Durch dick und dünn

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Das neue Buch von Paula Lanfranconi und Ursula Markus zeigt eindrücklich, wie lebhaft und nach­haltig sich die Grosselternrolle heute wandelt. In 16 Bildund Textporträts stellen die Autorinnen unterschiedlichste Gross­eltern-Enkel-Beziehungen vor. Das Spektrum reicht von den traditionsbewussten Gross­ eltern und dem Grosi fürs Schräge über die sky­penden Grosseltern bis hin zum Punker-Opa und der türkischen Babaanne. Ein erfrischendes und mitunter überraschendes Buch über die Vielfalt der Rollen und Engagements heutiger Grosseltern.

Durch dick und dünn Grosseltern von heute und ihre Enkel

Welche Beziehungen haben heutige Grosseltern mit ihren Enkelkindern? Wie nehmen sie ihre Rolle wahr? Wie engagieren sie sich in der Familie und wofür ausserhalb der Familie?

Durch dick und dünn

Grosseltern von heute und ihre Enkel

Paula Lanfranconi ( Texte) und Ursula Markus ( Fotos) Herausgegeben von der GrossmütterRevolution ISBN 978-3-905748-10-9



Inhalt

6 Eine ganz besondere Beziehung 11 Die Traditionsfamilie 23 Die Buben-Grossmutter 35 Die Mutmacherin 47 Der ruhende Pol 57 Das Granny 69 Die Bauernfamilie 81 Die Skype-Grosseltern 91 Die Hausgemeinschaft 101 Der Punker-Opa 113 Die Wahlgrosseltern 123 Das schräge Grosi 133 Der Opipa 143 Das Viergenerationenhaus 153 Die Babaanne 163 Die frühen Grosseltern 175 Die Nonni 185 «Wir Alten müssen mehr von den Jungen lernen» Edith Buxtorf, Heinz Stefan Herzka, Marie-Louise Ries und Heidi Witzig über Grosselternerfahrungen und Zukunftsvisionen

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Eine ganz besondere Beziehung

Die Grosseltern. Wenn von ihnen die Rede ist, geht

nicht mehr aufs häusliche Glück beschränken,

ein Leuchten über die Gesichter, meistens jeden-

sondern Anteil nehmen an der Gesellschaft und ihr

falls. Erinnerungen tauchen auf – Gerüche, ein

Erfahrungswissen einbringen – auch für eine ge-

Lieblingsgericht, prägende Erlebnisse, kleine Frei-

rechtere Welt, in der ihre Enkelkinder anständig

heiten, die es zu Hause nicht gab.

aufwachsen können. Das neue Projekt sollte die So-

Grosseltern verkörpern eine der wenigen posi-

lidarität zwischen den Generationen fördern, in-

tiv besetzten und zukunftshaltigen Altersrollen.

dem es, erstens, aktiven Grossmüttern ein Gesicht

Eine Rolle, die sich jetzt, mit der Generation der

gibt und, zweitens, dieser neuen Generation gut

B ­ abyboomer, stark verändert. Heutige Grosseltern,

ausgebildeter Frauen eine Plattform bietet, auf der

besonders die Grossmütter, wirken jünger, dyna-

sie sich austauschen und gemeinsam aktiv werden

mischer, weltläufiger. Ein lohnender Stoff für ein

können.

Buch, fanden meine Kollegin Ursula Markus und ich.

Zu den Ersten, die diese Bühne bespielten, gehörten die Historikerin Heidi Witzig und die frü-

Wir machten uns an die Arbeit und waren faszi-

here grüne Zürcher Nationalrätin Monika Sto-

niert von der Vielfalt, die uns da entgegenkam –

cker, aber auch bürgerliche Frauen wie etwa die

vom selbstverständlichen Oma-Glück bis zur nicht

liberale Basler Politikerin Edith Buxtorf. Gross-

biologischen Grossmutter in einer Hausgemein-

mütterRevolution nannten sie das Projekt, ein be-

schaft, die ihre Rolle immer wieder neu definieren

wusst provokanter Name, oszillierend zwischen

muss, von den bildungsbürgerlichen Grosseltern

Revolution und Evolution.

und dem Grosi fürs Schräge über die skypenden

Im März 2010 lud die GrossmütterRevolution zur

Grosseltern bis zum Punker-Opa und der türki-

ersten «Zukunftskonferenz» ins verschneite Kien-

schen Babaanne. Einige wenige Grosseltern sehen

tal. 60 Frauen kamen. Wenige trugen Deux­pièces,

ihre Enkel fast täglich, die meisten betreuen sie

viele hennarote Haare. Mit ihrer Mimik und ihrem

einmal pro Woche. Eines aber ist allen gemeinsam:

Kleidungsstil brachten die Frauen auch ihre Bio-

Sie schenken der nachkommenden Generation Zeit

grafie mit: Sie sind nicht bloss Gross­mütter, son-

und Zuwendung. Bedingungslos.

dern auch pensionierte Projektleiterinnen, Psy­

Das Thema lag in der Luft: Schon bald begeg­

chologinnen, IT-Spezialistinnen, Coaches. «Diese

neten wir dem Projekt «GrossmütterRevolution»

Frauen», sagt Projektleiterin Anette Stade, «zeig-

des Migros-Kulturprozents. Heinz Altorfer, Leiter

ten grosse Lust, einander unvoreingenommen zu-

­Soziales beim Migros-Genossenschafts-Bund und

zuhören, und sie heizten mit ihrer Energie den

selber Enkel einer starken Grossmutter, hatte beob-

Raum derart auf, dass wir immer wieder Schnee-

achtet, dass sich die Grossmütter von heute längst

luft hereinlassen mussten.»

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Im Lauf der Diskussionen zeigte sich immer

chen könnte. Der GrossmütterRevolution wünscht

klarer: Es braucht neue Rollenbilder für diese ak-

sie, dass sie sich zu einer landesweiten Bewegung

tive Generation älterer Frauen, gerade auch für

entwickle, die älteren Frauen Lust macht, das Le-

jene, die nicht biologische Grossmütter sind oder

ben nochmals neu zu entdecken.

sogar nicht einmal Mütter. Arbeitsgruppen bilde-

Einige Frauen der GrossmütterRevolution sind

ten sich. Eine davon widmet sich der historischen

in diesem Buch porträtiert. Es sind keine Jöö-

Frauenforschung. Statt sich, wie bisher, auf ab­

Omas. Etliche hatten ihren Töchtern gesagt: Mit

strakt-wissenschaftlichem Niveau beforschen zu

mir könnt ihr dann nicht einfach so rechnen! Doch

lassen, wollen die Frauen der GrossmütterRevolu-

als die Enkel kamen, eroberten sie das Grossmut-

tion ihre Erfahrungen und Reflexionen selber an

terherz im Sturm.

die Öffentlichkeit tragen.

Gerne hätten wir ins Buch auch schwierige

Eine andere Gruppe ist daran, eine Frauen-­ Grosseltern-Enkel-Beziehungen aufgenommen, die Alterskultur zu entwickeln, neue Aufgaben und

wir angetroffen haben – traurige, resignierte oder

neue Lernfelder zu finden für ihr Leben, das, mit et-

auch zornige Grosseltern, denen der Kontakt zur

was Glück, viel länger dauert als jenes ihrer Gross­

nachkommenden Generation nach einer Schei-

mütter. Sie wollen sich darüber klar werden, was

dung oder durch andere Konflikte verwehrt bleibt.

­ihnen wirklich wichtig ist und wo sie los­lassen

Wir wollten ihre Situation jedoch nicht zusätzlich

möchten. Diese Suche gestaltet sich durchaus lust-

erschweren und verzichteten auf ein Porträt.

voll. Und mit Humor, wie die inzwischen e ­ ntstan-

Wichtig war uns aber, auch Grossväter zu por­

dene Grossmütter-Rockband «Mammutz» zeigt.

trätieren. Die Suche nach Männern, die sich a ­ ktiv

Statt wie bei Polo Hofer auf «Alperose» reimt sich

am Alltag ihrer Enkel beteiligen, mit ihnen buch-

eines ihrer frechen Lieder auf «Osteoporose».

stäblich durch dick und dünn gehen, verlief aller-

Inzwischen trafen sich die revolutionären Gross-

dings etwas harzig. «Meine Enkel? Da müssen Sie

mütter zu Zukunfts- und Ergebniskonferenzen, sie

meine Frau fragen», bekamen wir öfter zu hören.

verabschiedeten Manifeste und entwarfen Visio-

Trotzdem sind wir fündig geworden. Doch vielen

nen. Projektleiterin Anette Stade hat sich an­

Männern steht die Entdeckung ihrer Grossvater-

stecken lassen von der Gelassenheit dieser Frauen,

rolle erst noch bevor. Sie könnte so spannend wer-

die ihre Mütter sein könnten und mit denen sie

den wie die Erforschung eines neuen Kontinents.

­teilweise einen freundschaftlichen Umgang pflegt. In solchen nicht biologischen Mütter-Töchter-Beziehungen, findet Stade, liege ein gesellschaftli-

Paula Lanfranconi, Journalistin

cher Reichtum, aus dem man noch viel mehr ma-

Ursula Markus, Fotografin 7

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Die Traditionsfamilie Durch_dick_und_d端nn_bs_def.indd 8

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Edith und Christoph Buxtorf-Hosch, 68 und 73, laden ihre sechs Enkel jede Woche zum Mittagstisch. Edith Buxtorf versteht sich als Brückenbauerin zwischen den Generationen und zu weniger privilegierten Menschen. «En Guete zämme!» Grossmama Edith, genannt Mamama, schaut einladend in die Runde. Der grosse, ovale Tisch ist weiss gedeckt. Fünf der sechs Enkel und ihre Mütter sind bereits da. Céline, 9, und Nicholas, 6, sitzen neben Mutter Sabine. Gwendolyn, 6, hat ihren Platz neben Mama Rosine. Diese hat Nesthäkchen Lilly, 2, auf dem Schoss. Ihnen gegenüber sitzen Emanuel, 12, und seine Mutter Catherine. Salome, mit 15 die älteste Enkelin, wird etwas später kommen. Mamama hat Nudelauflauf gemacht, dazu Salat. Den Tee trinken die Kinder aus Silberbechern. Grosspapa Christoph, Papapa genannt, beugt sich hinüber zur jüngsten Enkelin. «Lilly, was hättest du denn gerne?», wird er die Kleine immer wieder fragen. Bereits ist ein angeregtes Tischgespräch im Gang. Keines der Kinder stört oder mäkelt. Heute ist der erste Mittagstisch nach den Sommerferien, es gibt viel zu erzählen. Gwendolyn und Nicholas haben ihren allerersten Schultag hinter sich. «Wie habt ihr alle angefangen?», fragt Mamama. «Von der oberen Klasse», berichtet Céline, «haben wir alle eine Sonnenblume geschenkt bekommen.» Und die ­Fagottstunde sei überhaupt nicht anstrengend gewesen. Nicholas spricht wenig, er ist ein eher ruhiger Junge. «Und du, Nicholas», fragt Mamama nach, «wie war das Turnen?» Die Schule ist ein ergiebiges Thema, nicht nur für die Enkel. Sabine Buxtorf und ihr Mann Martin sind Lehrer, und auch bei den anderen beiden Töchtern ­Rosine und Catherine – Biologin die eine, Immobilientreuhänderin die andere – werden Schulerinnerungen wach. Irgendwann kommt die Rede aufs Sackgeld. Zwei Franken pro Woche, sagt Sabine, habe sie damals in der dritten Klasse bekommen. Ihrer Tochter Céline gesteht sie drei Franken zu. Es klingelt. Salome ist da, eine bildhübsche junge Frau, «voll im Saft», wie ihre Urgrossmutter sagen würde. Die Begrüssung durch Mamama und Papapa fällt ungekünstelt herzlich aus und setzt sich dann rund um den Tisch fort. Nun geht das Gespräch noch lebhafter hin und her. Salome erzählt von ihrem Pfadi­ lager in Schottland. Das Essen – unmöglich! «Kartoffeln und Pasta liessen sie im Wasser, bis sie total weich waren.» Wie ihr denn erst der Haggis geschmeckt habe, ein Gericht aus Schafsmagen und Innereien, erkundigt sich Papapa. Doch, der sei erstaunlich geniessbar gewesen, antwortet Salome. 11

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Sie finde den Mittagstisch lustig, wird die Gymnasiastin nach dem Essen erzählen. Auch jetzt noch, mit 15. Sausen lässt sie ihn nur, wenn Sporttag ist oder die Grosseltern verreist sind. «Man trifft sich ja sonst nicht regelmässig.» Lustig hat sie es auch mit ihrer Tante Sabine. Sie unterrichtet Spanisch, so kommt Salome ein bisschen zum Üben. «Und wenn ich mich wieder einmal über meinen Spanischlehrer aufrege», sagt sie schmunzelnd, «höre ich von ihr dann die andere Seite.» Salome geht ins gleiche traditionsreiche Gymnasium am Basler Münsterplatz wie schon ihr Vater. Ihr Grossvater war dort Rektor. Gelebte Tradition begegnet einem auf Schritt und Tritt im äusserlich bescheiden wirkenden Familienhaus der Buxtorfs. Es liegt in einem kinderfreundlichen Grossbasler Quartier. Die Räume sind gemütlich eingerichtet, hier wird gelebt. Es gibt viele Bücher. Am Wohnzimmerfenster hängt die Buxtorf’sche Wappenscheibe, ein springender Bock. Zinnbecher stehen im Regal und eine antike Basler Trommel. Die Mokkatassen tragen das Basler Stadtwappen. Die Buxtorfs waren im 16. Jahrhundert aus Westfalen ans Rheinknie gekommen. Vier Generationen lang lehrten sie Hebraistik an der Basler Universität. Edith Buxtorf, vital und mit sprühenden blauen Augen, erzählt das alles eher beiläufig. Sie selber ist keine Studierte. Sie sei ausgeschert und habe, aus Trotz, eine Lehre als Krankenschwester gemacht, sagt sie und schmunzelt. Als Krankenschwester gearbeitet habe sie allerdings nie. «Dafür konnte ich mich zu schlecht unterordnen.» Früh lernt sie ihren künftigen Mann kennen. Christoph Buxtorf ist Chemiker. Sie heiraten, und Edith Buxtorf begleitet ihren Mann für ein Weiterbildungsjahr nach Kanada. Bald wird sie schwanger. In der Schweiz ist es damals, und ­besonders in ihren Kreisen, nicht üblich, dass junge Mütter erwerbstätig sind. Edith Buxtorf allerdings wird es bald langweilig. Sie engagiert sich in der Freiwilligenarbeit und zieht einen Kinderhütedienst auf. Ihr Mann macht derweil Karriere, die junge Familie zieht in die USA. Edith Buxtorf nutzt die Gelegenheit, um sich dort zur Lehrerin ausbilden zu lassen. Sie befasst sich mit lernbehinderten Kindern. Zurück in der Schweiz steigt sie in die Politik ein, wird in Basel liberal-­ demokratische Bürgerrätin, später Grossrätin. Ihr Ressort ist das Sozial- und ­G esundheitswesen. «Man kann doch», sagt sie mit blitzenden Augen, «nicht alle sozialen Belange einfach den Linken überlassen!» Jetzt, als ältere Frau, sieht sich Edith Buxtorf als Brückenbauerin zwischen Jungen und Älteren, als Mutmacherin auch. «Ich möchte», sagt sie, «die nachfolgende Generation ermuntern, ab und zu aus dem Mainstream auszusteigen und neue Ideen zu lancieren, auch wenn sie vermeintlich unrealisierbar sind.» Sie denke dabei an Tagesschulen und Mittagstische auf privater Ebene, wie sie ihre Töchter, trotz grosser beruflicher Belastung, auf die Beine gestellt hätten. Und sie möchte, dass die Idee der Freiwilligenarbeit bereits Jugendlichen in den obersten 15

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Schulklassen vermittelt wird – und zwar nicht bloss als graue Theorie: «Solche Enga­gements könnten sich bei Stellenbewerbungen positiv auswirken.» Und später, im Alter, könnte man die geleistete Sozialzeit dann als Dienstleistung wieder selber beziehen. Edith Buxtorf ist eine Macherin. Sie hat noch immer die Stimme ihrer Grossmutter im Ohr: Du bist, hatte sie gesagt, in ein goldenes Kinderbett geboren ­worden. Gib etwas davon weiter! Edith Buxtorfs grösstes Kapital ist ihre gesellschaftliche Vernetzung. Sie stellt ihre Erfahrungen und Verbindungen zum Teil ehrenamtlich zur Verfügung. Und sie scheut nicht davor zurück, selber Fund­ raising zu betreiben. Auch oder gerade für eher linke Anliegen wie die Basler ­Gassenküche, für die sie eine halbe Million zusammenbrachte und sie so vor dem Aus bewahrte. Mit warmer Stimme erzählt sie auch von neu geschaffenem Wohnraum für Menschen am Rande der Gesellschaft. «Ich bin», bringt sie ihre Position auf den Punkt, «ein Glied in einer Kette und versuche, die Glieder an meinem Ort zusammenzuhalten.» Für die nächste Generation, befürchtet sie, könnte diese Integrationsfunktion schwieriger werden: «Wird sie es sich, unter dem Druck schwindender Ressourcen, noch leisten können, ihr Wissen und ihre Begabungen ehrenamtlich zur Verfügung zu stellen?» Umso wichtiger findet es Edith Buxtorf, dass die ältere Generation ihre Freiheiten nutzt, um gemeinsam neue Ideen anzupacken und auch unbequeme Themen aufs Tapet zu bringen. Nicht zuletzt deshalb engagiert sich Edith Buxtorf im Projekt GrossmütterRevolution. Und ihr ganz privates Grossmutterprojekt, der Mittagstisch? «Finalement», sagt sie, «mache ich ihn, um unsere Traditionen weiterzugeben.» Was die Jungen einmal daraus machen, sei dann ihre Sache. Wichtig ist Edith Buxtorf, dass sich ihre Enkelinnen und Enkel richtig kennenlernen. Sie sorgt dafür, dass am Tisch auch die Kleineren zu Wort kommen und früh lernen, sich gegen Ältere durchzusetzen. Schön fände sie es, wenn aus dem Mittagstisch ein verlässliches Netzwerk entstehen könnte. Und es scheint zu funktionieren. Eine Enkelin, erzählt sie mit Stolz, habe ihr gesagt: «Weisst du, mit einer Freundin kann ich mich zerstreiten, aber nicht mit einer Cousine – die ist auch am nächsten Mittwoch wieder da!» Edith Buxtorf hat sich schon früh um ihre Enkel gekümmert. Sie unternahm Entdeckungsfahrten mit ihnen. Sie liessen sich vom Fährimaa über den nahen Rhein bringen, fuhren mit dem 3er-Trämli quer durch alle Quartiere. Eine Reise auch durch die sozialen Schichten der Stadt. Mittlerweise ist die Runde fertig mit dem Essen. Leseratte Céline zieht sich auf ein Sofa zurück und nimmt die unterbrochene Lektüre wieder auf: Astrid Lind­g ren, eine Ausgabe, die vom vielen Lesen schon fast auseinanderfällt. Gwendolyn setzt sich in die Nähe ihrer Lieblingscousine und blättert im «Buchstabenschloss», einem Erstlesebuch. Emanuel hat auf einem Sessel Platz genommen. Und flugs ist auch Lilly zur Stelle. Das Nesthäkchen klettert vergnügt auf dem grossen 16

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Cousin herum. Sie habe, stellt Emanuel fest, so niedliche kleine Händchen. Der Zwölfjährige ist der Liebling seiner Cousinen, alle finden ihn toll. Ausser seiner Schwester natürlich. Die alte Sumiswalder Pendule schlägt zwei Uhr – höchste Zeit zum Aufbrechen. Ein allgemeines Herzen und Küssen setzt ein. Papapa bringt die Enkel nach Hause oder in die Tennisstunde oder in die Klavierstunde. Bald sind nur noch Céline und Gwendolyn da. Und Lilly. Sie ist ein bisschen traurig und drückt ihre «Horsies» an sich, zwei Stoffpferdchen, ein junges und ein abgeliebtes altes. Doch bald schon wird Papapa zurück sein. Ihr Mann, sagt Edith Buxtorf jetzt draussen beim Kaffee, sei ein toller Grossvater. Früher sei er sehr oft auf Reisen gewesen, die Erziehung der Töchter habe zum grossen Teil an ihr gehangen. Umso mehr geniesst der pensionierte Chemiemanager nun das Aufwachsen der Enkel. Er chauffiert sie durch die Stadt. Und tut überhaupt so ziemlich alles für sie. Der Mittagstisch? Der, sagt Edith Buxtorf, gehe weiter, solange er allen Freude mache. Die grösseren Enkel werden allerdings immer weniger Zeit haben. Salome hat einen Freund, und bald schon geht sie auf ihren ersten Ball. Mamama ist auch in Herzensangelegenheiten ihre Vertraute. Aber das ist nun wirklich TOPSECRET!

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Das schr채ge Grosi Durch_dick_und_d체nn_bs_def.indd 120

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Ruth Fries, 61, heckt gern kleine Streiche aus. Ihre Enkel Nicolas und Cedric haben das Kind in ihr wiedererweckt. Was sie nicht daran hindert, mit Herzblut für mehr Anerkennung des Gross­­elternEngagements zu kämpfen. Ein Schmunzeln huscht über ihr Gesicht, wenn sie an die Zeit vor Nicolas’ Geburt zurückdenkt. Ein grosses Geschrei um den Enkel, das stand fest, würde sie nicht machen. Sie gehörte doch nicht zu jenen nervigen Grossmüttern, die jeden Pups der lieben Kleinen toll finden und ihr Leben fortan dem Nachwuchs unterordnen. Dafür war sie zu sehr Berufsfrau, hatte auch ihren Teil Familienarbeit geleistet. Jetzt sollten die Jungen schauen. Und überhaupt: Was wäre, wenn sie die Enkel gar nicht lieb haben könnte? Dann war Nicolas gekommen. Und alles war anders. Ganz anders. Direkt ins Herz habe sie der winzige Kerl getroffen. «Es war einfach Liebe.» Damals war Ruth Fries noch nicht die Frau mit der kecken blassrosa Mèche und der lässigen Turnhose. Damals vor vier Jahren, als Nicolas zur Welt kam, musste sie noch eine Brille tragen, mit Gläsern dick wie Flaschenböden. Seit ihrem 20. Altersjahr litt sie an einer Hornhauttrübung. «Mit der Brille», sagt sie und lacht auf ihre schelmische Art, «sah ich aus wie die Grossmutter bei den sieben Geisslein.» Wenn sie ausging, brauchte sie den Blindenstock. Der kleine Nicolas realisierte früh, dass das Grosi es ernst meinte, wenn sie auf dem Spielplatz sagte: Wenn du mehr als einen Meter von mir weg bist, sehe ich dich nicht mehr. Dann habe ich Angst. Du musst mir immer sagen: Da bin ich! Bald schon fing der Knirps an, sie zu beschützen: «Grosi, gib mir die Hand, ein Auto kommt!» Überhaupt hätten sie beide «jede Menge Jöö-Effekte ausgelöst». Der Kleine, der sich an ihren Blindenstock klammerte. Oder wenn sie mit dem Stock zu messen versuchten, wie tief jetzt dieser Brunnen war. Oder wie viel es geschneit hatte in der Nacht. Lange hatte Ruth Fries auf eine Hornhauttransplantation gewartet. Es gab Phasen, in denen sie sich praktisch blind durchs Leben tasten musste. «Die Krise», steht auf einem Zettel in ihrem Arbeitszimmer, «ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.» Vor zwei Jahren, nach der Transplantation, gewann sie auf dem operierten Auge einen Drittel ihrer Sehkraft zurück. Nun benötigte sie zum Vorlesen keine Lupe mehr. «Gäll Grosi», freute sich Nicolas, «jetzt bist du nicht mehr alt!» Sie ging nun auch ins Fitnesstraining, mit Seniorenrabatt, ohne Schickimicki und Lounge. Sie wollte wieder beweglicher werden. Inzwischen war ihr zwei123

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ter Enkel, Cedric, zur Welt gekommen. Der Zweijährige kletterte immer auf den ­hohen Turm auf dem Spielplatz, da musste sie ihm doch folgen können. Ruth Fries ist eine körperliche Grossmutter: «Kuschele, schmuse, chräbele.» Sie hat tausend Ideen und unendlich viel Geduld. Geübt habe sie dieses Wartenkönnen in ihrem Beruf als soziokulturelle Animatorin von taubblinden Menschen. «Deaf blind time», nennt sie das. Wenn sie jemandem etwas erkläre, der nur einen Seh- oder Hörrest hat, müsse sie immer wieder warten: Hat er es verstanden? Und: «Die Latte nicht zu hoch hängen.» Viel Herzblut hatte sie in ihren Beruf gesteckt und verrückte Sachen gemacht. Zum Beispiel Ferienkurse, in denen Taubblinde, unterstützt von Fahr­ lehrern, auf einem frei geräumten Flugfeld Auto fahren konnten. Und sogar Surfkurse für taubblinde Menschen organisierte sie. Auch mit den Enkeln tut sie Dinge, die «man» nicht macht. Heckt Streiche aus und kleine Scherze, wird selber wieder zum Kind. «Ich bin einfach so», schmunzelt sie und erzählt von der Sache mit dem Styropor. Zuerst hatten sie die Teile aufeinandergeschichtet. Dann bröckelte etwas davon ab. Es sah aus wie Schnee. «Wir fanden, dann machen wir noch ein bisschen mehr Schnee.» Als sie aufräumen wollten, bekamen sie die Brösmeli nicht mehr zusammen. Und da sei sie auf die Idee mit dem Staubsauger gekommen, der natürlich sofort verstopft war. «Also, Mami!», habe ihre Tochter gesagt – leicht vorwurfsvoll, aber auch belustigt. «Wir tun es nicht mehr!», versprach das Grossmami. Wenn die Enkel zu ihr kommen, lässt sie deren Fantasie freien Lauf. Fixe Hütetermine gibt es nicht, das hatte sie sich schon vor Nicolas’ Geburt ausbedungen. Und hatte gleichzeitig begonnen, eine Schatzkiste für die Enkel zu äufnen, die jetzt in ihrer Garage steht. Haufenweise spannendes Material gebe es da drin, sagt sie mit glänzenden Augen. Ein Skelett, Verkleidungszeug, Fallschirmseide … Sie spielen Rollenspiele. Tierspital zum Beispiel, und da wird der OP-Tisch selbstverständlich mit sterilen Tüchern abgedeckt. An Kindergeburtstagen tritt der Chaschperli auf, aber nicht einfach so. Es gibt ein Drehbuch, und der Bach rauscht wie richtig. Oft gehen sie in den Wald, da braucht es eben gerade kein Programm. Auch nicht, wenn es einmal regnet und der Garten im Nu übersät ist von Häuschen­ schnecken. Sie sammeln die Tierchen auf, legen sie in ein grosses Glas, stecken die Köpfe ­zusammen und beobachten von unten, wie die Schnecken ihren Körper vorwärts­bewegen, die Fühler ausstrecken und sich gegenseitig zu beschnuppern beginnen. Mit ihrer anderen Grossmutter erleben die Buben den normalen Hausfrauen­ alltag. Sie helfen beim Rüeblirüsten und Treppenputzen, spritzen den Garten. Und das fänden sie genauso lässig. In Erziehungsdinge, sagt Ruth Fries, mischten sich beide Grossmütter nicht ein. Nur einmal haben sie ihre geballte Grossmutterkraft in die Waagschale geworfen. «Findest du auch», hätten sie einander gefragt, «dass Nicolas zu oft pinkeln gehen muss?» Dann seien sie zu Nicolas’ Mutter, 124

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ihrer Tochter, gegangen: So, jetzt gehst du bitte Strumpfhosen kaufen! Wir Grossmütter hüten Nicolas nicht mehr, wenn er keine Strumpfhosen anhat. Aber das sei das einzige Mal gewesen, dass sie sich grossmuttermässig verbündet hätten. Politisch verbündet und engagiert hatte sich Ruth Fries schon früh, als Präsidentin der lokalen SP zum Beispiel. «Zu allem und jedem», sagt sie in ihrer selbstironischen Art, «habe ich meinen Senf dazugegeben.» Dann, mit 59, war sie plötzlich gezwungen, sich neu zu orientieren. Die Institutionen, für die sie arbeitete, mussten sparen. Und kurz darauf verschlimmerte sich Ruth Fries’ Sehbehinderung so sehr, dass sie ihr politisches Amt abgeben und sich für ein Jahr krankschreiben lassen musste. Nach der Hornhauttransplantation kam die Energie ­zurück, doch inzwischen war ihr Arbeitspensum aus wirtschaftlichen und or­ ganisatorischen Gründen stark gekürzt worden. Eine schwierige Situation für eine Powerfrau. «Ich fragte mich: Und jetzt? Spiele ich jetzt nicht mehr in dieser Liga mit?» 126

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Die Frage nach ihrer neuen Rolle als ältere Frau stellten sich damals auch andere: jene Pionierinnen, die schliesslich die GrossmütterRevolution begrün­ deten. Ruth Fries hatte von Anfang an ein klares Anliegen in das Projekt eingebracht: die Finanzen. Und die Frage: Wie kann frau sich das Grossmuttersein ­fi nanziell leisten – zum Beispiel als Wiedereinsteigerin mit grossen Beitrags­ lücken in der Pensionskasse? Es müsse doch möglich werden, dass berufstätige Grosseltern, die ihre Enkel regelmässig betreuen, Gutschriften erhalten und ihre Spesen von den Steuern absetzen können. «Jeder Manager», argumentiert sie, «kann schliesslich seinen Mercedes abziehen.» Doch das Thema Finanzen schien die anderen Grossmütter nicht zu inte­ ressieren. Dabei kennt Ruth Fries Frauen, die sich das Fahrgeld für ihre Enkel­ besuche vom Mund absparen müssen. «Geld», stellt sie fest, «ist in diesem Zu­ sammenhang ein totales Tabuthema: Mit der Tochter redet man nicht über Finanzielles, man hütet die Enkel, weil man sie liebt, aber sicher nicht für Geld.» 127

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Ihr sei bewusst, dass es um eine Gratwanderung gehe zwischen den Haltungen: Was, jetzt muss man sogar die Grossmutter bezahlen? Und: Aber hallo, wir Grosseltern leisten schliesslich etwas! Inzwischen hat dieses Thema den Weg in die GrossmütterRevolution gefunden, und Ruth Fries hat bereits ein neues Anliegen, das sie einbringen will: Ein gesetzlich verankertes Besuchsrecht für Grosseltern. Sie empfindet es als Skandal, dass Grosseltern, die ihre Enkel jahrelang betreut haben, nach einer Scheidung oder in Konfliktsituationen im Extremfall einfach inexistent werden. Das will sie unbedingt ändern. «Durchboxen», sagt Ruth Fries mit einer schönen ­Portion Kampfeslust in der Stimme. Jetzt, mit 61, engagiert sie sich auch in der Kirchenpflege, geniesst die kurzen Entscheidungswege. Und noch etwas Unerwartetes erlebt sie. Sie, die vor fünf Jahren noch schlaflose Nächte hatte – aus lauter Angst, Grosskinder könnten sie von ihrer geliebten Arbeit abhalten –, realisiert nun, dass ihr die Enkel den Abschied vom Beruf ungemein erleichtern. «Sie haben mir das Staunen wieder beigebracht, ich spüre, wie das Leben nochmals neu beginnt.» Und wie bedingungslos man geliebt werde. Schon freut sie sich auf den Tag, an dem Nicolas zum ersten Mal mit dem Schulthek vor der Türe steht. Oder sie stellt sich vor, wie sie ihn trösten wird, wenn er seinen ersten Liebeskummer hat. Zuerst kommt aber jetzt der Kindergarten. Jeden Mittwoch sollte sie nun zu Hause sein und Mittagessen kochen. Jeden Mittwoch! Das war ihr zu viel, sie ­redete mit ihrer Tochter darüber. Nun wird es jeden zweiten Mittwoch sein. Den anderen übernimmt der Gropi, ihr geschiedener Partner, der ganz in der Nähe wohnt. Wünsche? Ruth Fries strahlt, wird wieder ganz Komplizin. Dass Nicolas die Gebärdensprache noch besser lernt. Sie fände es heiss, wenn sie beide wie in einer Geheimsprache miteinander reden könnten: «Wasch bisch?» – «Es Schlitzohr!» Oder: «Ou, ist der aber langweilig!»

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