobachtung, dass nur in der mittleren Strophe des dreistrophigen Gedichts von der Sprache die Rede ist und hier gleich dreimal; zweimal als Substantiv und einmal als Verb. Und dass diese mittlere Strophe nicht nur die Achse ist, sondern der eigentliche Kern der Geschichte – und zwar ganz ohne Metapher. Die figura etymologica insistiert im Grunde einfach darauf, dass die Sprache spricht. Und da gibt es Philologen, die können diese Sprache nicht verstehen, obwohl sie reich und schön ist. Ich habe oft die Beobachtung gemacht: Wenn eine figura etymologica vorkommt, beginnt der Text über sich selbst zu sprechen. Gerade bei diesem Gedicht ist eigentlich sehr auffällig, wie die Sprache sich an die Stelle des Ereignisses stellt. Das wäre eigentlich dann gerade eine Technik des Vergessens. Man hat ja keine Ahnung, wer diese «Herzallerliebste» war. Sie ist eigentlich nur noch in dieser Formel erhalten. Und darin, dass der Dichter gelernt hat, Sterne zu lesen und zu verstehen, weil er sie angeguckt hat. Aber wenn es überhaupt je ein tatsächliches Erlebnis im Hintergrund gab, verschwindet das restlos durch die poetische Konstruktion dieses Textes. In Ihrem Buch Reden über Rhetorik sagen Sie, dass die Wiederholung am Anfang jeglichen Sinns steht, indem sie erst Mehrdeutigkeit ermöglicht. Wie meinen Sie das, dass die Wiederholung am Anfang von Sinn steht? Ja, das ist ja auch ein wenig paradox formuliert. Ich wollte damit andeuten, dass es in der Sprache oder in der Dichtung keinen Anfang gibt. Sprache bezieht sich immer schon auf sich selbst. Es gibt kein erstes Wort, wenn man jetzt nicht an Gottes Wort glaubt. Ein Wort existiert erst dadurch, dass es immer schon wiederholt worden ist. Das ist das AnfangsProblem, das philosophisch hoch interessant ist. Es gibt eine schöne Geschichte vom britischen Physiker und Chaos-Theoretiker Roger Penrose; der hat mal einen Vortrag darüber gehalten, worin er sagte, dass die Erde eigentlich schwebt und ohne Grund wäre. Da meldete sich eine ältere Dame und meinte: «Das stimmt nicht. Die Erde ruht auf einer riesigen Schildkröte.» Darauf Penrose: «Ja gut, aber was ist dann unter der Schildkröte?» Und daraufhin hat die Dame gesagt: «Junger Mann – da sind lauter Schildkröten...» (lacht). Das ist irgendwie ein tolles Bild, weil es genau den Punkt trifft. Es gibt diesen ersten Grund nicht. Es gibt auch nicht den tiefsten Grund. Das muss man aushalten. Gut, das ist

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jetzt keine neue Entdeckung, das hat man bei Derrida und überall. Aber es hat mir Spass gemacht zu sagen, dass am Anfang die Wiederholung steht.

Er drückt damit den Gedanken aus, dass das Moment von Zwang auch kulturschaffend ist und innerhalb der Sprache Formen produziert. Einfach zwanglos dichten geht nicht.

Könnte man nicht auch umgekehrt argumentieren, dass die Wiederholung gerade nicht an der Mehrdeutigkeit von Sinn interessiert ist, sondern eigentlich die Intention hat, Sinn festzunageln?

Wohin verschiebt sich eigentlich der Zwang in der modernen Dichtung?

Ja, aber ich glaube, wenn man ein Wort mehrmals wiederholt, verliert es seine ursprüngliche Bedeutung. Da ist dieser schöne Spruch von Gertrude Stein: «Rose is a rose is a rose», wobei sich der Name ›Rose‹ verselbständigt. Am Schluss hat man nur noch die 4 Buchstaben. Es ist auch eine Form von Irrsinn, ständig zu wiederholen. Wenn man wirklich befremdlich wirken möchte, muss man nur alles, was man sagt, nochmal sagen. Man muss nur alles, was man sagt, nochmal sagen. Man muss nur alles, was man sagt, nochmal sagen (lacht). Schon denkt man, der hat irgendwie ne Schramme. Also Wiederholung ist wirklich eine heisse Geschichte. Und

Wenn man einen gestalteten Text anschaut, wird man immer Momente der Form und der Zwanghaftigkeit erkennen und sei es notfalls zwanghafte Vermeidung aller Regelmässigkeit. Bei der modernen Poesie gibt es das Oulipo-Verfahren. Man schreibt zum Beispiel ein Buch, in dem bestimmte Buchstaben nicht vorkommen. Georges Perec hat einen Kriminalroman geschrieben auf Französisch, in dem kein ›e‹ vorkommt.4 Und die Leute haben das nicht gemerkt und sich einfach gewundert, dass die Sprache ein wenig komisch ist. Wie man das auf Französisch macht, weiss ich nicht. Das ist schon ein extremer Zwang, der hier erfunden wurde, um irgendwas zu produzieren. Ein deutscher Dichter, Otto Nebel, hatte die Idee, dass er nur 9 Buchstaben verwenden darf für

« Wenn man einen gestalteten Text anschaut, wird man immer Momente der Form und der Zwanghaftigkeit erkennen und sei es notfalls zwanghafte Vermeidung aller Regelmässigkeit. »

ich behaupte, dass Wiederholung eigentlich das Grundprinzip von aller Poetik ist. Gedichte definieren sich darüber, dass irgendetwas wiederholt wird. Dann wäre Poesie auch immer ein bisschen verrückt. Ja, sehr schön. Aber zwanghaft im pathologischen Sinne wird‘s erst, wenn man mit der Wiederholung nicht mehr zurande kommt. Also wenn man sich ständig wiederholt. Alten Leuten passiert das manchmal. Oder auch mir in der Lehre. Irgendwann wiederholt man Dinge, die man schon gesagt hat. Ich sag dann immer, das sei aus didaktischen Gründen, damit Sie sich das einprägen. Ob das dann gleich verrückt ist, ist ne andere Frage. Aber das Zwanghafte ist ja auch selber ein ästhetisches Prinzip. Also wenn wir jetzt bei der Lyrik sind: Es gibt kaum etwas Zwanghafteres als ein Sonett. Doppelt so viele Reime wie normalerweise, und alles ist geregelt und man bezieht sich auf unendlich viele Sonette, wenn man eins schreibt. Das Sonett ist im Grunde die zwanghafteste Form, die wir in der Lyrik kennen. Von Walser gibt es ein schönes Gedicht, das heisst: «Den Lyrikern empfehl ich dringend/ sich dem Zwang des Reims zu unterziehen.»3

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seine Gedichte. Von ihm sind die Runenfugen – ein furchtbarer Text – aber es war einigermassen einflussreich. Das sind also Verfahren, wo Leute einen Zwang erfinden, um diesem Moment der allzu fahrigen Freiheit zu widerstehen. Wenn die Kunst in sich frei sein soll, sich aber gleichzeitig Zwänge auferlegt, um überhaupt produktiv zu sein, stellt sich die Frage nach dem Wesen der Freiheit. Gibt es Freiheit nur auf der Basis von Zwang? Ich bin geneigt, die Freiheit in der Literatur, ganz altmodisch gesagt, dialektisch zu verstehen. Um überhaupt zu schreiben, braucht es eine Überwindung, also für mich jedenfalls. Es ist nicht so, dass ich eine Triebabfuhr habe, wenn ich schreibe, sondern es ist eigentlich eher umgekehrt. Ich zwinge mich dazu – und dann kann das ein Glück produzieren oder auch nicht. Ich glaube, das ist eine Grundfigur von literarischer Produktion. Ein Entzug, ein zwanghaftes SichAbtrennen von etwas, sich an eine Regel halten, ob man die nun selbst gesetzt hat oder ob die Regel darin besteht, dass man bestimmte Regeln auf keinen Fall einhalten will – es kann ja auch sehr bequem sein, Regeln einfach einzuhalten, das plätschert dann so dahin, weil man‘s schon kann – ich glaube, das ist wirklich eine dialektische Figur. Ich würde davon abraten, das aufzulösen.


« Ich glaube, dass durch die neuen Medien bzw. durch die Möglichkeit, einen Text elektronisch und nicht intellektuell zu durchsuchen, die Versuchung wahnsinnig gross ist, den Text als ganzen nicht mehr zu lesen. » Es gibt ja auch die äusseren Zwänge, zum Beispiel Abgabetermine. Also ich finde, es ist ein Unterschied, ob ich als Student, als Studentin gezwungen werde, zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas abzugeben, oder ob ich es selber fertig bringe. Mir selber geht es so, dass ich wesentlich besser schreibe, wenn ich weiss, ich habe eigentlich keine Zeit mehr. Aber ich schäme mich auch ein bisschen dafür. Und ich glaube, dass es besser ist, wenn man den Zwang selber setzen kann, das ist ein Ausdruck von Freiheit. Wenn man zu sehr unter Zwang gesetzt wird, dann hat man vielleicht nur noch die Freiheit, das nicht zu machen. Warum endet Reflexion eigentlich immer in der Zerstörung? Das glaub ich nicht, dass das stimmt. Also wenn man mal innehält beim Reden oder beim Schreiben, das ist ja noch keine Zerstörung, das kann ja die Rettung sein. Das ist eine ganz gefährliche Behauptung, dass Reflexion in die Zerstörung führt. Ich kenne das von Studienanfängern, die sagen: Wenn wir über ein Gedicht zu lange nachdenken, dann geht das Gedicht kaputt. Das stimmt überhaupt nicht. Es gehört zu meinen missionarischen Grundbedürfnissen, klar zu machen, dass ein analysierter Text nicht zerstört ist, sondern – wenn’s ein guter Text ist – erst zum Leben kommt. Reflexion kann natürlich zerstörerisch sein. Nietzsche, der die Dinge ja immer ein wenig ins Extrem hinein denkt, zeichnet dieses wunderschöne Bild, eigentlich ein Dionysos-Bild: Der Mensch hängt träumend auf dem Rücken eines Tigers. Solange er nicht aufwacht, sich seiner Situation also nicht bewusst ist, wird er nicht gefressen. In den späten DionysosDithyramben gibt es den Refrain: «Selbstkenner, Selbsthenker.» Also, wer sich kennt, hängt sich selber auf – das ganze Gedicht Zwischen Raubvögeln geht genau um dieses Moment, dass sich jemand in der Selbstreflexion vernichtet. Es handelt von Zarathustra. Den gibt‘s dann aber im nächsten Gedicht schon wieder. Ist Interpretation eigentlich eine eigene Kunst? Susan Sontag etwa kritisiert in ihrem Essay «Against Interpretation» das Gebaren der Interpretation als selbstherrlich. Ich finde schon, dass Lesen eine Kunst ist, pro domo gesprochen. Lesen und Interpretieren ist aber nicht unbedingt dasselbe. Interpretieren setzt ja eigentlich voraus, dass man

irgendeinem ›tumberen‹ Zeitgenossen den eigentlichen Gehalt eines Textes vermittelt; als Interpret ist man der, der dazwischen steht. Dass man dagegen Aversionen haben kann, ist mir verständlich. Es gibt aber auch andere Formen, Texte zu behandeln. Man kann sie kommentieren. Das ist die älteste Form, die schon immer etwas Schulstubenhaftes hatte. Oder man liest einfach. Man schaut: Was sehe ich in dem Text noch? Solche Lektüresituationen habe ich immer sehr geliebt in Seminaren. Das ist dann eine gesteigerte Aufmerksamkeit von mehreren Köpfen, die sich über einen Text beugen. Nachher weiss man manchmal gar nicht mehr so genau, was man alles rausgekriegt hat, aber eine solche gemeinsame Erfahrung von einem Text, das ist für mich das Höchste. Man erlebt sich dann selbst in einem Text – und ich meine das jetzt nicht im Sinne einer Selbstverwirklichung – es ist eine intellektuelle, intersubjektive Erfahrung. Wenn wir dieses Sterne-Gedicht von Heine anschauen: Irgendwann entdeckt man diesen Mittelteil. Man merkt, Sprache kommt da dreimal vor. Das hat nichts mit Interpretation zu tun, sondern das ist eine Annäherung an den Text. Es sind fast schon Befremdungen. Beim ersten Lesen denkt man, aha, der macht jetzt wieder so einen Witz über die verlorene Liebe. Doch mit der Zeit verabschiedet sich die Referenzialität. Das Gedicht wird schöner und fremder. Und wenn man das kontinuierlich macht, kann man irgendwann zeigen, dass Heine zum Beispiel anders dichtet als Hölderlin, und dass sie sich vielleicht näher stehen, als man denkt, auch noch. Das kann man nicht verfügen, sondern das ist Arbeit am Material, an der Sprache, an den Texten. Nietzsche sagte einmal: «[…] einen Text als Text ablesen können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen, ist die späteste Form der inneren Erfahrung – vielleicht eine kaum mögliche.»5 Er nennt das die ›Ephexis‹, also das Zaudern bei der Interpretation – nicht zu sagen, was es bedeutet, sondern erst einmal hinzuschauen, was da steht. Ich möchte behaupten, dass es mit dem Lesen in unserer Gesellschaft nicht zum Besten steht. Neue Medien haben die ausgedehnte Lektüre in Büchern ersetzt. Der kommenden Generation fehlt der lange Atem für ein Buch, es fehlt die Geduld zum Lesen. Müssen wir uns zum Lesen zwingen? (aus ganzem Herzen) Ja! – Also ich glaube, dass durch die neuen Medien bzw. durch die Möglichkeit, einen Text elektronisch und nicht intellektuell zu durchsuchen, die Versuchung wahnsinnig gross ist, den Text als ganzen nicht mehr zu lesen. Und ich glaube, dass das auch wirklich schon statt39


gefunden hat. Ich bin selbst manchmal froh, wenn ich einen Text in elektronischer Form habe, dann muss ich nur das Wort wissen, nach dem ich suche. Gleichzeitig wird aber die Aufnahme des Textes oberflächlich, ja sie haftet auch nicht. Solch digitale Bibliotheken sind unter Umständen ja hoch praktisch und auch sinnvoll, weil man sonst eine bestimmte Wortfügung vielleicht nie finden würde. Als ich meine Habil geschrieben habe, gab’s das noch nicht. Ich hab dann wirklich einen Abend lang gesucht, wenn ich dachte, dass Nietzsche eine bestimmte Formulierung noch woanders verwendet. Dabei hab ich aber Nietzsches Texte viel besser kennen gelernt, als wenn ich heute bei Nietzsche Source nachschaue. Ich hätte zwar manche Sachen entdeckt, die ich so nicht mehr gefunden habe. Aber trotzdem war das eine andere Auseinandersetzung mit dem Werk. Und was ich wirklich hasse, sind diese E-Books – und zwar aus dem ganz einfachen Grund, weil sie typographisch bescheuert sind. Und Typographie ist ein Element des Lesens. Die typographische Kultur hat eine lange Geschichte, und die ganzen Computerschriften sind dagegen einfach hässlich. Das merkt man vielleicht erst, wenn man sich darauf spezialisiert. Deshalb würde ich gerne eine Metapher verwenden: Einen Text im E-Book zu lesen, ist wie einen guten Wein aus dem Plastikbecher zu trinken.

müssen. Wenn man früher stundenlang nachgesucht hatte, bis man ein Zitat wieder fand – das sass. Aber wenn man das jetzt so zufällig kriegt, dann prägt sich‘s nicht ein. Und damit ist, glaube ich, schon was verbunden, was man als Dekultivierung erfahren oder beobachten kann. Der verspürte Zwang, etwas nicht zu vergessen, hätte dann auch eine kulturelle Funktion. Ja, und es hat auch mit der Sorge um sich zu tun, um mit Foucault zu reden; dass man seine Sachen beieinander hält; dass man nicht denkt: Ich weiss zwar gar nichts mehr, aber ich muss es nur eingeben in eine Suchmaschine. Es geht letztlich um ein anderes Verhältnis zu den Dingen.

Wolfram Groddeck ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich und Herausgeber der Kritischen Robert Walser-Ausgabe. In diesem Semester hält er die Vorlesung Gedichte lesen, jeweils montags 16:15-18:00. Wolfram Groddeck wird seine Lehrtätigkeit im Sommer 2014 niederlegen. Die Denkbilder-Redaktion wünscht ihm ein schönes Abschluss-Semester.

Wenn die Ablenkung zu gross wird, um Texte zu lesen, was kann man dagegen tun? Also ich arbeite selber dran. Ich bin ja an sich nicht technophob. Ich war einer der ersten von meinen Kollegen, die einen Computer hatten und war immer fasziniert davon. Aber ich habe jetzt gemerkt: Wenn ich einen Text lesen will, stelle ich meinen Computer ab, selbst auf die Gefahr hin, dass ich ihn in drei Minuten wieder anstellen muss, weil ich auf Google etwas nachsehen will. Aber wenn das Ding läuft, lese ich anders, als wenn es abgestellt ist. Neben einem laufenden Gerät, das mir penetrant vermittelt, jedes Wissen sofort greifbar zu haben, ist die Konzentration der Lektüre nicht dieselbe. Ich würde versuchen, die Ruhe herzustellen. Aber das ist schwieriger, als man denkt. Woran das genau liegt, dass das so dekonzentrierend wirkt – das geht ja bis zur «digitalen Demenz», was ich für keine Metapher halte, sondern für etwas Medizinisches. Wie heisst denn der, der diesen Begriff geprägt hat? Das könnte man jetzt auf Google nachschauen. [Es ist Manfred Spitzer.] Jaja. Wenn du weisst, dass du alles Wissen sofort erreichst – was Tolles – man hat Wikipedia auf dem Iphone – und geht erst die Rechthaberei los: «Nein, das war nicht der, sondern der Film!», dann kannst du das sofort klären. Der Effekt ist aber der, dass du das auch sofort wieder vergisst – also ich jedenfalls. Du hast nicht mehr den Zwang, dir das merken zu

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Literatur: Wolfram Groddeck: Wiederholen. In: Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel. Hg. von Gerhard Neumann, Freiburg i. B. 1999, S.177-191. 1

Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf, Bd. 1, Hamburg 1975, S. 139. 2

Robert Walser: Ms. RWZ Bern; Signatur RW MS Mkg 029. Die Transkription der Mikrogramme wurde von Angela Thut und Christian Walt im Rahmen ihrer Arbeit an der Kritischen Walser-Ausgabe erstellt. 3

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Georges Perec: La disparition. Paris 1969.

Friedrich Nietzsche: Nachlass 1888, Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Achte Abteilung, Dritter Band, Berlin 1972, 15[90], S. 254. 5


INTERNA Die Seminarleitung informiert

Neue Seminarleiterin

Studienfachberatung der Germanistik

Am 1. Februar 2014 hat Prof. Dr. Mireille Schnyder ihr Amt als Co-Seminarleiterin am DS angetreten. Sie ersetzt Prof. Dr. Sabine Schneider, die nach vier Jahren Amtszeit zurückgetreten ist. Prof. Dr. Mireille Schnyder ist für die Ressorts Forschung und Lehre zuständig.

Von März bis Juni 2014 wird PD Dr. Jürgen Spitzmüller durch Nadio Giger in der Studienfachberatung vertreten. Die Sprechstundentermine werden online publiziert.

Probevorträge für die Nachfolge Wagner (NDL) Die Studienprogrammdirektion Im Herbst 2013 wurde Prof. Dr. Klaus Müller-Wille zum Studienprogrammdirektor des DS ernannt. Er ist somit für alle Fächer des DS in dieser neu geschaffenen Funktion zuständig für: - Konzeption und Profilierung der Studienprogramme - Vorschläge zu Studienordnungsänderungen sowie zur Einführung oder Schliessung von neuen Studienprogrammen - Wegleitungen und Semesterangebote - Publikation der Informationen zu den Studienprogrammen - Regelkonforme Durchführung der Lehre - Entscheidung bei Betrugshandlungen im Zusammenhang mit Leistungsnachweisen oder inhaltlich-wissenschaftlichen Beweisen - Antragstellung fürs Sperren für Studienprogramme Die Studienprogrammdirektion unter Prof. Dr. Klaus MüllerWille wird ergänzt durch die Studienprogrammkoordination. Am DS füllt Dr. des. Mirjam Marti diese Aufgabe aus. Sie ist neu die Prüfungsdelegierte des DS. Sie behandelt Abmeldegesuche für Leistungsnachweise, kümmert sich um besondere Bedingungen für Studierende mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen oder behandelt Einsprachen gegen korrigierte Leistungsnachweise. Einsprachen gegen Leistungsnachweise vor dem Erhalt des Leistungsausweises sind deshalb direkt an die Prüfungsdelegierte zu richten. (Einsprachen nach Erhalt des Leistungsausweises sind direkt schriftlich an den Studiendekan zu richten.

Am 5. und 6. März 2014 finden fünf Probevorträge für die Besetzung des Lehrstuhls der Neueren deutschen Literatur statt. Studierende und alle weiteren Interessierten sind herzlich eingeladen, die Vorträge zu besuchen. Ort: KOL-G-217. Termin: 5.3.2014, 13.00-18.00 Uhr, 6.3.2014, 9.00-12.00 Uhr.

Probevorträge für die Nachfolge Groddeck (NDL) Am 24. und 25. März 2014 finden fünf Probevorträge für die Besetzung der Assistenzprofessur mit Tenure Track für Neuere deutsche Literatur statt. Studierende und alle weiteren Interessierten sind herzlich eingeladen, die Vorträge zu besuchen. Ort: KOL-G-217. Termin: 24.3.2014, 12.00-17.00 Uhr, 25.3.2014, 8.00-11.00 Uhr.

Berufsperspektiven Am 30. April 2014 beginnt am DS eine Veranstaltungsreihe mit dem Titel «Berufsperspektiven». Den Auftakt macht die Skandinavistik mit einem Abend «Skandinavistik und Karriere». Beginn: 19.00 Uhr, Ort: Begegnungsraum. Weitere Abende folgen. Link zur früheren Reihe (2006): http://www.ds.uzh.ch/Studium/Beratung/Berufsperspektiven/index.php

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Das Faksimile lässt Aspekte der poetologisch wirksamen Produktionsbedingungen erahnen, welche die behutsam edierte Transkription (rechts) im Dunkeln lässt. Am 16. Februar schreibt Kellenberger an Auchter eine euphorische Notiz, worin sie sich nach der Handschrift erkundigt: «Wie sieht es aus mit dem "Textchen" (ich finde den Diminutiv für dieses hochstehend literarische Kind des Himmels noch immer überaus unpassend)?» Das für die Bewegung typische ironische Spiel wird deutlich, wenn sie wenig später die Poetik der experimentellen Textsorte lakonisch auf den Punkt bringt: «Jeder bekam zwei Sätze und manches Glas Wein.» 42


Die brennende Kerze Von Nico Huser, Philipp Auchter, Ana Lupu, Aurel Sieber, Esther Laurencikova, Nadia Brügger, Maaike Kellenberger und Nadine Loepfe

Die brennende Kerze brannte über dem hell erleuchteten Platz. Der längst verstorbene, vergessene Lyriker Eugen Schildknecht senkte seinen Spaten in die lockere Erde. Er stellte sich vor, er läge schon unter der Erde und träumte von ihr. Modernder Duft der in der Nähe ebenfalls verstorbenen Trauerweide fand ihren Weg in seine von der Anstrengung geweiteten Nasenflügel. Plötzlich stiess sein Spaten gegen etwas Unnachgiebiges in der Erde. Eugen Schildknecht kratzte mit seinen schmalen Fingern, die den spitzen Klauen eines Maulwurfs glichen, in der feuchten Erde herum und fand ein goldig glänzendes Kästchen mit der Gravur: «An Eugenchen, du verlorener Hundefurz, von deiner Mutter.» Charmant wie immer, die alte Hexe, dachte sich Schildknecht. Während er am Kästchen mit klammem Stechen in der Hand herumnestelte, drehte sich, der letzte Anblick seiner Mutter vor Augen, Übelkeit erregend, sein Brustkasten um die Achse seines Spatens. Ihm war, als würden zwei letzte Sterne sinken. In ein Meer von roter Schuld und grünender Hoffnung. ‹Komma›, dachte Eugen. Und für einen kurzen Moment fühlte er sich wieder wie zuhause.

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De Mensae Universitatis Turicensis Über die Gewinnung von Kaffee in den zürcherischen Infrastrukturen des Wissens, aus mehreren losen Blättern zusammengetragen von Philipp Auchter, mit wertvollen Einschüben versehen von dem merkwürdigen Kommilitonen Aurel Sieber Kaum eine Menschenseele hat je in die grossen Hallen blicken dürfen, in denen das Essen für die Zürcher Studentenschar tagaus tagein gekocht wird. Das ist kein Wunder, denn die Hallen liegen tief im Felsinnern, auf welchem der hohe Turm der Universität vor langer Zeit errichtet wurde. Verirrt sich dennoch zuweilen ein Erstsemestriger in jene dunklen Schächte, die zu besagten Kochsälen führen, so nimmt er eilends Reissaus, erschreckt vom fürchterlichen Widerhall seiner ängstlichen Schritte in den erschütternden Weiten des Untergrunds. Doch was machte der Erstsemestrige überhaupt da unten, so fern ab von seinem Studienplatze? Wahrscheinlich war der kleine Student auf der Suche nach jenem Verwaltungsbüro, das ihm die neuste Revision seines Musterstudienplans hätte erklären können und geriet dabei in immer tiefere Kellergeschosse des universitären Verwaltungstraktes. Hätte ihn die unheimliche Leere der Gänge nicht in die Flucht getrieben – einmal angenommen unser kleine Student würde den Mut aufgebracht haben, sich in die dunkle Tiefe des Hauptgebäudes vorzutasten, so wäre er womöglich irgendwann in den Keller der medizinhistorischen Sammlung geraten, zwischen deren Säulen so manche delikate Leiche und etliche kuriose Doktorarbeit aus vergangenen Zeiten eines besseren Morgens harrt. Vorausgesetzt, dem Studentlein wäre in diesem Durcheinander von versunkenen Schätzen, deren wahren Wert einzig Journalisten des Tages-Anzeigers abzuschätzen wüssten, nicht schwindlig geworden, so hätte er irgendwann das Gewölbe durchquert und wäre in der hintersten Ecke des Gruselkabinetts – das ja alleine zur Abschreckung allzu neugieriger Nasen dient – auf eine mit Messingplatten beschlagene Eichentür gestossen, worauf das flackernde Spiel der Fackeln gar merkwürdige Schriftzeichen im tanzenden Lichte enthüllte. Wäre irgendjemand diese Zeichen zu entschlüsseln imstande – was angesichts der rückschreitenden Lesekompetenz in der Gesellschaft höchst zweifelhaft ist –, so würde der sich öffnende Türflügel nur gegen eine weitere Wand stossen, die aus reiner Software gearbeitet ist. Dahinter halten fürchterliche Exkommunikatoren mit Bannstrahlern Wache und schreckliche Tiger aus Papier fletschen ihre Zähne, so furchterregend, dass unser Studentlein unmöglich

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einzutreten vermöchte in die Schatzkammer der Universität. In dieser Schatzkammer aber lagern die kostbarsten Dinge, die eine Wissensgesellschaft überhaupt hervorzubringen vermag: Berge reinster Information. Für jeden einzelnen Student steht in dieser Kammer eine Schatztruhe, darin werden jene KP-Münzen eingezahlt, für die wohl so mancher Student töten – mit Sicherheit jedoch seine Ideale aufgeben würde. In der Mitte der grossen Schatzkammer aber stehen in einem weiten Kreis an die fünfhundertfünzig majestätische, aus Sandelholz geschnitzte Stühle. Das Gerücht hält sich hartnäckig, dass jeden Abend, kurz nach Ablauf der regulären Veranstaltungen, die ehrwürdigen Professorinnen und Professoren der Universität in diesen Kreis zusammenströmen, um feierlich auf ihren Lehrstühlen Platz zu nehmen. Während sie unter allerlei freundlichem Nicken und höflichen Gebärden sich gegenseitig ihr Wohlwollen bekunden, beginnen sie nun, sich des tagsüber angesammelten Wissens zu entledigen. Aus rotem Faden stricken sie gemeinsam an einem Gewebe des Wissens. Die prächtige Decke hat seit der Gründung der Universität schon beachtliche Ausmasse erreicht, doch ist man sich unlängst darüber uneins geworden, was mit ihr überhaupt anzufangen sei. Der gutgemeinte Vorschlag, Teile von ihr gemeinnützigen Organisationen abzutreten, stiess auf taube Ohren; das Gewebe dürfe nicht wahllos zerschnitten werden, da man sonst Gefahr liefe, dass sich das fragile Gebilde sonst aufzulösen beginne – andererseits tauge das Gewebe als Decke ohnehin wenig, zu grobmaschig sei in der Vergangenheit an ihr gearbeitet worden. Etwas abseits der zusehends ratlosen Zusammenkunft aber steht ein riesiger Bottich, worin all die Leistungsnachweise, welche die Studenten im Laufe ihres Studiums zu entrichten haben, langsam zu einer braunen Flüssigkeit vergären. Dieses verflüssigte Abfallwissen kann von den Studenten wieder aus zahlreichen, extra dafür vorgesehenen Automaten günstig bezogen werden. Nicht wenige glauben, dass sich aus dieser bitteren Jauche die Energie gewinnen liesse, um neues Wissen zu produzieren. Doch von dieser Geschichte und auch von den Kochsälen, die noch tiefer im Inneren der Universität verborgen liegen, will ich euch das nächste Mal erzählen.


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