Berührt vom Ort die Welt erobern

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Auftakt 24

Kraft der Berührung Ein Denk- und Gestaltungsprinzip als Ausgangspunkt

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Das «Terroir-Prinzip» Siebzehn Personenporträts mit Einblicken ins «Terroir-Prinzip»

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Lebensentwürfe und das «Terroir-Prinzip»

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Die «Vermittler» Interpretation einer Partitur: pianissimo Helmut Dönnhoff (Winzer in Oberhausen an der Nahe, Rheinland-Pfalz, Deutschland)

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Windstoss aus den Bergen Gion A. Caminada (Architekt in Vrin, Val Lumnezia, Graubünden, Schweiz)

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Denkanstoss 1: Pionierland, die «alpinen Brachen»?

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Prototyp eines Erneuerers Dirk van der Niepoort (Winzer aus Porto, Douro-Tal, Quinta da Nápoles, Portugal)

120 Zartestes Deutschland 122 Tänzelnde Bären

Fritz Haag (Wilhelm und Oliver Haag, Winzer in Brauneberg an der Mosel, Rheinland-Pfalz, Deutschland)


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142 Denkanstoss 2: Verführerisch gut, verschwenderisch viel:

das Gute im Verführerischen und Verschwenderischen. 144 Unbändiges aus dem Süden Frankreichs 146 Legendär, la longueur de la finesse

Emmanuel Reynaud (Château Rayas, Château Fonsalette et Château des Tours, Winzer in Châteauneuf-du-Pape und Sarrians, Côte du Rhône, Frankreich) 164 Hexen und Feen, die unter die Haut gehen

Hervé und Claudine Bizeul (Domaine du Clos des Fées, Winzer in Vingrau, Côte du Roussillon, Frankreich) 184 Die Beseelten des Piemonts 186 La rivolta per il piacere und ihr Anstifter

Elio Altare (Winzer in La Morra, Langhe, Südpiemont, Italien) 206 Wiedergeburt eines grossen «Terroirs»

Christoph Künzli (Winzer in Boca, Nordpiemont, Colline Novaresi, Italien, sowie Wein- und Esswarenhändler in Leissigen, Bern, Schweiz) 228 Denkanstoss 3: Abenteuer Qualität : kritische Fragen zur Innovationsbereitschaft 232 Rapporto tra saperi e sapori

Slow Food und Università delle Scienze Gastronomiche (Non-Profit-Organisation in Brà und private Universität in Pollenzo, Langhe, Südpiemont, Italien), vertreten durch Roberto Burdese


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246 Helvetischer Pioniergeist 248 Käse und Denken «affinieren»

Rolf Beeler (Maître-affineur in Nesselnbach, Aargau, Schweiz) 266 Denkanstoss 4: «Terroir subversiv» . . . und ein Erwachen der Politik? 270 In Flaschen gezauberte Sonnenstrahlen

Marie-Thérèse Chappaz (Winzerin in Fully, Wallis, Schweiz) 286 In Pinot veritas

Martha und Daniel Gantenbein (Winzer in Fläsch, Graubünden, Schweiz) in Zusammenarbeit mit Bearth & Deplazes und Gramazio & Kohler (Architekten in Chur beziehungsweise Zürich, Schweiz) 302 Torkelbau mit Bearth & Deplazes und Gramazio & Kohler 310 Spielformen der «Terroir-Architektur» 312 Denkanstoss 5: «WeinArchitektur»: Das soll Wein sein? 322 Rein wie der Wein

Andreas Burghardt (Architekt in Wien, Österreich) und Fred Loimer (Winzer in Langenlois, Kamptal, Niederösterreich) 332 «Steinmassl» und Beton: wo Wein und Architektur zeitlos erscheinen 338 Recherche patiente

Ruggero Tropeano, zusammen mit Cristina Tropeano, Rita Schiess und Thomas Pfister (Architekten in Zürich, Pfister Schiess Tropeano, Schweiz)


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358 Raum für das Kreative 360 Zürich ist Freitag

Markus und Dani Freitag, Freitag (Inhaber einer Taschenmanufaktur in Zürich, Schweiz) 378 Frischzellenkur

Rea Eggli, zusammen mit Lorenz Hauser und Chris Eggli (swissandfamous, Agentur für Event und Kultur in Zürich, Schweiz) 392 Originär und offen: «Origen»

Giovanni Netzer (Dramatiker, Regisseur und Intendant in Savognin, Sursés/Oberhalbstein, Graubünden, Schweiz) 415 Denkanstoss 6: «Terroir» und das Schaffen von Kulturgut

Zwei Regionenporträts mit unterschiedlichem «Terroir»-Bezug 417

Arbeiten mit dem regionalen «Terroir»

418 Im Kollektiv das Terroir der Zukunft suchen 420 Neue Flügel für eine Region

Parc Ela (1 Verein, 21 Gemeinden im Albulatal und Sursés/Oberhalbstein, Graubünden, Schweiz) 440 Glühendes Terroir?

glow.das Glatttal (1 Verein, 8 Gemeinden der Flughafenregion Zürich, Schweiz)

Finale: Essenz eines Ortes 461

Vom Erkennen zum Nutzen


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Auftakt

Kraft der Berührung «It’s Douro, not Porto.» Mit diesen Worten verabschiedet sich Luis Seabra von mir, der junge, attraktive Südländer, wie man sich ihn eben so vorstellt. Luis lebt mit seiner Familie in Porto und arbeitet als Önologe und Weingärtner auf der «Quinta de Nápoles» im Douro, eineinhalb Autostunden von seinem Wohnort entfernt. Er steht im Dienst von Dirk van der Niepoort, einem dieser «jungen Wilden» der Weinszene aus dem Tal des Douro, des Flusses, der in Spanien entspringt und nach 927 Kilometern in Porto in den Atlantik mündet. Den Douro säumt eine bemerkenswerte Kulturlandschaft, «Weltkulturerbe», deren dominierende Nutzung der Weinbau ist. Von Porto ins obere Douro-Tal anfahrend, wächst das Staunen mit jedem zusätzlichen Kilometer. Nach mehr als einer Stunde zügiger Fahrt meint Dirk: «Jetzt fängt das Douro erst richtig an.» Immer mehr verdichtet sich das Bild: Fast endlos scheinen sich die Weingärten im Alto Douro aneinander zu reihen, vom Flussbett bis in die höchsten Hügellagen, Dutzende von Kilometern, durchsetzt mit einzelnen hellen Punkten, den Weingütern. Eindrücklich, wie sich der mächtige Fluss über geologische Zeitdimensionen hinweg in die Schiefer- und Granitschichten hineingefressen hat. Beinahe unfassbar, die Dimensionen körperlicher Arbeit, welche die Menschen über Generationen verrichteten, um den kargen Böden und steilen Hängen Nutzen zu entziehen und ihnen nebenbei Kultur zu verleihen. Wie von einer geheimnisvollen Hand mit einem Rechen in die naturverformten Hangflanken geschürft, ziehen sich die Rebterrassen quadratkilometerweise dahin, ohne dass ein Ende abzusehen wäre. Eine Landschaft wie eine Skulptur. Mir bietet sich ein imposanter Anblick voller Gegensätze: schroff und lieblich, wild und kultiviert, dramatisch und still in sich ruhend. Eine Kulturlandschaft von majestätischem Ausdruck. Der «Douro», gesprochen mit einem weichen «R », welches das «U » fast gänzlich verschluckt, ist oft Mittelpunkt der Gespräche, auch dann, wenn fremde Weine, reife Burgunder oder deutsche Rieslinge zu Tisch gereicht werden. Immer wieder fällt der Name. Erst recht, wenn einige der Verbündeten aus der neuen Kraft der Berührung


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Generation von Weinproduzenten zusammensitzen. «Douro-Boys» haben sie sich schon genannt, anlässlich des gemeinsamen Auftritts an der Vinexpo 2005 in Bordeaux, der weltweit grössten Weinmesse. «Douro» – man spürt die spezielle Bedeutung dieses Flusstals schnell heraus. Es ist ihre Heimat. Nichts Aussergewöhnliches, neigt man zu denken. Das Gefühl von Heimatverbundenheit kennt ja jede und jeder. Man spürt es beispielsweise bei der Heimkehr von einer längeren Reise oder beim Herumführen von Leuten, die ebendiese «Heimat» nicht kennen. Nur, der Douro ist bei den Angesprochenen omnipräsent, unmittelbar, weil er Ort ihrer Arbeit und Grundlage ihrer Produkte und damit ihrer Existenz ist. In Gesprächen schwingt tiefe Vertrautheit mit, und Zuneigung. Fast wie wenn man von einem lieb gewonnenen Menschen spricht. Doch der Douro ist noch mehr: Er ist Quelle ihrer Träume, Hort ihrer Inspiration, Ausgangspunkt ihrer Zukunftshoffnungen.

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Ähnlich ist es bei Hervé Bizeul an der französischen Mittelmeerküste. Bizeul hängte 1997 seine Jobs als Sommelier, Journalist und Restaurateur in Paris an den Nagel, um zusammen mit seiner Frau Claudine an der Côte du Roussillon einen eigenen, seinen Vorstellungen entsprechenden Wein zu kreieren. Niemand hat nach ihm gerufen. Zu viel Wein wird in dieser Region bereits produziert, viel Massenware. Daneben gibt es auch seit einigen Jahren immer mehr erfreuliche Ausnahmen, hocherfreuliche gar. Bizeul erzählt an einer Weinverkostung von seinem Feen-Wein, «Le Clos des Fées», und freut sich über die interessierten Nachfragen. In seinen Schilderungen flackert immer mehr Feuer auf. Begeisterung ist spürbar, glänzende Augen. Ein augenfälliges Phänomen, das man immer wieder von Neuem feststellen kann, mit welcher Verve die Weinproduzenten von ihren Weinen und den Orten ihrer Entstehung sprechen. Bizeul erzählt von den speziellen Lagen, vom aussergewöhnlichen Mikroklima seiner Weingärten, mit fesselnden Worten und dennoch ruhiger Stimme, bis er selbst feststellt, dass sein Unterarm aussieht wie ein gerupftes Huhn: «Hühnerhaut». Wir zwei lächeln uns an. Der Funken ist gesprungen, erst recht. Denn was ich vorher zusammen mit meinen Freunden verkostet habe, war eigentlich schon fast zu viel. Wortlos, mit grossen Augen haben wir Freunde uns angeschaut. «Unglaublich! Was für eine Intensität und Dichte, ohne die Aromatik zu erdrücken.» Wir sind dann weitergezogen: andere Stände, andere Länder, andere Weine. Zweimal sind wir wieder zum Stand der Feen zurückgekehrt, die uns gefangen hielten. Bis heute. Kehren wir zum «Rebell des Douro»1 zurück, zu Dirk van der Niepoort, dem Holländer und Portugiesen in einem, dessen Mutter eine Deutsche ist, der eine Österreicherin heiratete und der auch «Schwiizertütsch» spricht. Mit dem Hintergrund eines Portweinproduzenten hätte man in seinen Tafelweinen etwas Wuchtiges, Kraftvolles erwartet: portweinähnliche Weine, die jedoch in eine moderne globalisierte Stilistik eingepackt sind. Gehaltvoll sind sie tatsächlich, der aufgetischte «Redoma Tinto 2003 », noch mehr der grosse, aber auch teure «Batuta 2003 ». Doch diese Tiefgründigkeit lässt mich aufhorchen. Tief tauche ich meine Nase hinein in die reiche, unnachahmliche Duftpalette, ich suche nach Beschreibung dieser Tiefgründigkeit, und werde Kraft der Berührung


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dabei immer wieder durch die natürlich anmutende Frische aufgeweckt. Weine, die einen wach werden lassen. Niepoort freut’s, dass seine Philosophie auf Gegenliebe stösst: grosse, frische Weine zu machen, die gleichzeitig die Vielseitigkeit der Douroböden und die vielen autochtonen, miteinander angepflanzten und vinifizierten Traubensorten, manchmal dreissig bis vierzig pro Weingarten, widerspiegeln. Schnell stellt sich die Erkenntnis ein: Das ist eine neue Weinwelt, die da aus dem riesigen globalen Meer des Weins herausragt. So euphorisch dieser Gedanke anmutet, er mag keiner Relativierung oder gar Ernüchterung weichen. Dank Niepoort hat sich der Douro fest verankert auf meiner Weltkarte grosser Weine. Ich bin nicht der Erste, dem es so ergeht. Man kann den friedlichen, transkontinentalen «Eroberungszug» von Niepoort und seiner portugiesischen Weinproduzentenkollegen etwa so beschreiben: Berührt von der Kraft ihres Douro, ist eine neue Generation dabei, die Welt mit ihren Weinen, wie sie nur der Douro hergibt, zu erobern. Und das wohl nicht nur kurz und flüchtig. Denn unter dem, was sie produzieren, sind auch «Futures». So hat jede ungeöffnete Flasche noch über Jahre hinweg etwas ungemein Verlockendes, weil man sich freuen darf, immer aufs Neue berührt zu werden. Kraft der Berührung! Gehen wir ihr also nach. Der Kraft und dem Zauber eines Ortes. 1

«Portwein – oder wie der Geist in die Flasche kommt», 2000, Eckardt Emanuel, in: Merian, Juli 2000.

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Interpretation einer Partitur: pianissimo 38

Helmut Dönnhoff Winzer in Oberhausen an der Nahe, Rheinland-Pfalz, Deutschland

Helmut Dönnhoff geht seiner Aufgabe im wahrsten Sinne des Wortes auf den Grund, mit allen Fasern seiner Wahrnehmung: feinfühlig, listig, visionär. Er lasse sich treiben wie ein Stück Holz im Fluss und suche die Balance zwischen sich, seinem Umfeld, den Weinbergen und den Reben. Das Ergebnis sind «Weine aus der Landschaft»: leise im Ausdruck, klar wie Quellwasser und von fesselnder Tiefgründigkeit. Das wohl schönste «Pianissimo der Weinwelt», tief verankert im stillen, verschlafenen Nahetal.


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Steckbrief Die Nahe ist erst seit den dreissiger Jahren

Dönnhoff produziert zum allergrössten Teil Rieslingweine,

eine eigene, anerkannte Weinbauregion, obwohl bereits

die von solcher Klarheit und Tiefgründigkeit sind, dass sie

die Römer dort Weinbau betrieben. Eine bewegte Erdge-

weltweit nachgefragt werden. Hinsichtlich Qualität ist

schichte mit zahlreichen vulkanischen Beben hat ein viel-

Helmut Dönnhoff einer der ganz Grossen. «Seine Weine

gestaltiges Substrat für den Weinbau geschaffen. Auf

sind die Aristokraten unter den deutschen Rieslingen.»

kleinstem Raum ändert sich die Zusammensetzung der

Von aristokratischem Ausdruck ist nichts zu spüren, wenn

Böden. Ein faszinierendes Spielfeld für «Terroiristen».

man ihn trifft. Ihn prägen vielmehr Zurückhaltung und Bescheidenheit.

Helmut Dönnhoff, Jahrgang 1949, ist seit 1971 Winzer im familieneigenen Weingut «Hermann Dönnhoff». Was früher zur Einkommensabsicherung ein landwirtschaftlicher Mischbetrieb aus Vieh- und Agrarwirtschaft sowie Weinbau war, ist heute ein reines Weinbauunternehmen. Ein Familienbetrieb: das Ehepaar Dönnhoff, Gabriele und Helmut, und gut zweieinhalb Stellen, zuzüglich der temporären Weinlesehilfen. Begonnen habe er mit fünf bis sechs Hektaren Anbaufläche, heute sind es achtzehn. Für einen, der noch selbst im Weinberg arbeiten wolle, stosse er damit an seine Grenzen.


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Helmut Dönnhoff

Gefangen Da ist etwas, was einen nicht mehr loslässt, gefangen hält. Dieses Etwas zu beschreiben, ist eigentlich unmöglich. Es packt einen, und man weiss eigentlich nicht genau, warum. Jedes Jahr kommen die Neuen, und es geschieht von Neuem, dass ich mich frage: Was ist es nur, das unbeschreiblich Geheimnisvolle, das so klar und rein daherkommt, dass es sofort gefällt, und das dich dann aber, wegen der Vielschichtigkeit und Tiefe, in der sich immer wieder neue Tore öffnen, nicht mehr loslässt? Hinter dieser nun jahrelangen Faszination steckt der Name «Dönnhoff». Riesling-Winzer. Riesling aus Deutschland! Ich mache es mir einfach. Zu einem Aperitif wird nur eins gereicht: frische Kabinett-Weine des letzten oder vorletzten Jahres von der Mosel-Saar-Ruwer oder von der Nahe. Vor Jahren war das eine Überraschung. Heute kennen’s die Freunde. Mit neuen Bekannten wiederhole ich das Spiel, und es geschieht immer noch dasselbe: Otto-Normalverbraucher trinkt mit Genuss, merkt, dass da etwas Unbekanntes im Glas ist, fragt nach, was das denn sei. «Ein Deutscher.» Grosse Augen. Weinerfahrenere belassen’s bei einem staunenden: «Aha!» Viel mehr Worte braucht’s nicht. Frau und Mann trinkt mit Lust weiter, «Reinheit mit Hochgenuss», bis die Flaschen leer sind. Jeden Frühsommer kommen die besten deutschen Winzer nach Zürich mit ihren Weinen des letzten Jahrgangs – etwas trockene und vor allem «edelsüsse» Weine. Im Spätsommer wird die Gelegenheit geboten, die Besten der Besten zu verkosten, deren Erwerb nur über die Versteigerungen im September möglich ist. Das «möglich» ist relativ, denn über die letzten Jahre hat die globale Weinszene wahrgenommen, was für Weinperlen versteigert werden. Für Prädikate wie «Auslesen» muss man tief in die Tasche greifen, die Preise für «Beerenauslesen» und «Trockenbeerenauslesen», oft mehr Nektar als Wein, wenn nicht noch diese göttliche Säure mitspielen würde, sind ins Astronomische gestiegen. Hunderte bis mehrere Tausend Franken pro Flasche! Eines vermag diese sehr dünne Spitze des Eisbergs aufzuzeigen: Auf dem Niveau der besten Produzenten ist der Riesling – wie die Deutschen zu sagen pflegen – nicht mehr zu «toppen». Da wird einem bewusst: Die Königin der weissen Traubensorten ist der Riesling.

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Und Helmut Dönnhoff ist einer der Königsmacher. Einer der Feinsinnigsten. Zurück auf den Boden! Dorthin, wo Helmut Dönnhoff als Weinbauer, der er geblieben ist trotz all der internationalen Verpflichtungen, am liebsten weilt. «Gefangen» von den Reben, den Böden und den Rebzeilen über der Nahe, diesem stillen Flüsschen, das gegen Nordosten dem Rhein zufliesst. Sanft, durch Stauwehre gebändigt, zieht sich der Fluss dahin. Im mittleren Nahetal, wo das Tal von Bad Kreuznach kommend enger wird und sich die uferbegleitenden Baumreihen flauschig in die Landschaft einbetten, sind die besten Weinlagen zu finden. Eine vor sich hinschlummernde Landschaft, periodisch durch einen durchrauschenden Regionalzug aufgeweckt. Die Weingärten erscheinen wie an die Flanken geklebte grüne Teppiche, die durch die Flurwege gebändert werden und wo zwischendurch der Fels durchdrückt. Was folgt, ist eine Weinwanderung, die mich dem Geheimnis der Dönnhoff-Weine etwas näher bringen wird: «Schlossböckelheimer Felsenberg», «Schlossböckelheimer Kupfergrube», «Oberhäuser Leistenberg»,

Lebensentwürfe und das «Terroir-Prinzip»


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Helmut Dönnhoff

«Norheimer Kirschheck», «Norheimer Dellchen», «Niederhäuser Herrmannshöhle» und «Oberhäuser Brücke». Es ist eine Reise in die einzelnen Terroirs, begleitet durch den, der den Charakter ihres Ausdrucks pflegt.

Mit den Talenten flüstern 4. Oktober 2005. Die Ernte, vier Wochen selektives Lesen, steht bevor. – Drei Wochen waren es dann tatsächlich, weil die Trauben so perfekt waren, dass man diese Perfektion so schnell als möglich ohne Schaden unter Dach bringen wollte. Morgen beginnt der «Probelauf» zur Ernte. Um Maschinen und Menschen einschliesslich der Leserinnen aus Polen auf das Kommende einzustimmen. Die Nervosität ist greifbar. Ständiges Klingeln des Telefons und ein nüchternes «Ich hasse das!» machen das deutlich. «Gibt’s da ne Lösung?» Am Kulminationspunkt der gestörten Ruhe fahren wir raus, in die Weinberge. «Ich bin nur zu verstehen mit diesen Weinbergen.» Unvermittelt stellt sich bei Helmut Dönnhoff Gelassenheit und Lockerheit ein. Die Reise kann beginnen: «Schlossböckelheimer Felsenberg» und «Schlossböckelheimer Kupfergrube», Süd-West-orientiert, direkt an der Nahe. Beim Hineintreten in den «Felsenberg» zeigt Helmut Dönnhoff mit seinem Zeigefinger auf Frassschäden von Wildschweinen. Sie würden die süssesten Trauben treffsicher finden. «Das sind Feinschmecker.» Er spricht von Porphyr und Melanphyr, dem vulkanischen Schotter am ziemlich steilen Fusse des Felsenbergs. Sechs Jahre habe er gebraucht, um diese Lage am Felsenberg zu begreifen. «Da draussen ist eine Partitur, die ich zu interpretieren habe.» «Ich versuche, mich manchmal treiben zu lassen, wie ein Stück Holz im Fluss, nicht ohne mich dabei zu hinterfragen, indem ich mich im Fluss treibend zu drehen versuche, um mich dann aber doch dem Fluss hinzugeben.» Das sei ganz wichtig: «Treiben lassen und nur eingeifen, wenn’s nötig ist.»

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Er dürfe so wenig wie möglich Fremdes hineinlegen, um dem Original möglichst nah zu kommen und all das zu zeigen, was da ist. Er frage sich, welcher Weinberg welches Talent habe. «Was steht ihm am besten?» Eines wurde beim Felsenberg wegen der frischen, gut durchlüfteten Böden klar: «Der Berg hat Talent für trockene Weine.» So ist die trockene Spätlese 2004 mineralisch, zart und runder als die «Kupfergrube Spätlese 2004», zu der er meint: «Da ist das Wilde, Pfeffrische, Kupfrische.» Genial an seinem Beruf seien die Pflanzungen. Reben, die leben und alt werden. Die sollten sprechen können, dann könnte er mit ihnen sprechen. «Im Grund genommen rede ich mit ihnen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie mich schon verstehen.» Ehrfurcht und Demut schwingen mit. «Ich ergebe mich ihnen. Ich brauche schon das Gefühl, dass man mich mag, dass mich die Landschaft mag.» Das ist Teil des Vertrauensverhältnisses, das er brauche für ein zuversichtliches Grundgefühl. Er spricht davon, dass er beim Übernehmen neuer Weinanlagen ein schlechtes Gewissen gegenüber den angestammten Weinbergen gehabt hätte, er redet vom Gefühl, dass die älteren eifersüchtig würden und beleidigt wären, weil er ihnen nicht mehr seine ganze Kraft widmen könne. Diese würden ihn das ganze Leben begleiten und hätten ihn so weit gebracht, und nun gehe er fremd. «Komisch, nicht?» Er muss lachen. Er habe sich dann gefragt: «Darf ich dem Weinberg das antun? – Ja doch, nee, ich hab Kraft genug. Ich kann das mit dazu machen, ohne den anderen untreu zu werden.» Doch es sei ihm nur möglich, einen neuen Weinberg in seine Pflege zu nehmen, wenn da eine Geschichte und bereits eine gewisse Beziehung bestehe. Aus früherer Zeit oder wenn er die früheren Besitzer gut kenne. Manchmal lehnte er auch ein Angebot mangels Bezug zum Weinberg ab. Er suche eine Einheit mit der Landschaft – «Die ist ja nicht nackt, sondern durch Menschen zur Kulturlandschaft geworden» –, und mit den Vorgängern. «Wenn man Weine aus der Landschaft machen will, muss man die Leute kennen, die sich ein Leben lang damit beschäftigt haben. Auch wenn sie unter anderen Gesichtspunkten und Möglichkeiten als heute gewirkt haben. Ich will wissen, wie sie ausgesehen haben, wie sie gesprochen haben. Für Lebensentwürfe und das «Terroir-Prinzip»


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