Sigvaris

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Vorwort 6

SIGVARIS heute Erstes Kapitel Vom Spiel gegenläufiger Kräfte und was man daraus machen kann

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Zweites Kapitel Vom Werden des medizinischen Kompressions­strumpfes

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Drittes Kapitel Vom Wissen über eine Volkskrankheit und einen Strumpf mit heilender Wirkung

82

Viertes Kapitel Von guten Argumenten und wie man sie weitergibt

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SIGVARIS weltweit Standorte 142

St. Gallen, Schweiz

144

Appenzell, Schweiz

148

Memmingen, Deutschland

150

Wien, Österreich

153

Shanghai, China

155

Peachtree City, USA 156

Montréal, Kanada

160

Jundiaí, Brasilien

163

Andover, Grossbritannien

167

Saint-Just-Saint-Rambert, Frankreich

169

Andrézieux-Bouthéon, Frankreich

174

Saint-Louis, Frankreich

175

Huningue, Frankreich

177

Winterthur, Schweiz

179

Anhang Glossar 184 Bibliografie 187 Dank 188 Buchteam 189


Vorwort Wir sind stolz, dass unser Unternehmen seit fünf Generationen im Eigentum der Familie Ganzoni ist. Dahinter stehen Menschen, Ganzoni-Eigentümer, die immer wieder Mut zum Risiko gezeigt haben und auch in schwierigen Zeiten durchhalten wollten. Die Ganzoni-Firmen überlebten schwere Krisen und standen einige Male vor dem Aus. Die beiden Weltkriege mit ihren gewaltigen Nachwirkungen erschütterten auch das kleine Familienunternehmen schwer. Neue Hoffnungen und Visionen, neue Produkte und Märkte halfen ihr aber immer wieder auf die Beine. Und manchmal brauchte es auch Geld aus den Eignerfamilien, um den Fortbestand der Unternehmung zu ermöglichen. Ebenso stolz sind wir darauf, wie prächtig sich SIGVARIS in den letzten 50 Jahren entwickelt hat. Werner Ganzoni senior schrieb in seiner «Firmengeschichte 1864 – 1964»: «Unser Streben ist immer dasselbe geblieben. Es geht dahin, das innerste Wesen der gummi­elastischen Textilien fabrikatorisch zu erfassen und kommerziell auszuwerten. Auf dem Spezialgebiet der MedizinalGummistrümpfe, das wir vor dreissig Jahren begonnen hatten, gelang dank einer rechtzeitig eingeführten, modernen Automatik der so lange vergeblich angestrebte Durchbruch zu einem wie von jeher schöpferisch gestimmten, nun aber auch wirtschaftlich erfolgreichen Programm.» Das gilt noch immer. Hartnäckiges Streben

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und Innovationslust prägen die Arbeit von SIGVARIS bis heute. «Zukunft braucht Herkunft» lautet der Titel eines Essays des deutschen Philosophen Odo Marquard. Eine neue Generation findet vieles vor. Darauf aufbauend etwas Besseres hinzufügen, das will der junge Mensch, und das ist gut so. Sich dabei der Vergangenheit bewusst zu sein, hilft mit, bescheiden zu bleiben, glaubwürdig und respektvoll. Wir danken den früheren Ganzoni-Eigentümern und ihren Familien dafür, dass sie durchgehalten haben und dabei bescheiden und glaubwürdig geblieben sind. Allen unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danken wir für ihre tüchtige Arbeit, die für den Fortbestand unserer Firma unabdingbar war und ist. Ihnen ist die­ses Buch gewidmet. Geschrieben wurde es auch für un­ sere vielen Kunden, die tagtäglich rund um die Welt SIG­VARIS -Produkte empfehlen, erklären und verkaufen. Es soll sie darin bestärken, dass es sich lohnt, mit SIGVARIS zu arbeiten. Und nicht zuletzt möchten wir damit allen Partnern aus Medizin und Forschung unsere Wertschätzung ausdrücken. Sie alle haben massgeblich dazu beigetragen, dass SIGVARIS heute eine weltweit tätige, hoch speziali­sierte Firma mit einer langen Tradition ist, ein Unternehmen, das auch in künftigen Generationen ein unabhängiges,


starkes und innovatives Familienunternehmen sein will. Werner Ganzoni senior schrieb 1964 zum 100-jährigen Be­stehen der Firma, ein Geschichtsschreiber lasse sich leicht dazu verführen, immer ausführlicher zu werden, je näher er der Aktualität komme. Er empfand dies als Schwäche und begründete damit, dass er selbst nur die ersten 75 Jahre der Firmengeschichte niederschrieb. Wir hingegen gestalten unsere Jubiläumsfeiern 2014 um ein Buch zur Gegenwart herum. Wir zeigen die SIGVARISUnternehmungen darin so, wie sie im Frühjahr 2013 waren – im Bewusstsein, dass beim Erscheinen des Buchs manches bereits wieder Vergangenheit sein mag. Die Schweizer Journalisten Martin Arnold und Urs Fitze beschreiben darin, was wir heute machen, wie wir es machen, wo und für wen. Wir haben unseren beiden Autoren aus St. Gallen Tür und Tor geöffnet und sie

schildern lassen, was sie bei ihren Recherchen und Reportagereisen in die SIGVARIS -Welt wirklich wahrgenommen haben. Das gilt auch für unseren Fotografen aus Winterthur – der Stadt, wo unser Familienunternehmen vor 150 Jahren gegründet wurde. Stefan Kubli hat immer und überall Einblick erhalten und im Bild fest­ halten dürfen, was er bei SIGVARIS tatsächlich vorfand. Solche Offenheit braucht Mut. Diesen Mut zum Neuen, zum Unbekannten, der unsere Geschichte von Anfang an begleitet hat, wünschen wir allen heutigen und künftigen Eigentümern, Mitarbeitenden, Kunden und Partnern von SIGVARIS.

Stefan und Susanne Ganzoni Christian und Anita Ganzoni

Stefan, Susanne, Anita und Christian Ganzoni (v. l. n. r.)

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Links: Ein Hauch von Nichts: Zehn Kilometer der feinsten Garne, die in einem Kompres­ sions­strumpf verstrickt werden, wiegen wenige Dutzend Gramm. Rechts: Die Kraft-Deh­ nungs-Kurve beschreibt die gegenläufigen Kräfte, die an einem elastischen Garn wirken.



Links: Präzisionsspulen mit Umwindefäden in der Umwinderei in Andrézieux, Frankreich. Die Fäden bestehen in der Regel aus Polyamid, können aber je nach Verwendungszweck auch natürliche Materialien wie Baumwolle, Seide oder Merino enthalten. Rechts: Präzisions-­ Fadenführung an einem Strickautomaten in Saint-Louis, Frankreich. Elektronisch gesteuert regelt sie die Spannung des Fadens beim Verstricken stufenlos und macht damit die von unten nach oben abnehmende Kompression am Bein erst möglich.


Erstes Kapitel Vom Spiel gegenläufiger Kräfte und was man daraus machen kann  Medizinische Kompres­sions­strümpfe sind ein Kind der in­ dustriellen Revolution. Ohne die Vulkanisation von Kautschuk, ohne elastische Naturgummi­fäden, spezialisierte Strickmaschinen und elastische Kunstfasern gäbe es sie nicht. SIGVARIS hat an ­d ieser ­Geschichte mitgeschrieben. Der technische Hürdenlauf zur steten Verbesserung dauert bis heute an.


Dehnung und Spannung  Elastizitätsmodul heisst in der Fachsprache das Verhältnis zwischen der Dehnung,

also der Kraft, die es braucht, um den Faden auseinanderzuziehen, und der Spannung, der Gegenkraft, die wirkt, wenn er sich nach dem Loslassen wieder zusammenzieht. Bei einem Metall ist dieser Wert fast konstant, bei Gummi verändert er sich in Abhängigkeit von Dehnung und Spannung. Das lässt sich in einem Diagramm darstellen, in dem zwei Kurven zu sehen sind.

10

B

8

Kraft in cN

An beiden Enden ziehen, ziehen, ziehen: Um das Achtfache lässt sich der Gummifaden dehnen, ohne dass er reisst. Es kommt noch besser. Kaum lässt man los, schnellt das Material in Sekundenbruchteilen zurück zu seiner ursprünglichen Form, und das zigtausendfach, ohne dass es an Elastizität einbüsst. Seit eineinhalb Jahrhunderten werden die herausragenden Materialeigenschaften des Gummis für textile Anwendungen genutzt. Viel jünger ist die Geschichte der elastischen Kunstfasern, die sich erst seit wenigen Jahrzehnten mit dem Gummifaden messen können. Noch Anfang der 1960erJahre galt das Bonmot, man solle den aus Kunst­fasern gestrickten Stützstrumpf am Morgen, wenn das Material noch ganz straff ist, der Enkelin mit schlanken Beinen anziehen, am Nachmittag aber, wenn es erschlafft, der Oma mit ihren schweren Beinen. Neuere technische Entwicklungen haben dieses Problem entschärft, auch wenn der Gummifaden nach wie vor länger elastisch bleibt. Doch der Unterschied ist minimal geworden. Die Nachteile eines Gummistrumpfes wie das grobe Gestrick und das Risiko von Allergien lassen sich nicht mehr aufwiegen. Ein synthetisches Garn ist heute viermal dünner als ein Gummifaden und zeigt praktisch dieselben elastischen Eigenschaften. Die elastische Kunstfaser hat den Naturgummi als Rohstoff für die Fertigung medizinischer Kompressionsstrümpfe daher fast vollständig verdrängt. Das hat noch andere Gründe. Sie haben vor allem mit Ästhetik, Tragekomfort und Tragegefühl zu tun. In Nischen lebt der Gummistrumpf, der SIGVARIS gross gemacht hat, weiter. Vor allem bei sehr starker Kompression lässt er sich leichter anziehen als die feiner gestrickten Kunstfaserstrümpfe und führt wegen der gröberen Struktur zu weniger Irritationen der Haut.

Dehnungskraft

6

Rückstellkraft

4 2 0

A 0

50

100

150

200

250

Dehnung in %

Kraft-Dehnung-Rückstellkraft-Schleife mit Hysterese (= schraffierte Fläche, zeigt Energieverlust)

Die eine zeigt die stetig wachsende Kraft, die benötigt wird, um den Faden zu dehnen. In der Gegenrichtung wirkt die Rückstellkraft, die als Spannung das Material in seinen Ursprungszustand versetzen will. Die beiden Kurven verlaufen nicht identisch, die Dehnungskraft ist stets etwas stärker als die Rückstellkraft, die den Faden wieder zusammenzieht. Diese Differenz wird in der Fachsprache Hysterese genannt. Ungefähr in der Mitte der maximal möglichen Dehnung ist sie am grössten. Die Anatomie von Bein und Fuss verlangt nach einem Strumpf, der sich mit möglichst geringem DehnungsKraftaufwand über die Ferse streifen lässt. Hier muss der grösste Widerstand überwunden werden. Kurz darauf wirkt die maximale Rückstellkraft, damit sich der Strumpf an der schmalsten Stelle oberhalb des Knöchels so eng wie gewünscht anschmiegt. Es braucht zwei

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Mercedes der Kompressions­ strumpf-Branche: Der SIGVARISNaturgummistrumpf wird seit über 50 Jahren hergestellt. Es sind Nuancen, die den Gummi-

sionsstrumpffabrikanten geprägt,

strumpf Modell 503 aus den 1960er-

ist heute aber ein Nischenprodukt.

Jahren vom heutigen SIGVARIS «Tra-

Manche sind der Ansicht, man habe

ditional» unterscheiden: Die Ferse

die Modernisierung eines bewährten

des soeben an einer modernen Rund-

Produktes verpasst. Andere sagen

strickmaschine produzierten Strump-

nicht zu Unrecht, es gebe nach wie

fes ist anatomischer geformt, das

vor eine Klientel, die die Eigen­

­Zehenteil ist mit einer feineren Naht

schaften dieses Strumpfes zu schät-

verbunden. Unsere Grossmütter

zen wissen: seine Robustheit, die

und Grossväter haben sie schon ge-

Männer an ihm ziehen lässt wie an

tragen. Damals gab es nichts an­deres

einem Gummiseil, seine Haltbarkeit,

als die hautfarbenen Kompressions-

in der er Kompressionsstrümpfen

strümpfe, die sich – man würde es

aus Elastan überlegen ist, und seine

nicht denken – auf der Haut gar

Exklusivität. Denn SIGVARIS ist der

nicht einmal so unangenehm anfüh-

letzte Produzent von medizinischen

len. Das liegt an der Umwindung

Kompressionsstrümpfen, der noch

des Naturgummifadens mit unelasti-

auf den Rohstoff Kautschuk als Basis

schen Polyamidgarnen, damals das

der Elastizität setzt. Wie lange noch,

Nonplusultra der Hightech-Garne.

das steht in den Sternen. Es gibt

Die 500er-Serie galt in der medizini-

kaum noch Kautschuklieferanten,

schen Kompressionstherapie bis ge-

die sich für ein Nischenprodukt

gen Ende der 1990er-Jahre als «Gold

interessieren, das nicht mehr als ein

Standard». Sie hat das Image von

paar Tonnen Absatz pro Jahr ver-

SIGVARIS als Mercedes der Kompres-

spricht.  ■

starke Hände und die richtige Technik, um einen me­ dizinischen Kompressionsstrumpf, der Patienten mit schweren Lymphödemen oder Unterschenkelgeschwüren verschrieben wird, aufs Bein zu bringen. Sitzt er einmal richtig und vor allem faltenfrei, lässt es sich damit gut aushalten. Denn die grösste Kompression wirkt dort, wo sie am wichtigsten ist: oberhalb des Knöchels. Danach nimmt sie kontinuierlich ab und erreicht am Oberschenkel durchschnittlich nur noch 30 Prozent des ursprünglichen Drucks. Dieses Spiel zweier gegenläufiger Kräfte ins gewünschte Verhältnis zu bringen, ist die gros­se Herausforderung und Handwerkskunst von SIGVARIS. Die wissenschaftliche und technische Basis dafür steht erst seit wenigen Jahrzehnten zur Verfügung. So brauchte es mehrere Anläufe, bis ein Verfahren zur Druckmessung am Bein hinreichend genau entwickelt war. Die menschliche Anatomie machte immer wieder einen Strich durch die (Be)rechnungen und technischen Modelle. Das erste von SIGVARIS entwickelte Mess­ gerät, der «Sigg-­Tester», lieferte noch sehr ungenaue Resultate. Seither wurde die direkte Messmethode bei SIGVARIS laufend verbessert. Heute liegen die Mess­ ergebnisse nahe an der Wirk­lichkeit der Druckverhältnisse beim Bein, das einen Kompressionsstrumpf trägt. Diese moderne, technokra­tische Suche nach dem Gral des elastischen Fadens spielte bei den Pionieren der elastischen Industrie noch keine Rolle. Sie darf man sich noch ganz als Tüftler und Erfinder vorstellen, die ahnen, aber nicht wissen, die hartnäckig ausprobieren und dabei manchmal ganz Überraschendes entdecken. Es begann mit einem, der die Welt, die er entdeckte, mit einer verwechselte, die er nur vom Hörensagen kannte. Bluff mit Gummibällen  Christoph Kolumbus war 1492 der erste moderne Europäer, der in der Karibik mit Kautschuk Bekanntschaft machte, ohne diesen weiter

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SIGVARIS heute


zu beachten. Schliesslich hatte er andere Ziele. Kautschuk ist im Milchsaft enthalten, der aus der Rinde verschiedener tropischer Bäume fliesst, findet sich aber in beträchtlicher Menge auch im Löwenzahn. Die Azteken und andere Hochkulturen Lateinamerikas nutzten Kautschuk, um Boote abzudichten, wasserdichtes Schuhwerk oder die ersten Gummiflaschen der Geschichte herzustellen – sie waren damit ihren Eroberern um Jahrhunderte voraus. Der Aztekenkaiser Montezuma soll laut einem zeitgenössischen Chronisten seinen späteren Bezwinger und Mörder, den spanischen Entdecker Hernán Cortés, mit Gummibällen schwer beeindruckt haben. Sie waren viel leichter und sprangen weit höher als die den Spaniern bekannten Lederbälle. Doch weder Cortés noch seine Nachfolger wussten etwas damit anzufangen. Das lag nicht an ihrem Desinteresse. Sie hatten keine technischen Mittel zur Verfügung, um den kurz nach dem Abzapfen hart werdenden Milchsaft wieder zu verflüssigen und als Werkstoff zu nutzen. Mit harten Gummiklumpen liess sich nicht viel anfangen. Preussischer König in Gummistiefeln  Es sollte gut drei Jahrhunderte dauern, bis es nach einer ganzen Reihe von Versuchen gelang, Kautschuk mit Äther und Terpentin wieder flüssig zu machen, um ihn zu verarbeiten. Der preussische König Friedrich der Grosse trug Gummi-Reitstiefel, die ähnlich wie das Schuhwerk der Azteken hergestellt wurden: Verflüssigter Kautschuk wurde um eine Positivform aus Ton gestrichen, die nach dem Abhärten des Gummis zerschlagen wurde – und fertig war der Gummistiefel. 1770 kamen die ersten Radiergummis in Gebrauch. Dem schottischen Chemiker und Erfinder Charles Macintosh gelang der textile Durchbruch. Er verband 1823 unter Hitzeeinwirkung Baumwollgewebe mit gepresstem Kautschuk. Das Ergebnis, «Gummibekleidung» (rubber cloth), liess er patentieren.

Seinem Geschäftspartner Thomas Hancock, ursprünglich Säger von Beruf, war zuvor in langen Versuchen eine ebenso bahnbrechende Entwicklung gelungen: Die erste Matratze aus Kautschuk und, damit verbunden, das Schneiden, Rollen und Pressen von Gummi auf industrieller Basis. Das wasserfeste Tuch liessen Hancock und Macintosh von Schneidern zu wetterfester ­Bekleidung vernähen. Sie kam gut an, hatte aber zwei handfeste Nachteile: Die Gummischicht wurde hart, wenn es kalt war, und klebrig-weich, wenn die Sonne schien. Das schränkte den Anwendungsbereich selbst für Regenkleidung allzu stark ein. Einer der Vorarbeiter des 1843 verstorbenen Macintosh gründete 1895 das Unternehmen neu unter dem leicht veränderten Namen ­« Mackintosh» und mit wesentlich verbesserten Materialien. Die wasserdichten Naturkautschukmäntel, von Hand zugeschnitten und verleimt, werden bis heute hergestellt. Fieberhaft wurde in verschiedenen Ländern nach Möglichkeiten gesucht, Kautschuk dauerhaft zu verfestigen. Der entscheidende Schritt gelang, nach jahrelangem Ausprobieren, 1839 dem US -amerikanischen Tüftler und Unternehmer Charles Goodyear: die Vulkanisierung. Dabei wird eine Mischung aus Kautschuk, Schwefel und anderen Stoffen erhitzt, und aus einer klebrigen, wabernden Masse wird Hartgummi, ein festes, formbares Material, das sich in Blöcke pressen und in Streifen schneiden lässt. Vulkanisierter Kautschuk hielt auch über lange Zeit grosser Hitze und Kälte stand, er blieb wesentlich länger elastisch, hatte darüber hinaus eine höhere Reissfestigkeit und liess sich weiter dehnen: Ein Wunderstoff war geschaffen worden. Kautschuk als erster globaler Rohstoff  Kautschuk sollte wegen dieser überragenden Materialeigenschaften in den kommenden Jahrzehnten eine grosse indus-

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trielle Karriere machen. Gigantische, Tausende von Hektaren umfassende Plantagen wurden zuerst in Brasilien angelegt. Später, nachdem es den Briten gelungen war, Samen des Kautschukbaumes (Hevea brasiliensis) aus dem Land zu schmuggeln, wurde auch in den britischen und niederländischen Kolonien Südostasiens Kautschuk gewonnen – Malaysia zählt noch heute zu den grössten Anbauländern. Im heutigen Kongo in Zentralafrika herrschte der belgische König Leopold um die Wende zum 20. Jahrhundert mit einem Schreckensregime, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen, um – im Hinterhof des Weltgeschehens – mit Kautschuk das grosse Geld zu machen. Kautschuk war der wichtigste Rohstoff für die Produktion von Reifen. Die 1898 gegrün­ dete Firma Goodyear wurde zu Ehren des Erfinders der Vulkanisierung so benannt. Hartgummi dichtete und dämpfte sowohl in Maschinen und Schiffen als auch in Kriegsgeräten und wurde wegen seiner hervorragenden Elastizität auch für viele textile Anwendungen zum zunehmend unentbehrlichen Rohstoff. Manche Produkte, unter ihnen der medizinische Kompressionsstrumpf, wurden erst mit Kautschuk überhaupt möglich. Schon 1820 schnitt man erstmals Kautschukfäden zu, um sie in Stoffe zu verweben und damit Textilien mit einer elastischen Wirkung herzustellen. Doch die Ergebnisse waren unbefriedigend. Die Fäden liessen sich zwar stark dehnen, ihre Rückstellkraft liess aber zu wünschen übrig. Nur neun Jahre nach der Erfindung der Vulkanisierung liess der Engländer William Brown 1848 ein Verfahren patentieren, mit dem sich aus Hartgummiblöcken geschnittene Fäden auf einem Webstuhl zu «elastic stockings», elastischen Strümpfen, verarbeiten liessen. Ihr Tragekomfort soll sehr bescheiden gewesen sein. Das kann nicht verwundern. Ein Gummifaden wirkt klebrig, weil er fast keine Reibung zulässt. Drei Jahre später meldete Jonathan Sparks beim

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SIGVARIS heute

Patentamt ein Verfahren an, mit dem sich Gummifäden mit Baumwolle oder Seide umwinden liessen. Das Tragegefühl der Strümpfe war gegenüber den reinen Gummistrümpfen um Welten besser, doch das umwundene Garn war weitgehend unelastisch geworden. Dennoch waren damit die technischen Voraussetzungen für eine breite Anwendung von Gummifäden in der Textilindustrie geschaffen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hielten elastische Bänder oder Fäden vor allem Schuhe, Strumpfwaren, Hosenträger und Miederwaren zusammen. Wespentaillen kamen schwer in Mode, mit elastischen Bändern liessen sich Korsetts nahezu beliebig schnüren. Um 1890, als das Zusammenpressen des weiblichen Oberkörpers gesundheitsschädliche Ausmasse angenommen hatte, galt ein Taillenumfang von 54 Zentimetern als ideal. Wer bei solchen Korsetts zu fest anzog, musste mit Atemproblemen bis zum Bewusstseinsverlust rechnen. Sogar Organschäden wurden von Medizinern befürchtet, auf einigen zeitgenössischen Darstellungen sind innere Organe grotesk übereinander geschoben. Wer indes alltägliche Fotos aus dieser Zeit betrachtet, darf annehmen, dass sich die vorwiegend zur wirtschaftlichen und politischen Elite zählenden Damen höchstens für die Pose ins ganz enge Korsett zwängen liessen. Für Gummifäden und -bänder war wegen ihrer langen Haltbarkeit nur das beste Ausgangsmaterial geeignet: Wildgummi. Er wurde zuerst gewaschen, um natürliche Verunreinigungen zu beseitigen, danach mit Vulkanisationsmitteln, Farbstoffen, Alterungsschutzmitteln und einigen anderen Stoffen vermischt und geknetet, bis eine gleichmässige, plastische Masse entstand. Daraus wurden auf speziellen Walzen Platten gezogen, aus denen Fäden mit quadratischem Querschnitt geschnitten wurden. Dieses Verfahren ist bis heute in Gebrauch. Gummifäden für medizinische Kompressionsstrümpfe


Fast etwas versteckt sitzt er hinter dem Pult in der Ecke seines grossräumigen Büros und blickt auf den Bildschirm. Bertrand Lun tüftelt und erforscht die Frage: Wie funk­ tioniert die Kompression? Dabei hat er sich im Lauf der Jahre in der Welt der Interna­ tionalen Phlebologie eine hohe Anerkennung erarbeitet und wird von vielen Ärzten als gründlicher Wissenschaftler geschätzt. Bertrand Lun kam 1975 aus Kambodscha nach Frankreich. Hier studierte er Mechanik und Textilingenieur. Er bildete sich laufend weiter, bis er 2009 die Gelegenheit erhielt, an der Universität Lille als Doktor der Ma­terialwissenschaften zu promovieren. Die von SIGVARIS unterstützte Doktorarbeit

Bertrand Lun ist verantwortlich für angewandte Forschung bei SIGVARIS in Frankreich.

schrieb er 2009 über Kompressionsstrümpfe. Er analysierte darin die Wirkung von Kom-

ihre Wirkung auf Haut und Beine. An der

pression und entwickelte Methoden, um

Firmenkultur schätzt er den Zusammenhalt.

die Wechselwirkungen des Strumpfes mit

«Über Probleme und Strategien wird oft

der Haut und mit den Beinen zu beschreiben.

hart diskutiert, aber wenn eine Entschei-

«Mich beschäftigt die Messung ermüdeter

dung getroffen ist, ziehen alle an einem

Beine», erklärt Lun und setzt einen Kugel-

Strick.» Lun ist auf der ständigen Suche nach

schreiber mit der Spitze voran senkrecht und

neuen Herausforderungen und Lösungen,

reglos auf ein Papier. «Dieses Bein ist fit.

bevor die Konkurrenz ein Problem über-

Wenn es aber nur einige 100 Meter läuft,

haupt erst wahrnimmt. Bei SIGVARIS findet

fängt die Achse an zu rotieren.» Langsam

er die nötige Unterstützung. «Es ist eine

beginnt er mit dem oberen Ende des Kugel-

Firma, die noch bereit ist, Risiken einzuge-

schreibers zu kreisen, während die Spitze

hen.» Bertrand Lun hat drei Kinder, die alle

auf demselben Punkt bleibt. «Dadurch ermü-

schon berufstätig sind. In seiner Freizeit

det das Bein. Wir haben das gemessen und

widmet er sich der japanischen Kampfkunst.

mit Kompressionsstrümpfen war es deut-

«Ich bewundere die Bewegungsabläufe

lich besser.» Deshalb trägt Lun selbst auch

und die Philosophie dahinter.»  ■

gerne den SIGVARIS «Cotton». Für seine Unter­suchungen arbeitet er regelmässig mit Partnern der Universitäten Lyon und SaintÉtienne sowie mit Phlebologen aus dem In- und Ausland zusammen. Das Verhältnis zwischen Bein und Strumpf, physiologische und biomechanische Eigenschaften sind sein aktuelles Thema. Dabei forscht er weiterhin über Kompression, Materialien und

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Das Anziehen von medizinischen Kompressionsstrümpfen ist nicht einfach. Um Strümpfe mit höherem Kom­

Anziehen der Fuss ganz ausgestreckt

pressionsdruck richtig anzuziehen,

werden kann.

braucht es Kraft. Neben der Kom-

Beim SIGVARIS -Strumpf «Expert»

pressionsklasse gibt es aber andere

wurde nun die Innenseite mit einem

wichtige Einflussgrössen, die das

neuartigen Garn verstrickt, das sich

Anziehen erleichtern oder erschwe-

leichter über die Haut streifen lässt.

ren können: etwa die Reibung zwi-

Es ist ein Strumpf mit einem Druck

schen dem Gestrick und der Haut,

von 30 bis 36 mmHg, der bei schwe-

die Beinform oder die Form des

reren venösen Erkrankungen ver-

Strumpfes. Betrand Lun erforscht bei

schrieben wird. Zudem ist er weniger

SIGVARIS in Saint-Just-Saint-Ram-

längselastisch, was die notwendige

bert die Wirkung dieser verschiede-

Zugkraft besser verteilt. Zwar ist der

nen Parameter. Er hat eine Methode

Kraftaufwand zu Beginn des Anzieh-

entwickelt, mit der sich die Anzieh-

prozesses etwas grösser, doch dann

barkeit verschiedener Strümpfe mes-

kann der Strumpf leichter über die

sen und vergleichen lässt.

Ferse gezogen werden. Ein möglichst

Am stärksten ist der Widerstand

gleichmässiges Ziehen erfordert we-

beim Überziehen der Kompressions-

niger Kraft als ruckweises Anziehen.

strümpfe über die Passage zwischen

Muskelmessungen haben bewiesen,

Ferse und Rist. Denn dort muss der

dass der gesamte Kraftaufwand beim

Strumpf einen Richtungswechsel

«Expert» kleiner ist als bei einem

vornehmen, von der Fussrichtung zur

­traditionellen Produkt der gleichen

Bein-Längsrichtung. Deshalb ist es

Kompressionsklasse.  ■

bereits eine erste Hilfe, wenn beim

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SIGVARIS heute

haben einen quadratischen Querschnitt, damit sie besser im Gewebe haften. Runde Gummifäden werden seit den frühen 1930er-Jahren produziert. Dazu wird flüs­siger Kautschuk mit verschiedenen Chemikalien vermischt und durch feine Düsen gespritzt. Ganzoni ab 1864 im elastischen Geschäft  In diesem Geschäft rund um elastische Bänder und Fäden mischte mit wechselndem Erfolg schon seit 1864 auch der Winterthurer Jungunternehmer Moritz Ganzoni mit. Das Thema Elastizität prägt das Unternehmen bis heute. Mit Kompressionsstrümpfen hatte Ganzoni aber noch nichts am Hut. Es waren andere, vor allem englische Firmen, die diesen Markt damals beherrschten. 1861 gelang William Savile der technologische Durchbruch. Mit dem Patent Nr. 2709 konnten Gummifäden auf einem Handwirkstuhl verarbeitet und besser an die Anatomie des Beines angepasst werden. Er nannte sie «elastical surgical stockings», elastische chirurgische Strümpfe, und rasch entwickelte sich ein ganzer Industriezweig. Julius Römpler lernte das neue Handwerk in England von Grund auf und baute 1870 im thüringischen Städtchen Zeulenroda eine eigene Produktion auf. Ein halbes Jahrhundert später sollte sich hier das Weltzentrum für flachgestrickte Kompressionsstrümpfe befinden, mit rund 30 produzierenden Firmen vor Ort. Zu der Zeit hatte 1928 auch die Firma Ganzoni die Produktion aufgenommen – als ein Geschäft von vielen. Erst in den 1950er-Jahren wurden die Weichen neu gestellt – im Zuge der Entwicklung einer für die Kompressionsstrumpffertigung massgeschneiderten Rundstrickmaschine, die von Ganzoni technisch weiter verfeinert wurde. Damit liess sich erstmals überhaupt ein Kompressionsstrumpf mit von unten nach oben abnehmender Kompression herstellen. Mit der bis heute produzierten 500er-Serie schuf das Unternehmen einen der Konkur-


renz qualitativ überlegenen Kompressionsstrumpf, der den Ruf von SIGVARIS als «Mercedes der medizinischen Kompression» nachhaltig prägte. Der Gummifaden blieb über Jahrzehnte der wichtigste Rohstoff für jeden Kompressionsstrumpf. Die hautfarbenen, wegen der verwendeten dicken Fäden grob wirkenden Strümpfe begleiteten Generationen von älteren Frauen mit Beinproblemen durch den Alltag. Ihnen kam es vor allem auf die Wirkung an. Ästhetische Aspekte spielten kaum eine Rolle, zumal es fabrikationstechnisch keine Alternative zum Gummifaden gab. Doch das sollte sich ändern. Ganzoni als Kriegsgewinnler gebrandmarkt   Parallel zum Kautschukboom hatte schon Ende des 19. Jahrhunderts mit Aufkommen der chemischen Industrie die Suche nach Alternativen begonnen. Die extrem starke Importabhängigkeit war allen imperialistischen Ländern der Epoche ein Dorn im Auge. Kautschuk war zum kriegswichtigen Rohstoff geworden, ohne den Naturgummi drehte sich kaum ein Rad mehr, und entsprechend wurde im Ersten und Zweiten Weltkrieg die Produktion für zivile Zwecke faktisch verboten. Ganzoni, ein damals kleiner, sehr stark exportorientierter Schweizer Fabrikant von elastischen Naturgummiartikeln, sollte die Folgen nicht nur im Krieg, sondern auch danach zu spüren bekommen. Die Siegermächte erklärten Gan­zoni kurzerhand zum Kriegsgewinnler und setzten das Unternehmen unberechtigterweise nach beiden Kriegen auf schwarze Listen, weil auch die unterlegenen, feindseligen Staaten beliefert worden waren. Es brauchte gehörige Überzeugungsarbeit, bis diese Einträge wieder gelöscht wurden. Die Suche nach einer synthetischen Alternative zum Kautschuk wurde 1908 von Erfolg gekrönt: Dem deutschen Chemiker Fritz Hofmann gelang es, mit «Buna» den ersten synthetischen Kautschuk der Geschichte zu

präsentieren. Er eignete sich aber nur als Hartgummi. Spätere Entwicklungen in Deutschland und den USA liessen auch eine Verwendung zur Produktion von Fäden zu, vor allem in Kriegszeiten. Doch qualitativ war der Naturgummifaden noch meilenweit überlegen. Künst­licher Kautschuk ist heute weiter verbreitet als natür­licher, in der Textilindustrie findet er wegen der unter­legenen Materialeigenschaften aber vorwiegend in Nischenprodukten Verwendung: Neoprenanzüge etwa sind daraus gefertigt. Kunstfaser als Alternative zu Baumwolle und Seide Die enormen Preisschwankungen des Marktes, die Probleme, konstante Qualitäten aufrechtzuerhalten, und einige handfeste Nachteile wie die nach wie vor ungenügende Hitzebeständigkeit und Dauerhaltbarkeit machten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Suche nach künstlichen Alternativen attraktiv. Das Marktpotenzial für synthetische Fasern war gerade am Textilienmarkt gigantisch. An medizinische Kompres­ sionsstrümpfe dachte bei diesen Entwicklungen aber noch kein Mensch. Vielmehr ging es um billige Alter­ nativen zu den vergleichsweise teuren natürlichen Materialien Baumwolle und Seide. Erste Kunstfasern auf Basis von Cellulose gab es schon Ende des 19. Jahrhunderts. Diese als «Chardonnet-Seide» vermarkteten Garne wurden auf Basis der «Schiessbaumwolle» (Nitro­ cellulose) hergestellt und verschwanden wegen ihrer hohen Brandgefahr rasch wieder. Erst mit der Entwicklung eines Verfahrens, das als Grundstoff auf den bil­ ligen Holzzellstoff setzte, kam der kommerzielle Durchbruch der Kunstseide Viskose, die bis heute, auch unter anderen Markennamen, produziert wird. Basis war mit Cellulose aber nach wie vor ein natürlicher Rohstoff, der mit einem chemischen Verfahren umgewandelt wurde.

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Durchbruch mit Polyamid 6.6   Bis zur ersten vollsynthetischen, aus Erdölderivaten gewonnenen Faser, sollte es noch einige Jahrzehnte dauern. 1935 gelang einer Forschergruppe des US -amerikanischen Chemiekonzerns DuPont der Durchbruch mit Polyamid 6.6, das sich als erster Kunststoff zu feinen Fäden verspinnen liess. Mit seiner hohen Reissfestigkeit und guten Elastizität stellte es die allermeisten Naturfasern in den Schatten. 1939 wurde in einer der ersten grossen Werbeinszenierungen der Geschichte ein Produkt lanciert, das die Welt der Strümpfe nachhaltig verändern sollte: zu feinen Strümpfen verstrickte Polyamidfasern unter dem Markennamen Nylon™. Sechs Millionen Paare der teuren, aber unvergleichlich feinen Strümpfe sollen in nur vier Tagen verkauft worden sein. Die deutsche IG Farben hatte da schon ein eigenes Polyamid patentieren lassen, das auf Basis eines von den Amerikanern nicht weiterverwendeten Ausgangsproduktes von Polyamid 6.6 entwickelt worden war. Sie tauften es Perlon™. Die beiden Firmen einigten sich darauf, sich auf dem jeweiligen Heimmarkt nicht zu konkurrenzieren. Eine grosse textile und zivile Karriere schien beiden synthetischen Fasern sicher. Der Zweite Weltkrieg beendete diese Pläne abrupt, statt Feinstrümpfe wurden Fallschirme produziert. Der Nylonstrumpf wurde, gerade weil er in den Kriegsund Notzeiten so schmerzlich vermisst worden war, in der Nachkriegszeit zum Synonym für Wohlstand und Schönheit. Im kriegsversehrten Deutschland waren Nylonstrümpfe bis zur Währungsreform 1949 neben Zigaretten die Ersatzwährung auf dem Schwarzmarkt. Erst ab 1950 wurde Deutschland die Produktion von Polyamiden wieder gestattet. Die 1950er-Jahre standen im Zeichen nahtloser Strümpfe, tieferer Preise und von mehr Farben und zunehmender Transparenz am Bein. Doch ein Nachteil der Polyamidstrümpfe blieb: Sie pass-

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SIGVARIS heute

ten nie ganz optimal auf die menschliche Anatomie, vor allem am Knie und an den Fussgelenken zeigten sich Falten im Gewebe. Man nahm sie mangels Alternativen in Kauf, zumal mit der Entwicklung texturierter Garne die Passform deutlich verbessert werden konnte. Heute sind Polyamide aus der Welt der Textilien nicht mehr wegzudenken. Das hat gute Gründe: Polyamidfasern nehmen nur wenig Feuchtigkeit auf, sie sind knitterfest und scheuern nicht so leicht durch. Zudem sind sie resistent gegen den Befall mit Bakterien oder Milben, nehmen keine Chemikalien auf und lassen sich gut färben. Vorzugsweise in Mischgeweben finden sich Polyamide am häufigsten in der Sport-, Freizeit- und Badebekleidung, in Unterwäsche, Feinstrümpfen – und als Maschenfaden im Kompressionsstrumpf. Polyamide wurden wegen ihrer positiven Eigenschaften, aber auch wegen des etwa im Vergleich zu Baumwolle günstigeren Preises schon bald nach ihrer Erfindung für die Kompressionsstrumpffertigung eingesetzt. Sie sind bis heute das Basisgarn geblieben. Kompressionsstrümpfe von SIGVARIS bestehen heute je nach Modell zu 60 bis 80 Prozent aus Polyamid. Auch die meisten elastischen Fäden im Kompressionsstrumpf werden mit Polyamiden umwunden, um den Tragekomfort zu verbessern. Elastane erst seit 1959  Als Gummiersatz kommen Polyamide wegen der weit geringeren Elastizität aber nicht in Frage. Erst mit Entwicklung der Elastane rückte diese Option in Sichtweite. Der Durchbruch gelang 1959 wieder DuPont mit Lycra™, der ersten synthetischen Faser, die sich bis zur siebenfachen Länge ausdehnen liess und fast vollständig wieder zusammenzog. Die chemische Basis dafür, Polyurethan, aus dem bis heute beispielsweise Haushaltschwämme hergestellt werden, war schon zwei Jahrzehnte zuvor in Deutschland entwickelt worden. Für die Verwendung in Fein-


Luc Pradon leitet die Umwinderei in Andrézieux. Luc Pradon kommt näher, hebt die Stimme,

sich in Saint-Just. Nach einem Praktikum

Techniken für ihre Verarbeitung. Er weiss

doch was er sagt, geht im starken Lärm der

absolvierte er eine Lehre als Maschinen­

deshalb in der Regel sofort, wo der Fehler

Umwindemaschinen unter. Aber für Erklä-

techniker, bevor er seinen Militärdienst als

liegt, wenn ein Faden nicht seinen Vor­

rungen ist auch später noch Zeit. Wichtig ist

UNO -Blauhelmsoldat im Libanon antrat.

stellungen entspricht.

ihm jetzt, alle Mitarbeiter mit Handschlag

Er war auf einem Berg im Grenzgebiet zu

Wenn er die Halle mit den riesigen Umwin-

zu be­grüs­sen. Im Lagerraum erklärt er dann:

­Israel stationiert, als der Zweite Golfkrieg

demaschinen verlässt und nach Hause

«Der Schlüssel für qualitativ hochstehende

ausbrach. «Unsere Abteilung befürchtete

fährt, könnte der Kontrast nicht grösser sein.

medizinische Kompressionsstrümpfe ist

den Einsatz von Atomwaffen, und wir waren

Er lebt mit seiner Frau und den drei Kin-

ein gutes umsponnenes Garn.» Ihm bedeutet

­gezwungen, immer die Strahlen­schutz­

dern in einem kleinen Dorf. Sein Haus ist von

es viel, in einer Firma zu arbeiten, wo genau

kleidung bei uns zu tragen», erinnert sich

3000 Quadratmetern Garten umgeben.

dies im Zentrum steht: die Qualität der

Luc Pradon. Nach diesen Erfahrungen war

Dort hält sich der Weinliebhaber gerne auf,

­hergestellten Produkte. Angefangen hat er

er froh, wieder in Saint-Just arbeiten zu

wenn er mit seinen Kindern nicht gerade

1988 noch bei der damaligen Tricotage

­können. Motiviert ist er noch heute: «Hier

Sport treibt oder im Herbst die Wälder auf

­Élastique du Forez (T. E. F.) in Saint-Just-

werden die Mitarbeiter gefördert. Das will

der Suche nach Pilzen durchstreift. Ausser-

Saint-Rambert. Er stiess auf die Firma, weil

ich auch in meinem Bereich tun, wo ich

dem engagiert Luc Pradon sich auch politisch

sie als Leibchensponsor seines Basketball-

die Verantwortung trage. Ich möchte, dass

im Gemeindeparlament. Und je nachdem,

Klubs auftrat und er eines Tages fragte, was

unser Team den Ehr­geiz hat, das beste

wo er sich gerade aufhält, trägt er die

man hier eigentlich pro­duziere. Zu dieser

Garn herzustellen.» Die Umwinderei in An­

SIGVARIS -Strümpfe «Bambou», ­« Urban»

Zeit distanzierte er sich gerade von seinem

drézieux ist die jüngste Produktionsstätte

oder «Instinct».  ■

Traumberuf Koch, da ihm bewusst wurde,

von SIGVARIS, und Luc Pradon leitet sie

dass er immer dann arbeiten würde, wenn

gerne. Er hat sein Handwerk von der Pike

seine Freunde frei hätten. Deshalb bewarb er

auf g ­ elernt, kennt die Fäden und die

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Wirksam gegen Muskelkater und Cellulite: Die Funktionalität neuer Materialien zu untersuchen, kann sich für SIGVARIS lohnen. Es war die brasilianische Niederlas-

tisch und doch widerstandsfähig. Be-

sung des französischen Garnherstel-

sonders effektiv ist der «Sculptor»

lers Rhodia, die SIGVARIS do Brasil

dort, wo die Eigenschaften des

ein neues Garn namens Emana vor-

Garns mit der traditionellen Kom-

stellte. Es handelt sich um ein modi-

pressionstherapie zusammenwirken.

fiziertes Polyamid, das inzwischen in

Beim Sport reduzieren Textilien mit

vielen Textilien zum Einsatz kommt.

Emana den Milchsäureanteil im Blut,

Die eingearbeiteten bioaktiven Parti-

sie verhindern dadurch eine schnelle

kel verleihen dem Material die

Ermüdung der Muskeln und lindern

­Fähigkeit, das von den oberen Haut-

Muskelkater. SIGVARIS do Brasil wird

schichten abgestrahlte Infrarot um-

deshalb auch Sportstrümpfe mit

zuwandeln und zu reflektieren.

Emana auf den Markt bringen. Die

Gleichzeitig kann die Körperfeuch-

Wirksamkeit der Emana-Kompressi-

tigkeit durch das Garn entweichen.

onsstrümpfe wurde durch einige Stu-

Dies wirkt gegen Cellulite – ohne

dien belegt. Auch wenn deren Resul-

dass die Trägerin das Gefühl hat, zu

tate keine hohe wissenschaftliche

schwitzen. Zudem verbessert Emana

Evidenz aufweisen, hat SIGVARIS be-

die Blutzirkulation und erhöht die

schlossen, die Emana-Produkte wei-

Hautelastizität. Laut Studien leiden

terzuentwickeln und neue Studien

90 Prozent der Frauen irgendwann

durchzuführen. Dies dem Grundsatz

unter der sogenannten Orangenhaut.

folgend, dass für alle SIGVARIS -Pro-

Der Strumpf «Sculptor», in den Ema-

dukte ein Wirkungsnachweis er-

na eingestrickt ist, fühlt sich weich

bracht sein muss.  ■

an, ist relativ leicht anzuziehen, elas-

strümpfen waren die ersten Generationen der Elastane noch zu grob. Bei Kompressionsstrümpfen spielte dieser Aspekt keine grosse Rolle, und so wurde Lycra™ zu Beginn fast ausschliesslich für Stützartikel eingesetzt, war dem Naturgummifaden qualitativ aber noch deutlich unterlegen. Erst die Entwicklung feinerer Garne machte den Siegeszug der Elastane im Feinstrumpfsektor ab den 1970er-Jahren möglich. Zwei Jahrzehnte später war die elastische Faser aus der edlen Strumpfhose kaum mehr wegzudenken. Und auch bei den medizinischen Kompressionsstrümpfen setzte sie sich allmählich durch, vor allem wegen ihres geringeren Gewichts und der besseren Haltbarkeit. SIGVARIS tat sich lange schwer mit dem Umstieg, man war überzeugt von der qualitativen Überlegenheit des Gummifadens und erachtete modische Aspekte beim medizinischen Kompressionsstrumpf als nebensächlich. Erst mit Verspätung sprang die Firma auf den bereits angefahrenen Zug auf und zahlte einiges Lehrgeld, bis der technologische Rückstand auf die Konkurrenz aufgeholt war. Von den rund fünf Milliarden Feinstrümpfen, die heute jährlich gefertigt werden, sind in jeden achten Elastanfäden eingearbeitet, wobei der Elastan-Anteil bei wenigen Prozent liegt. Das genügt, um dem Strumpf oder der Strumpfhose eine formende oder stützende Funktion zu verleihen. Mit bis zu 30 Prozent ist der A ­ nteil der Elastane bei medizinischen Kompressionsstrümpfen wesentlich höher. Diese halten einen Anteil von gerade einmal einem halben Prozent am Weltmarkt der elastischen Feinstrümpfe. Von den rund 30 Millionen Paaren, die jährlich verkauft werden, produziert SIGVARIS gut 25 Prozent – ein Big Player in der Nische. Ein Hauch von Nichts am Bein  Mitte der 1980erJahre standen Elastane zur Verfügung, die den elastischen Qualitäten eines Naturgummis sehr nahe kamen,

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SIGVARIS heute


dabei aber wesentlich feiner waren. Gemessen wird die Feinheit mit verschiedenen Verfahren, am gebräuchlichsten ist die Wägung nach dem 1969 in Deutschland eingeführten Tex-System. Ein Tex entspricht dabei einem Gewicht von einem Gramm pro 1000 Meter. Ein zehn Kilometer langer Faden von 0,1 Tex oder 1 Dezitex wiegt demnach ein Gramm. Während die feinsten Naturgummifäden Stärken von minimal 90 dtex erreichen, sind heute Elastangarne mit Fadenstärken bis zu 8 dtex im Angebot: Frau trägt dann einen Hauch von transparentem Nichts am Bein, noch nicht einmal Seide kann dieses Gefühl vermitteln. An diese Grenzen kann ein Hersteller medizinischer Kompressionsstrümpfe wie SIGVARIS nicht gehen. Das liegt an den in manchen Ländern v­ orgegebenen Normen, die die Verwendung von gröberen Garnen verlangen. Das höchste der Gefühle sind die 22 dtex, die im feinsten Kompressionsstrumpf von SIGVARIS, dem in Frankreich gefertigten «Diaphane», verstrickt werden. Die unterschiedlichen Normen haben Auswirkungen auf den Tragekomfort. Nach französischer Norm gefertigte Kompressionsstrümpfe sind ­denjenigen, die den deutschen Vorschriften folgen, überlegen: Deutsche, österreichische und Schweizer Kompressionsstrumpfträgerinnen und -träger

dürfen durchaus neidisch sein. Diese nationalen Normen prägen heute nicht nur das Empfinden von Trägerinnen und Trägern, sondern auch der Marktteilnehmer. So gelten die f­ ranzösischen Kompressionsstrümpfe mit leichtem Druck unter 20 mm auf der Quecksilbersäule, gemessen oberhalb des Knöchels, andernorts nicht als «medizinisch» – obwohl deren Wirksamkeit in verschiedenen Studien nachgewiesen ist. Auch wenn es in Brasilien und den USA, zwei weiteren Produktionsstandorten von SIGVARIS, keine verbindlichen Normen gibt, so orientiert sich das Unternehmen bei den medizinischen Kompressionsstrümpfen aus freien Stücken an den in Europa entwickelten Vorgaben, die die beste medizinische Wirkung haben. Deutlich grösser ist der Spielraum bei den neu entwickelten Produktlinien WELL BEING und SPORTS. Hier spielt, was elastische Garne betrifft, eine wesentlich feinere Musik. Das zeigt die Entwicklung der Linie BIEN -­ETRE in Frankreich, der «Running Socks» von SIGVARIS Schweiz, des Wanderstrumpfes «Merino» von SIGVARIS USA oder des mit Anti-Cellulite-Eigenschaften ausgestatteten «Sculptor» von SIGVARIS Brasilien. Sie alle versprechen nochmals verbesserten Tragekomfort bei gleichbleibender medizinischer Wirkung.

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Die frisch umwundenen Garne müssen für die weitere Verarbeitung an den Rundstrickmaschinen teilweise auf präzisere Spulen gewickelt werden. Eine Mitarbeiterin prüft in der Umspulerei in Andrézieux, Frankreich, den Fadenlauf.



Links: Die Umwindung von Garnen für Kompressionsstrümpfe stellt aller­höchste technische Ansprüche. Im Bild eine Fadenführung in der Umwinderei in Andrézieux, Frankreich. Rechts: Blick in die klimatisierte Umwinderei, die weitgehend automatisiert ist. Temperatur und Luftfeuchtigkeit müssen zu allen Jahreszeiten konstant bleiben.



Strickereihalle in Jundiaí, Brasilien. Die leistungsfähigen Strumpfautomaten der neuesten Generation sind computergesteuert, schnell und wartungsarm. Am technischen Prinzip hat sich seit den Pioniertagen vor bald 60 Jahren, als SIGVARIS die ersten Strümpfe mit kontrollierter medizinischer Wirkung fertigte, nichts geändert.



Die geschickten, erfahrenen Hände und das gute, geschulte Auge bleiben bei aller modernen Technik in der ­Fertigung von Kompressionsstrümpfen u ­ nersetzlich. Links: Maschenzählen in Saint-Just, Frankreich. Rechts: Sichtkontrolle eines Gestricks in Saint-Louis, Frankreich.



Strumpfautomaten sind hochkomplexe Maschinen. Ihre Einrichtung, Fein­einstellung und Wartung ist eine Sache für erfahrene Spezialisten, die bis zu zwei Jahre lang in ihre anspruchsvolle Aufgabe eingeführt werden. Links: ­Jundiaí, Brasilien. Rechts: Peachtree City, USA  , St. Gallen, Schweiz  , S­aint-Just, Frankreich  .



Frankreich

Saint-Just-Saint-Rambert  Grossbritannien

Kanada

Andover

Montréal

Peachtree City

Andrézieux

USA

Frankreich

JundiaÍ  Brasilien

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S I G VA R I S weltweit


SIGVARIS weltweit  Wenn sich in den SIGVARIS -Büros in Shanghai der Arbeitstag dem Ende zuneigt, ist es in St. Gallen Mittag, während in Peachtree City der Tag anbricht. In den Produktionsstätten in der Schweiz, in Frankreich, den USA und Brasilien laufen die Ma­schinen im Schichtbetrieb rund um die Uhr. Über sieben Millionen Kompres­ sionsstrümpfe werden jährlich gefertigt. Erhältlich sind sie weltweit in Sanitätshäusern, Apotheken oder direkt beim Arzt.

Frankreich

Deutschland

Saint-Louis

Memmingen  Schweiz

Winterthur

Schweiz

St. Gallen

Huningue

Wien

Shanghai

Frankreich

Österreich

China

Appenzell  Schweiz

Zeitangaben beziehen sich auf Redaktionsschluss am 30. November 2013


Schweiz

SIGVARIS AG St. Gallen Rohwarenlager Umwinden Stricken Färben Nähen Forschung und Entwicklung Lager und Vertrieb  Verkauf  Marketing Kundenservice Kundenschulungen Managementzentrale Holdingsitz

Geschichte

1928 Gegründet als Filiale der Winter­ thurer Ganzoni & Cie. AG (gegründet 1864)

Produktion erster Gummistrümpfe

1958 – 1960  Entwicklung des medizi­ nischen Kompressionsstrumpfes gemeinsam mit Dr. Karl Sigg: « SIGVARIS » 1972 Erste Exporte nach USA und Kanada 1993 Erste ISO -Zertifizierung 1995 Einführung SAP 2000 SIGVARIS wird zur Hauptmarke

Erste Einzelanfertigungen

2009 Kompressionsstrümpfe für Sport 2011 Stärkung der Marke SIGVARIS durch Namensänderung von Ganzoni & Cie. AG zu SIGVARIS AG

Unternehmensgrösse

Mitarbeitende 245 Betriebliche Nutzfläche in m 2 Jahresabsatz Strümpfe (Paare)

10 470 1 650 000

Belieferte Länder

Schweiz und weitere 53 Länder

Schulungen

Schweiz Schulungen an Verkaufsstellen (POS) 340 Teilnehmende POS-Mitarbeitende 2 700 Schulungen Ärzte Teilnehmende Ärzte Weitere Schulungen für Export

Referenzjahr 2012 144

90 300

«Wir müssen die technischen Möglichkeiten nutzen.»  St. Gallen ist ein besonderer Produk­ tionsstandort der SIGVARIS Gruppe. Die Firma ist ein bedeutender Arbeitgeber im Stadtteil Bruggen, sie stellt zahlreiche Artikel her, arbei­ tet mit einem ausgeklügelten System zur Fer­ tigung von Massstrümpfen und verfügt über eine ausgeprägte Exportkompetenz. Man fühlt sich fast an die Rezeption eines Hotels erinnert. Wer durch die Eingangstür des SIGVARIS -Produktionsstandorts in St. Gallen tritt, wird meist von der charmanten Marlis Cortesi begrüsst und mit einem Besucherausweis ausgestattet. Der Bildschirm hinter ihr zeigt eine Weltkarte mit den SIGVARIS Standorten. Dann wechselt das Bild zu etwas Produktewerbung, und schliesslich erscheint eine nament­ liche Begrüssung der Besucher. Kein Zweifel: Gäste dürfen sich hier willkommen fühlen. Man ist froh, ­persönlich abgeholt zu werden, wenn man das erste Mal hier ist. Denn das mit einer weinroten Fassade verkleidete Gebäude ist in seinem Innenleben kompliziert. Es besteht aus drei Treppenhäusern und vier beziehungsweise fünf Stockwerken im Bürotrakt. Darin b ­ ­efinden sich zahlreiche Schulungs­ räume. Auf dem Dach thront die Hauswartswohnung. Ein eindrück­licher Referenzpunkt im Gebäudelabyrinth ist das grosszügige Personalrestaurant, wo auch Angestellte benachbarter Firmen essen. Man speist hier ausgezeichnet – und mitten in einem babylonischen Sprachenwirr­warr: Die SIGVARIS -Mitarbeitenden stammen aus rund 20 verschiedenen Nationen. Und auch ­ ­Jugendliche sind zu sehen: SIGVARIS bildet Lehrlinge aus. Wer am Fenster sitzt, geniesst den weiten Blick über die Stadt St. Gallen und die umliegenden grünen Hügel.

Die Räume sind hell. Das gilt auch für den Strickereisaal. Das Gebäude wurde 1972 gebaut und 1985 sowie 1989 erweitert. Zuvor produzierte SIGVARIS nur einen Steinwurf entfernt an der Rittmeyerstrasse. Seit der Gründung des Produktionsbetriebs 1928 in den Hallen einer ehemaligen Stickereifabrik hat sich die Firma in St. Gallen kontinuierlich entwickelt. Kein Wunder: Die Textilindustrie in der Gegend von St. Gallen und dem benachbarten Rheintal hat eine grosse Tradition, und die entsprechenden Arbeitskräfte waren hier, anders als am ursprünglichen Standort in Winterthur, verfügbar. Daniel Morghen ist Leiter der Produktion und Logistik. Er bringt grosse und kleine Aufträge aus Naturund Kunstgarnen und in vielseitiger Variation unter einen Hut. Über eineinhalb Millionen Paar Kompressionsstrümpfe werden hier jährlich hergestellt. Rund 10 000 Artikel sind ab Lager verfügbar. Sie werden bei Bestellungseingang noch am selben Tag ausgeliefert. Weitere 8000 Artikel finden sich im Katalog und können innerhalb eines Tages angefertigt und ausgeliefert werden. «Einzel- und Serienanfertigung praktisch gleichzeitig zu produzieren, ist eine grosse technische Herausforderung, für den Standort St. Gallen jedoch normaler Alltag», sagt Daniel Morghen, während er

Freundlicher Empfang in St. Gallen: Gäste werden auch auf dem Bildschirm namentlich willkommen geheissen.


vor einer Merz-Rundstrickmaschine steht. Sie strickt einen Kompressionsstrumpf. Es ist aber keiner, der zu einer Bestellung mit vielen gleichen Paaren gehört, sondern eine Massanfertigung. Sie kann dank einer raffinierten Steuerung auch mitten in ein laufendes Produktions-Los geschoben werden. Der Standort St. Gallen verfügt für Einzelanfertigungen über eine eigene, kleine Färberei, während grössere Stückzahlen in die Färberei Kronbühl im Nachbarort Wittenbach gebracht werden. In der Färberei für Einzelbestellungen wirkt Ivo Kryan. Konzentriert hantiert er und wiegt Farbpulver ab, als würde er im TV -Kochstudio ein kompliziertes Koch­ rezept vorführen. Dies alles scheint für Anhänger von grossen Stückzahlen zu kleinen Preisen fast ein wenig absurd. «Doch wer in Deutschland auf dem Markt bestehen will, muss diese Dienstleistung bieten», sagt später Martin Berger, seit 2011 CEO in St. Gallen. Als er seine Stelle antrat, tat er dies mit der Absicht, das Portfolio mit den Tausenden von Produkten auf die veränderten Marktbedürfnisse auszurichten. «Aber es ist eine Gratwanderung. Weil die Kunden eine grosse Produktevielfalt erwarten, müssen wir sie gut begründet anpassen.» Dennoch ist es auch für die Leitung des St. Galler Standorts ein grosses Ziel, das Lager möglichst klein zu halten und gezielt jene Strümpfe zu produzieren, die das Haus schnell verlassen. Gleichzeitig will man hier eine alte Stärke nicht aufgeben: die Verbindung von Exaktheit, Präzision und Kleinteiligkeit, verbunden mit Weltoffenheit und Mehrsprachigkeit. Sportler tragen SIGVARIS -Strümpfe  Die meisten der rund 90 Rundstrickmaschinen stammen auch in St. Gallen von Merz, doch es gibt auch Modelle von Lonati. Sie dienen unter anderem der Herstellung von Sportprodukten. Die «Running Compression Socks» sowie die «Recovery Socks» werden weltweit beworben. Sie haben ein pfiffiges Design. Profisportler in diversen Sportarten verwenden SIGVARIS -­Produkte,

Unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Strickerei herrscht eine kollegiale Stimmung. und auch die Spieler des einheimischen ­Super-LeagueClubs FC St. Gallen nutzen sie. Doch die Vermarktung über Sportgeschäfte ist schwierig, weil SIGVARIS dort kaum bekannt ist. Und in Sanitätsgeschäften und Apotheken sucht niemand Sportartikel. Dennoch dienen die Sportstümpfe und die sehr ansprechende Werbung der Imagepflege. «Die verstärkte weltweite Bekanntmachung der Marke SIGVARIS ist ein wichtiges strategisches Ziel», erklärt Martin Berger. In keinem Land ist die Marktstellung von SIGVARIS so ausgeprägt wie in der Schweiz. Das Land ist zwar klein, doch mit fast 70 Prozent Marktanteil für SIGVARIS wichtig. Mit frischem Elan möchte Martin Berger von St. Gallen aus den einheimischen Markt noch besser ausschöpfen und, wenn möglich, den Markt noch ausweiten. Seit 2004 leitet Robert Mazenauer das Inlandgeschäft. Er sagt: «Für mich als ehe­maligen Marketingleiter war SIGVARIS eine willkommene neue

Herausforderung. Heute sind meine Kunden Ärzte und Angestellte in Apotheken, Orthopädie- oder Sanitätsgeschäften. Für uns ist es wichtig, dass das Produkt einfach und verständlich ist. Das ist bei Kompressionsstrümpfen nicht immer so. Sie sind schwierig anzuziehen und benötigen eine spezielle Pflege.» Zu den Leistungen von SIGVARIS zählt Mazenauer die intensive und professionelle Kundenberatung für Ärzte und Fachgeschäfte. Ein wichtiger Aspekt der Kundenpflege sind in St. Gallen die Schulungen. Besonders anspruchsvoll sind die Ausbildungen der vielen Mitarbeiter in den SIGVARIS -Vertretungen im Ausland und deren Kunden. Die Schulung des Verkaufspersonals als Mehrwert für die Kunden nahm hier innerhalb der SIGVARIS Gruppe ihren Anfang. Sie hat heute noch eine zentrale Bedeutung. «Unter Venenproblemen leiden wesentlich mehr Menschen als angenommen. SIGVARIS hat die idealen Produkte, um

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Schichtwechsel zu nächtlicher Stunde. Dann ist es im St. Galler Vorort Haggen sehr still. sie zu lindern.» Das ist noch immer die Kernbotschaft, und die Ausbildner, etwa Monika Hübner, Leiterin des Medical Marketing, können dies auch mit Studien belegen. Wie in vielen europäischen Ländern ist der Markt auch in der Schweiz schwieriger geworden, obwohl auch hier die Krankenkassen Kompressionsstrümpfe bezahlen. Doch sie wollen die Kosten im Gesundheitswesen senken. Deshalb droht auch Kompressionsstrümpfen der Preisdruck. Von St. Gallen in die Welt   Von grosser Bedeutung für den Produktionsstandort St. Gallen ist deshalb der Export. Doch gerade dieses Geschäft ist mit dem starken Franken nicht einfach. Dessen ist sich auch Martin Berger bewusst. Dennoch möchte der CEO auch im Export weiter wachsen. Dabei sind die Märkte in Deutschland und Österreich mit eigenen Vertriebs­ standorten besonders wichtig. An dritter Stelle steht

Italien. Dort arbeitet man mit ­einem Vertriebspartner. Von St. Gallen aus werden über 50 weitere Länder und Vertriebspartner bedient. Die Internationalität sieht man auch an den Verpackungen, die in zahlreichen Sprachen auf Lager sind, sodass beispielsweise auch eine Frau in Israel in Hebräisch erfährt, was ihr ein «Traditional» zu bieten hat. Hinzu kommen alle ­anderen Länder, deren Märkte nicht systematisch bearbeitet werden, aus denen aber ebenfalls Bestellungen kommen, wenn auch nicht regel­mässig. Der Standort St. Gallen besitzt innerhalb der SIGVARIS Gruppe das grösste Know-how bei der Entwicklung neuer Märkte. Und darin liegt eine Chance, wie der Aufbau in den USA oder Brasilien beweist. Nach an-

fänglichen Schwierigkeiten und der Entlassung dieser Märkte in grössere Unabhängigkeit führte er zum Erfolg. Nun ist die SIGVARIS Gruppe daran, in Austra­ lien und Mexiko weitere, eigene Vertriebsgesellschaften aufzubauen. Doch auch Märkte wie Holland, Skandinavien, Russland, die Türkei, Japan, Indien oder Saudi-Arabien ­haben ihre Wichtigkeit. «Der Franken hat gegenüber fast allen Währungen zugelegt. Das verteuert unsere Produkte, aber damit müssen wir leben», erklärt Hans Kaljo, der für den Export verantwortlich zeichnet. «Die meisten Konkurrenten stammen aus dem Eurooder Dollar-Raum. Sie alle sind günstiger geworden. Manche Märkte sind intensiv umkämpft, und wir ­haben manchmal einen schweren Stand.» Wie das Beispiel Brasilien beweist, kann ein Markt oftmals erst richtig entwickelt werden, wenn SIGVARIS seine ganzen Stärken – also auch die systematische Schulung des Verkaufspersonals – ausspielen kann. Das ist aber nicht der Fall, wenn man bestellte Ware irgendwo hinschickt, wo das entsprechende Gesundheitsper­ sonal wenig Ahnung von der Anwendung hat. Deshalb bietet SIGVARIS auch für die Exportländer Schulungen an. Über 100 Angestellte des Gesundheits­ wesens und im Bereich Verkauf und Marketing der

In St. Gallen werden Kompressionsstrümpfe auch als ­Einzelanfertigung hergestellt. Dies erfordert viel Handarbeit. 146

SIGVARIS weltweit


Vertriebspartner kommen jährlich nach St. Gallen und lassen sich hier schulen. Die Exportverantwortlichen in St. Gallen machen die Erfahrung, dass sich in verschiedenen Kulturen und Klimazonen auch die Nachfrage unterscheidet. Grundsätzlich haben Asiatinnen und Asiaten kleinere Füsse, und entsprechend sind auch kleinere Grössen gefragt, während in heissen Ländern leichtere Strümpfe bevorzugt werden. «Jeder Markt hat seine eigenen Gesetze, und wer erfolgreich sein will, muss sich anpassen. Es gibt Märkte, da sind Sanitätsgeschäfte unsere Partner, in anderen Apotheken, dann wieder Ärzte oder Spitäler», erklärt Hans Kaljo und fährt fort: «Für Grosseinkäufe im Gesundheitswesen gibt es in einigen Märkten eine Tendenz zu Ausschreibungen. Wenn man sie gewinnt, kann man grosse Mengen absetzen, aber es besteht die Gefahr einer Preisspirale nach unten.» Immerhin habe SIGVARIS weltweit einen klingenden Namen. Dies erleichtere es, Märkte intensiver zu bearbeiten. Man sei dabei aber auf die Bereitschaft und die ­Fähigkeiten lokaler Anbieter angewiesen. Im Export arbeitet SIGVARIS allerdings nicht mit allen Artikeln, sondern mit einer reduzierten Auswahl. «Wir können aber bei Bedarf auf das ganze Sortiment zurückgreifen», versichert Hans Kaljo. Komplexes Know-how   Im Gegensatz zu SIGVARIS in Frankreich, das in seiner Produktion an den fran­ zösischen AFNOR -Standard gebunden ist, richtet ­St. Gallen seine Produktion nach den Normen der Gütezeichengemeinschaft medizinische Kompres­ sionsstrümpfe ( GZG ) aus, welche die Kriterien de­ finieren, die ein Kompressionsstrumpf aufweisen muss. Die Erfüllung dieser Normen ist in Deutschland Voraussetzung dafür, dass Krankenkassen den Kauf eines Kompressionsstrumpfes im Rahmen des Abkommens über medizinische Hilfsmittel vergüten. Für die Aus­legung und Kontrolle dieser Normen ist eine gewählte Kommission der GZG zuständig. Mitglied dort ist auch die Textilingenieurin Ulrike Krühner, in

St. Gallen verantwortlich für die Produkteentwicklung. Viele Länder wie die Schweiz, aber auch Exportländer wie Österreich oder sogar Saudi-Arabien legen für die Zulassung der Kompressionsstrümpfe ebenfalls die GZG Norm zugrunde. « GZG ist weltweit ein Türöffner», sagt Ulrike Krühner, «deshalb ist es gut, dass SIGVA­RIS in der Kommission vertreten ist.» Doch in ihren Augen hat die GZG -Norm einen weiteren Vorteil: «Das Know-how, um Kompressionsstrümpfe nach diesen ausdifferenzierten Vorschriften herzu- Martin Berger hat nicht nur den Schweizer Markt im Blick. stellen, erlangt man nicht von einem Die St. Galler exportieren in alle Welt. Tag auf den anderen.» Mit Marktforschung, die Gespräche mit Mitarbeitern ist: Während eine durchschnittliche Jeans 4000 Reivon Sanitätshäusern beinhaltet, versucht SIGVARIS im bungen auf einer rauen Oberfläche übersteht, gibt Rahmen einer regelmässigen Sortimentskonferenz, ein SIGVARIS -Kompressionsstrumpf erst nach 23 750 das Angebot anzupassen und zu lichten, wo dies Reibungen auf. möglich ist. Dabei geht es auch um Produktpflege Hinzu kommt immer auch die Verbesserung des Deund die Einführung von Neuerungen. «Die Straffung signs. «Ideal ist es, wenn wie bei dem «SensiNova»und Anpassung des Sortiments senkt mit der Verbes- Haftband eine technische Innovation mit einer ästheserung der Prozessabläufe auch die Gesamtkosten», tischen Verbesserung kombiniert wird», erklärt Ulrike erklärt Ulrike Krühner. Von besonderer Bedeutung für Krühner und ergänzt: «Interessant bei der Produktesie sind Studien, Forschung und der Einsatz neuester entwicklung sind auch Strümpfe mit eingestrickten Mustern, Initialen oder individuellen Etiketten. Wir Garne und Technologien. Eines der grossen Ziele von SIGVARIS ist es, leichter müssen die wachsenden technischen Möglichkeiten anziehbare Strümpfe zu produzieren. Es ist die Suche ausnützen, um uns von der Konkurrenz abzuheben.» nach der Eier legenden Wollmilchsau. Mit Hilfe eines Dummys in Fussform führt die Abteilung der Qualitätssicherung in St. Gallen Anziehbarkeitstests durch. Die Hauptaufgaben sind hier jedoch die Eingangsprüfungen von Rohmaterialien und die Stichproben bei Fertigprodukten. Dabei untersucht das Labor Kompressionsdruck, Dehnung, Flachmasse, Strickreihen, Farbton und Farbtiefe. Auch beanstandete Strümpfe werden untersucht, um den Ursachen der Fehler auf die Spur zu kommen. Ein Reibungstest beweist da­ rüber hinaus, wie gut die Garnqualität bei SIGVARIS

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