Die strahlenDe wahrheit martin arnolD urs fitze
Vom wesen Der atomkraft
einleitung einleitung Vorwort Vorwort
es bleibt die ernüchterung – enttäuschte hoffnungen und risiken
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Cornelia Hesse-Honegger, Wissenskünstlerin
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Charles B. Perrow, Organisationstheoretiker, Soziologe
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Ortwin Renn, Professor für Umwelt, Techniksoziologie
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Sebastian Pflugbeil, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Strahlenschutz
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Irene Aegerter, Physikerin
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Ludwig E. Feinendegen, Strahlenmediziner
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»Die
mäuse werden sich durchsetzen« – Japan nach der fukushima-katastrophe
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Wolfgang Weiss, Mitglied der UNSCEAR
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Kaoru Konta, Hausärztin
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N.N., hoher Staatsmann in Japan
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Oshidori Mako, Komödiantin, freie Journalistin
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»es ist noch lange nicht vorbei« – tschernobyl: 30 Jahre danach ≥
Alexei W. Jablokow, Biologe, Umweltpolitiker
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arbeiten im akw – ein Beruf mit zukunft ≥
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N.N., ehemaliger Arbeiter im AKW Fukushima Daiichi
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rechnet sich atomkraft?
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Mycle Schneider, Energie-, Atompolitikberater
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Horst-Michael Prasser, Professor für Kernenergiesysteme/ETH Zürich
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Die zukunft der atomkraft
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Christian Bauer, Ökosystem-Wissenschaftler
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Bo Qiang Lin, Ökonom, Direktor des China Center for Energy Economic Research
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Kyoko Oba, Ökonomin, Umweltwissenschaftlerin, Soziologin
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Robert Spaemann, Autor, Professor für Philosophie
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nie mehr aus den augen – nie mehr aus dem sinn – Die endlagerung
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Paul Bossart, Direktor Mont-Terri-Projekt
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Marcos Buser, Geologe, Sozialwissenschaftler
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am anfang oder am ende der atomenergie – ein streitgespräch ≥
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Michael Schorer, Leiter Kommunikation beim wissenschaftlich-technischen Fachverein Nuklearforum Schweiz
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Alfred Körblein, Physiker, Privatgelehrter
Verzicht als neue tugend
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anhang
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Glossar
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Literaturverzeichnis und
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Anmerkungen
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Bildnachweis
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einleitunG Dieses Buch will aufrütteln, anregen und nachdenklich machen, aber es will nicht provozieren und skandalisieren bei einem Thema, das uns alle angeht: Atomkraft. Es ist ein Thema, das polarisiert, das Gegner und Befürworter zu Ideologen ihrer Sache macht, ein Thema auch, das die Frage nach der Beherrschbarkeit großtechnischer Anlagen aufwirft. Und es ist ein Thema, das Wissende und Unwissende in einer Weise trennt, die gewollte und ungewollte Abhängigkeiten schafft. Das erste Ziel des Buches: Vor dem Hintergrund der aktuellen »Energiewende«-Debatten einen kritischen Diskussionsbeitrag leisten für all jene, die mehr wissen wollen zum Thema Atomkraft. Dieses Buch will am Beispiel der Atomkraft auch der Frage nach der Wahrheit nachgehen, der absoluten, der relativierenden, der wahrhaftigen und der gelogenen: Denn absolut »wahr« ist an der Atomkraft eigentlich nur ihre ungeheure Energie und die Tatsache, dass der Mensch damit Kräfte weckt, die er über Jahrhunderttausende im Griff behalten muss. Alles andere wird sehr schnell relativ und relativiert, man bewegt sich auf einem Feld, in dem sich Experten, Meinungsmacher, Ideologen, Betroffene, Opfer, Lobbyisten, Politiker und Weltenretter tummeln. Sie alle sollen zu Wort kommen in diesem Buch, sie sollen von ihrer Wahrheit erzählen, der Wahrheit des Strahlenopfers ebenso wie jener der Befürworter und der Gegner. Das zweite Ziel des Buches: die vielen Facetten der Wahrheit zu ergründen – und auszuloten, wie empfänglich wir für jene sind, die es uns bequem machen wollen.
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Wir danken Stefan und Susanne Ganzoni, die es uns möglich gemacht haben, dieses Buch zu schreiben. Unser Dank geht an die Herren Alfred Körblein und Michael Schorer für ihre wertvolle Expertise, und an alle, die uns während der Recherchen mit Rat und Tat zur Seite gestanden sind. Ein herzliches Dankeschön geht an Felix Ghezzi für sein umsichtiges Lektorat, an Saskia Noll, die dem Buch ihren gestalterischen Schliff verlieh, und an die Verlegerin Anne Rüffer für Zweifelndes und Bestärkendes. Urs Fitze dankt den Journalistinnen und Übersetzerinnen Irina Gasanova in Kiew und Chikako Yamamoto in Tokio für ihre kompetente, professionelle Arbeit und für wertvolle Einblicke in Politik, Gesellschaft und Kultur ihrer Heimatländer, Werner Stuber für seine inspirierende Begleitung in Japan und Milla fürs Zuhören und Mitdenken. Ferner möchte Martin Arnold Jutta Lang und Markus Fritschi von der Nagra, Käthi Furrer von Klar! Schweiz sowie Paul Bossart von Swisstopo danken für ihre Geduld und spannenden Anregungen bei der Frage der Endlagerung. Ein besonderer Dank gilt auch Mycle Schneider, dem deutschen Energie- und Atompolitikberater mit Wohnsitz in Paris, der selbst in schweren Zeiten, als seine Freunde bei Charlie Hebdo umgebracht wurden, Zeit gefunden hat, ausführlich über die Zukunft der Kernenergie zu sprechen. Das Gleiche gilt für den ETH-Professor Horst-Michael Prasser, der sich im Gegensatz zu vielen anderen Akteuren nicht davor scheut, sich mit Kritikern der Kernkraft auseinanderzusetzen. Martin Arnold Urs Fitze
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Es blEibt diE Ern체chtErung Entt채uschte hoffnungen und risiken
Urs Fitze
Leuchtende Uhrenzifferblätter, Wunderheilungen, Städte, die sich aus einer Kiste heraus mit Energie versorgen lassen, die Lösung aller Energieprobleme, die Rettung des Klimas: Die Verheißungen und die Verführungskraft des Atoms, angetrieben von einem unerschütterlichen Fortschrittsglauben, sind bis heute groß. Die viel zu lange negierten Gefahren ebenso. Der Traum der Allzwecklösung Atom ist nicht aufgegangen.
Es ist der Traumjob für eine junge Arbeiterin: Leuchtziffern bemalen in einer Uhrenfabrik. Die Arbeit ist anspruchsvoll und gut bezahlt. Dazu kommt ein Schuss Modernität. Das 1898 von Pierre und Marie Curie entdeckte Radium gilt als wahres Wundermittel. Es bringt nachts nicht nur Uhren-Zifferblätter zum Leuchten, sondern verspricht, zum »flüssigen Sonnenschein« verklärt, ewige Jugend, wenn es direkt in den Körper gespritzt oder als »Radiumwasser« getrunken wird. Die 17-jährige Francis Splettstocher zählt sich 1921 zu den Glücklichen, als sie einen der begehrten Jobs in der Waterbury Clock Company in Waterbury im Naugatuck Valley im Bundesstaat Connecticut an der Ostküste der Vereinigten Staaten erhält.1 Die Region gilt wegen der vielen Uhrmanufakturen als die »Schweiz Amerikas«. Millionen Uhren werden jährlich gefertigt; die 1854 gegründete Waterbury Clock Company (heute Timex) exportiert auch nach Europa. Ein Kassenschlager sind die im Ersten Weltkrieg entwickelten Armbanduhren mit Leuchtziffern. Sie sind eine Weiterentwicklung der ersten Billiguhr der Geschichte, der »Ingersoll Yankee« zum Preis von einem Dollar, die als »die Uhr, die den Dollar berühmt machte«, in die Geschichte einging. Die Artilleristen hatten im Krieg genaue, handliche Uhren benötigt – auch nachts. Da kam Undark, eine fluoreszierende Farbe, gerade recht. Sie geht auf eine Erfindung des Elektroingenieurs William J. Hammer zurück. Er hatte 1902 mit einer Radiumprobe experimentiert, die ihm Marie Curie in Paris überlassen hatte. Sie hatte ihn beeindruckt, als sie seinen Diamantring im Dunkeln zum Leuchten gebracht hatte, indem sie ihn neben eine Schachtel hielt, die ein Gramm Radium enthielt. »Es war, wie wenn man eine brennende Kerze neben den Diamanten gehalten hätte«, erinnert er sich in seinem 1902 erschienen Buch »Radium, and Other Radio-Active Substances«2. Das blaugrüne Schimmern faszinierte auch die Forscherin Marie Curie: »Ein großes Vergnügen waren die nächtlichen Besuche des Arbeitszimmers. Auf allen Regalen waren die schwach leuchtenden Silhouetten der Fläschchen zu erkennen, in denen wir unsere Substanzen aufbewahrten. Ein wirklich hübscher Anblick, der mich jedes Mal aufs Neue bezauberte.
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Die glühenden Röhrchen erschienen mir wie die Lichter der Märchenfee.«3 Hammer mischt das Radium mit Zinksulfid, von dem bekannt ist, dass es von radioaktiver Strahlung zum Leuchten gebracht wird. Das Resultat ist ein Farbstoff, der nachts glüht. Radium kann noch mehr. Hammer behandelt erfolgreich ein Geschwür an seiner linken Hand und empfiehlt es zur Krebstherapie. In seinem Buch beschreibt er detailliert die Eigenschaften der radioaktiven Strahlung, die sich in drei verschiedene Strahlenarten gliedere: Alpha-, Beta- und Gammastrahlen. Die Alphastrahlung mache den Hauptteil des Radiums aus. Ihre Radioaktivität sei rund eine Million Mal stärker als jene des Urans, könne aber nur sehr dünne Schichten fester Körper durchdringen und wirke auch in der Luft nur wenige Zentimeter weit. In den Messreihen genügen hauchdünne Aluminiumfolien von fünf Tausendstel Millimeter Dicke zur Abschirmung. Dass beim Hantieren mit radioaktivem Material große Vorsicht geboten ist, ist den Wissenschaftlern der Zeit wohlbekannt. Henri Becquerel, der 1903 zusammen mit dem Ehepaar Curie den Nobelpreis für Physik für die Entdeckung der Radioaktivität erhalten hat, hatte 1900 eines der strahlenden Fläschchen mit Radium in seiner Brusttasche herumgetragen und die an einen Sonnenbrand erinnernden Verbrennungen der Haut als direkte Folge der Bestrahlung interpretiert.4 Unbeabsichtigt inspirierte er damit andere Forscher zur Entwicklung der Strahlentherapie. Becquerel stirbt 1908 im Alter von 56 Jahren an den Folgen jahrelanger Verstrahlung.
radioaktiver Abfall im sandkasten William J. Hammer verkauft seine Rezeptur 1914 an die Firma Radium Luminous Material Corporation (später US Radium). Die unter dem Markennamen Undark vertriebene Leuchtfarbe wird nach Kriegsende zum Renner. Die Welt scheint darauf gewartet zu haben. Nicht nur Zifferblätter, auch Hausnummern oder die Augen von Puppen leuchten dank Undark, die »besonders hygienischen«
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Alpha-, beta- und gammastrahlen [∆ Glossar, S. 282, 284, 289]
Ein Neutron (weiß) wandelt sich in ein Proton (gelb) und ein Elektron (schwarz) um
α-Teilchen Alphastrahlen: Aussenden von Alphateilchen (Heliumkernen) (2 Protonen, 2 Neutronen
e-
β-Teilchen
Betastrahlen: Aussenden von Betateilchen (Elektronen)
γ-Quant (Photon) Gammastrahlen: Aussenden von elektromagnetischen Wellen
Blei, Beton mit Eisenerz
Aluminium Eisen
Papier
Produktionsabfälle werden als Füllmaterial für Sandkästen verkauft.5 Das passt in eine Zeit, in der Ärzte Radium zur Behandlung aller möglichen Krankheiten empfehlen und am Institut Curie in Paris sensationelle Heilungserfolge mit Radiumtherapien erzielt werden. Für manche gilt Radium als die eigentliche Urquelle des Lebens. Radiumspritzen sind das Botox der besseren Gesellschaft im New York der 1920er-Jahre, während sich in Europa Radiumbäder großer Beliebtheit erfreuen. Die Gefahren spielt auch die
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in den Vereinigten Staaten seit einer Vortragsreise 1921 populäre Marie Curie immer wieder herunter. Als sie 1920 an grauem Star erkrankt, einer, wie man heute weiß, häufigen Folge von Verstrahlung, vermutet sie einen Zusammenhang mit dem Radium, lässt die Sache aber nach vier Augenoperationen auf sich beruhen. Erst einige Jahre später empfiehlt sie den Mitarbeitern ihres Labors, sich mit Bleiwesten zu schützen. Besonders Frauen waren in den Uhrenmanufakturen als Zifferblattmalerinnen gefragt, ihrer »grazilen Hände« und »großen Geschicklichkeit« wegen. Tausende werden in den frühen 1920erJahren eingestellt.6 Denn die Nachfrage nach den günstigen Uhren, die nachts so zauberhaft leuchten, explodiert. Alleine 1920 produzieren die Uhrenfabriken in den USA vier Millionen Stück. Gearbeitet wird an kleinen Tischchen in hellen, großen Fabriksälen. Zeitgenössische Fotos zeigen die im Stil der Roaring Twenties frisierten, akkurat gekleideten jungen Frauen, die, den Kopf leicht gesenkt, mit schmalem Kamelhaarpinsel die Leuchtfarbe auftragen. Die Farbe mischen sie selbst aus einem wässrigen Leim und einem gelben Pulver. Ein von den Vorarbeitern empfohlener Trick, das Zuspitzen des Pinsels mit den Lippen, hilft dabei, einen feinen Farbstrich hinzulegen. Fünf-, sechsmal müssen die Pinsel »gespitzt« werden, um ein Zifferblatt zu bemalen. Die Farbe schmeckt nach Leim. Die anderen Substanzen, Radium, Zinksulfid und Wasser, sind geruchs- und geschmackslos. Bezahlt werden die Arbeiterinnen im Akkordlohn; acht Cents pro Uhr entlohnt die Waterbury Clock Company. Die Besten schaffen 300 Uhren oder rund 2000 Pinselstriche pro Arbeitstag. Sie verdienen damit in einer FünfzigStunden-Woche etwa das Doppelte eines durchschnittlichen Arbeiterinnenlohnes. In der Nacht leuchten ihre Lippen und Münder, bei manchen ist es der ganze Körper. Zum Spaß malen sie in der Pause die Leuchtfarbe als Accessoire auf Zähne, Finger- und Zehennägel oder die Druckknöpfe ihrer Kleider, manche auch an intimere Stellen, um ihre Liebhaber zu überraschen. »Wir hatten ein gutes Leben, verdienten gutes Geld, nach Feierabend ging ich mit meiner besten Arbeitskollegin in die Stadt. Die Jungs standen auf uns, unsere Boyfriends waren Cousins«, erinnert sich Marie Rossi-
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ter 1987 im Dokumentarfilm »Radium City«7 an ihre Zeit als Zifferblattmalerin bei US Radium. 1927 war ihre lebensfrohe Freundin tot, gestorben an den Folgen extrem hoher Strahlendosen in ihrem Körper. Den Zifferblattmalerinnen war von den Verantwortlichen stets versichert worden, sie hätten nichts zu befürchten, und es seien auch keinerlei Arbeitsschutzmaßnahmen nötig – obwohl sich diese bei der Arbeit im Labor mit Bleiwesten und Gesichtsmasken schützen, und schon damals allgemein bekannt war, welche Gefahren Radium in sich birgt, wenn es in den Körper gelangt. Die Anweisung, die Pinsel mit den Lippen zu spitzen, kam für nachweislich 105 der nach heutigen Schätzungen rund 4000 Arbeiterinnen in den Industrien, die in den frühen 1920er-Jahren mit Leuchtfarben arbeiteten, einem Todesurteil gleich. Wahrscheinlich waren es noch weit mehr.8
todgeweihte kämpfen um Entschädigung Ob Francis Splettstocher, die mit ihren sechs Geschwistern bei ihren Eltern lebt, zu den Besten ihres Fachs zählte, ist nicht überliefert. Ihr Schicksal lässt es annehmen. 1925 erkrankt sie an Anämie, einer durch Eisenmangel bedingten Blutarmut. Sie fühlt sich chronisch schwach. Ihre linke Gesichtshälfte wird immer berührungsempfindlicher, Hals und Rachen schmerzen. Als akute Zahnund Kieferschmerzen dazukommen, sucht sie einen Zahnarzt auf. Beim Versuch, ihr einen Zahn zu ziehen, bricht ein Teil des Kieferknochens weg. Niemand hat eine Erklärung. In ihrer linken Wange bildet sich ein Loch, das Gewebe beginnt sich aufzulösen. Nach vier Wochen qualvollen Leidens stirbt Francis Splettstocher 21-jährig. »Sie hatte einen großen Freundeskreis, der in tiefer Trauer steht«, heißt es im Nachruf, der am 22. Februar 1925 im Waterbury Republican erscheint. Die Todesursache ist ein Rätsel für die Ärzte. Ihr Vater, der auch in der Uhrenfabrik arbeitet, weiß es besser: Es sei das Radium, erklärt er, aber er werde den Mund halten, denn er wolle seinen Job nicht verlieren. Ob er von den vier jungen Frauen gehört hatte, die
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In fünf Reaktoren reicht die Notstromversorgung nicht einmal für eine Stunde Betrieb, und 57 der 146 in Europa getesteten Reaktoren verfügen über keine Leitlinien für das Vorgehen bei schweren Unfällen bis zur vollständigen Abschaltung. Letztlich, so zeigt sich, ist die Wissenschaft nicht in der Lage, die Frage nach den Risiken der Atomenergie-Produktion schlüssig zu beantworten, sei es, weil sie interessengebunden ist, sei es, weil der Interpretationsspielraum der Ergebnisse so groß ist, dass jedermann genau das herauslesen kann, was ihm beliebt – ohne damit wirklich falschzuliegen. Das Deutungsmonopol der Forschung, wie es in den Jahren der großen Atomeuphorie noch gegolten hatte, ist Geschichte. Heute ist die Wissenschaft so glaubwürdig oder unglaubwürdig wie die Politik, die sich in ihren Entscheidungen stets auf die fast hoheitlich anmutende Wahrheit der Wissenschaft zu stützen pflegt. Der Risikosoziologe Charles Perrow spricht von einer neuen Klasse von »Schamanen, die wir Risiko-Forscher nennen. Und es könnte sein, dass es, wie bei ihren der Magie huldigenden Vorgängern oder den Ärzten des Mittelalters, gefährlicher sein könnte, auf ihren Rat zu hören, als das Leiden in Kauf zu nehmen.« Der Philosoph Martin Heidegger nennt dieses Denken »rechnend«, weil es nur das »Seiende« betrachte und rechnend dessen Verwendbarkeit für sich erfasse. Dieses Denken könne sich nicht überwinden, indem es über seine eigenen Motive Rechenschaft ablege. Damit verzehre es sich selbst. Heidegger stellt dem rechnenden das »besinnliche« Denken gegenüber, das sich auf das ursprüngliche Geschehen richte und von uns verlange, sich nicht auf eine einzige Idee auszurichten oder eine Einbahnstraße des Denkens zu beschreiten, sondern die Bereitschaft, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die auf den ersten Blick überhaupt nicht zusammenpassen mögen.33 Er meinte damit auch die Sprache des Herzens, wie sie der Physiker Einstein im Angesicht der Atombombe postuliert hatte.
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cornelia hesse-honegger bezeichnet sich als
Wissenskünstlerin. Ihre Aquarelle von deformierten Insekten aus verstrahlten Gebieten weltweit sind in zahlreichen Ausstellungen, Büchern und Medienbeiträgen zu sehen. Im Oktober 2015 erhielt sie den Nuclear-Free Future Award 2015. www.wissenskunst.ch
»Ich habe 25 Jahre lang als wissenschaftliche Zeichnerin Publikationen für das Zoologische Institut der Universität Zürich illustriert. In diesem Zusammenhang hatte ich bereits 1967 den Auftrag, mutierte Fliegen zu zeichnen. Dies war der Anfang meiner Arbeit, bei der es um die Frage der vom Menschen gemachten Veränderungen in der Natur ging. Neben der Arbeit für das Institut wollte ich immer eigene Projekte verwirklichen. So entdeckte ich 1969 die Wanze (Heteroptera) als mein Malobjekt. Die Tiere faszinierten mich wegen ihrer Schönheit, ihren abstrakten Mustern und intensiven Farben. Aus der Auseinandersetzung mit ihnen eröffneten sich schließlich auch ökologische Fragestellungen. Nach dem Super-GAU 1986 im Atomkraftwerk Tschernobyl wollte ich herausfinden, ob die ionisierende Strahlung bei den Wanzen und anderen Insekten sichtbare Veränderungen verursacht hat. Denn ohne eigene Forschungsarbeiten erklärten Experten, dass bei einer so schwachen radioaktiven Strahlung Deformationen und Mutationen unmöglich seien. Ich machte mich auf den Weg nach Schweden, wo die am stärksten verstrahlten Gebiete Westeuropas liegen. Dort stieß ich auf sehr viele körperlich deformierte Wanzen. Es war das erste Mal, dass ich in der Natur missgebildete Wanzen fand. Dieses Erlebnis machte mir bewusst, dass die Biologen eine wichtige Frage nicht stellten: Was passiert mit der Natur durch das menschliche Handeln? Zum
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Beispiel vertreten Experten international die Meinung, dass niedere ionisierende Strahlendosen harmlos sind (Petkau-Effekt). Dies wollte ich auch in der Schweiz überprüfen, und so umwanderte ich die Aargauer Atomkraftwerke und das Paul Scherrer Institut. Dabei entdeckte ich eine große Anzahl von schrecklich deformierten Insekten. Diese Arbeit publizierte ich in »Das Magazin« des Tages-Anzeigers (Nr. 15, 1989). Daraufhin wurden während drei Monaten meine Erkenntnisse in den Medien heftig diskutiert. Die Experten behaupteten unisono, dass die Deformationen mit der Strahlung nichts zu tun hätten. Dies hat sich erst nach Fukushima geändert, als japanische Forscher, inspiriert durch meine Forschungsarbeit, gesunde Schmetterlinge mit verstrahltem Futter fütterten und sich bereits in der nächsten Generation Missbildungen zeigten. Viele fragen mich, wie ich beim Zeichnen vorgehe. Ich fange die Wanzen mit einem Trinkbecher aus Plastik. Zu Hause betäube ich sie mit einer Essig-Äther-Lösung. Dann schlafen sie für drei bis vier Stunden, und ich kann sie in Ruhe unter der Binokularlupe mit bis zu 80-facher Vergrößerung betrachten. Ich messe die Tiere exakt aus und protokolliere sie, indem ich sowohl die zoologischen Merkmale wie auch Anomalien beschreibe. Dann zeichne ich mit Bleistift das Insekt gemäß meinen Vermessungen, und in einem letzten Schritt male ich es, nachdem ich die Bleistiftzeichnung auf das Aquarellpapier gepaust habe, mit feinem Pinsel. Inzwischen besitze ich eine Sammlung von ca. 17 000 Wanzen, die ich rund um den Nuklearkomplex Sellafield, um die Wiederaufbereitungsanlage La Hague, Tschernobyl sowie um Atombombentestgebiete und Atomkraftwerke in den USA und Europa gesammelt habe. Der gesamte Arbeitsprozess bis zum fertigen Aquarell ist für mich eine künstlerische Auseinandersetzung. Der Vorteil der Künstlerin ist, dass sie sich nicht an Lehrauffassungen, Institutionen etc. halten muss und Fragen nachgehen kann, die bisher noch nicht gestellt worden sind. Diese Freiheiten hatte ich auch deshalb, weil ich meine Projekte immer selbst finanziert habe.«
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charles b. Perrow ist Organisationstheoretiker und Soziologe.
Mit seinem 1985 kurz vor der Katastrophe in Tschernobyl erschienenen Buch »Normal Accidents. Living with High-Risk-Technologies« (1987 dt. »Normale Katastrophen. Die unvermeidlichen Risiken der Großtechnik«) warnt Perrow vor der Unvermeidbarkeit von katastrophenartigen Unfällen in eng gekoppelten und komplexen Systemen. Erklären ließen sich diese Unfälle einzig durch die Wechselwirkung einer ganzen Reihe von Fehlentscheiden. Diese Fehler könnten aus unterschiedlichsten Gründen und vor allem nicht vorhersehbar auftreten.
»Manche Experten behaupten, die Wirkung niedriger Strahlendosen sei zu gering, um überhaupt messbar zu sein. Da widerspreche ich energisch. Natürlich ist es extrem schwierig abzuschätzen, wie viele Menschen weltweit an den Folgen von Tschernobyl oder Fukushima sterben werden. Denn es gibt auch viele andere Ursachen, einen früheren Tod zu sterben. Und es ist angesichts der niedrigen Fallzahlen auch sehr schwer, den Nachweis zu erbringen, ob niedrige Strahlendosen für einen signifikanten Anteil der vorgeburtlichen Aborte verantwortlich sind. Doch niemand kann trotz dieser methodischen Schwierigkeiten ernsthaft bezweifeln, dass die ganze Welt vom radioaktiven Niederschlag betroffen ist. Das lässt sich mit solchen Argumenten nicht einfach wegdiskutieren. Aber die Nuklearindustrie und die IAEO tun alles, um diese Risiken zu verharmlosen. In den Vereinigten Staaten sind Kohlekraftwerke für den Tod von Tausenden von Menschen verantwortlich – jedes Jahr. Die Zahl dieser Todesfälle ließe sich mit strengeren Grenzwerten und besseren Technologien zur Reduktion des Schadstoffausstoßes deutlich reduzieren. Die Toten der Kohlekraftwerke erscheinen jedoch vor dem Hintergrund der Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima schon fast vernachlässigbar. Eine Reduktion der Strahlung ist bei der Atomenergie nicht möglich. Das Risiko einer Kernschmelze lässt sich nicht
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