Der bewegte Körper

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Gesundheitsberufe n Körpertherapien

Gesundheitsberufe n Körpertherapien

Carmen Pittini Henriette Bezzola

Im Alltag bewegen wir uns weitgehend unbewusst. Erst wenn Schmerzen ­im Bewegungsapparat spürbar werden, setzen wir uns mit dem Körper aus­einander. Eine bewusste Körper- und Bewegungsschulung wie die Psychosomatische Funktionslehre (PSFL) nach Bet Hauschild-Sutter kann solche ­ Leiden mindestens um die Hälfte reduzieren. Im Schulen des bewussten Gang- und Bewegungsverhaltens setzen bald die selbsterziehenden Kräfte ein. Fortbewegung besteht aus Koordination und Gegenbewegung, Spannung, Kraft, aber auch Rhythmus, Dynamik und Ausdruck. Damit diese Faktoren ­ zu einem Zusammenspiel kommen, müssen unsere koordinativen Fähigkeiten reaktionsfähig sein. Dies ist nicht selbstverständlich, da die koordinativen Fähigkeiten wie ein Muskel mit gezielter Bewegungsarbeit trainiert werden müssen, um nicht zu verkümmern. Dazu gehört auch die Aktivität des Gehirns: Bewegungen bewusst wahrzunehmen erhöht unsere Kapazität und trainiert die Konzentration und somit das neuroplastische Denken. Dafür eignen sich am besten Rotations- und Torsionsbewegungen, da die Fortbewegung immer im Raum stattfindet. Die PSFL leitet aus der menschlichen Bewegungsentwicklung ein vielfältiges Bewegungs­system ab. Die Methode wird verbal angeleitet, um das indivi­ duelle Bewegungsverhalten bewusst zu machen. So entwickelt sich auch die eigene Vorstellungskraft in der Bewegung immer weiter, was zu einer ver­ tieften Wahrnehmung und mehr Selbstsicherheit führt. Das Resultat eines bewussten Bewegens und Spürens zeigt sich im Alltag: ­ ein anmutiger Gang, der die Gelenke und den Rücken schont.

Piattini/Bezzola Der bewegte Körper – Entfaltung und Entwicklung

Fortbewegung auf zwei Beinen ist spezifisch menschlich – aber wie funktioniert sie eigentlich?

Der bewegte Körper Entfaltung und Entwicklung Psychosomatische Funktions­lehre nach Bet Hauschild-Sutter

Verlag Hans Huber, Bern

www.verlag-hanshuber.com Verlagsgruppe Göttingen Bern Wien Oxford Prag Kopenhagen Stockholm Paris Amsterdam Toronto Cambridge, MA n

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ISBN 978-3-456-84919-5

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Inhalt

7 Geleitwort 9 Vorwort 14 Einführung in die psychosomatische Funktionslehre 14 Bet Hauschild-Sutter, Begründerin der Methode PSFL 2 1 Das Wesen der Methode – die Atmung in der PSFL 34 Hintergrund der Methode und Bodenarbeit 34 Die Bewegungsentwicklung des Menschen als Basis der Methode 37 Die Phasen der menschlichen Bewegungsentwicklung bis zum aufrechten Gang 4 5 Der aufrechte Gang: Voraussetzungen 48 Die Bodenarbeit als Grundlage 60 Das Gehen, der Raum und die Lagen im Raum 60 Stehen – Körperhaltung als Ausdruck innerer Haltung 63 Gehen – ein komplexer, anspruchsvoller Ablauf 66 Die Gegenbewegung – der korrekte Gang 72 Die Bedeutung des Raums 7 5 Die Bodenarbeit 76 Lagen an der Wand 80 Weitere Bodenlagen 86 Dialog mit sich selbst 90 Die Bewegungssprache der Methode 90 Die Bedeutung der verbalen Anleitung 9 5 Von Lösen bis Körperbildung: die Begriffe der PSFL

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120 Stundenaufbau und Bewegungsablauf 120 Voraussetzung für die Teilnahme 1 2 1 Die Haltung der Lehrerin 1 23 Der Aufbau der Bewegungsstunden 1 2 5 Bewegungssequenz der PSFL-Grundlagen 1 34 Der Kreis 1 42 Erweiterung der Bewegungssequenz 1 52 Übergänge und Ausgleichsbewegungen 160 Angebot der PSFL und Ausbildung 160 Die PSFL in Pädagogik und Prävention 1 63 Die PSFL in der Therapie 166 Geburtsvorbereitung, Schwangerschafts- und Rückbildungsgymnastik 168 Die Ausbildung zur PSFL-Bewegungspädagogin und -Tanztherapeutin 1 74 Integration in den Alltag 1 74 Originalbeitrag von Bet Hauschild-Sutter 1 78 Epilog 1 82 Anhang 1 82 Mein Weg zur PSFL: Carmen Pittini 184 Mein Weg zur PSFL: Henriette Bezzola 188 Danksagung 190 Glossar

193 Das menschliche Skelett 194 Register 199 Bibliografie 200 Bildnachweis

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Vorwort

Dieses Buch möchte Ihnen zeigen, wieso man sich nach einem klar geordneten, verständlichen und funktionalen Bewegungssystem bewegen und entsprechend trainieren sollte und wieso die Psycho­ somatische Funktionslehre – kurz ­PSFL – ein geeignetes Mittel dafür ist. Ohne Zusammenhang aneinandergereihte Übungen, die monoton und gedankenlos abgearbeitet werden, sind nicht sinnvoll für den Körper. Wenn der Körper zu seinem eigenen Ausdruck, zu seiner Sprache finden soll, muss er umfassend geschult werden. Erst durch den Fluss in der Bewegung kommt der Körper zu seiner vollen Entfaltung. Die ­PSFL wurde in den 1950er - Jahren von Bet Hauschild-Sutter entwickelt, doch die Methode ist nicht stehen geblieben. Vielmehr berücksichtigt sie die neusten Erkenntnisse aus Neurologie, Bewegungssteuerung und Psychologie. Vergleichen wir die ­PSFL-Bewegungsarbeit mit einem musikalischen Werk, so werden wie bei einem Musikstück Harmonien gebildet, von denen eine zur nächsten führt, was zuletzt ein logisches und verbundenes Ganzes ergibt. In der Bewegung gelten insofern die gleichen Prinzipien wie bei der Musik, als der Bewegungsaufbau eine klare Struktur haben muss, ansonsten entsteht »Bewegungskakofonie«. Die Psychosomatische Funktionslehre zeichnet sich dadurch aus, dass sich ein roter Faden durch ihren Aufbau zieht, und so auch durch jede einzelne Bewegungsstunde. Die Stunden bilden mit den sorgfältig gestalteten Übergängen zwischen den einzelnen Bewegungsabläufen ein logisches Ganzes. Daraus ergeben sich verschiedene Vorteile: Erstens sind die Stunden im Fluss und damit kurzweilig. Zweitens werden die Bewegungsabläufe von Grund auf präzise aufgebaut, was Fehlbelas­ tungen und schließlich Verletzungen vorbeugt. Drittens kann das Geschehen – dank dem sinnvollen Aufbau – vom Verstand aufgefasst und verarbeitet werden. Und viertens wird der Organismus immer wieder in die Lösung, das heißt Entspannung, gebracht, damit die verschiedenen Bewegungen möglichst effizient in einem Bewegungsablauf integriert werden können. Dieses Vorgehen erfüllt die Teilnehmer mit einem harmonischen Körpergefühl. Sie verlassen die Stunde regeneriert. Bei der Psychosomatischen Funktionslehre zeigt die Bewegungspädagogin 1 die Bewegungen nicht vor, sondern die Teilnehmer wer-

1 Mit der weiblichen bzw. männlichen Form sind immer Personen beider Geschlechter gemeint.

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den mit präzisen verbalen Formulierungen angeleitet. Sie sollen eine persönliche Vorstellung ihrer Bewegung, ihres Körperschemas 2 entwickeln, ein differenziertes Körpergefühl, und nicht einfach kopieren. Dies geschieht, indem sie sich ganz auf sich selbst konzentrieren, auf die Eigenwahrnehmung. Mit einem solchen Ansatz kommt die Bewegung von innen und fließt nach außen. Sie ist von Kraft, Anmut, Harmonie und Präsenz getragen. Die Menschen strahlen in der Bewegung etwas Persönliches aus, das sie aus ihrem Inneren beziehen. Ein wichtiges Anliegen der ­PSFL ist es, dass die Menschen einen sorgfältigen Umgang mit sich selbst finden. Wir alle kennen die Signale, die der Körper aussendet, wie Verspannungen in Muskeln und sonstigem Gewebe, Rücken- und Kopfschmerzen und anderes mehr. In den Stunden sollen die Teilnehmer ihre Wahrnehmung schulen, die Bedürfnisse ihres Körpers spüren und diesen nachgehen können, jeder auf der Basis seiner persönlichen Voraussetzungen. Die ­PSFL arbeitet mit dem Prinzip, dass die Bewegungsarbeit aus einem gelösten Zustand ansetzen soll. Verspannungen sind oft nicht nur muskulärer Natur, sondern auch der Geist und die Seele sind davon betroffen. Aus dieser Erkenntnis heraus werden zuerst diese Spannungen aufgelöst, um einen Neubeginn in der Bewegung zu erwirken. Die Teilnehmer sollen neue Erfahrungen machen können, ohne (Leistungs-)Druck, gelassen und von innen heraus neu ansetzen und so die individuellen Ressourcen mobilisieren. Bet Hauschild hat bei der Entwicklung der ­PSFL dieses Konzept unter der Bezeichnung Psychosomatik (Psyche: Seele, Soma: Körper) in ihre Methode einfließen lassen (siehe nächstes Kapitel). Der Namensteil »Funktionslehre« vermittelt den anatomie- und funktionsbezogenen Schwerpunkt des Bewegungsunterrichts. Dieses Buch soll Sie neugierig machen auf Ihren eigenen Körper, seine Funktionen und seine Reaktionen. Es soll Sie dahin gehend unterstützen, dass Sie sich auf Ihren persönlichen Bewegungsweg machen und so ganz neue Seiten an und in sich kennenlernen können. Womöglich finden Sie in diesem Buch Antworten auf Fragen, die Sie sich noch gar nie gestellt haben. Und auf solche, die Sie vielleicht schon lange mit sich herumtragen. Wir wünschen Ihnen bewegende Erfahrungen!

2 Blau gedruckte Begriffe verweisen im ganzen Buch auf das Glossar ab Seite 190.

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Das Anliegen der Psychosomatischen Funktionslehre, kurz ­PSFL, ist die Entwicklung der persönlichen Bewegung. Die ­PSFL ist eine ganzheitliche Bewegungsmethode, die sich an der Bewegungsentwicklung des Menschen orientiert. Dazu dienen ihr die Vorgaben der Natur, die Bewegungen von Tieren und Kleinkindern. Es handelt sich um ein konzentratives Verfahren. Das bedeutet, der Lernende wird während der Bewegungsabläufe dazu angeregt, seine inneren ­Körpervorgänge – seien sie psychischer, physischer oder geistiger Natur – zu beobachten und zu spüren. Durch die Wiederholung der Bewegungen wird die Reflexion angeregt, die Selbstwahrnehmung geschult und die eigene Vorstellung bewusst gemacht, was schließlich die Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit unterstützt. Die Methode zielt darauf ab, gleichermaßen Beweglichkeit, Koordination und Kraft zu verbessern beziehungsweise zu optimieren. Die Schulung der natürlichen Atmung ist ein zentrales Thema, ebenso die Wahrnehmung und Stärkung der Körpermitte, die Förderung des Gleichgewichts, der Orientierung im Raum sowie auch ­Körperteilerfahrungen. Die Basis dieser Arbeit bilden die ­PSFL-Grundlagen. Bet Hauschild-­ Sutter ist die Gründerin der ­PSFL.

Einführung in die Psychosomatische Funktionslehre

Bet Hauschild-Sutter, Begründerin der Methode ­PSFL

Bet Sutter im Alter von 18 Jahren

Jugend und Ausbildung  Bet Sutter wurde am 10. September 1914 in St. Gallen geboren, also kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs, und verbrachte ihre ersten sieben Lebensjahre in Basel. Für Klein Bet, damals noch Einzelkind, waren es wohl die glücklichsten Jahre ihrer Kindheit. Sie wuchs in einem sehr musikalischen Ambiente auf. Ihre Mutter, eine ausgebildete Konzertpianistin und Organistin, erteilte ihr Klavierunterricht. Später kam Geigenunterricht dazu. Am Karfreitag 1921 starb ihr Vater völlig unerwartet. Für Bet und ihre Mutter, die inzwischen das zweite Kind erwartete, war das nicht nur eine menschliche Katastrophe, sondern auch eine existenzielle Bedrohung. Die Mutter zog mit Bet und ihrer inzwischen ge­ borenen kleinen Schwester Mirel zurück nach St. Gallen, wo sie den Lebensunterhalt mit Klavierunterricht zu Hause verdiente. Bet ent­ wickelte sich zu einem neugierigen und eigenwilligen Mädchen, das von klein auf wusste, was es wollte. Sie musste schon sehr jung selb-

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ständig werden, da die verwitwete Mutter wegen der sehr prekären finanziellen Situation wenig Zeit für das Kind hatte. Während die Mutter unterrichtete, musste Bet sich im Nebenzimmer aufhalten, wo sie nach den Melodien zu tanzen begann, um ihre Langeweile zu vertreiben. Dies war vielleicht die Geburtsstunde ihrer späteren tänzerischen Arbeit. Schon während der Primarschulzeit erhielt sie ersten Bewegungsunterricht bei Iris Strassmann (Schülerin von Rudolf von Laban). Dies jedoch nicht, weil sie gerne tanzte, sondern wegen ihres »krummen Rückens«. Im Alter von etwa 15 Jahren nahm Bet Gymnastikunterricht bei einer Absolventin der Mohr / Macciacchini-Schule in St. Gallen. Sie war noch keine 18 Jahre alt, als sie – was zu jener Zeit für eine Frau eher unüblich war – Anatomievorlesungen an der Universität Zürich besuchte, wozu sie eine Spezialerlaubnis benötigte, da sie noch minderjährig war. Zu jener Zeit entschloss sie sich, selbst die Mohr / Macciacchini-Schule in Zürich zu besuchen und eine Tanz- und Gymnastikausbildung zu absolvieren. Bewegung wurde Bets Lebensinhalt. Wohl tanzte sie selbst­ gern, und doch hatte sie es schon immer mehr interessiert, andere zum Tanzen zu bringen, eben »zu vermitteln«. Sie fing an, im Raum St. Gallen zu unterrichten, in verschiedenen kleinen Orten auf dem Land, aber auch in Zürich.

Anfänge als Choreografin  Bet arbeitete unter anderem mit einer kleinen Laientanzgruppe, mit der sie dann auch an den »Lichtwochen« in St. Gallen ihre ersten Choreografien zeigte. »Dazu habe ich im Stadtpark eine Freiluftbühne auf zwei Ebenen aufgebaut, zu StraußMusik choreografiert, die Kostüme selbst gemacht und auch mitgetanzt.« Die Ferienzeit der Sommermonate nutzte sie dazu, in großen Hotels die Gäste und vor allem auch deren Kinder zu unterrichten und kleine Aufführungen zu gestalten. In Arosa konnte sie für eine wichtige Hoteliertagung im Rahmen der Schlussfeierlichkeiten eine Choreografie über »Das Hotel« gestalten. Nach weiteren choreografischen Arbeiten und aus Kontakten mit Edgar Grieder (damaliger Chef des Modehauses Grieder in Zürich) ging 1939 das Modetheater an der Schweizerischen Landesausstellung hervor. Der Zweite Weltkrieg brach aus. Inzwischen war Bet mit Walter Hauschild verheiratet, und Solothurn wurde zu ihrem neuen Wohnsitz. Sie baute wiederum eine Schule auf, die von vielen jungen Mädchen besucht wurde. Aber auch zahlreiche Erwachsene zählten zu Bets Schülern. Während der Kriegsjahre führte sie jedes Jahr eigene Choreografien im Stadttheater Solothurn auf. Sie schrieb das Ballett »Die alte Truhe«, das vom Schweizer Komponisten Richard Flury vertont wurde. 1941 kam Sohn Stephan zur Welt. Im gleichen Jahr

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Bet Hauschild im Jahr 2000

wurde der SBTG (Schweizerischer Berufsverband für Tanz und Gymnastik) gegründet, zu dessen Gründungsmitgliedern Bet Hauschild zählte. Der Krieg veränderte auch das Leben von Bet Hauschild sehr. »Als mein Mann für drei Monate nach Amerika reiste, gaben wir unsere Wohnung in Solothurn auf, und ich ging mit meinem Buben nach Zürich zurück, wo ich am B ­ iäsch Institut für Angewandte Psychologie 3 meine Ausbildung begann. Anregung und neues Wissen nahm ich auf wie ein trockener Schwamm. In dieser Zeit unterrichtete ich weiterhin zwei Tage in Solothurn, womit der Kontakt zur praktischen 3 Heute Hochschule für Angewandte Psychologie HAP

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Arbeit bestens gegeben war. Meine Methode der Psychosomatischen Funktionslehre und Tanztherapie erhielt immer konkretere Formen. Sinnigerweise war Max Terpis – ein bekannter Tänzer und Ballettmeister – mein Lehrer (damals als Max Pfister). Er hatte seine Ausbildung am Institut bereits hinter sich und wurde später als Psychologe bekannt.« (Zitat von 2001) In der Verbindung zwischen Psychologie und Bewegung erfasste sie denn auch die Wechselwirkung zwischen Körper, Geist und Seele. Bet Hauschild (1986): »Anfang der 1950er - Jahre habe ich mit zum Teil für jene Zeit völlig neuen Ideen eine Neugestaltung meines Gymnastikunterrichts entworfen. Auch Schüler, die bereits länger bei mir gearbeitet hatten, ­erlebten damals diese intensive Neu- und Weiterentwicklung ihres Bewegungspotenzials. Ärzte begannen, Patienten meinen Unterricht zu empfehlen – insbesondere bei Schwierigkeiten mit dem Rücken, und einige Psychoanalytiker nahmen meine Arbeit gern in Anspruch für ihre Analysanden. Hierbei ergaben sich oft erstaunliche Lösungen, und stagnierende Analysen erhielten neue Dynamik. Bedingung war in diesen Fällen, dass die Arbeit in der Gruppe stattfand, damit sich keine störende Übertragung aufbauen konnte. Ich selbst erachte aber auch heute noch die Einzelarbeit in der psychoanalytischen Therapie als unersetzlich. Eine eigene klassische Analyse und meine praktische psychologische Ausbildung am Biäsch-Institut als Berufsberaterin bildeten das Fundament meiner bewegungs- und tanztherapeutischen Arbeit. Ab 1953 arbeitete mein Mann wieder in Zürich, und unsere Tochter Sibylle wurde geboren. Wir wohnten inzwischen im Doldertal, wo ich heute noch lebe. Ich lernte Frau Dr. med. Dagmar Liechti-von Brasch kennen, die medizinische Leiterin des Privatsanatoriums Bircher-Benner. Sie interessierte sich sofort für meine Arbeit, übergab mir gleich einige Patienten, und es entstand eine sich organisch entwickelnde Zusammenarbeit während sechs Jahren.« Bet Hauschild arbeitet in dieser Zeit mit über tausend Patienten zusammen, unter ihnen sowohl physisch wie auch psychisch schwerst­ kranke Menschen. Sehr viele Magersüchtige seien es gewesen, sagt sie, vor allem aber Depressive, insgesamt alles sehr interessante Menschen aus aller Welt, die zur Kur und Therapie kamen, Geschäftsleute ebenso wie Politiker und Künstler.

Entwicklung der eigenen Methode  Bet Hauschild beschäftigte sich in der Folge weiterhin mit in der natürlichen Bewegung beeinträchtigten Menschen. »Die Ausbildung am Biäsch-Institut half mir, die Neukonzeption meiner Arbeit auszubauen. Dass die Methode aber auch auf anthropo­ logischen Erkenntnissen, phylogenetischen wie ontogenetischen beruht,

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ist eine wichtige Tatsache!«, so Bet Hauschild, und sie fährt fort: »Etwa 1960 wurde ich noch vor den Stadtarzt zitiert, der mir freundlich erklärte, dass ich mich nicht Therapeutin nennen dürfe, da ich kein Physiotherapeutendiplom habe. Der Name meiner Methode lautete damals Psychosomatische Funktionstherapie. Man staunt, wenn man die heutige Entwicklung dieses Begriffs erlebt.« In dieser Zeit entstand auch die Form der verbalen Vermittlung. Hier liegt das Hauptcharakteristikum der Methode. Die Bewegung sollte bei jedem Teilnehmer von innen heraus kommen und nicht einfach kopiert werden. Ziel ist es, dass der Körper aus seinen individuellen Voraussetzungen heraus in eine organisch verlaufende Bewegung kommt, wobei auch die Atmung eine wichtige Bedeutung hat. Bet Hauschilds Überlegungen: »Ich muss den Schüler, der meinen Unterricht besucht, so annehmen, wie er ist, und eine Einstiegsmöglichkeit schaffen, die ihn sich spüren lässt und wegholt vom aktiven Nachahmen. Die Ausgangslage – auf dem Rücken liegen, Beine an der Wand – war, wie ich später erkannte, ein kleiner ›Geniestreich‹ (siehe Kapitel »Die Bodenarbeit«, Seite 75 ). Hier entstand auch die besondere Haltung, wie man auf den Schüler eingeht und wie man ihn in seine Bewegung einführt.« Bet Hauschild verglich ihre Körperarbeit mit dem Aufwand, den ein Musiker betreiben muss, um sein Instrument zu beherrschen: »Dass man als Sänger oder Instrumentalist täglich seine Ton- und Fingerübungen macht, bevor man zu den Etüden, Liedern oder ­So­naten gelangt, müsste uns endlich einmal zu denken geben. Mit ­Gymnastikübungen ab Zettel-Anleitung geschieht nicht viel. Um eingeschliffene Fehler zu korrigieren und neu und besser › spielen‹ zu lernen, braucht es gut geführten Unterricht. Nachahmung bringt wenig. Bewegungen sind Abläufe, die in uns selbst Ansatz und Dynamik haben müssen, wenn sie zu e ­ iner echten Eigenform, wie sie in unserer einmaligen Physiognomie angelegt ist, führen sollen.« Sie erzählt weiter: »So fugenlos wie es begann, lief es teilweise auch weiter, als ich meine eigene Schule 1960 an der Steinwiesstraße eröffnete.« Bet-Hauschild-Unterricht war sehr gefragt, sie gab unzählige Stunden in Rückengymnastik und Training, Geburtsvor­ bereitung, Rückbildung, tänzerischer Gymnastik und auch in Tanztherapie. Ihr tägliches Arbeitspensum war enorm: Acht Bewegungslektionen pro Tag, und dies an sechs Tagen in der Woche, waren keine Seltenheit. Zusätzlich arbeitete sie an der Jung-Klinik in Zürich und später an der Psychiatrischen Klinik Schlössli in Oetwil am See. Dabei wendete sie ihre ­PSFL-Methode in der Gruppen- sowie in der Einzeltherapie an. Sie war überaus erfolgreich, sodass der Wunsch nach einer Weiterführung ihrer Arbeit aufkam. Die Idee lag nahe, eine Ausbildung in

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dieser Methode zu entwickeln. Sie konzipierte eine dreijährige Vollzeitausbildung, die 1970 mit vier Seminaristinnen begann. Schon damals war ihre Spezialität die integrierte Berufserfahrung während der Ausbildung. Die Seminaristinnen absolvierten ein Praktikum in einer psychiatrischen oder geriatrischen Institution. Einmal wöchentlich gingen sie in die entsprechenden Kliniken und erteilten Bewegungs- oder Tanztherapie in Gruppen. Als das Seminar 1993 aus Altersgründen der Gründerin vorübergehend sistiert wurde, hatten bei Bet Hauschild etwa 50 Frauen und zwei Männer ihre Ausbildung absolviert. Sechs Jahre später, 1999, wurde die Ausbildung unter neuem Namen und unter der Leitung von Henriette Bezzola und Carmen Pittini in Winterthur wieder aufgenommen. Die Laienschule academia gymnastica, die 1974 von der Steinwiesstrasse in Zürich nach Gockhausen übersiedelte, führte Bet Hauschild weiter, ab 1993 zusammen mit Henriette Bezzola. Sie selbst unterrichtete in der academia gymnastica bis ins hohe Alter. Mit ihrer Kreativität und ihrem Forschergeist entwickelte sie ihre Methode stetig weiter. Die ­PSFL ist ein Bewegungskonzept, das – beherrscht man einmal die Grundlagen – sehr flexibel angewendet werden kann. Ein Vergleich mit der Musik liegt wiederum nahe, hat doch Musik in Bet Hauschilds Leben von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt: Kennt man die Tonleiter und ist darin sattelfest, so kann man immer neue Tonkombinationen entwickeln, von einfachen Melodien bis hin zu komplizierten Kompositionen.

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Das Wesen der Methode – die Atmung in der PSFL Die Psychosomatische Funktionslehre ist ein integratives, dynamisches

Bewegungskonzept, mit dem die Körperwahrnehmung geschult und

differenziert wird. Auf dieser Basis werden Körperfunktion, Bewegungsausdruck sowie Gefühl und Geist miteinander verbunden. Der ganzheitliche Bewegungsansatz der Methode löst einen Lern­ prozess des Atmungs-, Muskel- und Nervensystems aus. Ein wichtiges Anliegen der ­PSFL ist es, den Menschen mit einer optimalen Körperspannung, Beweglichkeit und Koordination für die Fortbewegung, den aufrechten Gang zu schulen. Dafür verwendet die Methode Be­ wegungen, die aus der Bewegungsentwicklung des Menschen stammen und mit denen sich der Säugling und das Kleinkind alle nötigen Voraussetzungen wie Kraft und Koordination antrainieren (siehe ­Kapitel »Hintergrund der Methode und Bodenarbeit«, Seite 34 ). Diese Bewegungsmuster sind also in jedem Menschen gespeichert und somit abrufbar. Die spezifischen Bewegungssequenzen in ihrem logischen Ablauf lösen einen sowohl körperlichen wie kognitiven Prozess aus, indem die Eigenwahrnehmung durch die Bewegung geschult, vertieft und geordnet wird. Das Hauptwerk der sogenannten ­PSFL-Grundlagen («Basis­ arbeit«) ist die Bodenarbeit (siehe Kapitel »Die Bodenarbeit«, Seite 75 ). Der Hauptbestandteil der Bewegungsabläufe ist eine gezielte Schulung der Wirbelsäule, sodass eine gesunde Haltung und Gangweise entstehen. Die besondere Art der fast ausschließlich verbalen Anleitung unterstützt und fördert den Prozess in dem Sinn, dass einem die Bewegung wirklich bewusst wird. Die Anweisungen werden über das Gehör aufgenommen, gedanklich umgesetzt und schließlich ausgeführt. Die so vermittelten und in der Folge bewusst ausgeführten Bewegungsabläufe lösen einen Lernprozess aus, der an vorhandene Ressourcen anknüpft und diese aktiviert. Die ­PSFL-Grundlagen, auf die in diesem Buch der Fokus gesetzt wird, bestehen aus strukturierenden und formenden Bewegungs­ abläufen, die in verschiedenen Lagen im Raum ausgeführt werden. Es sind fließende Bewegungen, die einen Spannungsausgleich erzielen. Sie schulen die Körperwahrnehmung, die Beweglichkeit, die Atmung, die Kraft, den Eigenrhythmus sowie die koordinativen Fähigkeiten. Sie fördern die Haltung und das Raumgefühl. Sie wirken muskulären ­Dysbalancen entgegen und führen zu einem natürlichen Gang. Die Bewegungsabläufe sind so aufgebaut, dass das Nervensystem über Koordination, Konzentration und sensomotorische Reize die Möglichkeit erhält, neue Vernetzungen zu bilden. Dabei ist in ers-

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ter Linie nicht das Resultat wichtig, sondern wie man die Aufgabe angeht, wie der Bewegungsablauf wahrgenommen und umgesetzt wird. Es geht um einen Prozess, bei dem es zu entdecken gilt, wie die Bewegung auf einen wirkt, im Großen wie im Kleinen. In den Stunden werden Veränderungen im Bewegungsverhalten eingeübt, sodass diese aufgrund der zahlreichen, vielseitigen Wiederholungen auch in den Alltag fließen können.

Die natürliche Atmung  Grundsätzlich streben wir an, die natürliche Atmung mittels Bewegung wieder zu finden; eine Atmung, die tief in den Körper, den Bauchraum und bis ins Becken fließt. Atmung und Gefühl gehören untrennbar zusammen. Die Atmung reflektiert unmittelbar den aktuellen Spannungszustand. Wenn wir zum Beispiel erschrecken, bleibt die Atmung stehen. Ohne Atmung ist aber auch keine vertiefte Wahrnehmung im Körperinnern möglich. Beim Erschrecken bleibt es somit eben beim Erschrecktsein, aber wir spüren nicht in uns hinein, weil die Gefühle durch die Anspannung im Körper abgeblockt werden. In der Aufregung oder Erregung kommt es zum schnellen oder hastigen Atmen. Die Aufregung verstärkt sich. Brustkorb

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innere Zwischenrippenmuskeln äußere Zwischenrippenmuskeln Zwerchfell gerader Bauchmuskel

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Ähnlich verhält es sich, wenn wir flach atmen – die Körperemp­ findungen schwächen sich ab. Der ganze Organismus verspannt sich, das Zwerchfell bewegt sich nicht ausreichend und verkrampft sich. Durch Verkrampfungen im ganzen Körper werden die Gefühle überdeckt. Womöglich spürt man sich nur noch im Schmerz, und sich spüren wird ausschließlich mit Schmerzempfinden verbunden. Wozu also spüren? Dass jemand flach atmet, merkt man daran, dass er plötzlich seufzt, eine Art Entlastungsseufzer ausstößt. Eigentlich leidet der Körper unter Sauerstoffmangel, und so holt er sich, was er braucht, durch eine vertiefte Ein- und Ausatmung. Das Erlernen und Wahrnehmen der natürlichen Atmung ist bei uns Gegenstand jeder Unterrichtsstunde. In der Bewegung geht es darum – sei es in der Lösung oder in der Anstrengung –, die funktionell richtige Atemweise anzuwenden und zu automatisieren. Dazu dienen variantenreiche Bewegungsabläufe oder Aufgaben, die den Atemfluss entsprechend anregen. Ziel ist es, dass sich die Atmung auf natürliche Weise bei jeder Tätigkeit selbst reguliert. Die Praxis zeigt, dass reine Atemübungen nicht das gewünschte Resultat erzielen, sondern die Atmung oft künstlich erscheinen lassen, losgelöst von den körperlichen Bewegungsfunktionen. Im Unterricht üben wir, den Körper so zu regulieren, dass er für jede Bewegung die angemessene Atemreaktion erzeugt. Legt man sich in Rückenlage, verändert sich die Atembewegung ohne zusätzliche Lenkung. Die Atmung kann bis ins Becken fließen, der Bauch bewegt sich mit, nicht nur der Brustkorb. Meistens­ folgt kurz nach dem Hinlegen ein tiefer Seufzer. Dieser Seufzer soll Raum haben, er darf auch stimmlich begleitet sein, was die Lösung und damit die Entspannung vertieft. Für viele Menschen ist diese Form der Atem­äußerung nicht selbstverständlich, für den Organismus jedoch ­äußerst förderlich, da es darum geht, Druck im Körperinnern zu ­lösen. Wird die Atmung unterdrückt, entsteht Anspannung und ­somit Kurzatmigkeit – die Atmung reguliert sich nicht gemäß den Anforderungen, was bis zu Benommenheit und Schwindel führen kann. Wenn wir einem Kleinkind zuschauen, wie es mit Holzklötzen konzentriert einen Turm baut, hat man von außen vielleicht das Gefühl, der Atem stehe still. Tatsächlich kann durch die Konzentration die Atmung flach werden. Sobald der Turm steht, hört man jedoch ein tiefes Seufzen, Durchatmen oder gar Gähnen. Diese automatische Reaktion des Körpers führt zu einer tief greifenden Lösung im Organismus. Würde das Kind in der Flachatmung verbleiben, könnte sich ­daraus ein Atemmuster bilden, das zur Angespanntheit führt und entsprechend auch die Stimmung beeinträchtigt. Beim Seufzen lösen

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Der ­PSFL-Bewegungsunterricht ist klar strukturiert, und trotzdem kann in den Stunden indivi­ duell auf die einzelnen Teilnehmer eingegangen werden. Grundsätzlich besteht die Stunde aus ­ drei Teilen. In der Anfangssequenz geht es darum, den Körper beziehungsweise den ganzen ­Menschen auf die Bewegungsabläufe des zweiten Teils vorzubereiten, die hauptsächlich in ­Bodenlage ausgeführt werden. Im dritten Teil wird – gewöhnlich mit Musik – das Erarbeitete in der Fortbewegung gefestigt oder erweitert. Die Kursleiterin setzt einen thematischen Schwerpunkt und gestaltet die Stunde so, dass sie eine logische Einheit bildet. Im zweiten Teil des Kapitels führen wir Sie durch einen Bewegungsablauf, den Sie zuhause für sich ausführen können.

Stundenaufbau und Bewegungsablauf

Voraussetzung für die Teilnahme Um den Unterricht in der ­PSFL zu besuchen, braucht es eigentlich nur die Voraussetzung, neue Erfahrungen machen zu wollen. Das heißt, nicht voreingenommen, sondern offen zu sein. Sich einlassen hat mit Verbindlichkeit zu tun in dem Sinne, dass man nicht bei der ersten Schwierigkeit aufgibt. Die ­PSFL setzt stark auf die Selbstverantwortung, die in den Stunden auch immer wieder im Größeren wie im Kleineren geübt wird. Trägt man sich selbst gegenüber Verantwortung, ist es einfacher, sich anderen gegenüber verantwortungsvoll zu verhalten, weil man selbst auf einem guten Fundament steht. Selbstverantwortung bedeutet, dass man seine Möglichkeiten, aber auch seine Grenzen kennt. Gerade in unserer Zeit wird einem der Eindruck vermittelt, alles sei machbar und könne im Nu erworben werden, ohne besondere Anstrengung. Sich einlassen bedingt, dass man auch einmal die Kontrolle abgeben kann, sich zum Beispiel dem Rhythmus des Atems hingibt und sich davon leiten lässt. In der Regel beeinflussen wir willentlich unser Wirken, aber oft ohne es zu spüren. Im Geschehenlassen lernen wir zu unterscheiden, was wir steuern sollten und was nicht. Geschehenlassen braucht Zeit.

Wertung  Für jemand, der die Art der ­PSFL nicht gewohnt ist, kann es schwierig sein, nicht gelobt oder »getadelt« zu werden. Das Prinzip der Methode beruht jedoch darauf, dass nur die Selbsterkenntnis zu einer wirklichen Veränderung führen kann. Wenn man vom Lob

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der Lehrperson abhängt, kann sich keine eigene Autorität von innen entfalten. Am Anfang ist die Unsicherheit vielleicht groß, da unsere Gesellschaft mit Wertungen von Richtig und Falsch, Gut und Schlecht funktioniert. Wir haben diese Wertvorstellungen fest verinnerlicht. Es fällt anfangs unter Umständen nicht leicht, diese Spannung auszuhalten. Man muss lernen, Unsicherheit zu ertragen, wenn eine Weiterentwicklung stattfinden soll. Klar sagt die Lehrperson manchmal in den Raum »Gut!« oder »Sehr schön angesetzt!«, aber die Komplimente sind sehr allgemein gehalten und meist an die ganze Gruppe gerichtet. Die Unterstützung findet vielmehr in der verbalen Anleitung statt, die klar und präzis formuliert wird.

Die Haltung der Lehrerin Sowohl im Bewegungsunterricht für Laien wie auch in den Therapiestunden legen wir großen Wert auf eine professionelle Haltung. Basis dieser professionellen Haltung ist, dass die Lehrerin die Laienschüler oder auch die Patienten in ihren Persönlichkeiten akzeptiert und respektiert und auch bezüglich Bewegungskompetenz von den vorhandenen Ressourcen ausgeht und nicht versucht, die Teilnehmer in ein fremdes Schema zu drängen. Schon Bet Hauschild sagte: »Ich will den Schüler so annehmen, wie er ist!« Es geht also nicht darum, in das Körper- und Persönlichkeitsschema der Menschen einzugreifen, sondern darum, diese Muster begreifen zu lernen, damit der Teilnehmer oder Patient in seiner Einmaligkeit unterstützt werden kann. Diese Einmaligkeit der Persönlichkeit gilt es zu fördern, damit das Individuum sich selbst annehmen kann, wie es ist. Dies scheint banal, doch gerade diese Haltung ist von immenser Bedeutung. Sich selbst annehmen ist in unserer Gesellschaft doch eher schwierig, da man immer im Vergleich zu anderen steht. Im Sport, in den Künsten, im Geschäftsleben, aber eigentlich in allen Bereichen des Lebens wird dauernd verglichen und nach Gut und Schlecht bewertet. Wenn ich mich von außen angenommen fühle, gibt mir das Kraft für mein Sein und mein Handeln. Die Absicht der PSFL ist es nicht, dass die Menschen einfach Übungen machen, sondern dass sie das, was sie machen, begreifen, und zwar leiblich, das heißt mit dem ganzen Körper und allen Sinnen. In der ­PSFL geht es darum, dass die Teilnehmer ihre Körperlichkeit in allen Facetten begreifen lernen; daher der Name Psychosomatische Funktionslehre. Sich bewusst be­ wegen ist eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Bewegungsver­

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halten und den eigenen Bewegungsmustern – es ist letztlich eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Die ­PSFL fördert einen Prozess, mit dem über die Bewegungsarbeit das Seelisch-Geistige in einer anderen Form als der rein verbalen zum Ausdruck kommt. Eigene Fehlhaltungen in körperlicher oder seelisch-geistiger Hinsicht können aufgedeckt und möglicherweise neu eingeordnet werden. Sich derart intensiv mit dem Körper zu befassen, ist gar nicht so einfach, denn sich selbst aushalten und annehmen will gelernt sein. Die von Offenheit und Respekt geprägte Grundhaltung der Lehrperson erlaubt es, ganz unterschiedliche Gruppenteilnehmer gleichzeitig zu unterrichten, da individuell gearbeitet wird. Es müssen nicht alle gleichzeitig den Arm hochheben. Man hört die Anweisung, und die Bewegung erfolgt aus dem inneren Antrieb, man führt sie im persönlichen Rhythmus aus. Dabei können »Anfänger« und »Fortgeschrittene« (solche Bezeichnungen führen wir üblicherweise nicht) sehr gut zusammen arbeiten. Jeder entwickelt sich in seiner Bewegungsarbeit auf seinem persönlichen Niveau, unabhängig davon, wo die anderen gerade sind. Wir ordnen die Menschen nicht in Begabte und Unbegabte ein. Jeder Mensch hat sein persönliches Bewegungspotenzial, das gefördert werden will. Vielleicht fragen Sie sich jetzt: Wird da nie korrigiert? Sicher wird auch bei uns korrigiert – es geht ja nicht darum, dass die Teilnehmer einfach irgendetwas machen. Unsere Korrekturen gehen mehr in die Richtung, dass die Anweisungen wiederholt werden, wie beschrieben im Kapitel »Die Bedeutung der verbalen Anleitung« (siehe Seite 90 ). Es gilt der Grundsatz: Wenn jemand korrigiert wird, ist noch keine wesentliche Veränderung eingetreten. Wenn die Lehrperson jedoch den Schüler zu seinem eigenen Erleben führt, spürt er selber, wie die Bewegung für ihn stimmt. Diese Eigenständigkeit des Menschen ist unser zentrales Anliegen, und die wollen wir fördern. Bet Hauschild fasste dies mit den Worten »das Spüren der richtigen Funktion« zusammen und fügte hinzu: »Es gibt viele richtige Bewegungen und unendlich viele Möglichkeiten, die dann bei jedem Menschen anders aussehen.« Wie schon oben erwähnt, sind bei einer derart individuellen Vorgehensweise die Unterrichtsgruppen eher klein, da man sonst uniforme Ausdrucksweisen verwenden müsste. Der Unterricht soll nach ­einem Konzept, nicht aber nach sturen Regeln gestaltet sein. Das Konzept besteht darin, adäquate Ziele zu stellen und diese mit den Möglichkeiten der einzelnen Person in Einklang zu bringen. Dabei soll durchaus eine Leistungssteigerung erzielt, aber vor allem ein bewusster Lernprozess in Gang gesetzt werden, der lebendig gespürt wird.

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Der Aufbau der Bewegungsstunden Unser Anliegen ist ein sorgfältiger und logischer Aufbau, in dem jeder Bewegungsablauf vorbereitet wird. Der Ablauf einer ­PSFL-Stunde gleicht einem Ritual, denn die Grundstrukturen bleiben, die Ausführung jedoch variiert, damit immer wieder neue Impulse gesetzt werden können und sich keine Monotonie einschleicht. Viele Bewegungsabläufe können sowohl an der Wand – in der Rücken- beziehungsweise Seitenlage – als auch im Raum – sitzend, auf dem Rücken, dem Bauch oder in der Seitenlage, im Vierfüßlerstand oder im Stehen – ausgeführt werden. Die Stunde endet mit der Fortbewegung durch den Raum. Die Schrittfolge greift die erarbeiteten Bewegungsabläufe wieder auf. Die Möglichkeiten bei der Gestaltung der Stunden sind praktisch unendlich. Ein und derselbe Bewegungsablauf wird je nach Lage ganz anders wahrgenommen, wodurch der Körper auf ganz unterschiedliche Weisen gespürt werden kann.

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Schwerpunkte einer Stunde  Grundsätzlich soll der Körper in einer Bewegungsstunde ganzheitlich mobilisiert werden. Dabei werden jedoch Schwerpunkte gesetzt, wie zum Beispiel: Fuß- und Beinarbeit Hüften –Becken Rücken und übrige Wirbelsäule Nacken –Schultergürtel Dehnung und Kraftaufbau Atmung Körpermitte spüren verschiedene Bewegungsqualitäten erarbeiten Einleitung  Oft beginnt die Stunde damit, dass die Teilnehmer in einem Kreis stehen, aber auch in Reihen oder versetzt, mit dem Rücken zur Wand und mit der Körpervorderseite zum Fenster gerichtet. Es folgen lockere und lösende Bewegungen für den NackenSchulter-Bereich, den Rücken, die Hüften, das Becken, die Knie und die Füße. Alles beginnt mit kleinen Bewegungen, die auch gesteigert und / oder mit Musik ausgeführt werden können. Im Hier und Jetzt ankommen, das ist das Hauptanliegen. Die Sorgen oder das Büro sollen für eine Stunde draußen bleiben. Nun wird der Körper wie ein Inst­rument gestimmt. Die Bewegungen können sich hier bis zur Fortbewegung im Kreis oder auf der Diagonalen oder zu anderen Formen entwickeln. Bodenarbeit als Hauptteil  Anschließend begibt man sich in die Bodenlage, wo die Bodenarbeit, der Hauptteil der Stunde, beginnt. Je-

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der Bewegungsablauf wird zuerst in seine Einzelteile zerlegt und ­anschließend zusammengefügt. Mit diesem Vorgehen können die Gelenke optimal einbewegt werden. Es erfolgt eine sukzessive Steigerung der Beweglichkeit, der Dehnung und des Kraftaufbaus. Somit werden Fehlbelastungen oder Überforderungen im Organismus verhindert, da das »Bewegungsgebäude« wie beim Bau eines Turmes von Grund auf Stein um Stein erweitert wird. Das Resultat einer solchen Vorgehensweise ist, dass die Gelenke geschont und doch richtig gefordert werden, die Bewegung gespürt und richtig angesetzt wird, da sie Schritt für Schritt angewiesen wird. Die Bewegungsabläufe werden so vorbereitet, dass möglichst kein Muskelkater entsteht. Auch Zerrungen in den Bändern können mit der

richtigen Vorbereitung vermieden werden. Heute weiß man, dass es kontraproduktiv für den Körper ist, wenn Muskelkater provoziert wird, da er nur Schmerzen verursacht, aber keinen Nutzen bringt.

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Übergänge  Damit ein Bewegungsfluss entsteht, muss der Bewegungsablauf mit harmonischen Übergängen gestaltet sein, sodass kontinuierliche Bewegungen entstehen von der Rücken- in die Seitenlage von der Seiten- in die Bauchlage oder ins Sitzen vom Sitzen in den Vierfüßlerstand vom Vierfüßler- in den Kniestand vom Kniestand ins Stehen vom Stehen ins Gehen In der ­P ­ SFL sind die Übergänge gleich wichtig wie die Bewegungsabläufe an sich. Sie können verschieden gestaltet werden, dabei ist ­unser Anliegen, dass sie bewusst gemacht werden, um einen har­ monischen Bewegungsfluss zu gewährleisten. (Siehe auch Abschnitt »Übergänge und Ausgleichsbewegungen«, Seite 152 )

Seitenvergleich  Nachdem ein Körperteil oder eine Körperseite längere Zeit bearbeitet worden ist, regen wir an, einen Seitenvergleich vorzunehmen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, dies anzugehen, sei es in der Ruhe oder mit kleinen Bewegungen. Der Seitenvergleich ist eine Zäsur, um innezuhalten und die Tiefensensibilität zu schulen. Die Körperseiten fühlen sich per se verschieden an, auch in der Bewegung, nicht zuletzt bedingt durch die Statik. Außerdem gibt es noch subtilere Seitenunterschiede, die vielleicht erst durch längeres Üben wahrgenommen werden. Es ist möglich, dass man am Anfang des Bewegungsunterrichts noch gar keine Seitenunterschiede wahrnimmt, da dies eben einer gewissen Schulung bedarf. Doch auch später kann die Wahrnehmung

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je nach Tagesform sehr unterschiedlich ausfallen. So kann sich eine bereits bewusst erarbeitete Körperwahrnehmung aufgrund der aktuellen Verfassung, die auch durch psychische Faktoren bedingt ist, plötzlich fremd anfühlen.

Abschluss  Das im Hauptteil Erarbeitete wird im Abschluss zu einer Schrittfolge durch den Raum zusammengefügt. Jede Stunde endet bei uns mit der Fortbewegung durch den Raum, denn das bewusste Gehen ist eines unserer Hauptanliegen. Die Schrittfolge wird mit Musik zur tänzerischen Form weiterentwickelt, die auf der Diagonale oder anderen Raumwegen stattfindet. Hier spüren die Menschen ganz ausgeprägt ihr neu gewonnenes Körpergefühl, das sie in den Alltag mitnehmen können. Nach der Stunde wirken die Menschen in der Regel sehr gelöst und heiter, was sich in einem harmonischen Gang ausdrückt. Sie gehen aufrechter, mit einem beweglichen Schultergürtel, die Gegenbewegung ist fließend, das Aufsetzen des Fußes weich. Hier kann jedermann seinen persönlichen Lernerfolg überprüfen und sich über die gewonnene Leichtigkeit freuen.

Bewegungssequenz der ­PSFL-Grundlagen Die ­PSFL-Grundlagen beinhalten modifizierte Bewegungsabläufe aus der menschlichen Bewegungsentwicklung. Sie stellen uns ein vielseitiges Bewegungsangebot zur Verfügung. Dadurch lassen sich immer wieder neue Abläufe gestalten. In der Folge zeigen wir Ihnen einige Beispiele für Ihr tägliches Bewegungsprogramm. Sie erreichen damit in relativ kurzer Zeit eine spürbare Ver­ besserung bezüglich Beweglichkeit, Koordination, Kraft, Spannungs­ ausgleich, Atmung und Konzentration. Ihr Bewegungsgefühl erfährt eine neue Dynamik.

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Bewegungssequenz mit Dehnung und Kräftigung Ankommen  Auf dem Rücken liegen, Becken nah an der Wand, die Beine hüftbreit an der Wand angelehnt, mit

­gelösten Kniekehlen. Arme gelöst an der Körperseite. Sich innerlich lösen, indem man aufmerksam die Ein- und Aus­ atmung oberhalb des Schambeins wahrnimmt. Wenn sich ein vertiefter Seufzer einstellt, kann diesem auch stimmhaft Ausdruck gegeben werden. Mit jeder Aus­atmung die Wir­ belsäule tiefer in die Unterlage sinken ­lassen. Fußgelenke beugen / strecken und so Rist auf- und abbewe­ gen, dabei in den Knien nachgeben (Fersen bleiben immer an der gleichen Stelle). Beine aus den Hüften ein- und aus­ wärtsdrehen, mit den Füßen ins Kreisen kommen (die Zehen bewegen sich zueinander und voneinander weg), dann Füße in die andere Richtung kreisen. Anschließend mit den Sohlen greifen und lösen, das heißt, die Zehen »krallen«, ­  den Rist gleichzeitig zum Schienbein ziehen, dann Füße ­strecken und Zehen lösen. Dies mehrmals wiederholen. Wirkung

·· »Schmieren« der Fußgelenke und Dehnung der Achilles­ sehnen. Eine ausreichend gedehnte Achillessehne

er­möglicht ein weiches Abrollen des Fußes beim Gehen.

·· Die Lage der Beine und die intensive Bewegung

der Wadenmuskulatur gewährleisten den Rückfluss   in den Gefäßen der Beine und im Becken.

·· Durchlässigkeit der Gelenke (Knie- und Hüftgelenke)   wird gefördert.

·· Lendenwirbelsäule wird entlastet.

Menschen, die oft Tätigkeiten im Stehen oder Sitzen aus­ üben wie Verkäuferinnen, Lehrpersonen, Pflegefachleute, ­Büroangestellte etc., sollten unbedingt immer wieder eine

solche Lage einnehmen. Für die Anregung der Zirkulation ist sie – vor allem auch in Zusammenhang mit den Fußbewe­ gungen – sehr effizient.

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Instrument Körper einstimmen  Die Oberschenkel auf den Bauch fallen lassen. Die Arme liegen seitlich auf der Klein­

fingerseite, unterhalb der Waagrechten des Schultergürtels. Die Schultern und Arme rechts / links ­im Wechsel Richtung Wand schieben. Schulterblätter ­spüren, dabei die Bewegung zwischen den Schulterblättern ansetzen, nicht in den Ar­ men. Dies mit wechselnder Dynamik, um so den Nacken zu lösen. Ist der Nacken gelöst, kommt die Halswirbelsäule in eine Gegenbewegung. Vom Schieben in ein fließendes Krei­ sen übergehen, das tief im Schultergelenk ansetzt. Dabei sollen die Ellbogen-, Hand- und Fingergelenke ganz gelöst sein. Reaktion im Hals zulassen, damit die Bewegung in ihrem Ablauf nicht gehemmt oder gar blockiert wird. Wirkung

·· Lösung Nacken und Schultergürtel ·· Förderung der Beweglichkeit der Hals- und   Brustwirbelsäule und der Schultergelenke

Rücken lösen  Die Hände werden auf die Knie gelegt, so­

dass die Fingerspitzen zueinander zeigen, die Ellbogen wer­

den nach außen gehalten, damit der Schultergürtel mög­ lichst breit aufliegen kann. Nun die Knie anfedern (mit den Händen die Knie sanft in Richtung Bauch ziehen und wieder etwas lösen, sodass eine Schaukelbewegung entsteht; siehe auch Abschnitt »Federn«, Seite 153 ) und dabei den Kiefer ganz locker lassen. Gleichzeitig spürt man bewusst dem ­Rücken nach und versucht so, Anspannungen zu lösen. Das Becken soll dabei auf dem Boden ­bleiben, damit die Lenden­ wirbelsäule in eine Dehnung kommt. Wirkung

·· Dehnung und Lösung der Wirbelsäule

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