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Sommer 2009 Euro 2.– sFr 3.50
Diogenes
Magazin
In der Küche mit Donna Leon Maigret contra Bond Ian Fleming trifft Georges Simenon Auf Reisen mit Arnon Grünberg, Lukas Hartmann und Benedict Wells Lesen: Martin Suter und Ingrid Noll über das erste Mal www.diogenes.ch
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Amuse-Bouche
Patrick Süskind
Das Diogenes Syndrom D
ie meisten kennen den griechischen Philosophen Diogenes von Sinope, nach dem der Diogenes Verlag benannt ist. Aber wer kennt das Diogenes Syndrom? Patrick Süskind war so nett, Winfried Stephan vom Verlag auf dieses sehr spezielle Leiden aufmerksam zu machen, auf das er wiederum durch einen Leserbrief im Spiegel gestoßen war. Das Diogenes Magazin druckt hier Süskinds Brief zum ersten Mal ab. Die im Brief erwähnten Personen sind die beiden Diogenes Verleger Daniel Keel (mit seiner Frau Anna) und Rudolf C. Bettschart.
Illustration oben: © Paul Flora, Illustration unten: © Edward Gorey / Titelseite, Foto: © Teichmann / Laif
Spiegel, Nr. 40/1997, Gesellschaft: Das bizarre Doppelleben der einsamen Marianne W.: »Ihre Darstellung des Falles Marianne W. war ausgezeichnet und verweist auf die in der Öffentlichkeit oft unterschätzte Problematik psychischer Probleme alleinstehender, insbesondere älterer, Menschen. Zunehmende Vermüllung, das sogenannte Diogenes Syndrom, kann im Rahmen verschiedener psychischer Erkrankun-
gen auftreten. Zwanghaftes Sammeln, Kontrollieren, Waschen et cetera wird, sofern es anderen bekannt wird, oft belächelt und damit verharmlost. Die Betroffenen haben jedoch einen recht hohen Leidensdruck und versuchen ihre Störung aufgrund der Peinlichkeit zu verheimlichen. Wären beispielsweise die Kollegen von Marianne W. ihrem seltsamen ›Putzfimmel‹ und ihrem Nichtöffnen der Wohnungstür nachgegangen, so hätte durchaus eine erfolgreiche Behandlung eingeleitet werden können.« P. M. und G. J., Sozialambulanz für Zwangsstörungen München
Briefe
Willkommen
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ie finden das Diogenes Magazin drei Mal jährlich (im Sommer, Herbst und Winter) in Ihrer Buchhandlung oder noch bequemer in Ihrem Briefkasten, im Abonnement gegen einen geringen Unkostenbeitrag. (Eine AboKarte ist dieser Ausgabe beigeheftet). Mehr Infos unter: www.diogenes.ch
München, 21.10.1997 Lieber Herr Stephan, den beiliegenden Leserbrief aus dem Spiegel habe ich nicht ohne Besorgnis zur Kenntnis genommen, ist darin doch von einem sogenannten Diogenes Syndrom, der zunehmenden Vermüllung, die Rede, das mit gleichzeitigem zwanghaftem Ordnungs- und Putzfimmel einhergeht. Da es im Verlagsgebäude selbst immer pikobello aussieht und sich auch bei Bettscharts zuhause keine Müllberge türmen, richtet sich mein Verdacht auf die Wohnung Keel, namentlich deren 1. und 2. Stock, die dem Besucher verschlossen bleiben. Hier muss der Müll sein. Wir sollten baldmöglichst, behutsam aber nachdrücklich, auf Anna und Daniel einwirken, uns die verschlossenen Räumlichkeiten endlich zugänglich zu machen, damit die Vermüllung, die ja zu ›recht hohem Leidensdruck‹ bei den Betroffenen führt, beseitigt und eine erfolgreiche Behandlung des Diogenes Syndroms eingeleitet werden kann. Bitte lassen Sie uns in diesem Sinne zusammenwirken! Ihr Patrick Süskind
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ir freuen uns über Ihre Meinung zum Diogenes Magazin. Unsere Adresse: Diogenes Magazin, Sprecherstr. 8, CH – 8032 Zürich E-Mail: diogenesmagazin@diogenes.ch Natürlich werden wir einige Leserbriefe im nächsten Magazin abdrucken. Bitte haben Sie Verständnis, dass wir nicht alle Zuschriften persönlich beantworten können. Wie hätten wir zum Beispiel auf dieses Schreiben reagieren sollen, dem ein Manuskript beigelegt war: »Ich glaube das dieses mein Buch ein Weltbestseller wird. Wollen Sie es bald Herstellen? Das Bild an der
Titelseite meines Buches ist folgende: Ein Mörder ermordet mit einem Großen Messer einen Menschen. Oben ist der Gott abgebildet der den Mord ruhig zuschaut, aber nicht hilft! Der Titel dieses Buches ist: Gott schaut es zu aber helfen tut er nicht!« (sic!) Am meisten freut uns natürlich Lob, wobei es nicht gleich so überschwenglich ausfallen muss wie in diesem Brief, den wir kürzlich erhielten: »Ich verfolge Ihre literarische Produktion mit hellem Entzücken. Wenn ich einmal sterbe, möchte ich dies mit einem Diogenes Buch in meinen Händen tun.« Diogenes Magazin
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Ersatz für das leidige
Editorial Es gibt nichts Langweiligeres als Editorials, deshalb stattdessen zwei Gedichte: Drei Brillen von Otto Jägersberg Meine drei Brillen immer da wo sie nicht hingehören Es sollte so sein dass sie einsatzbereit auf dem Tisch liegen für jede Entfernung eine Manchmal such ich herum drei Brillen auf der Nase wo ist der Tisch
Eingetrübt von Muriel Spark Der Vorteil, wenn man trübsichtig wird, ist der, dass man nur noch die Umrisse sieht und nicht mehr die dummen kleinen Details. Alle haben eine glatte Haut. Alle Augenbrauen sind geschwungen. Alle Augen gleichen schwarzen Punkten. Alle haben saubre Kleider an. Telegrafenmasten sehen aus wie Pappeln, Ein dunkler Raum sieht aus, als müsste er so sein. Die Bilder an den Wänden der Hotels Sehn aus wie Kunst Und ich, ich kann nie meine Brille finden.
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Legendäre literarische Adressen Das Restaurant Kronenhalle in Zürich
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Das erste Mal Martin Suter und Ingrid Noll über erste Leseerfahrungen
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Ausserdem
Rubriken
Hier spricht Marlowe 56 Die coolsten Sprüche des toughsten Privatdetektivs – Philip Marlowe
Owl’s Eye 51 Über Anstreichungen in Büchern
Schnelle Geschichten 89 Mini-Geschichten für müde Leser
Amuse-Bouche Briefe Schaufenster Impressum / Nachweise Vorschaufenster
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Top 10 Reiseziele von Paulo Coelho
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Denken mit Oscar Wilde
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Hinter den Diogenes Kulissen Heinz Schmied und das Diogenes Handlager
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Wer schreibt hier? Gewinnspiel
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Mag ich – Mag ich nicht Martin Walker
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Inhalt
Venedig in Bildern 22 Donna Leon beschreibt vier ihrer liebsten Venedigbilder. Und F. K. Waechter hat selbst zum Skizzenbuch gegriffen.
Bond contra Maigret 5 Zwei legendäre literarische Figuren, zwei legendäre Schriftsteller. Vor fast fünfzig Jahren trafen sich Ian Fleming und Georges Simenon bei Lausanne.
Typisch Woody 70 Woody Allens unerhört intimes Tagebuch von den Dreharbeiten zu seinem Film Vicky Cristina Barcelona, der jetzt als DVD erscheint.
Titel-Geschichte
Gastautorin
Interviews
Kochen mit Donna Leon 15 Ein Essay (mit Rezept!) über die Leichtigkeit, Orecchiette zu kochen, ein Interview sowie eine hinterhältige kulinarische Kurzgeschichte
In einem Wasserglas 44 schwimmen lernen Elke Heidenreich über Tomi Ungerer
Illustrationen: © Edward Gorey
Belletristik Iss nur, das tut dir gut Eine Erzählung von Donna Leon
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Orangen Ein Mini-Drehbuch von Miranda July
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Reise-Reportagen Saubere Laken 47 Arnon Grünberg als Zimmermädchen in einer bayrischen Pension Ich beichte: Wir waren Japaner Benedict Wells in den USA
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Die verfälschte Wahrheit Lukas Hartmann auf Hawaii
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Georges Simenon und Ian Fleming im Gespräch
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Tilman Spreckelsen Alle Maigrets lesen
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John Simenon Mit Maigret aufwachsen
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Donna Leon über Essen
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Peter Roth über Cocktails
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Ray Bradbury 38 Über Bücher und ›Fahrenheit 451‹ Diogenes Magazin
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Georges Simenon
Ian Fleming
Gespräch
Ian Fleming trifft Georges Simenon
Bond contra Maigret
Fotos – links oben: © John Simenon; rechts oben: © Jill Krementz; links unten: © Bradley Smith/Corbis; rechts unten: © Getty Images
1964 traf Ian Fleming, nach einem Golfturnier, Georges Simenon in dessen Wohnsitz Château d’Echandens bei Lausanne. Der englische Journalist Gordon Young hatte das Treffen arrangiert und notierte die Unterhaltung zwischen den beiden Schriftstellern, die zwei Legenden des 20. Jahrhunderts erfunden haben: James Bond und Jules Maigret. Ian Fleming: Zum ersten Mal habe ich 1939 etwas von Ihnen gelesen, auf dem Weg nach Moskau. Ich legte einen Zwischenstopp in Amsterdam oder Den Haag ein. Und in der Buchhandlung gab es viele Ihrer Bücher, sie hatten damals sehr schöne Umschläge, mit Fotografien. Ich habe drei oder vier mitgenommen und war buchstäblich begeistert. Dennoch, wenn diese Buchcover nicht gewesen wären, hätte ich sie vermutlich erst Jahre später gekauft. Umschläge sind meiner Ansicht nach sehr wichtig. Den Verlagen scheint das nicht bewusst zu sein. Georges Simenon: Oh doch! Die Verlage achten sehr darauf, vor allem in den USA. Manchmal laborieren die Leute wochenlang an einem Umschlag herum und probieren fünf, sechs oder sieben Varianten aus. Ian Fleming: Dürfen Sie da mitreden? Georges Simenon: Ja, aber ich tue es nicht. Wenn ich ein Buch fertig-
geschrieben habe, kümmere ich mich nicht mehr darum. Ian Fleming: Tatsächlich? Ich schon, mir ist das sehr wichtig. Georges Simenon: Sobald das Buch diesen Raum verlassen hat, verschwindet es aus meinem Leben. Ian Fleming: Und die Korrekturen? Wer redigiert Ihre Texte?
Georges Simenon: »Ich versuche alles zu vermeiden, was nach Literatur aussieht. Mein Ziel ist Einfachheit.« Georges Simenon: Mein Verleger darf kein Komma ändern und darf mir auch keine Kommaänderung vorschlagen. Ian Fleming: Für mich ist es unverzichtbar, denn ich habe schlechte Gewohnheiten. Derzeit habe ich eine schlechte Phase, ich benutze ständig das Wort ›gerade‹: »Er war gerade fünf Meilen vor…«, »Er war gerade dabei,
ins Auto zu steigen.« Ständig dieses verflixte Wort. Georges Simenon: Das kenne ich – aber bei mir ist es von Roman zu Roman ein anderes Wort. Im einen Buch ist es ›jedoch‹, und im nächsten ›vielleicht‹. Ich brauche dann drei Tage, um alle ›vielleichts‹ auszumerzen. Ian Fleming: Das mache ich auch alles selbst, die meiste Zeit. Was mich nicht daran hindert, Dinge zu übersehen… Bei meinem Verlag habe ich einen sehr guten Lektor, William Flomer. Er ist ein sehr liebenswürdiger Mensch. Und er hat mir kürzlich gesagt, ich würde nie Ausrufezeichen verwenden. Das hat mich verblüfft. Daher habe ich mein letztes Buch mit Ausrufezeichen gewürzt wie mit Pfeffer. Mein Lektor hat sie alle dringelassen. Und da kriege ich vorgestern einen Verriss in der New York Times. Ian Fleming, schreiben die, ist nicht nur ein drittklassiger Autor, sondern er hat auch noch die pubertäre Manie, überall Diogenes Magazin
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ganzes Werk kenne ich natürlich nicht, aber sicherlich etwa fünfzig Ihrer Bücher. Georges Simenon: Ich weiß, was Sie schreiben, aber um ehrlich zu sein, habe ich Sie nie gelesen – einfach weil ich mit 25 Jahren beschlossen habe, keine Romane mehr zu lesen. Und tatsächlich habe ich seit 1928 keinen mehr
Ian Fleming: »In hundert Jahren werden Sie einer der großen französischen Klassiker sein.« gelesen. Keinen einzigen. Ich habe allerdings viele Freunde, die Schriftsteller sind und die mir ihre Bücher schicken, mit Widmungen. Ihre Bücher kenne ich aus Rezensionen, darum kenne ich sie gut. Ian Fleming: Haben Sie jemals über die Schweiz geschrieben? Georges Simenon: Nein, ich schreibe selten über das Land, in dem ich lebe. Das braucht Zeit. Ich habe ungefähr sechs oder sieben Jahre gewartet, um über die USA zu schreiben. Ich ziehe es vor, weit weg zu sein, einen gewissen
Abstand zu haben. Sie sind auf dem Trafalgar Square oder den ChampsElysées. Sie versuchen, diese Orte zu beschreiben in, sagen wir, hundert Wörtern. Das ist unmöglich: Sie sehen zu viele Details. Sie werden daraus drei Seiten machen. Aber wenn Sie in Tanganjika sind und von einem Glas Bier am Trafalgar Square oder auf den Champs-Elysées träumen, dann werden Sie das Wesentliche in zwei Sätzen ausdrücken. Darum bleibe ich lieber auf Distanz zum Ort des Geschehens. Ian Fleming: Sehr richtig. Ich schreibe alle meine Bücher in Jamaika. Ich kann praktisch nicht mehr woanders schreiben – denn dort gibt es eine Leere, und ich kann nur schreiben, wo diese Leere ist. In England geht das nicht. Das Leben, das ich dort führe, erlaubt es nicht, ganz einfach. Meine Freunde interessieren sich absolut nicht für das, was ich schreibe – sie sind überzeugt, ich könne meine Romane in fünf Minuten schreiben und dass es ohnehin keine Literatur sei. Deshalb nehmen sie auch keinerlei Rücksicht. Georges Simenon: Wir unterbrechen hier jeden Kontakt zur Außenwelt, wenn ich an einem Roman arbeite. Niemand kommt zu Besuch, nicht einmal Verwandte, und ich gehe weder in die Stadt noch ins Dorf. Ich spaziere im Garten, zähle meine Schritte und weiß dann, wie viele Kilometer ich täglich beim Luftschnappen zurücklege. Ian Fleming: Wie lange dauert dieser Zustand an? Georges Simenon: Das kommt auf die Länge des Romans an. Aber nicht nur. Es kommt auch darauf an, ob ich das Buch im Rhythmus von einem Kapitel pro Tag schreibe oder ob ich, wie beim letzten Buch, jeden Tag ein Kapitel von Hand schreibe und es am nächsten Tag nochmals abtippe. Bei manchen Büchern schreibe ich nachmittags ein Kapitel von Hand, und am nächsten Tag um sechs Uhr morgens tippe ich es nochmals ab. Ich nenne das ein Buch in zwei täglichen Sitzungen schreiben. Die anderen Romane
Foto: © Hulton Deutsch Collection/Corbis
Ausrufezeichen hinzusetzen. Dennoch glaube ich, ein Minimum an Beistand von einem guten Lektor kann manchmal sehr hilfreich sein. Wie viele Personen lesen Ihr Manuskript, bevor es in Druck geht? Georges Simenon: Meine Frau liest jeden Tag, was ich geschrieben habe, aber sie korrigiert nichts. Sie redet noch nicht einmal darüber. Ian Fleming: Meine Frau liest meine Bücher und sagt mir auch nichts darüber. Mich beunruhigt das. Georges Simenon: Ich kann mich noch nicht einmal von meinen Manuskripten trennen. Wenn ich mein Manuskript korrigiert habe, handschriftlich, wird es nicht nochmals abgetippt, sondern photokopiert, und die Kopie geht an den Verlag. So verlässt das Manuskript das Haus nicht. Lieber ein paar kleine Fehler als eine zu unpersönliche Korrektur. Ian Fleming: Ja, aber Sie schreiben ein wunderbares Französisch. Wenn es irgendwie geht, lese ich Ihre Bücher auf Französisch. Ihr Stil ist einer der schönsten. Georges Simenon: Manche französischen Kritiker sagen, ich hätte gar keinen Stil. Und sie haben recht, denn ich habe vierzig Jahre lang versucht, alles zu vermeiden, was nach Literatur aussieht. Mein Ziel ist Einfachheit. Ian Fleming: Das ist Ihnen gelungen, die Einfachheit. Ich glaube, in etwa hundert Jahren werden Sie einer der großen französischen Klassiker sein. Das war schon immer meine Überzeugung. Sie werden der Balzac des … Georges Simenon: Ehrlich gesagt ist mir das egal, denn ich werde nicht mehr da sein. Ian Fleming: Sie schreiben echte Romane. Ihre Bücher sind ja alle eigentlich ›Suspense‹-Romane, während ich etwas ganz anderes schreibe, mit viel Action und ohne Psychologie – außer beim Bösewicht, da braucht man manchmal ein wenig Psychologie, um zu erklären, warum er so böse ist. Aber ich versuche nicht, in die Tiefen meiner Figuren vorzudringen wie Sie. Ihr
Foto: © John Simenon
schreibe ich morgens und nachmittags von Hand – ein einziges Kapitel pro Tag – und tippe es am nächsten Tag ab, was doppelt so lange dauert. Ein Roman mit zwei ›Sitzungen‹ pro Tag braucht zwischen acht und elf Tagen und ein Roman mit einer täglichen ›Sitzung‹ zwischen zweiundzwanzig und vierundzwanzig Tagen, ungefähr. Die Überarbeitung dauert dann zwischen drei Tagen und einer Woche. Ich hasse es, zu überarbeiten. Ian Fleming: Mich stört das nicht. Ich spüre, dass das Buch fertig, das Werk vollbracht ist, und kann diese Arbeit eigentlich genießen. Georges Simenon: Meine Bücher kommen mir immer so jämmerlich vor, wenn ich sie wiederlese. Ich sage mir dann, dass das komplett uninteressant ist, was ich da schreibe, dass niemand dieses platte, glanzlose und so wenig schlüssige Zeug lesen wird. Ich hasse das Überarbeiten. Ian Fleming: Ich tippe meine Texte gleich in die Maschine und blicke nie zurück, bevor ich auf einer Seite unten angelangt bin, denn sonst wäre ich so entsetzt beim Schreiben, ich würde mir sagen, dass das grässliches Geschwätz ist, und könnte nie weitermachen. Ich würde sofort den Rhythmus verlieren, wenn ich gleich korrigieren würde, was ich am Vortag geschrieben habe. Georges Simenon: Das verstehe ich. Das schiebe ich auch immer auf. Ich arbeite, bis ein Buch fertig ist. Darum mag ich die Schreibmaschine: Da geht man nicht zurück, man behält seinen Rhythmus bei. Sie sprachen eben von Stil. Für mich ist Rhythmus die Definition von Stil; der Stil kommt vom Rhythmus, wie bei der Musik oder der Malerei. Es ist eine Frage des Rhythmus, der Farbe; wenn man aber schreibt und gleich wieder zurücksieht, verliert man den Rhythmus. Ian Fleming: Und man verliert das Tempo. Das Tempo halte ich für sehr wichtig. Ich glaube, in Büchern, in denen es irgendein Geheimnis gibt, wollen die Leute, dass es vorwärts geht. Sie wollen nicht plötzlich gezwungen
sein zu hinterfragen, was der Held macht und warum. Georges Simenon: Ja, bei der Art Bücher, die Sie schreiben, ist das noch wichtiger als bei denen, die ich schreibe. Ian Fleming: In meinen Büchern kommt praktisch nichts aus meinem Leben vor, abgesehen von Beobach-
Georges Simenon: »Ehrlich gesagt ist mir das egal.« tungen, die ich gemacht habe. Ich erfinde die unwahrscheinlichsten Plots: Sie sind oft inspiriert von einem kurzen Absatz, den ich in der Zeitung gelesen habe. Die Leute sagen: »Oh, das ist vollkommen absurd!« Und da spazieren auf einmal die Russen in Deutschland herum und bringen Leute mit Zyankali-Pistolen um. Letztes Jahr wurde ein sowjetischer Spion zu einer hohen Strafe verurteilt, nachdem er drei Ostdeutsche mit einer Wasserpistole getötet hatte. Ständig entdecke ich also, dass Dinge, die ich in irgendeinem obskuren Magazin gelesen habe, wahr sind und die Wirklichkeit prägen. Ich reise
aber auch viel um die Welt. Mein letztes Buch zum Beispiel spielt in Japan. Und das hätte ich auf keinen Fall schreiben können, wenn ich nicht einige Zeit dort verbracht hätte. Georges Simenon: In meinen Büchern finden sich keine bestimmten persönlichen Erfahrungen, aber für einen Schriftsteller ist alles Erfahrung, jede Sekunde seines Lebens. Wenn ich ein anderes Leben führen würde, würde ich nicht dieselben Bücher schreiben. Aber es ist nicht so, dass ich bewusst eine Tatsache oder eine Person verwende, die ich kenne. Ich kenne viele Leute, aber wenn ich jemanden treffe, sage ich mir nie: »Der würde eine gute Romanfigur abgeben.« Das Gleiche gilt für meine Reisen. Ich reise nie um des Schreibens willen, um Beobbachtungen anzustellen oder Notizen zu machen. Aber zwanzig Jahre später kommt mir alles wieder in den Sinn, und dann verwende ich dieses Material. Ian Fleming: Machen Sie sich nicht rasch Notizen, wenn Sie, sagen wir, einen originellen Namen auf einem Ladenschild sehen? Georges Simenon: Nein, niemals. Bis kürzlich habe ich Telefonbücher benutzt. Ich besaß hundertachtzig oder zweihundert Telefonbücher aus der ganzen Welt. Aber ich habe Ärger bekommen. Nun nehme ich das LittréLexikon zur Hand. Es ist wunderbar. Sehen Sie, fast alle französischen Nachnamen stammen von Gattungs- und Berufsnamen ab – Boulanger, Maréchal und so weiter. Wenn ich also ein Wort aus dem Littré nehme und jemand zufällig den gleichen Namen hat, kann er sich nicht beschweren. Ian Fleming: Ich finde meine Namen zufällig, oft auf Autofahrten. Wenn ich durch ein Dorf fahre, kann es vorkommen, dass ich auf einem Ladenschild einen Namen entdecke, der mir gefällt. Georges Simenon: Das ist die Methode von Balzac. Alle seine Namen stammen von Geschäften. Ian Fleming: Ich habe hier, besonders in der Deutschschweiz, einige Namen gefunden, die sich bestens für Böse-
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wichte eignen. Ich hatte einen gesehen, den ich wunderbar fand, aber ich kann ihn leider unmöglich verwenden, denn es ist der Name eines angesehenen Unternehmers. Es wird immer schwieriger, Namen für Bösewichte zu finden. Georges Simenon: Ja, in Amerika bleiben nur noch die Kubaner übrig. Selbst die Chinesen sind tabu. Ian Fleming: Sie haben natürlich nicht die gleiche Art von Bösewichten wie ich. Meine Bösewichte sind tiefschwarz. Aber die Leute sind ja nicht wirklich so. Ich bin es, der sie so zeichnet. Normalerweise verpasse ich ihnen einen großen Schnurrbart, weil ich Schnurrbärte hasse. Aber es wird immer schwieriger, gute Bösewichte zu finden. Und dann will ich auch keine Russen mehr nehmen. Ich habe schon vier, fünf böse Russen in meinen Büchern. Aber ich glaube, dass wir jetzt mit den Russen Frieden schließen müssen. Also sollte ich jetzt irgendeine internationale Organisation erfinden. Haben Sie eigentlich den Ehrgeiz, einmal einen richtig großen Roman zu schreiben? Georges Simenon: Nicht einen großen literarischen Roman, einfach einen richtigen Roman. Ian Fleming: Wollen Sie nicht so etwas schreiben wie Krieg und Frieden? Georges Simenon: Überhaupt nicht. Und Sie? Ian Fleming: Ich eigentlich auch nicht, glaube ich. Georges Simenon: Wenn ich zwei Monate nicht schreibe, werde ich fast krank. Ich verliere mein Selbstbewusstsein, fühle mich entwurzelt, völlig verloren. Ian Fleming: Haben Sie das Gefühl, dass Sie Fortschritte machen, je länger Sie schreiben? Georges Simenon: Ich bin nicht sehr ehrgeizig, aber bei jedem Roman habe ich das Gefühl, etwas dazuzulernen. Oder ein kleines bisschen weitergekommen zu sein als beim letzten Roman. Aber für mich besteht das Problem darin, jedes Mal eine weniger künstliche Geschichte zu finden, eine 8
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weniger abenteuerliche Geschichte, mit weniger konventionellen Ideen – um im Gegenteil ein bisschen tiefer unter die Haut des Menschen zu dringen. Das ist mein Ziel, aber in gewissem Sinn ist es unerreichbar. Ich bin nicht Gott, und daher… Ian Fleming: Finden Sie es nötig, viele Menschen zu treffen, müssen Sie sich viel bewegen, mehr Kontakt mit dem Leben haben, um besser über sie zu schreiben? Georges Simenon: Nicht mehr. Ich treffe wenig Leute. Ich zehre von den Erinnerungen an die, die ich kennengelernt habe. Ich sehe sie aus der Distanz. Und von meinen Kindern lerne ich mehr über die Menschen als durch Besucher. Jedes Kind lehrt einen Dinge. Ian Fleming: Sie verjüngen einen auch, denn in ihnen begegnet man einem Großteil der eigenen Jugend wieder.
Georges Simenon: »Ich dachte, ich würde eine Karriere als Humorist machen.« Georges Simenon: Für mich ist der vollendete Romancier derjenige, der die ganze Existenz kennt. Mit zwanzig drückt er die Ideen eines Zwanzigjährigen über das Leben aus. Aber mit dreißig kann man dieselbe Hauptfigur, dieselbe Situation nehmen, und man hat dennoch ein ganz anderes Buch. Desgleichen mit vierzig, fünfzig, sechzig oder siebzig. Deswegen ist Goethe so groß; er kannte das ganze Leben. Ian Fleming: Ja, Goethe ist, glaube ich, der einzige vollständige Mensch in der Geschichte. Man findet keinen Fehler. Psychologen behaupten ja, dass die meisten Genies unter irgendeiner Störung oder einer physischen Behinderung leiden. Beethoven war taub. Es gibt andere Beispiele. Aber man hat bei Goethe nie etwas Derartiges gefunden. Er war vollkommen gesund, hat lange gelebt, sein Sexualleben war normal. Er hat sich für unglaublich viele Dinge interessiert, sogar für die Bestäubung der Blumen …
Georges Simenon: … und das Auge, das hat er auch studiert, und alles Mögliche. Ian Fleming: Ich reise gern. Ich bewege mich gern. Ich bin sogar gern im Palace in Montreux. Ich schaue aus dem Fenster und sehe diese blöden Schiffe und diese idiotischen Touristen, die vom Simplon zurückkehren… Georges Simenon: Das erinnert mich an die Geschichte von Van Johnson, dem Filmschauspieler. Ein reizender Kerl. (Hier mischt sich Georges Simenons Frau Denise ins Gespräch ein.) Mme Simenon: Er ist in die Schweiz gekommen, als gerade alle HollywoodStars herzogen. Er blieb eine Woche, zwei Wochen, drei Wochen, einen Monat. Dann haben wir ihn plötzlich in Cannes getroffen. Wir haben ihn gefragt, ob er hierherziehen oder sich in der Schweiz niederlassen wolle. Er antwortete: »Am Anfang war die Ruhe wunderbar. Ich bin morgens aufgewacht, sah den See, die Berge, und alles erschien mir vollkommen. Es war schön. Und dann begannen die Berge, immer näher zu rücken. Eines Tages waren sie am Fußende meines Betts; da bin ich davongelaufen.« Ian Fleming: Etwas würde ich gerne wissen. Ich sammle seltene Bücher. Ich bin bibliophil. Welches Buch von Ihnen ist am schwersten aufzutreiben? Etwa das mit der kleinsten Auflage? Georges Simenon: Das seltenste meiner Bücher ist Au pont des Arches, mein erstes Buch, das ich mit sechzehn schrieb. Völlig unauffindbar. Ich habe nur ein Exemplar hier. Ich habe es geschrieben, als ich noch dachte, ich würde eine Karriere als Humorist machen. Aber leider hat niemand meinen Humor verstanden.
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Aus dem Französischen von Margaux de Weck
Buchtipp Von der Maigret-Gesamtedition sind bereits 52 der 75 Bände bei Diogenes erschienen. Die drei letzten Bände erscheinen im Oktober 2009. Die Romane von Ian Fleming sind als Heyne Taschenbücher erschienen.
Interview
Tilman Spreckelsen
Alle Maigrets lesen
Foto Spreckelsen: © Frankfurter Allgemeine Zeitiung. Illustration: © Natascha Vlahovic, faz.net
Seit April 2008 findet auf www.faz.net der Maigret-Marathon statt. Tilman Spreckelsen von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung liest jede Woche einen der Maigret-Romane von Georges Simenon und berichtet in einem Blog über jede Etappe, mit Rubriken wie »Die Handlung in einem Satz«, mit Angaben über den Handlungsort, konsumierte Alkoholika oder Lieblingssätze. Das Diogenes Magazin hat Spreckelsen nach zwei Dritteln befragt, nachdem er 75 Regalzentimeter der Maigret-Edition gelesen hat. Diogenes Magazin: Haben Sie Ihre Entscheidung, jede Woche einen Maigret-Roman zu lesen, bis jetzt bereut? Tilman Spreckelsen: Ja, jede Woche neu. Sie haben jetzt zwei Drittel hinter sich, was ist Ihre Zwischenbilanz? Es macht viel mehr Spaß, als ich dachte. Wann lesen Sie Ihren wöchentlichen Maigret, am Wochenende? Nein, ich lese abends. In der Regel nehme ich mir Anfang der Woche Zeit, um einen Maigret in einem Zug durchzulesen. Mit durchschnittlich 150 Seiten können Sie einen Maigret locker in drei Stunden schaffen, natürlich mache ich mir während der Lektüre ständig Notizen. Haben Sie denn überhaupt noch Lust, weiterzulesen? Ja, jede Woche neu.
Wie erklären Sie sich den Erfolg von Maigret? Simenon hat mit den Maigrets Serienbildung auf hohem Niveau geschaffen. Welche war die schönste Reaktion auf Ihren Maigret-Marathon? Ein Bekannter sagte mir, dass er kaum mitbekomme, was ich sonst so schreibe, aber den Maigret-Blog würde er jede Woche lesen.
Was lesen Sie, um sich von Maigret zu erholen? Die Gedichte von Luís de Camões. Werden Sie nach den Maigrets die Non-Maigrets lesen? Unbedingt, aber nur, wenn der Verlag die Non-Maigret-Romane ähnlich bündelt und präsentiert wie jetzt alle Maigrets. Ihr Lieblings-Maigret bis jetzt? Maigret und sein Rivale, weil in diesem Fall Maigret einmal um seine eigene Identität kämpfen muss, die ihm eben »sein Rivale« streitig macht. Es kommt so weit, dass der Satz fällt: »War er überhaupt noch Maigret?« Welchen Maigret-Roman würden Sie einem Maigret-Novizen empfehlen? Maigret und der gelbe Hund – der sechste Maigret ist der perfekte Einstieg. kam
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Interview
John Simenon als Kind, verkleidet als Maigret (1956)
John Simenon
Mit Maigret leben Diogenes Magazin: Können Sie sich an den ersten Maigret erinnern, den Sie gelesen haben? John Simenon: Leider nicht, das ist schon mehr als 40 Jahre her. Aber ehrlich gesagt: Zunächst mochte ich Maigret nicht. Ich brauchte eine Weile. Erst nach dem zweiten oder dritten Roman kam ich langsam in den Rhythmus der Geschichten hinein, fand ich einen Zugang zu Maigrets Psychologie. Und dann habe ich versucht, Maigret zu schlagen, schneller zu sein als er bei der Lösung der Frage, nicht wer der Mörder ist, sondern warum er getötet hat. Als ich mich auf diesen kleinen Wettbewerb mit Maigret eingelassen hatte, bin ich auf den Geschmack gekommen. Waren Ihnen, in Ihrer Jugend, Maigret und die Bücher Ihres Vaters zu nah, um sie schätzen zu können? Vielleicht war ich tatsächlich zu nahe dran. Wenn ich einen Simenon-Roman 10
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lese, fällt es mir schwer, keine Parallelen zu ziehen zwischen bestimmten Personen, die ich kenne, und gewissen Romanfiguren. Es finden sich immer Elemente, die – sehr entfernt, aber dennoch – autobiographisch sind. Als Halbwüchsiger ärgert man sich noch darüber, lehnt es ab, als Modelliermasse benutzt zu werden. Ich war ein
Ich bin mit Maigret aufgewachsen, er gehörte zur Familie. typischer Teenager, der sich für vieles interessierte, nur ja nicht für das, was meine Eltern machten. Heute denke ich kaum noch darüber nach, es ist sogar ein zusätzliches Vergnügen geworden. Wie war es für Sie, einen Schriftsteller als Vater zu haben? Das war für mich einfach ein Beruf wie jeder andere. Mein Vater war Schrift-
steller, Romancier – um das Wort zu verwenden, das er selbst gern benutzte. Ich stellte mir keine Fragen. Manchmal musste ich aufpassen, dass ich nicht zu viel Lärm machte, vor allem morgens vor der Schule, da er um diese Zeit bereits schrieb und jedes Geräusch ihn störte. Aber ich kann nicht sagen, dass ich unter seinem Beruf gelitten hätte. Es war auch eine Chance, denn es machte ihn als Vater sehr verfügbar. Ich hatte einen Vater, der immer da war, wenn ich ihn brauchte. Schrieb er gerade, war er einfach ein wenig abwesender. Die Niederschrift eines Romans dauerte bei ihm ungefähr zehn Tage. Während dieser Zeit war er mit den Gedanken woanders. Das Gewicht der Schöpfung lastete auf ihm, und es war schwierig, ihn da herauszuholen. Für meinen Vater war das Schreiben ein Ritual, man könnte beinahe sagen eine Liturgie, mit festen Abläufen: Er trug meistens dasselbe Hemd, er benutzte immer dieselbe Schreibma-
Foto: © John Simenon
Georges Simenon ist als Vater des unsterblichen Kommissar Maigret berühmt, doch er war auch der Vater von vier Kindern. John Simenon, der zweitälteste Sohn von Georges Simenon, kümmert sich seit über zehn Jahren um das Werk seines Vaters. Er erzählt hier von seiner sehr speziellen Beziehung zu Maigret und seinem Schöpfer.
schine, spitzte seine Bleistifte auf eine bestimmte Art. Diese Rituale waren ein Teil unseres Lebens. Ist Maigret so etwas wie ein Familienmitglied für Sie? Ja, auf jeden Fall. Ich bin mit ihm aufgewachsen, er gehörte zur Familie. Für mich ist er so etwas wie ein Onkel. Und in gewisser Weise fühle ich mich wie sein kleiner Bruder – auch er war schließlich ein Kind meines Vaters. Physisch glich Maigret meinem Vater überhaupt nicht. Geistig-seelisch entsprach Maigret aber sicherlich seinem männlichen Ideal. Sein Leben lang hat mein Vater versucht, eine gewisse Gelassenheit zu erlangen, die Maigret selbst in Krisensituationen behält. Es ist ihm nicht gelungen. Zum Glück, könnte man vielleicht sagen, denn dann hätte er womöglich aufgehört zu schreiben. Die neue deutschsprachige Maigret-Gesamtausgabe hat großen Erfolg. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg? Ich glaube, es liegt an den Themen. In all seinen Büchern hat mein Vater über die menschliche Seele geschrieben. Und die Seele, das Wesen des Menschen, hat sich in den letzten Jahrtausenden nicht entscheidend verändert – allen historischen Entwicklungen und technologischen Fortschritten zum Trotz. Die Sorgen der Menschen, die tieferen Motive unseres Handelns, unsere inneren Bedürfnisse sind die gleichen geblieben. Weil seine Romane vom ›nackten Menschen‹ erzählen, wie er es selbst formulierte, sprechen sie uns immer noch aus dem Herzen.
Tomi Ungerer Jean-Jacques Sempé
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ROKPA hilft in Tibet und Nepal. Helfen Sie mit! ROKPA setzt sich seit 25 Jahren für Straßenkinder und Arme in Tibet und Nepal ein und für die Erhaltung der Kultur und Traditionen dieser zwei Länder.
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kam / Aus dem Französischen von Marie Brach Böcklinstrasse 27 • CH - 8032 Zürich Telefon +41 (0)44 262 68 88 E-Mail info@rokpa.ch
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Eine der bedeutendsten deutschen d Literaturzeitschriften: Literatur zeitschriften: VViermal im Jahr erscheint Sprache Sprach im technischen Zeitalter Zeitalter,r, un unter Freunden: SpritZ. SpritZ. Viermal Vierm jährlich vermittelt sie mit mi herausragenden OriginalOriginal texten, erläuternden l d Beiträg Beiträgen uund nd anspruchsvollen anspruchsvollen Fotografien Fotog einen Überblick über das literarische und kulturelle Geschehen G unserer Gegenwart. Autoren wie Marc cel Beyer, Beyerr, Marcel György Dalos, Adolf Endler Endler,r, Elke Erb, Rein Reinhard hard Jirgl, Dzevad Karahasan, Katja Lange-Müller, Lange-Müllerr, Thomas Thoomas Lehr, Lehrr, Sibylle Lewitscharoff, TTerézia erézia Mora, Ulrich Peltzer, Peeltzer, Ingo Schulze, Volker Volker Sielaff, Burkhard Spinnen, Jan Jaan Wagner Wagner und Hubert Winkels u.v .m. sind immer wieder wieder mit BeiBeiu.v.m. trägen in der Zeitschrift vertreten. Schaue Schauenn Sie doch mal vorbei: www.spritz.de. www.spritz.de.
Die Sonderausstellung Loriot. Die Hommage zum 85. Geburtstag in der Deutschen Kinemathek in Berlin wird dem »Meister aller Komik-Klassen« (Der Spiegel, Hamburg) wirklich gerecht: Knapp 100000 Besucher – das heißt bis zu 1000 Menschen täglich – kamen, sahen und schmunzelten über diese einmalige Ausstellung. Noch nie zog das kleine, aber feine Berliner Museum für Film und Fernsehen mit einer Sonderausstellung so viele Besucher an.
DIOGENES Worstseller 2005
Frank O’Connor
Frank O’Connor Meistererzählungen
Meistererzählungen
George Orwell Im Innern des Wals
3 verkaufte Exemplare 2005
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8 verkaufte Exemplare 2005
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13 verkaufte Exemplare 2005
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15 verkaufte Exemplare 2005
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36 verkaufte Exemplare 2005
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46 verkaufte Exemplare 2005
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47 verkaufte Exemplare 2005
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48 verkaufte Exemplare 2005
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67 verkaufte Exemplare 2005
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Diogenes
George Orwell Im Innern des Wals Erzählungen und Essays
Diogenes
Nathanael West Schreiben Sie Miss Lonelyhearts
Nathanael West Schreiben Sie Miss Lonelyhearts Roman
Diogenes
Muriel Spark Die Blütezeit der Miss Jean Brodie
Muriel Spark Die Blütezeit der Miss Jean Brodie Roman · Diogenes
William Faulkner
William Faulkner Griff in den Staub
Griff in den Staub
Brian Moore Die einsame Passion der Judith Hearne Roman · Diogenes
Roman · Diogenes
Brian Moore Die einsame Passion der Judith Hearne
Margaret Millar Die Feindin
Margaret Millar Die Feindin Roman · Diogenes
Eric Ambler Bestellnummer: 978–3–257–93299–7
Das Intercom-Komplott
Eric Ambler Das IntercomKomplott
Roman · Diogenes
Dashiell Hammett Das Haus in der Turk Street
Dashiell Hammett Das Haus in der Turk Street Diogenes
»To the happy few.«
Worstseller
Tomi Ungerer Tomi Ungerer hat zum zweiten Mal nach 1993 das Plakat für das Montreux Jazz Festival gezeichnet, das wohl bekannteste Jazz-Festival Europas, das dieses Jahr vom 3. bis 18. Juli stattfindet.
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D Diogenes Magazin
»Wer aber nicht eine Million Leser erwartet, sollte keine Zeile schreiben«, so Goethe. Die Realität sieht natürlich oft anders aus. Als der Diogenes Verlag 2006 in der Verlagsvorschau und auf einem Plakat eine Worstsellerliste veröffentlichte, ließen die Reaktionen nicht auf sich warten. Zeitungen wie die Berliner Zeitung, der Zürcher Tages-Anzeiger, die Stuttgarter Zeitung berichteten über die Diogenes Worstseller, das Magazin Focus druckte die ganze Liste prominent ab. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung titelte sogar Der Gammelbuchskandal und widmete dem Phänomen der Ladenhüter eine ganze Seite. Andere Literaturverlage wurden aufgefordert, ihre Flop 10 zu nennen, was sich dann doch nur die Wenigsten trauten. Ein halbes Jahr später wurde die Idee dann bei den BuchMarkt-Awards mit einer Silbermedaille in der Kategorie Verlagskommunikation ausgezeichnet. Auch in anderer Hinsicht war die Aktion ein Erfolg. Waren vom Worstseller Nr. 1, Frank O’Connors Meistererzählungen, im Vorjahr nur drei Taschenbücher verkauft worden, steigerten sich die Verkäufe durch die Worstsellerliste innerhalb eines Monats auf 46 Exemplare. Eine über tausendprozentige Verkaufssteigerung!
Hier die Worstsellerliste 2008: 1. D.H. Lawrence, Der preußische Offizier 1 Ex. 2. Federico Fellini, 8 1/2 2 Ex. 3. Muriel Spark, Mädchen mit begrenzten Möglichkeiten 4 Ex. 4. Margaret Millar, Nymphen gehören ins Meer! 6 Ex. 5. Brian Moore, Die Große Viktorianische Sammlung 7 Ex. 6. Ludwig Marcuse, Obszön 9 Ex. 7. William Faulkner, Briefe 11 Ex. 8. Lydia Tschukowskaja, Sofja Petrowna 15 Ex. 9. Gustave Flaubert, Leidenschaft und Tugend 18 Ex. 10. Laurens van der Post, Flamingofeder 23 Ex. Bitte retten Sie diese Bücher vor der nächsten Staubfängerliste! Eine Bestellung in Ihrer Buchhandlung genügt!
Was lesen? Wenn Sie gerade nicht wissen, was Sie lesen sollen: Lassen Sie sich inspirieren! Zum Beispiel von der Leseliste, aus der Michael Berg im Vorleser seiner Geliebten Hanna Schmitz (im Film gespielt von Kate Winslet, die dafür den Oscar erhielt) vorliest: Die Abenteuer des Huckleberry Finn* von Mark Twain, Anatol von Arthur Schnitzler, David Copperfield* von Charles Dickens, Doktor Schiwago von Boris Pasternak, East Coker von T.S. Eliot, Emilia Galotti von Gotthold Ephraim Lessing, die Epoden von Horaz, Kabale und Liebe von Friedrich Schiller, Die Odyssee* von Homer, Der Raritätenladen von Charles Dickens, Der alte Mann und das Meer von Ernest Hemingway, die Comics Tim und Struppi von Hergé, Die Welt von Gestern von Stefan Zweig, Der weiße Hai
Illustration links: © F. K. Waechter; Illustration rechts: © Jean-Jacques Sempé
Loriot
Die wilden Kerle kommen
Illustration links: © Jean-Jacques Sempé; Illustration Wilder Kerl: © Maurice Sendak; Illustration rechts: © Tomi Ungerer
von Peter Benchley, Lady Chatterleys Liebhaber* von D.H. Lawrence, Die Verwandlung* von Franz Kafka, Die Dame mit dem Hündchen* von Anton ◊echov und die Gedichte von Sappho. Oder Sie lassen sich von der Queen herself beraten, die in dem charmanten Bestseller Die souveräne Leserin von Alan Bennett unter anderem zu folgender Lektüre greift: Englische Liebschaften und Liebe unter kaltem Himmel von Nancy Mitford, Geschichte zweier Städte von Charles Dickens, Bücher von Ian McEwan*, A.S. Byatt, Dylan Thomas, Henry James, Dr. Johnson* von James Boswell, die Bio-
graphien von Sylvia Plath und die Memoiren von Lauren Bacall, immer wieder Klassiker wie George Eliot, Honoré de Balzac*, Joseph Conrad*, Ivan Turgenev* oder die Brontë-Schwestern* und Jane Austen*, die Geschichten von Babar* von Jean de Brunhoff, außerdem Gedichte von Philip Larkin, die Proust-Biographie von George Painter, alle Bücher von Alice Munro, eine Reihe homosexueller Autoren wie Mary Renault, Jean Genet, Denton Welch, Christopher Isherwood, die Trilogie Ohne Furcht und Tadel von Evelyn Waugh, Tristram Shandy* von Laurence Sterne und Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust. (Die mit *markierten Titel gibt es als Diogenes Taschenbücher.)
Nun ist es endlich so weit: Über 45 Jahre nach Erscheinen des Buchs kommt Maurice Sendaks berühmteste Geschichte auf die Leinwand! Wo die wilden Kerle wohnen hat es nach Hollywood geschafft – doch nicht erst, als sich Regisseur Spike Jonze der Geschichte von Max annahm, sondern schon am 12. Januar auf der Geburtstags-Party eines anderen, gerade einmal einjährigen Max, dessen Mutter Christina Aguilera für ihren Spross, zusammen mit Nicole Richie, eine riesige Feier ganz unter dem Motto Where the wild things are ausrichtete. In Deutschland startet der Kinofilm mit den echten wilden Kerlen Ende 2009 .
Schweiz Nach dem Beschluss der Eidgenossenschaft, das Bankgeheimnis zu lockern, darf auf eine Entspannung im Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz gehofft werden. Wobei sich das Image der Schweiz nicht so schnell verbessern wird. Aber war das Image je gut? Im Diogenes Buch In Afrika ist immer August, in dem der Lehrer Marcello D’Orta Aufsätze neapolitanischer Grundschulkinder gesammelt hat und das vor fast zwanzig Jahren erschienen ist, gibt es die wohl lustigste Beschreibung der Schweiz: »Die Schweiz ist ein kleines Land Europas, was neben der Schweiz, Italien, Deutschland, der Schweiz und Österreich liegt. Es hat viele Seen und viele Geberge, aber das Meer fließt nicht in der Schweiz, vor allem in Bern nicht.
Die Schweiz verkauft der ganzen Welt die Waffen, um ihr den Hals abzuschneiden, aber sie macht selber nicht mal den kleinsten Krieg. Mit diesem Geld baut sie die Banken. Aber nicht die guten Banken, die Banken der Verbrecher, besonders der Drogensüchtigen. Die Kriminellen von Sizilien und von China bringen dort ihr Geld hin, die Milliarden. Die Polizei kommt, sagt von wem ist das Geld, weiß ich nicht, sag ich dir nicht, das geht dich einen Dreck an, die Bank ist zu. Aber sie ist nicht zu! Auf war sie!! In der Schweiz ist es so, wenn du in Neapel Krebs hast, dann stirbst du in Neapel, aber wenn du in die Schweiz gehst, stirbst du später oder lebst. Weil die Kliniken sind wunderschön, mit Teppichen, Blumen, die Treppen sauber, keine einzige Ratte. Aber man muss viel zahlen, und wenn du nicht schmuggelst, kannst du nicht hin. Ist der Aufsatz so lang genug?« Die arme Schweiz! Dabei haben sich Schweizer Banken schon längst gebessert, hier der Beweis: Als in einem Roman von Patricia Highsmith, der in den 1980er Jahren erschien, eine Schweizer Großbank genannt wurde, die heute erhebliche Schwierigkeiten hat, musste der Verlag den Namen der Bank in der zweiten Auflage streichen. Jahre später wurde eine andere Großbank in einem Roman von Donna Leon genannt – und das auch nicht gerade in einem positiven Zusammenhang. Die Bank schickte keine Anwälte, sondern bestellte 1500 Exemplare als Geschenk für ihre Kunden und Mitarbeiter.
Diogenes Magazin
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Foto: Š Isolde Ohlbaum
Essen-Essay
Donna Leon
Orecchiette Selbstgemachte Pasta? Nichts einfacher als das! Donna Leon liefert hier, mit Unterstützung ihrer langjährigen Freundin Margherita, das Rezept für perfekte Orecchiette. Kinderleicht nachzukochen – wenn Sie zufällig am richtigen Ort geboren sind.
Illustration: © Tatjana Hauptmann
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enn Ihr Geburtsort mehr als eine halbe Autostunde von Bari entfernt liegt, dann lassen Sie lieber die Finger von selbstgemachten Orecchiette. Diese niedlichen kleinen Pastateilchen von der Größe einer 20-CentMünze sind das apulische Traditionsgericht schlechthin. Hergestellt werden sie aus einem Gemisch von Hartweizengrieß und Weißmehl, das man mit etwas Salz vermengt. Und anschließend, ohne Zugabe von Eiern, löffelweise mit Wasser beträufelt, bis der Teig formbar ist. Er darf aber weder zu feucht noch zu trocken sein. Von meiner Freundin Margherita, die aus Bari stammt, wollte ich mir einmal beibringen lassen, wie man Orecchiette von Hand fertigt. Eine geschlagene Stunde haben wir damals in ihrer Küche zugebracht. Für Margherita, die ihre Orecchiette womöglich auch im Schlaf oder mit verbunden Augen hinkriegen würde, war es ganz schön schwer, gewissermaßen auf Zeitlupe zu
schalten, damit ich auch ja jeden einzelnen Handgriff mitbekam. Beim Zuschauen hatte ich das Gefühl, ihr ginge alles so leicht von der Hand, als würde ich mir mal eben die Schuhe zubinden. Ehe wir uns an die Arbeit machten, versuchte sie mir bei einem Kaffee und
Die perfekten Orecchiette: mit verdicktem Rand und einer winzigen Mulde in der Mitte, die geradezu danach lechzt, sich mit Pastasauce vollzusaugen. ihren selbstgemachten Plätzchen vorab die wichtigsten Schritte zu erklären. Als die Kaffeetassen in die Spüle geräumt waren, ging es los: Nach Augenmaß schüttete sie je einen Anteil Mehl und Grieß in eine Schüssel und streute etwas Salz darüber. Dann wurde das Ganze mit der Hand vermengt und als
kleiner Hügel auf den Küchentisch gekippt. Eine Delle in der Spitze machte aus dem Hügel einen Vulkan, in den Margharita unter beständigem Rühren von oben warmes Wasser hineinlöffelte. Als alles gut verteilt und gebunden war, begann sie, die Masse zu kneten. Nach knapp zehn Minuten hörte sie auf und erklärte, nun sei der Teig fertig. Auf meine Frage, woran sie das denn erkenne, bekam ich zur Antwort, das habe man im Gefühl. Mal ehrlich, hätten Sie sich getraut, da weiter nachzuhaken? Nun wurde der Teig in Plastikfolie gewickelt, und dann musste er eine Viertelstunde stehen. Das Warten überbrückten wir mit einem frischen Kaffee und noch ein paar Plätzchen. Sobald die Zeit um war, entfernte Margherita die Folie. Von dem Teigklumpen wurde eine Handvoll abgetrennt, zu einer Wurst gerollt und in Scheiben zerlegt, die mir so dünn wie Diogenes Magazin
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Pappdeckel erschienen. Als nach ihr auch ich mein Glück versuchte, bekam ich ein paar unterschiedlich dicke und dünne Scheiben heraus, die Margherita kommentarlos an den Rand schob. Dann legte sie sich eins ihrer Teigstückchen in den linken Handteller und drehte mit dem Daumen der Rechten eine kleine Ohrmuschel daraus. Es wurde die perfekte Orecchietta: mit verdicktem Rand und einer winzigen Mulde in der Mitte, die geradezu danach lechzte, sich mit Pastasauce vollzusaugen. Auch ich griff mir eine der labbrigen Scheiben und nahm sie in die linke Hand. So, wie ich dann mit dem rechten Daumen darauf herumrollte, hätte man meinen können, ich wäre frisch
Buchtipp Jetzt neu:
Commissario Brunettis 17. Fall
Donna Leon Das Mädchen seinerTräume Commissario Brunettis siebzehnter Fall Roman · Diogenes
Aus dem Amerikanischen von Christa E. Seibicke Leinen, 352 Seiten € (D) 21.90 / sFr 38.90 / € (A) 22.60 ISBN 978-3-257-06695-1
verhaftet und müsste meine Fingerabdrücke abgeben. Übrig blieb eine plattgedrückte Teigportion, die fest an meiner Haut klebte. Ich rubbelte daran herum, bis ich sie endlich wieder abbekam. Bei einem zweiten Versuch brachte ich glücklich noch so ein zermatschtes Teigstückchen zustande. Unterdessen hatte meine Freundin ihren ganzen Vorrat in makellose Orecchiette verwandelt, die zum Abtropfen auf einem sauberen Küchenhandtuch lagen, während sie schon die nächste Teigwurst rollte. Als sie fertig war, legte Margherita ihre mehlbestäubte Hand auf die meine und sagte tröstend: »Die von Barilla sind auch sehr gut.« Ein Kochtipp, den ich gern an all diejenigen weitergebe, die Orecchiette ausprobieren möchten: Die von Barilla sind auch sehr gut.
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Aus dem Amerikanischen von Christa E.
Seibicke
Orecchiette c on Amorini (f ür 4 Personen) 60
Donna Leon in der Küche mit Roberta Pianaro, von der das Rezept stammt.
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D Diogenes Magazin
Die Broccolistr ünke nach Bed arf schälen, da teln und zusa nn viermmen mit de n R öschen in sied Salzwasser geb endes en und al den te kochen. Dan Broccoli abse ach die ihen (das Koc hwasser behal hackte Knoblau ten). Gechzehe, Salz un d Peperoncini in einer großen mit Öl Pfanne andüns ten. Sobald der lauch weich is K nobt, die Broccol i dazugeben, zu klumpigen Bre einem i zerstampfen und so lange ve bis eine sämige rrühren, Sauce entsteht . Die Orecchiet te im Broccoliw asser al dente abgießen und in kochen, die Sauce gebe n. Gut unterm anrichten, mit ischen, Käse bestreuen und servieren.
Foto: © Ralf Pfleger
0 g Broccoli Salz 1 Knoblauchze he Peperoncini 6 EL Olivenöl 350 g Pasta (O recchiette) 30 g geriebenen Parmigiano 30 g geriebenen Pecorino roman o
Interview
Donna Leon im Gespräch
Ist Essen in Italien eine Religion?
Foto: © Diogenes Verlag / Regine Mosimann
Donna Leon erklärt den Stellenwert des Essens in ihrer Heimat Amerika und in ihrer Wahlheimat Italien und enthüllt ihre ganz persönlichen kulinarischen Vorlieben. Diogenes Magazin: Warum ist die amerikanische Küche so schlecht? Donna Leon: Das liegt zum einen daran, dass es so etwas wie eine einheitliche amerikanische Küche nicht gibt. Die Vereinigten Staaten sind ein Einwanderungsland, und jede Gruppe hat ihre eigenen Spezialitäten mitgebracht. Zum anderen liegt es an der Landwirtschaft: Riesige Flächen, der sogenannte Corn Belt, sind mit Mais bepflanzt. Das sagt schon alles über die Qualität des Essens. Für pasta fagioli bleibt da natürlich wenig Platz. Hat das Essen für Italiener eine religiöse Bedeutung ? Falls Sie unter Religion den Glauben einer Gemeinschaft an eine lebensspendende Kraft verstehen, dann haben Sie wohl recht. In Italien dreht sich alles ums Essen, dennoch sind die Italiener nicht fett. Woran liegt das? Das hat sich leider geändert. Die Italie-
ner naschen sich mittlerweile wie die Amerikaner durch den Tag: Hier ein Snack, da ein Stück Kuchen und danach ein paar Kekse. Früher nahmen die Italiener nur zwei ausgewogene Mahlzeiten am Tag zu sich, einen Imbiss zwischendurch gab es nicht. Womit endet für Sie ein perfektes Dinner? Ich muss gestehen, zum Dessert nehme ich immer Eiscreme. Mein Großvater betrieb eine Meierei in New Jersey und verkaufte Eiscreme. Ich fürchte also, es liegt mir im Blut. Ihre Lieblingssorte? Es ist mir nicht möglich, diese Frage zu beantworten. Das ist so, als würden Sie einen Junkie fragen, was seine Lieblingsdroge ist. Wie sähe Ihr letztes Essen aus? Das hängt ganz von der Jahreszeit ab. Im Herbst oder Winter wäre es ein risotto di zucca, im Frühling oder Sommer ein risotto di verdura, vielleicht
aber auch conchiglie con amorini, Crêpes mit Spinat und Ricotta oder pasta con asparagi. Aber wie Dorothy Parker schon sagte: »Ich lebe ganz gern noch ein Weilchen.« Ihr Lieblingsessen? Risotto in seinen mannigfaltigen Inkarnationen oder Pasta in ihren endlosen Manifestationen. Fleisch mag ich nicht, Fisch eigentlich auch nicht sonderlich. Wenn ich aber jemanden damit verletzen würde, weil ich es liegen lasse, esse ich es trotzdem – oder tue zumindest so, als würde ich es essen. Die Ausnahme ist Rindfleisch: Ich habe zu viel darüber gelesen, um etwas anderes darin sehen zu können als Gift. Sind Sie deshalb Vegetarierin? Ich ziehe Gemüse Fisch und Fleisch vor. Das hat nichts mit moralischen Grundsätzen zu tun, ich befinde mich nicht auf einem Kreuzzug. Gemüse schmeckt mir einfach besser. Diogenes Magazin
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Toni Sepeda Mit Brunetti durch Venedig Vorwort von Donna Leon Diogenes
dauert es länger. Wenn ich Besuch habe, koche ich für meine Gäste, wenn ich ausgehe, kochen die anderen (meist viel besser als ich). Mittlerweile erwarte ich, dass alles immer frisch ist und gut schmeckt. Das ist eine typisch italienische Haltung.
Oper oder Pasta? Was für eine Frage! Die Oper natürlich. Brunetti und seine Frau sind ein konservatives Paar: Sie kocht, er isst. Kann Brunetti überhaupt kochen? Ja, das kann er, und manchmal tut er es sogar: Dann gibt es einfache Pasta, entweder mit einer Tomatensauce oder mit aglio, olio e peperoncino. Aber er isst nicht gern allein. Woher stammen die Rezepte in Ihren Büchern? Die meisten verdanke ich der besten Köchin, die ich kenne, Roberta Pianaro, meine Freundin. Lucky me! Viele Leute ziehen der Architektur und der Kunst wegen nach Venedig. Ihnen wird nachgesagt, Sie seien wegen einer Freundin, die eine gute Köchin ist, hergezogen. Stimmt das?
Tatsächlich bin ich wegen meiner engen Freunde Roberta und Franco hergezogen. Wirklich wichtig waren ihre Loyalität und Großzügigkeit, das gute Essen war und ist nur eine Begleiterscheinung. Gemeinsam mit Roberta schreiben Sie an einem Kochbuch, das diesen Herbst erscheinen soll. Wie geht es voran? Ihre Rezepte, die wir mehrmals probegekocht haben und sehr mögen, sind schon fertig. Ich sitze noch an meinen Reflexionen über das Essen, die italienische Küche – wohlgemerkt: geschildert aus der Perspektive einer Enkelin zweier irischer Großmütter, die aus einem Land stammen, das sich ja nicht gerade mit kulinarischem Ruhm bekleckert hat. Was ist wichtiger: Oper oder Pasta? Was für eine Frage! Die Oper natürlich.
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kam / Aus dem Amerikanischen von
Cornelia Künne
»Die Brunetti-Romane bieten eine Fülle sorgfältiger Beschreibungen und diskreter Empfehlungen, wie sie kein Städteführer, kein Restaurant- oder Shopping-Guide glaubwürdiger versammeln könnte. Donna Leon achtet genau darauf, in welche Lokale sie Brunetti schickt – und in welche seine Gegenspieler.« Brigitte Woman, Hamburg
Aus dem Englischen von Christa E. Seibicke Klappenbroschur, 368 Seiten € (D) 19.90 / sFr 35.90* / € (A) 20.50 * unverbindliche Preisempfehlung
Mit Brunetti durch Venedig
Foto: © Diogenes Verlag / Regine Mosimann
Was bringen Sie Ihren Freunden aus Venedig mit? Parmigiano Reggiano. Was bringen Sie Ihren Freunden in Venedig mit? Schokolade oder Bücher. Wo kaufen Sie in Zürich Ihre Schokolade? Wo alle sie kaufen: bei Sprüngli oder Teuscher. Was war ihr schlimmstes kulinarisches Erlebnis? Ich habe einmal Kaviar vorgesetzt bekommen, den ich schrecklich finde. Ich musste so tun, als würde ich ihn essen. Beschreiben Sie Ihre größte kulinarische Entdeckung. Dass der Kühlschrank, der in Amerika schlaffe Gemüsestengel und mickrige Käsereste enthält, in Italien der Ursprung wunderbarer Pasta sein kann. Das Essen spielt eine bedeutende Rolle in Ihren Romanen. Paola bekocht Guido, er löst viele seiner Fälle im Restaurant oder im Café. Welche Rolle spielt das Essen in Ihrem Leben? Zu essen gibt es in Venedig immer genug, und meist ist die Qualität hoch. Gewöhnlich esse ich allein zu Mittag, etwas Schnelles, Einfaches. Zum Abendessen treffe ich Freunde, dann
Erzählung
Donna Leon
Iss nur, das tut dir gut
Illustration: © Tatjana Hauptmann
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uisa Scarpa stellte die Teller auf den Tisch, nahm gegenüber ihrem Mann Platz und lächelte in seine tiefliegenden Augen. Zwischen ihnen stand in seiner ganzen Reichhaltigkeit der erste Gang ihrer Mahlzeit: zwei Teller spaghetti alla carbonara, der eine vollgehäuft, der andere eher bescheiden. Die Eiernudeln, die sie am Nachmittag so umsichtig selbst gemacht hatte, glänzten buttergelb, und eine dicke Haube aus frisch geriebenem Parmesan krönte seine Portion. Carlo stopfte sich die Serviette in den Kragen und klemmte sie mit seinem schweren Doppelkinn fest. Er nahm die Gabel, ein Kinderspielzeug in seiner riesigen Hand , und grub sie in die Pasta. Langsam wickelte er die fettigen Stränge auf, bis die Gabel nichts mehr fasste, dann spießte er noch zwei Scheiben pancetta auf die Zinken. Er schob die Gabel mit dem Bauchspeck in den Mund, zog sie wieder heraus, kaute einmal, zweimal und schluckte. Diese Prozedur wiederholte er, bis sein Teller fast leer war, worauf
er die Gabel beiseitelegte und ein Glas Rotwein trank. Er stellte das leere Glas ab, griff wieder zur Gabel und aß die Pasta mit drei weiteren Bissen auf. Dann nahm er sich ein Stück Brot, brach es entzwei und wischte seinen Teller sauber. Sie füllte sein Glas nach. Luisa saß zurückgelehnt und sah ihm zu, nur hin und wieder führte sie ein
»Möchtest du noch etwas, caro?«, fragte sie und hatte seinen Teller schon in der Hand. paar Spaghetti zum Mund. Als sie sah, dass Carlo fertig war, stand sie rasch auf. »Möchtest du noch etwas, caro?«, fragte sie und hatte seinen Teller schon in der Hand. Mit einem Grunzen griff er nach dem verbliebenen Stück Brot und lehnte sich zurück, um es zu essen. Sein Bauch hielt ihn auf Abstand zur Tischkante. Luisa trug seinen Teller zum Herd; wochentags saßen sie immer in der
Küche, das Esszimmer benutzten sie nur sonntags, wenn seine Kinder zum Abendessen kamen. Es war noch eine gute Portion Pasta in der Keramikschale, die sie im Ofen warmgestellt hatte. Carlo hasste kalte Pasta. Das hatte er ihr gleich in der ersten Woche ihrer Ehe klargemacht, nachdem er sie in sein Heim, ihrer beider Heim, geholt hatte. Sie hatte vieles über Carlos Essvorlieben lernen müssen, alles, was seine erste Frau für ihn gemacht hatte: wie man die Krabben in Eierteig tauchte, damit sie gebraten schön zart waren; wie man die Strandschnecken gründlich säuberte, um den Sand herauszubekommen; wie man Aale bei lebendigem Leib häutete, indem man sie mit Kopf und Schwanz auf das große Schneidebrett links neben der Spüle heftete. Sie hatte das alles gelernt, nur um ihrem Mann zu gefallen. Sie kam mit einer zweiten Portion zurück, so groß wie die erste. »Meinst du, dass du das noch schaffst, Carlo?« Sie wusste, wie er es hasste, Essen wegzuwerfen, ein Überbleibsel aus seinen Diogenes Magazin
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D Diogenes Magazin
legte die dampfende Wurst darauf. Von der Butter auf einem Teller neben dem Herd schnitt sie ein dickes Stück ab und ließ es in den Topf mit dem Kartoffelpüree gleiten, rührte mit einem großen Löffel darin herum, bis es sich aufgelöst hatte, und umlegte die Wurst auf der Platte liebevoll mit dem Püree. Sie stellte die Platte links neben seinen Platz, ging zum Herd zurück und schüttete die Linsen in eine Keramikschüssel. Carlo fand, es gehöre sich nicht, Essen gleich aus dem Topf zu servieren, das täten nur Bauern, seine
Frau jedenfalls nicht. Er meinte natürlich seine erste Frau, aber Luisa hatte gelernt, es ebenfalls nicht zu tun. Schnell kam sie wieder an den Tisch, bevor die Wurst abkühlen konnte, und schnitt drei Scheiben davon ab, dicker als das Brot. Sie legte sie auf Carlos Teller, häufte Kartoffelpüree rechts daneben und ging wieder zum Herd, um die Butter zu holen. Als er nickte, tat sie ihm ein Stück davon auf die Kartoffeln. Es war noch Platz auf dem Teller, und den füllte sie mit ein paar Löffeln von den Linsen und natürlich auch dem Speck, den sie darin mitgekocht hatte, damit er ihnen diesen rauchigen Geschmack gab, den Carlo so liebte. Während sie sich auch etwas auf ihren Teller tat, begann Carlo, ohne noch an den gegrillten Fisch zu denken, bereits zu essen, teilte mit der Gabel die zarten Wurststücke, spießte eins nach dem anderen auf und zog sie so lange durch den Kartoffelbrei, bis sie ganz damit umhüllt waren. Luisa holte die zweite Flasche Wein, die schon geöffnet hinter ihr auf dem Tresen stand, und tauschte sie gegen die leere auf dem Tisch.
Sie nahm ihren Platz wieder ein und stach ihre Gabel in die Wurst. Ja, sie war zart, wahrscheinlich, weil sie die fetteste Sorte verlangt hatte, die aus dem Friaul, sagte der Fleischer, wo sie angeblich die besten Schweine haben. Als sie zu Carlo hinübersah, war er mit Wurst und Kartoffelbrei schon fertig, schob sich gerade die letzten Linsen in den Mund und spülte mit einem Glas Wein nach. Sie stand auf und schnitt ihm noch zwei dicke Scheiben cotechino ab, neben die sie wieder Kartoffelpüree häufte. Nachdem sie Butter dazugetan hatte, griff sie nach der Schüssel mit den Linsen, aber er schüttelte den Kopf, also ließ sie die Schüssel stehen und aß weiter. Wieder richtete sie es so ein, dass sie zusammen mit ihm fertig war, und stellte die Teller geräuschlos in die Spüle. Sie sah Carlo zur Uhr schauen und dann nach der Fernbedienung greifen. Er drückte mit dem Zeigefinger darauf, und ihm gegenüber erwachte Lilli Gruber zum Leben und präsentierte ihnen die Abendnachrichten. »Ich habe diese Cremetorte gebacken, die du so gern isst, Carlo«, sagte Luisa. »Möchtest du ein Stück?« Im ersten Moment dachte sie schon, er wolle ablehnen. »Ausnahmsweise«, nötigte sie ihn, »mangia, mangia, che ti fa bene. Iss nur, das tut dir gut.« Er sah leicht verwundert zu ihr auf, dann zu Lilli, wie um sie zu fragen, ob er ein Stück essen dürfe. Lilli nickte ganz kurz; Carlo ebenso. Luisa nahm die Torte aus dem Kühlschrank, stellte sie leise auf den Tresen und schnitt ein Stück ab. Sie begutachtete die Größe, nahm einen zweiten Teller und schnitt ein größeres Stück ab, um es Carlo zu bringen; das kleinere behielt sie für sich. Den Blick auf Lilli und die Bombardierung einer bosnischen Kleinstadt gerichtet, verdrückte Carlo seine Torte. Sie wagte nicht zu fragen, ob er ein zweites Stück wolle. Als sie ihres gegessen hatte, ging sie an den Herd und zündete das Gas unter der Espressokanne an. Dabei blieb sie mit dem Rücken zu den beiden stehen. Lilli re-
Illustration: © Tatjana Hauptmann
Hungerjahren im Krieg. Er warf einen Blick zu ihrem Teller hinüber, der noch halb voll war. »Nein, mir genügt das«, sagte sie und blieb mit dem Teller in der Hand stehen. »Iss du nur den Rest. Es wäre eine Sünde, ihn wegzutun.« Er nickte und klopfte mit der Gabel auf den leeren Platz vor ihm. Sie stellte ihm den Teller hin und holte das Schälchen Parmesan. Sie streute einen großen Löffel voll über seine Nudeln und, als er nickte, noch einen. Mit einer Seitwärtsbewegung seiner Gabel winkte er ihre Hand fort und begann zu essen. Luisa ging an ihren Platz zurück und machte sich wieder an ihre Spaghetti, die inzwischen kalt waren, aber sie überwand sich, alles aufzuessen. Dabei richtete sie es so ein, dass sie zugleich mit Carlo fertig war. Wieder wischte er seinen Teller sorgfältig sauber und ließ sich nach hinten sinken, um das Brot zu essen. Sie schenkte ihm Wein nach, brachte die Teller zur Spüle und stellte sie so leise wie möglich ab. Carlo konnte Tellerklappern nicht leiden und hatte ihr gesagt, dass seine erste Frau in der Küche immer sehr leise gearbeitet habe. »Ich habe cotechino gemacht«, sagte Luisa und hob den Deckel von einer großen Kasserolle. Er hatte sich zwar gegrillten Fisch oder Hähnchen gewünscht, aber sie wusste, wie sehr er ihre Schlackwurst liebte. Der Duft der siedenden Wurst entstieg der fetten Brühe und erfüllte die Küche. »Mit purè di patate«, fügte sie hinzu. »Ich weiß doch, wie gern du Kartoffelpüree magst.« Sie warf einen Blick zu ihm hinüber, und er nickte. »Dazu Linsen mit Speck«, sagte sie noch, denn sie wusste, dass dies eines seiner Lieblingsgerichte war, besonders wenn sie diesen ganz besonders fetten pancetta hineintat. Er trank seinen Wein und goss sich das Glas wieder voll; ihres stand noch unberührt neben ihrem Teller. Er beachtete das nicht. Luisa nahm eine vorgewärmte Platte aus dem Backofen und
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Elwenspoek
Ehren-Herausgeber: Daniel Keel und Rudolf C. Bettschart Geschäftsleitung: Stefan Fritsch, Ruth Geiger, Daniel Kampa, Winfried Stephan Chefredaktion: Daniel Kampa (kam@diogenes.ch) Redaktion: Margaux de Weck, Cornelia Künne, Nicole Griessman, Martha Schoknecht, Jakob Keel Grafik-Design: Regina Kaeser Fotograf: Bastian Schweitzer Scans und Bildbearbeitung: Regina Kaeser, Tina Nart Webausgabe: Susanne Bühler (sb@diogenes.ch) Korrektorat: Franca Meier, Dominik Süess Bildredaktion: Regina Treier Freie Mitarbeiter: Jan Sidney (sid), Anton Roth, Marie Brach (mb) Buchhandels-Vertrieb: Renata Teicke (tei@diogenes.ch) Anzeigenleitung: Simone Wolf (wo@diogenes.ch) Zur Zeit gilt Anzeigenliste Nr. 1 Abo-Service: Christine Kownatzki (diogenesmagazin@diogenes.ch)
Illustration: © Chaval
dete weiter, jetzt über Afrika; welches Land, hatte Luisa nicht mitbekommen. Als der Kaffee aufkochte, goss Luisa ihn in zwei kleine Tässchen und brachte sie zum Tisch. Der Zucker stand schon da, und Carlo tat sich zwei Löffel in seine Tasse. Luisa hatte auch die Grappaflasche mitgebracht und dabei gesehen, dass es Zeit war, eine neue zu besorgen. Sie schob sie Carlo hin und setzte sich. Er goss einen Schuss Grappa in seinen Kaffee und trank die Tasse in einem Zug leer. Er zog die Serviette aus dem Kragen und warf sie auf einen Sahneklecks, der von der Torte übriggeblieben war. Sie war schon aufgestanden, als er, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden, »meine Pillen« sagte. Sie nahm die Arzneifläschchen von dem runden Silbertablett auf dem Kühlschrank, wo sie immer standen. Sie stellte sie vor ihn hin und sah zu, wie er zuerst das eine öffnete, dann die anderen. Er schüttete sich die Pillen auf die Hand, zwei rote, eine weiße und drei blaue. Bevor er danach verlangen konnte, hatte sie ihm schon ein Glas Mineralwasser eingegossen, ohne Kohlensäure und zimmerwarm, wie er es liebte, und stellte es ihm hin. Er steckte sich die Pillen in den Mund, spülte sie mit Wasser hinunter und stellte das Glas vor sich auf dem Tisch ab. Carlo schob sich vom Tisch weg, erhob sich und ging, ohne den Fernseher auszuschalten, ins Wohnzimmer, wo er sich in seinem Sessel niederließ und mit der Fernbedienung den anderen Apparat einschaltete. Lilli verlas immer noch schlechte Nachrichten. Luisa steckte den Stöpsel in den Ausguss und ließ heißes Wasser einlaufen. Morgen gibt es penne mit Sahne und parmigiano, dachte sie, und danach den Aal. Und tiramisù, Carlo liebte tiramisù. Irgendwann in nächster Zeit, nach dem Mittag- oder Abendessen, würde auch sie mit Bestimmtheit etwas zu vermelden haben, aber für Lilli Grubers Nachrichten würde es kein Thema sein. Aus dem Amerikanischen von Monika
Mag ich – Mag ich nicht von Martin Walker (S. 88). Aus dem Englischen von Michael Windgassen. Top 10 Reiseziele von Paulo Coelho (S. 69). Aus dem Englischen von Margaux de Weck. Das Gespräch zwischen Georges Simenon und Ian Fleming
Für ein Abonnement benutzen Sie bitte die beigeheftete Abokarte. Abonnementspreise: € 10.– für drei Ausgaben in Deutschland und Österreich, sFr 18.– in der Schweiz, andere Länder auf Anfrage. Herzlichen Dank für Mithilfe, Ideen oder Unterstützung an Anna von Planta, Jakob Keel, Philipp Keel, Ursula Baumhauer, John Simenon, Lorena K. Pedalino, Peter Roth, Christian Heiss, Cornelia VolhardWaechter, Donna Leon, Martin Suter, Ingrid Noll, Benedict Wells, Lukas Hartmann. Beim Gewinnspiel sind MitarbeiterInnen des Diogenes Verlags von der Teilnahme ausgeschlossen. Die Gewinner werden schriftlich benachrichtigt. Die Preise sind nicht in bar auszahlbar. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Über unverlangt eingesandte Manuskripte kann leider keine Korrespondenz geführt werden. Alle Angaben ohne Gewähr. Preis- und Programmänderungen vorbehalten. Alle Angaben ohne Gewähr. Unverbindliche Preisempfehlung für den sFr-Preis bei Büchern und für Hörbücher generell. Redaktionsschluss: 1. April 2009 erschien erstmals am 9.4.1954 in Le Figaro Littéraire, Paris. Abdruck mit freundlicher Genehmigung vonChorion PLC, London. Die verfälschte Wahrheit von Lukas Hartmann erschien erstmals am 22.2.2009 in der NZZ am Sonntag, Zürich. Diogenes Magazin
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Vier Venedig-Bilder
Donna Leon
Versunkenes Venedig Versunken ist Venedig – zum Glück – noch nicht. Die stille Würde des alten Venedig kann man heute dagegen nur noch in alten Fotografien und Gemälden erahnen. Beim Beschreiben ihrer vier liebsten Venedigbilder wird Donna Leon ganz wehmütig.
Undatiertes Foto vom Canal Grande, Sammlung Herzog, Basel
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Foto: Š Sammlung Herzog, Basel, Ruedi Habegger
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nter den zahlreichen Mythen, die sich hartnäckig um Venedig ranken, ist der zählebigste wohl der von der stillen Stadt, in der die Menschen noch ganz ungestört in sich hineinhorchen können und wo sich nur das Schweigen der Jahrhunderte vernehmen lässt. So oder so ähnlich lauten die gängigen Klischees. Doch die Vorstellung, weil in der Lagunenstadt keine Autos fahren, ginge es dort lautlos zu, ist ebenso weitverbreitet wie falsch. Denn in Wahrheit verstärkt der Wegfall des Motorenlärms den ganz normalen urbanen Geräuschpegel sogar noch, oder zumindest nimmt man ihn stärker wahr. Aber da er allein von menschlichem Tun wie Schritten, Husten, Fußball spielenden Kindern oder Gesprächsfetzen erzeugt wird, empfindet das Gehirn ihn kaum als störend. Sodass leicht der Eindruck entsteht, Venedig sei eine stille Stadt, obwohl tagsüber immer irgendwelche Geräusche aus den Calli heraufhallen.
Fotografien aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts zeugen von einer so vollkommenen Stille, wie es sie in Wirklichkeit längst nicht mehr gibt: Werfen Sie nur einmal einen Blick auf das undatierte Foto der Rialtobrücke
Die Touristen verlangen das komplette VenedigErlebnis: Klischee, Mythos, Illusion. aus der Sammlung Herzog und spüren Sie diesem Moment absoluter Ruhe nach, der hier eingefangen ist. Tageszeit? Vermutlich früh am Morgen, und der Umstand, dass der Herr rechts im Bild seine Jacke – kein Mann ging damals ohne Krawatte, Jackett und Hut aus dem Haus – über dem Arm trägt, lässt auf eine warme Jahreszeit schließen: Spätfrühling oder Sommer. An einem Werktag würden auch heute um
diese Zeit schon die Frachtkähne mit Gemüse, Obst und Fisch für den Rialtomarkt auf der anderen Seite der Brücke anlegen, aber hier ist weit und breit kein Boot in Sicht. Ja, bis auf diesen Mann und einen zweiten oben auf der Brücke findet sich keine menschliche Regung und somit auch kein Hinweis auf eine Geräuschkulisse. Also blicken wir vielleicht auf einen friedlichen Sonntagmorgen, kurz nach Tagesanbruch, wo der Bootsverkehr in Venedig noch ruht und keine Lastkähne mit Getöse ihre Waren anliefern. Wann ist es auf dem Rialto zuletzt so still gewesen? Und wann hat man das Wasser zuletzt so reglos und unberührt wie eine Eisdecke schimmern sehen? Der hier noch ganz verlassene Anlegeplatz am Rialto ist heute ständig von Booten umlagert, die im Eiltempo Passagiere und Warengüter ausspucken. Wann war am helllichten Tag zum letzten Mal nur je eine Person auf der
Bild: © Fondation Beyeler, Basel
Canaletto, Der Markusplatz (1723)
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Bilder: © Fondation Beyeler, Basel / Pro Litteris, Zürich
Brücke und auf der Uferpromenade zu sehen? An ihrer Stelle wälzen sich heute ganze Heerscharen schnatternder Touristen über den Rialto. Das Foto suggeriert eine Geisterstadt, die so nicht mehr existiert. Die Schwarzweiß-Technik aus der Pionierzeit der Fotografie verweist auf ein weiteres Phänomen, das typisch war für das Venedig jener Epoche: die optische Stille. Hell und Dunkel, sanfte Grau- und Sepiatöne, mehr gab es nicht. Die Menschen kleideten sich damals auch anders: Männer trugen dunkle Anzüge und Hüte, die Frauen dunkle Gewänder, allenfalls aufgefrischt mit einem weißen oder einem helleren Hut. Farbliche Entgleisungen wie ein leuchtendes Rot oder Grün waren verpönt. Gelb? Völlig indiskutabel! Die Stadt, die sich in diesem frühen Foto präsentiert, ist ein gesitteter Ort: frei von der optischen Kakophonie des heutigen Venedig, wo Schaufensterauslagen und die ständig wachsende Zahl von Kiosken das Auge mit grellfarbigem Ramsch bombardieren; wo jeder, der genug dafür zahlt, seine Waren vor aller Augen ausbreiten, ja, wenn nur der Preis stimmt, sogar die berühmtesten Denkmäler zukleistern darf. In früheren Jahrhunderten sorgten die Maler für jene Töne, die die Fotos vermissen lassen, aber die Welt, die sie mit ihrem Pinsel einfingen, wäre immer noch angenehm gewesen für die Ohren. Canalettos Porträt – denn es ist im Grunde ein Porträt, nicht wahr? – vom Markusplatz ist gar nicht sehr weit von der Monochromie entfernt: eine sanfte Himmelslandschaft, Wolken im farblichen Einklang mit den Gebäuden darunter, die Piazza graubraun und nur zur Hälfte gepflastert. Hie und da ein roter Farbtupfer in Gestalt eines Capes oder Hutes. Die weißen Stolen der Frauen springen ebenso ins Auge wie die riesigen Markisen vor der Basilika. Aber die ganze Szene strahlt Würde
aus, und die Personen sind so untadelig gekleidet, wie es sich für eine Stadt mit dem Beinamen ›La Serenissima‹ gehört. Die wenigen Figuren auf dem Bild verweilen zumeist in gesetzter Unterhaltung. Der lautstarke Wettstreit zwischen den Orchestern der Cafés Quadri und Florian, der nun schon seit etlichen Generationen die Piazza beschallt, hat noch nicht begonnen. Und gottlob gibt es auch keine Tauben. Dafür aber – ist das die Möglichkeit? – Ziegen! Denn was könnten diese Flecken hinten links anderes sein als Ziegen? Schweigsame Ziegen, versteht sich. Monets Bildnis des Palazzo Ducale setzt ebenfalls auf gedämpfte Töne. Die
setzt und wenigstens die Fassade des Dogenpalastes nicht verschachert hat. Und nun Manet. Erstaunlich, diese Franzosen: Immer erwischten sie genau den Moment, wenn keine Boote in Sicht waren oder höchstens das eine, das sie gern malen wollten. In diesem Fall ist es eine Gondel, ein historisches Modell mit überdachtem Aufsatz und einem altmodischen Gondoliere. Statt der Kreissäge mit den flatternden Bändern trägt er anscheinend seinen eigenen Hut, dazu Weste und ein Hemd ohne die heute obligatorischen Matrosenstreifen. Da seine Füße nicht im Bild sind, ist auch nicht zu erkennen, ob er jene anachronistischen Tennisschuhe anhat, deretwegen ein Gondoliere vor kurzem zu einer Geldbuße verdonnert wurde. Die Touristen verlangen das komplette Venedig-Erlebnis – Klischee, Mythos, Illusion –, und zwar von Kopf bis Fuß. Und darum wurden Tennisschuhe, ungeachtet ihrer rutschfesten Sohlen, verboten. Claude Monet, Der Dogenpalast (1874)
Farbe Gelb taucht zwar auf, aber nur in der Spiegelung: Die stille Würde des Sujets bleibt gewahrt, die leuchtende Szene bricht sich in schimmernden Reflexen. Das Markusbecken liegt verlassen da: Kein einziges Boot verstellt dem Maler – oder dem Betrachter – den Blick auf den Palazzo. Diejenigen von uns, die oft am Dogenpalast vorbeikommen, stellen staunend fest, dass keinerlei Renovierungsarbeiten im Gange sind und die Fassade beidseitig sichtbar ist. Eine Sensation, für die der Gazzettino sofort die Titelseite freischaufeln müsste. Und das überlebensgroße Werbefoto einer Autofirma, mit dem kürzlich die Gerüste an der Fassade verhüllt wurden? Das bleibt uns noch über hundert Jahre erspart, weil die Stadtverwaltung zu Monets Zeiten ihrer eigenen Käuflichkeit wohl doch noch ein paar Grenzen ge-
Eduard Manet, Der Canal Grande (1874)
Vier Bilder. Auf denen bis auf Canalettos Figurengrüppchen nur drei Personen zu sehen sind und nur ein fahrendes Boot. Der Rest ist Schweigen und weite Ausblicke, die das Auge auf Pracht und Herrlichkeit lenken. Kein Wunder, dass meine venezianischen Freunde der Vergangenheit nachtrauern.
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»Franziska geriet in einen Durchgang, in dem es zog, und stand plötzlich auf der Piazza San Marco. Vielleicht habe ich nie etwas Schöneres in einer Stadt gesehen, gerade jetzt, wo es mich nichts angeht, muss es mir passieren, dass ich in einer Januar-Nacht auf die Piazza San Marco gerate. Sie musste sich einen Augenblick zwingen, nicht in Tränen auszubrechen.« Alfred Andersch, Die Rote
Buchtipp F. K. Waechter
Der Anti-Struwwelpeter Halbleinen, Vierfarbendruck, 48 Seiten € (D) 14.90 / sFr 26.90 / € (A) 15.40 ISBN 978-3-257-01142-5
Ein Standardwerk der antiautoritären Erziehung, ein Nostalgiewerk der 68er-Generation – und noch immer die unerlässliche, schlaue und vergnügliche Erwiderung und Ergänzung zu Hoffmanns Struwwelpeter. Jetzt als schöne Neuausgabe in Halbleinen zum 200. Geburtstag von Heinrich Hoffmann am 13. Juni 2009.
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»Venedig im Februar? Welche Torheit! Das Klima ist wie eine langsam gelutschte Aspirintablette – so herb, dass es einem Schauer über den Rücken jagt. Die Feuchtigkeit gräbt sich durch die Haut bis auf die Knochen, man kommt sich vor wie ein in Arbeit befindlicher Kupferstich. Der Nebel kriecht bis in die Kaffeetassen, man ist versucht, alle paar Minuten über die Augen zu wischen wie über eine Windschutzscheibe. Den Katzen steht das Fell in nassen Wirbeln zu Berge, die Tauben drücken sich in die Mauerritzen. Gleich nach dem Mittagessen setzt die Dunkelheit ein, und die Straßenbeleuchtung ist so trüb, dass man noch auf den schmalsten Gässchen nicht von einer Seite auf die andere sehen kann. Und dann die Stille…« Joan Aiken, Angst und Bangen
Portfolio
F. K. Waechter
Venezianische Skizzen Im Januar 1999 begleitete F.K. Waechter seine Frau Nele, die an einem Kongress teilnahm, nach Venedig. Mit dabei, wie immer bei F. K. Waechter, sein Skizzenbuch, aus dem das Diogenes Magazin zum ersten Mal Ausschnitte zeigt. Die leeren Seiten haben wir mit Zitaten aus Venedig-Romanen von Diogenes Autoren gefüllt.
»Venedig, einst Hau ptstadt de fungen ein r Ausschw es ganzen eiKontinen verschlafe ts, war zu nen Provin r zstadt geworden , die nach n e un oder ze abends bu hn Uhr chstäblich a ufhörte zu Im Somm existieren er erinner . te sie sich sanenverg ihrer Kur angenheit ti und glänz die Touris te, solange ten zahlte n und das sc Wetter an höne hielt, im W inter aber zu einer m w urde sie üden alten Matrone, bedacht w die darauf ar, möglic hst früh in kriechen, s Bett zu und ihre v erlassenen Katzen un G assen den d den Erin nerungen gene Zeite an vergan n überließ . In diesen war die Sta Stunden dt für Bru netti am sc denn gera hönsten, de dann k o n nte er, der und durch durch Veneziane r war, etw ihrer früh as von eren Prach t erahnen Wie so vie … le Frauen in gewissem konnte die Alter Stadt nur mit Hilfe schen Lich tr ü gerits ihre ver schwunde heit wiede ne Schönrerlangen .« D onna Leon , Venezian isches Fina le
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»Es war das gänzliche Fehlen von Verkehr in der Stadt, das den Besuchern die Freiheit gab, sich so leicht zu verirren. Ohne zu schauen, überquerten sie Straßen und stürzten impulsiv in kleinere Gassen, weil diese sich so verlockend ins Dunkle davonwanden, oder weil der Geruch von gebratenem Fisch sie anzog. Es gab keine Schilder.« Ian McEwan, Der Trost von Fremden
»›Ich habe Venedig so satt‹, seufzte sie. ›Warum?‹ ›Immer das Gleiche: kalt im Winter, voller Touristen im Sommer.‹« Patricia Highsmith, Venedig kann sehr kalt sein
»Von außen gesehen wirkt Santa Maria Formosa durch ihre Kuppel rund und anmutig. Hinter ihr plätschert einer der schmalen Pfade venezianischen Wassers, die Straßen mit Kirchen verbinden, Plätze mit Gassen. Die Kirche wirkt großzügig und friedlich in ihrer Behäbigkeit, als öffneten sich die Flügel ihres Portals, um den Platz davor im besten Licht zu zeigen; den Platz und alles, was ihn umgibt …« Muriel Spark, Hoheitsrechte
»Die Paläste Venedigs umgaben sich mit majestätischer Würde, und die Mosaiken verharrten in derselben Geduld, mit der sie Stück für Stück gelegt worden waren.« Muriel Spark, Hoheitsrechte
»Nur ein paar Zentimeter von meiner Wange entfernt, die sehr unbequem auf eisig-öligem Pflaster ruhte, floss der Canal Grande. Das Wasser sah aus wie Ratatouille, ein Gericht, für das ich noch nie geschwärmt habe.« Joan Aiken, Angst und Bangen
»Obwohl es der heißeste Tag bislang war und der Himmel direkt über ihnen mehr schwarz als blau, war das Meer, als sie es endlich über die betriebsame Allee mit den Straßencafés und Souvenirläden erreichten, ein öliges Grau, über dessen Oberfläche eine flaue Brise schmuddelige Schaumflecken schob und zerstreute.« Ian McEwan, Der Trost von Fremden
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Legendäre literarische Adressen
Die Kantine der Literaten Wenn man Schriftsteller befragt, in welchem Restaurant sie ihr letztes Mahl essen würden, hört man oft: die Zürcher Kronenhalle. Nun ist Zürich eher als Geldstadt bekannt denn als Hort der Musen. Aber die Kronenhalle ist auch kein Restaurant wie jedes andere, was man schon daran erkennt, dass James Joyce Stammgast war oder Friedrich Dürrenmatt dem Restaurant ein Gedicht gewidmet hat. Friedrich Dürrenmatt Kronenhalle 1. Ich bin an wenigen Orten daheim Im Haus über dem See Auf der andern Seite des Monds Auf der Bühne des Schauspielhauses Umstellt von Kulissen Und in der Kronenhalle In Mutter Zumstegs Reich Die Leberknödelsuppe dampft Aldo kommt mit dem Wagen angerollt Und ich denke über einen Auftritt der Giehse nach 11. An den Nachmittagen zwischen drei und vier Am Tisch Zwischen den Glasscheiben Wie hinter Silberstaub schläft die Katze Auf der Bank in der Ecke Kein Gast wagt sie zu stören Vor blauen Tramwagen manchmal Bewegen sich die Vorhänge Geisterhaft auf die gleiche Scheibe gespiegelt Erscheint aber auch Mein Gesicht und die fernere Theke Schiebt sich Der Hintergrund vor den Vordergrund.
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Die alte Dame der Kronenhalle: Hulda Zumsteg, die 1984 verstarb
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ieber Fritz, herzlichen Dank für Dein Buch. – Und: wenn dus kannst, verzeih, dass ich an dem Abend in der Kronenhalle durchgedreht habe.« Wer da durchdrehte, ist Max Frisch, und Fritz ist der BeinaheFreund und Rivale Friedrich Dürrenmatt. Die »Fehlleistung«, für die sich Frisch brieflich entschuldigt, ein von Alkohol angeheizter Wutausbruch: Frisch retourniert aus nichtigem Anlass ein Buch, das Dürrenmatt ihm geschenkt und gewidmet hat. Ein weiterer Schritt auf den sich trennenden Wegen jener zwei, die stets in einem Atemzug genannt wurden und die sich »wacker auseinander befreundet« hatten (Dürrenmatt). Aber was ist das für ein Ort, an dem sich Literaturgeschichte abspielt? Das Haus an der Rämistraße 4 hatte schon bessere Zeiten erlebt, als Hulda und Gottfried Zumsteg es 1925 übernahmen. Im Biedermeier erbaut als Dépendance des Gasthauses ›Zur Krone‹ mit Scheune und Stall, feierte die Kronenhalle im 19. Jahrhundert eine erste Glanzzeit als bürgerliche Gast-
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stätte mit gelegentlicher musikalischer Unterhaltung. »Mittag- dito Abendessen (Suppe, 2 Fleisch und Gemüse, Käse und Dessert) zu Fr. 1.50«, preist ein Plakat aus den 1860er Jahren, und vor allem: »größte Auswahl an Wiener-, Pilsner, Bayerisch- und Englischbier«. Seite an Seite mit dem Zürcher Großbürgertum speisten und tranken
Gibt es einen zweiten Ort auf der Welt, wo man unter einem echten Miró oder Chagall essen kann? hier Arnold Böcklin, Conrad Ferdinand Meyer und Gottfried Keller. 1902 ging die Kronenhalle konkurs, das Gebäude verwahrloste, und erst die Zumstegs erweckten es zu neuem Leben. Hulda Zumstegs Biographie klingt wie ein Märchen: von der Schustertochter, die aus Geldmangel nicht hatte Lehrerin werden können, mit zwei unehelichen Kindern von zwei verschiedenen Vätern, zur reichen Patronne, für die
Couturiers wie Hubert de Givenchy Kleider entwerfen. Seit dem Tod ihres Mannes 1957 Alleinherrscherin über die Kronenhalle, ist sie mit den Großen der Welt auf Du und Du, pelzgewärmt und juwelenbehangen. Dieses Märchen beruht auf harter Arbeit – wir haben es ja mit einem Zürcher Märchen zu tun. Hinzu kommen Hulda Zumstegs strenges Qualitätsbewusstsein in Küche und Weinkeller, höchste Ansprüche an sich selbst und die Belegschaft. Und – bedenkt man, dass Hulda Zumsteg nur bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr die Schule besuchte – eine erstaunliche Stilsicherheit. Das Interieur der Kronenhalle hat sich seit ihren Anfangsjahren kaum verändert. Am Bellevue, hinter den Spitzenvorhängen mit der emblematischen Krone, verbirgt sich ein Reich des gedämpften Lichts, der weißen Tischtücher und des schweren Bestecks, des lauten Stimmenwirrwarrs am Abend und der beinahe sakralen Stille am Nachmittag. Der vordere Speisesaal, die sogenannte Brasserie, hat nach Wolfram Siebeck »etwas von
Alle Fotos: © Kronenhalle, Zürich; Hintergrundfoto: © Diogenes Verlag / Bastian Schweitzer
Neben anderen Originalen: Hulda Zumsteg , porträtiert von Varlin (1967)
einem Ersterklassewartesaal der k.u.k. Eisenbahnen«: Bänke mit grünen Lederpolstern, Garderobenständer aus Messing, von der hohen Decke hängen Kronleuchter, die diesen Namen auch wirklich verdienen. An die dunkle Holztäfelung der Wände schließt ein Fries mit den Wappen der Zürcher Zünfte an, jedes mit einem gereimten Sprüchlein versehen. Bei den Weggen, der Bäckerzunft, heißt es: »Schlimme Zeiten / kanns bereiten / herrscht im Lande Hungersnot. – / Aber Frieden / ist beschieden / hat der Mensch sein täglich Brot.« In der Kronenhalle findet der Mensch mehr als sein täglich Brot: Schweizer Spezialitäten wie Zürcher Geschnetzeltes mit Rösti, daneben Süddeutsches, Österreichisches, Französisches und Italienisches. Die Küche der Kronenhalle ist das Gegenteil von Nouvelle Cuisine – sie ist Cuisine Ancienne: aus besten Zutaten zubereitete, währschafte Hausmannskost in großzügigen Portionen. Nein, in der Kronenhalle ist wahrlich noch keiner verhungert – es sei denn, es mangelte ihm am nötigen Kleingeld.
Das Restaurant ist Abend für Abend bis auf den letzten Platz besetzt. Denn gibt es einen zweiten Ort auf der Welt, wo man unter einem echten Miró oder Chagall speisen kann? Gustav Zumsteg, Huldas Sohn, entwickelt schon in seiner Jugend eine Leidenschaft für schöne Stoffe – er wird vom Lehrling zum Teilhaber der Zürcher Seiden-
James Joyce trank jeden Abend in der Kronenhalle ein Glas Fendant, immer am selben Tisch. firma Abraham aufsteigen – und für zeitgenössische Kunst. Zwei Passionen, die der Kronenhalle zugute kommen: Die großen Pariser Modeschöpfer, Gustav Zumstegs Kunden und Freunde, bringen als Erste internationales Flair und Glamour in die Kronenhalle. Und Zumsteg kauft Gemälde von Braque, Picasso, Bonnard, Varlin und vielen anderen, zu einer Zeit, da sie noch erschwinglich sind. Als für die
Sammlung an den Wänden seiner Wohnung der Platz ausgeht, beginnt er, die Bilder im Restaurant seiner Mutter aufzuhängen. Seither isst in der Kronenhalle das Auge mit. In der Rechnung inbegriffen ist der Eintritt in eine Privatgalerie, wo, anders als in großen Museen, die Kunst mit den Menschen lebt. Zusätzlich erkaufen sich die heutigen Gäste mit einem Roastbeef oder Sole-Filet den Eintritt in eine Legende, sie reihen sich ein in die Folge der vielen berühmten Kronenhallengänger. Will man erklären, was die Kronenhalle ist, kommt man um Name-Dropping nicht herum. Denn die Künstler, deren Bilder an den Wänden hängen, kamen als Freunde der Zumstegs auch leibhaftig ins Restaurant, und wurden, wenn nötig, von der Chefin durchgefüttert. Richard Strauss, Strawinsky, Lehár zählten zu den Gästen. Unzählige Schauspieler und Regisseure feierten ihre Premieren im Schauspielhaus in der nahegelegenen Kronenhalle. Die Kronenhalle ist überdies ein literarischer Ort: Thomas Mann, Musil, Diogenes Magazin
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Brecht, Zuckmayer oder James Joyce, der in seinen letzten Lebensjahren fast allabendlich in der Kronenhalle bei einem Glas Fendant anzutreffen war, immer am selben Tisch, und der kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schrieb: »Alles, was ich über Zürichs Zukunft sagen kann, ist, dass ich hoffe, wer auch immer die Stadt einnehmen mag, er […] die Kronenhalle verschonen möge.« Unter Zürcher Verlegern besteht eine lange Tradition, sich in der Kronenhalle mit ihren Autoren zu treffen, die auch der deutsche Philohelvet Siegfried Unseld beherzigte. Zwangsläufig ist die Kronenhalle zu einem Schauplatz der Literatur geworden: So orten Experten Anspielungen auf die Kronenhalle in James Joyces Sprachungetüm Finnegans Wake. Das Restaurant ›Du Théâtre‹ in Dürrenmatts Roman Justiz ist der Kronenhalle nachempfunden. In Patricia Highsmiths letztem Roman ›Small g‹ – eine Sommeridylle findet eine Geburtstagsparty dort statt. In Tomi Ungerers Kinderbuch Kein Kuss für Mutter will
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Katzen-Mutter Angora Tatze ihren kussunwilligen Sohn Tobi mit einem Besuch im Restaurant ›Bei Hulda‹ versöhnen – »das beste Restaurant der Stadt«, berühmt für das »Maulwurfsgulasch«. Und zum Schluss von John Irvings Mammut-Roman Bis ich dich finde kommt es auf der Männertoilette der Kronenhalle zu einer hinreißenden Vater-und-Sohn-Szene, bei der sich –
Der Treffpunkt der Literaten wird zum literarischen Schauplatz mehr soll nicht verraten werden – ein älterer, über und über tätowierter Herr nackt auszieht, was einen hereinplatzenden Zürcher Bankier einigermaßen verunsichert. Allerdings ist die Kronenhalle kein Literatencafé. Trotz Überschneidungen ist die Kundschaft nicht dieselbe wie im Odéon gegenüber, wo früher Anarchisten, Pazifisten und andere Isten diskutierten. In der Kronenhalle
plant man keine Revolutionen, hier wird das Bestehende gepflegt. Denn die Kronenhalle ist bürgerlich. Geld und Geist sitzen hier seit jeher nebeneinander: Bankiers, Industrielle, Honoratioren, Intellektuelle und Künstler, damals wie heute. Die Kronenhalle atmet eine eigenartige »Mischung von weltgewandter Offenheit und behäbigem Lokalkolorit. Es ist nicht übertrieben, wenn man diese besondere Färbung als für Zürich wesentlich bezeichnet«, schrieb Gustav Zumsteg. Und diese Mischung ist es denn auch, die so verschiedene Typen anzieht: die Konservativen, die Exzentriker, die im Herzen Altmodischen, die protzenden Neureichen, die Kulturbeflissenen, die Snobs und sogar die jungen Trendsetter, die ihre Kronenhalle ironisch verstehen. Sie ist ein öffentlicher Ort, eine Bühne so gut wie das Zürcher Schauspielhaus. An der Schwierigkeit oder Leichtigkeit, mit der man einen Tisch in der Brasserie bekommt, kann man seinen gesellschaftlichen Status ablesen. Man führt seine Juwelen aus, beobachtet, wer mit wem isst. Jede Handlung
Foto von Frisch und Dürrenmatt: © Jack Metzger/Comet Photo Zürich; alle andere Fotos: © Kronenhalle, Zürich. Illustration links: © Tomi Ungerer; Illustration rechts: © Sempé
gerinnt zu einem Auftritt. 1964 schreibt Max Frisch an Dürrenmatt: »Um ins Gespräch zu kommen, brauchen wir, nachdem es lang und nicht nur äußerlich unterbrochen war, etwas Zeit, Ruhe; in der Kronenhalle fühle ich mich nicht frei.« Vielleicht ist die Kronenhalle doch ein Ort, an dem sich Geister scheiden: Dürrenmatt nämlich widmete ihr ein Gedicht, in dem er gesteht, neben »der anderen Seite des Mondes« sei die Kronenhalle einer der wenigen Orte, an denen er daheim sei.
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Zeichnungen von Tomi Ungerer und Jean-Jacques Sempé aus dem Gästebuch der Kronenhalle Max Frisch (links) und Friedrich Dürrenmatt in der Kronenhalle
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Interview
Peter Roth
Weltmeister-Barkeeper Seit 1976 steht Peter Roth hinter der Theke der Kronenhalle-Bar. Ein Gespräch über den richtigen Cocktail für jede Stunde, Dry Martini, James Bond und natürlich den »Ladykiller«, den Cocktail, den Peter Roth weltberühmt gemacht hat. Diogenes Magazin: Sie sind seit über einem Vierteljahrhundert Chef der Kronenhalle-Bar. Erinnern Sie sich eigentlich noch an Ihren ersten Besuch in einer Bar? Peter Roth: Ich weiß nur noch, dass es nicht die Kronenhalle-Bar war. Zum ersten Mal in eine richtige Bar gegangen bin ich wohl in Genf, in der Zeit nach meiner Lehre, als ich im Hotel Président in der Küche arbeitete. Um mir einen Cocktail zu leisten, verdiente ich damals viel zu wenig Geld. Aber die Kollegen, die schon eine höhere Position hatten, luden mich netterweise ein, und so konnte ich etwas Schöneres trinken als nur ein Bier. Natürlich servieren Sie in der Kronenhalle-Bar auch Bier und Wein, aber Ihr wahres Metier ist der Cocktail. Wie sollte ein guter Cocktail sein? Der beste Cocktail ist derjenige, der zum Gast passt, zu seiner Laune. Es ist eine hohe Kunst, diese Laune herauszuspüren, zu erahnen, was der Gast sich vorstellt und wünscht. Ein Barkeeper muss sich auf die Stimmung 36
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einstellen können, ein guter Drink muss die Stimmung auch ändern können. Es kann vorkommen, dass ein Gast nach einem Tag, an dem etwas schiefgelaufen ist, in die Bar kommt, und nicht bei bester Laune ist. Der Barkeeper hat dann die Aufgabe, den Gast aufzuheitern. Was ist Ihr Lieblingsdrink? TNT, Gin Tanqueray und Tonic. So etwas Einfaches? Cocktails probiere ich während meiner Arbeit schon genug …
»Zu Hause trinke ich Mineralwasser.« Trinken Sie nur während der Arbeitszeit? Während der Arbeitszeit degustiere ich. Ein Koch muss die Soßen und Suppen versuchen, satt wird er davon aber nicht. Zu Hause trinke ich Mineralwasser, nach Sonnenuntergang sehr gerne Rotwein, am liebsten Bordeaux, sehr selten einen Single Malt oder einen Cognac vor dem Schlafengehen. Bier oder Tonic habe ich bewusst nicht zu Hause.
Die Gretchenfrage beim Dry Martini – geschüttelt oder gerührt? Ich bin der Meinung: gerührt. Der Bond-Martini ist mit dem klassischen Dry Martini gar nicht vergleichbar. Im ersten Bond-Roman Casino Royale bestellt James Bond einen Dry Martini so: »Einen in einem Champagnerkelch … Drei Maß Gordon’s, ein Maß Vodka und ein halbes Maß Kina Lillet. Das Ganze gründlich durchschütteln, bis es eiskalt ist, und eine dünne Scheibe Zitronenschale dazu. Verstanden?« Bei Ian Fleming gibt es also Vodka und Gin und er ersetzte den Vermouth durch einen französischen Apéritif, den Kina Lillet, ein Vermouth-ähnliches Getränk. Zur kulturellen Debatte »geschüttelt oder gerührt« kommt also noch die Glaubensfrage: Champagnerkelch oder Martini-Glas. Schließlich kommt bei Bond nicht eine Olive ins Glas, sondern ein Stück Zitronenzeste. Zum echten Dry Martini gehören 5 cl Gin und 1–2 Spritzer Vermouth Dry (zum Beispiel Noilly Prat), beides zusammenrühren, durch das Barsieb in das gekühlte Martini-Glas seihen, eine
Olive dazu. Es ist der Klassiker schlechthin, weil er genial einfach ist, umso schwieriger ist dafür, ihn richtig zu machen. Das Geheimnis eines guten Dry Martini ist, dass er sehr trocken ist, also mit ganz wenig Vermouth gemacht. Sie würden Daniel Craig den Martini also gerührt servieren? Ich müsste mir etwas einfallen lassen. Aber hat Daniel Craig nicht auch gesagt: »Sehe ich so aus, ob ich mich dafür interessiere, ob der Drink gerührt oder geschüttelt wird?« Im letzten Film Quantum of Solace bestellt er jedenfalls keinen einzigen Dry Martini, ich habe extra aufgepasst. War Daniel Craig schon einmal bei Ihnen? Nein, aber Roger Moore war öfters bei uns zu Gast. Das erste Mal war die Bar derart überfüllt, dass ich ihn nicht gesehen habe, als die Bestellung kam: ein Dry Martini und ein anderer Cocktail. Den Dry Martini machte ich wie gewohnt gerüht, nicht geschüttelt … Erst danach habe ich erfahren, dass die Cocktails für den Tisch von Roger Moore bestimmt waren. Ich bin sofort hingegangen, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist. Zum Glück war der Martini nicht für Herrn Moore, sondern für seine Begleitung. Der beste Drink, um sofort angeheitert zu sein? Der Champagner-Cocktail (Gin, Cointreau, Vermouth Dry, Champagner), der in der Kronenhalle-Bar »Porsche« heißt. Wie der Name suggeriert, kommt man sehr schnell auf Touren. Was trinkt man zum Schluss? Als Schlafmütze sozusagen? Das ist schwer zu sagen. Der perfekte After-Dinner-Drink ändert sich mit jedem Gast. Wenn jemand zu viel gegessen hat, braucht er etwas, um zu verdauen. Einige Gäste haben nach dem Essen Lust auf etwas Cremiges, wie ein flüssiges Dessert, oder sie verlangen nach einem Longdrink, weil sie noch durstig sind. Wie wird ein Cocktail bekannt? Früher haben die sogenannten Barflies Drinks bekannt gemacht. Barflies, das waren Menschen, die gerne in Bars tranken, viel gereist sind, Rezepte mitgenommen und international verbreitet haben. Heute kommt vieles aus der Literatur oder aus Filmen. Wenn ein Drink in einem Film vorkommt, boomt er. Nach jedem neuen Bond-Film werden wieder mehr Dry Martinis bestellt. Ihr Drink »Ladykiller« ist weltberühmt. Wie kam der Drink zu seinem Namen und zu seinem Erfolg? Da gibt es verschiedene Versionen. Die wahre Geschichte: Ich hatte mir diesen Drink ausgedacht, der immer noch ein Kind ohne Namen war, aber immer öfter bestellt wurde. An einem Abend hatte eine Dame drei dieser Cocktails getrunken und war danach ziemlich angeheitert. Sie rief mich zu sich und flüsterte mir zu: »Du bist mir auch ein schöner Ladykiller« – und da wusste ich: Das ist der Name. Der »Ladykiller« gewann 1984 die Barkeeper-WM, und ich durfte den Drink beim ZDF in einer Sendung mit Thomas Gottschalk präsentieren. kam
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Der DürrenmattCocktail
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ls Stammgast der Kronenhalle spazierte Friedrich Dürrenmatt oft vom Zürcher Schauspielhaus die Rämistraße hinunter in sein Lieblingsrestaurant. Auf halben Weg machte er ab und zu halt im Diogenes Verlag, der zwischen 1960 und 1970 in der Rämistraße 33 untergebracht war. Im Büro von Diogenes Verleger Daniel Keel trank Dürrenmatt gerne ein Glas Whisky, in der Kronenhalle dagegen nur seinen geliebten roten Bordeaux. Aus der Kombination Bordeaux und Whisky hat Peter Roths Bar-Assistent Christian Heiss als Hommage den Dürrenmatt-Cocktail kreiert: Bowmore Dusk (ein rauchiger Single Malt, der im Bordeaux-Fass gelagert wird), Lillet Reserve (ein Weinaperitif aus dem Bordeaux-Gebiet) und ein wenig Grand Marnier, auf Eis, im Tumbler serviert mit Orangen-Zeste.
Interview
Ray Bradbury
Im Herzen bin ich ein Bibliothekar Diogenes Magazin: Ray Bradbury, Sie sind ein ungemein produktiver Schriftsteller, haben allein Hunderte von Erzählungen geschrieben. Jetzt ist in Amerika ein neuer Erzählband mit dem Titel We’ll always have Paris erschienen. Was motiviert Sie zum Schreiben? Ray Bradbury: Ich kann nicht anders, eine Idee explodiert in meinem Kopf und ich renne zur Schreibmaschine, um sie niederzuschreiben. Normalerweise kommen die Ideen frühmorgens, kurz nach dem Aufwachen. In meinem Kopf spielt sich ein DämmerungsTheater ab, darin jagen die Ideen herum und prallen zwischen meinen Ohren zusammen. Wenn ich einen solchen Zusammenstoß spüre, stehe ich auf und fange sofort an zu schreiben. Heute tippe ich nicht mehr, sondern rufe meine Tochter Alexandra in 38
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Phoenix an und diktiere ihr meine Ideen. Dann gibt sie alles in ihren Computer ein und schickt es mir zurück. Short Stories schreibe ich für gewöhnlich in zwei oder drei Stunden. Ich grüble nie über sie nach, sondern lasse die Figuren zu mir sprechen, mir ihre Geschichten erzählen, und dann schreib ich sie auf.
»Ich lasse die Figuren mir ihre Geschichten erzählen, und dann schreibe ich sie auf.« Ihr Schreibzimmer quillt bekanntlich über vor Büchern. Finden Sie ein bestimmtes Buch, wenn Sie es brauchen? Ich weiß fast immer, wo in meiner Schreibklause sich ein Buch befindet.
Es gibt ein ganzes Regal George Bernard Shaw, der ist leicht zu finden. Ich habe auch ein komplettes ShakespeareRegal, eines mit allen Romanen von F. Scott Fitzgerald, ein Steinbeck-Regal und noch eines mit Hemingway und Faulkner. Auf einem anderen Regal stehen die größten bildenden Künstler aller Zeiten zusammen, auf einem weiteren die größten Dichter. Für mich funktioniert diese Methode, und ich finde rasch, was ich suche. Die berühmte Insel-Frage: Welches Buch würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen? Vor Jahren erschien ein dickes Buch von 3000 Seiten mit Essays von George Bernard Shaw. Zu jedem seiner Stücke hat er einen Essay geschrieben, der fast so lang ist wie das Stück selbst. Dieses gewaltige Buch würde ich auf die einsame Insel mitnehmen und jahrein, jahraus darin lesen. Shaw steht schon
Foto: © Sophie Bassouls / Sygma Corbis
Mit seinem Bestseller Fahrenheit 451 hat sich Ray Bradbury einen Albtraum von der Seele geschrieben, der eine Gesellschaft im Kampf gegen seine große Liebe beschreibt – die Bücher. Das Diogenes Magazin hat Ray Bradbury über seinen wohl berühmtesten Roman und über seine Leidenschaft für Bücher befragt.
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Foto: Š Douglas Kirkland / Corbis
seit vielen Jahren im Mittelpunkt meines Lebens, und ich verdanke es ihm, dass ich ein ganz anständiger Dramatiker geworden bin. Eines Ihrer Idole wird auf Deutsch ebenfalls von Diogenes verlegt: F. Scott Fitzgerald. Warum ist er für Sie so wichtig? F. Scott Fitzgeralds Roman Zärtlich ist die Nacht ist eines meiner Lieblingsbücher. Jedes Mal, wenn ich in Paris bin, kaufe ich mir eine neue Ausgabe und spaziere durch die Stadt. Ich fange beim Eiffelturm an, gehe den ganzen Tag, und erreiche rechtzeitig zum Sonnenuntergang Notre Dame. Unterwegs mache ich Rast, setze mich in den Park oder in ein Café und lese Fitzgerald. Inzwischen stehen etwa zehn Ausgaben von Zärtlich ist die Nacht bei mir im Regal, zusammengetragen auf meinen Paris-Reisen. Für mich ist Fitzgerald der Lyriker unter den Prosaautoren. Die Figurenzeichnung in seinen Geschichten ist großartig, aber auch die Passagen, in denen er einen Schritt beiseitetritt und Bemerkungen über das Wetter macht, den Schauplatz, sind wunderbar, die Gedanken, die ihm spontan einfallen ... Es ist so viel Poesie in seiner Prosa,
Buchtipp Ray Bradburys Kultbücher in revidierten Übersetzungen in einer schönen Geschenkausgabe
Space Opera in 3 Bänden in Kassette Enthält: Fahrenheit 451, Die Mars-Chroniken, Der illustrierte Mann Leinen, 960 Seiten, € (D) 39.– / sFr 68.– / € (A) 40.10 ISBN 978-3-257-06650-0
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weit mehr als bei den anderen Autoren, die ich erwähnt habe. Der Roman Fahrenheit 451 machte Sie zu einem weltberühmten Schriftsteller. Können Sie sich erinnern, wie die Idee zu diesem Buch entstand? Der Ursprung dieser Idee liegt in meiner Kindheit, als meine BibliothekenObsession begann. Mit sieben Jahren konnte ich mir nichts Schöneres und Aufregenderes vorstellen, als jeden Montagabend mit meinem Bruder Skip in die Bibliothek zu rennen und acht oder zehn Bücher auszuleihen. Die Bibliothekarin sagte, so viel könne ich
»Der Gedanke, dass es auf der Welt Menschen gab, die Bücher verbrennen wollten, brachte mich um.« doch unmöglich lesen, aber ich widersprach: »Doch, das kann ich. In zwei oder drei Tagen komme ich wieder her und hole nochmals zehn Bücher!« Mit vierzehn Jahren ging ich in Bibliotheken im ganzen Land ein und aus. Egal, in welcher Stadt wir uns befanden – sobald mein Vater den Wagen anhielt, raste ich in die Bibliothek und sah nach, ob sie irgendwelche aufregenden Bücher hatten, die ich noch nicht kannte. Später sah ich in der Wochenschau Bilder von Hitlers Bücherverbrennung in den Straßen von Berlin. Da entstand die Idee, dieses Thema anzugehen. Noch später in meinem Leben erfuhr ich, dass Stalin in Russland ähnliches gemacht hatte, aber hinter den Kulissen – er ließ das nie für die Wochenschau filmen. Als ich die Highschool abschloss, war meine Familie sehr arm. Das College konnte ich mir nicht leisten, und als Reaktion darauf begann ich als Zeitschriftenverkäufer an einer Straßenecke zu arbeiten, um zu überleben. Ich verdiente zehn Dollar die Woche. Jeden Morgen schrieb ich neue Erzählungen, und jeden Nachmittag und
Abend ging ich in die Bibliothek und arbeitete mich durch jedes Buch, das mir in die Finger geriet. Mit 28 Jahren ging ich von der Bibliothek ab. Ich hatte eine umfassende Ausbildung genossen, die derjenigen an einer Universität in Vielem überlegen war, weil sie ganz auf mich zugeschnitten war. Ich hatte mich entdeckt auf dieser Suche nach mir selbst. Irgendwann begann ich über eine Geschichte nachzudenken, die damit zu tun haben sollte, Bibliotheken zu beschützen. So schrieb ich, als ich Anfang dreißig war, eine Geschichte mit dem Titel Der Fußgänger. Sie spielte in der Zukunft und handelte von einem Mann, der verhaftet wird, weil er zu Fuß spazieren geht. Die Geschichte wurde veröffentlicht und gefiel, und ich sah sie mir später erneut an und schickte meinen Fußgänger nochmals auf einen nächtlichen Spaziergang in meiner Schreibmaschine. Dabei begegnete er einer jungen Frau namens Clarisse McClellan, sie fing an, mit ihm zu reden, und als sie aufhörte zu reden, hatte sie mir schon geholfen, mein Buch zu beginnen, Fahrenheit 451. In der folgenden Woche kamen alle meine Figuren zur mir und erzählten von Bücherverbrennungen und von der Zukunft. Zu jener Zeit konnte ich mir kein Büro leisten, und zu Hause hatte ich zwei Kinder, ich brauchte einen Ort, um mich hinzusetzen und zu schreiben. Im Untergeschoss der Bibliothek der University of California in Los Angeles entdeckte ich einen Schreibsaal, in dem man eine Schreibmaschine für zehn Cent pro halbe Stunde mieten konnte. Ich zog praktisch dort ein, mit einem Sack voller Münzen, und neun Tage und neun Dollar und achtzig Cent später hatte ich die erste Version von Fahrenheit 451 geschrieben, die damals noch Der Feuerwehrmann hieß. Die Geschichte wurde im Magazin Galaxy veröffentlicht, und mein Verleger kam zu mir und fragte mich, ob ich nicht noch 25000 Wörter mehr hätte. Ich sagte ja, unterschrieb einen Vertrag, und alle meine Figuren kamen
zu mir: Montag, Hauptmann Beatty, Faber, Clarisse McClellan. Sie sprachen in meinen Ohren und schrien in meinem Herzen, und ich beendete die längere Version von ungefähr 50 000 Wörtern, die zu Fahrenheit 451 wurde. Das ist meine Art zu arbeiten. Ich bin im Herzen ein Bibliothekar, und der Gedanke, dass es irgendwo auf der Welt Menschen gab, die Bücher verbrennen wollten, brachte mich um. Ich werde mich den Rest meines Lebens ihnen entgegenstellen und widersetzen. Stimmt es, dass Sie nie Auto gefahren sind und unter Flugangst leiden? Ich bin nie Auto gefahren, weil sich viele Schriftsteller kein Auto leisten können, besonders nicht damals Ende
der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre. Damals verdiente ich, wenn es hoch kam, 10 Dollar die Woche. Das änderte sich erst, als ich 22 oder 23 war und mein Einkommen allmählich anstieg, bis auf ungefähr 40 Dollar die Woche, als ich 26 war. Mit diesem Lohn konnte man sich einfach kein Auto leisten, und so bin ich nie Auto gefahren und habe nie eines besessen. Ich durchquerte das Land im Zug, bis ich ungefähr 25 Jahre alt war, weil ich dachte, ich hätte Flugangst. Dann war ich einmal gezwungen, ein Flugzeug zu nehmen, weil ich zur Eröffnung des Vergnügungsparks Epcot in Florida musste (an dessen Planung ich beteiligt war). Sämtliche Züge fielen aus, was bedeutete, dass ich nicht nach Hause
konnte. Ich sagte den Disney-Leuten: »Setzt mich in zwei doppelte Martinis und mixt mich ins Flugzeug!« Als ich erst einmal im Flugzeug saß, stellte ich fest, dass ich gar keine Angst vorm Fliegen hatte, sondern nur vor mir selbst! Ich geriet nicht in Panik und raste nicht durch die Gänge und schrie auch nicht: »Haltet das Flugzeug an!« Wissen Sie, ich war unehrlich zu mir selbst gewesen und entdeckte, dass ich das Fliegen sogar lieben konnte. Noch heute fliege ich problemlos. Mehrmals bin ich sogar mit der Concorde nach Paris geflogen, ehe der Betrieb eingestellt wurde. kam / Aus dem Amerikani-
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schen von Margaux de Weck
GREIFT NACH DEN STERNEN
Luzern
Yefim Bronfman
Magdalena Kožená
Konzertsaal KKL Luzern
KKL Luzern
LUCERNE FESTIVAL im Sommer | 13. August – 19. September 2009
Seit mehr als siebzig Jahren finden Festspiele in Luzern statt und verwandeln alljährlich im Sommer die historische Stadt am Vierwaldstättersee in ein Mekka der Musik. LUCERNE FESTIVAL zeichnet traditionell zwei prominente Künstler mit dem Titel eines «artiste étoile» aus und lädt sie ein, mit ihren Konzerten, Programmen und Ideen die musikalischen Festwochen zu bereichern. In diesem Jahr leuchten die Sterne besonders hell und klar. Die Mezzosopranistin Magdalena Kožená und der Pianist Yefim Bronfman garantieren künstlerische Aha-Erlebnisse und musikalische Glücksstunden: mit Liedern, Kammermusik, Klavierkonzerten, mit Musica antiqua und Kompositionen des 21. Jahrhunderts. So 16.8. | 11.00 Uhr | Konzertsaal KKL Luzern | Lieder-Rezital 1 Magdalena Kožená Mezzosopran | Mitsuko Uchida Klavier Werke von Henry Purcell | Robert Schumann | Claude Debussy Alban Berg Fr 21.8. | 19.30 Uhr | Konzertsaal KKL Luzern | Sinfoniekonzert 4 Sa 22.8. | 18.30 Uhr | Konzertsaal KKL Luzern | Sinfoniekonzert 5 LUCERNE FESTIVAL ORCHESTRA | Claudio Abbado Dirigent Magdalena Kožená Mezzosopran Werke von Gustav Mahler Di 25.8. | 19.30 Uhr | Konzertsaal KKL Luzern | Sinfoniekonzert 8 Philharmonia Orchestra London | Esa-Pekka Salonen Dirigent Yefim Bronfman Klavier Werke von Claude Debussy | Esa-Pekka Salonen | Igor Strawinsky Sa 29.8. | 18.30 Uhr | Konzertsaal KKL Luzern | Kammerorchesterkonzert LUCERNE FESTIVAL ACADEMY Orchestra | Pierre Boulez Dirigent Lisa Batiashvili Violine | Yefim Bronfman Klavier Werke von Leoš Janácˇek | Edgard Varèse | Alban Berg
www.lucernefestival.ch
Do 3.9. | 19.30 Uhr | Konzertsaal KKL Luzern | Sinfoniekonzert 16
Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam Mariss Jansons Dirigent | Magdalena Kožená Mezzosopran Werke von Jean Sibelius | Henri Duparc | Maurice Ravel Sa 5.9. | 16.00 Uhr | Lukaskirche Luzern | Kammermusik 4
Jörg Widmann Klarinette | Yefim Bronfman Klavier Werke von Johannes Brahms | Alban Berg | Jörg Widmann Heinz Holliger | Robert Schumann Mo 7.9. | 19.30 Uhr | Konzertsaal KKL Luzern | Sinfoniekonzert 21
Wiener Philharmoniker | Zubin Mehta Dirigent Yefim Bronfman Klavier Werke von Johannes Brahms | Béla Bartók Mi 9.9. | 19.30 Uhr | Luzerner Theater | Musica antiqua Magdalena Kožená Mezzosopran | Private Musicke Werke italienischer und spanischer Komponisten aus dem 17. Jahrhundert So 13.9. | 11.00 Uhr | Konzertsaal KKL Luzern | Klavier-Rezital Yefim Bronfman Klavier Werke von Ludwig van Beethoven | Robert Schumann | Sergej Prokofjew Pjotr Iljitsch Tschaikowsky | Mili Balakirew
Eine Auswahl von Tomi Ungerers Geistesblitzen: Wie viele Quellen enden in einer Toilettenspülung? Man kann alles zähmen, selbst eine Mauer – mit Efeu. Um eine Stecknadel im Heuhaufen zu finden, reicht ein Magnet. Erst wenn man Mühlen aufgebaut hat, sollte man Wind machen. Ich war ein guter Schüler mit schlechten Noten. Das Leben wäre so viel einfacher, wenn alle dieselbe Telefonnummer hätten. Lorbeeren stechen, wenn man sich draufsetzt. Lieber Foie gras als Viagra.
Foto: © Léa Crespi
Tomi Ungerer: »Die Ideen schießen mir durch den Kopf, ich bin wie ein Computer – als würde jemand auf einen Knopf drücken. Ich habe zu viele Ideen, das ist wie ein permanenter Strom, der nie aufhört.«
Denken mit Tomi Ungerer
Tomismen und Ungerismen M
Foto: © Diogenes Verlag / Bastian Schweitzer
an sollte immer ein Notizbuch bei sich tragen, ob zu Hause oder unterwegs«, so Tomi Ungerer. Er selbst hält sich seit über dreißig Jahren an diesen Vorsatz und hat so beiläufig, neben einem riesigen Werk von über hundert Büchern und Zehntausenden von Zeichnungen, auch stapelweise Notizbücher und Schreibhefte gefüllt. »Die Ideen schießen mir nur so durch den Kopf, ich bin wie ein Computer – als würde jemand auf einen Knopf drücken. Das beginnt schon mit den Sprachen: Französisch, Deutsch, Eng-
lisch – es geht von einer in die andere, manchmal mische ich alle drei in einem Satz«, erklärt Tomi Ungerer. Neben Ideen, Skizzen und Zeichnungen offenbaren Tomi Ungerers Notizbücher seine Vorliebe für Aphorismen, Wortspielereien und kleine Geschichten. Aus diesem Fundus ist im Diogenes Verlag ein Buch entstanden, das Tomi Ungerer von einer ungewohnten Seite zeigt, die aber vielleicht gar nicht so ungewöhnlich ist: »Ich bin ein Aufzeichner. Ich zeichne, was ich aufschreibe, und ich schreibe
auf, was ich zeichne, um einen Gedanken klar, kurz und bündig auszudrücken«, so Tomi Ungerer. Die Hölle ist das Paradies des Teufels, so der Titel des Buchs. Tomi Ungerer also ganz ohne Zeichnungen? Das ging dann doch nicht. Über 50 Zeichnungen, davon etliche neue, illustrieren den Band, zu dem Elke Heidenreich ein Vorwort geschrieben hat, das wir auf den nächsten zwei Seiten abdrucken.
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Essay
Elke Heidenreich
In einem Glas Wasser schwimmen lernen Tomi Ungerer zeichnet, malt, schreibt sein Leben lang. Viele seiner Zeichnungen sind wie Aphorismen: auf den Punkt gebrachte Satiren oder
Viele von Tomi Ungerers Zeichnungen sind wie Aphorismen: auf den Punkt gebrachte Satiren. rasche, präzise Blicke auf komplizierte Verhältnisse. Auch seine Zeichnungen sind Aphorismen – der Mann, der mit oder ohne Brille nur Mauern sieht; der ans Stuhlbein gebundene, also flugunfähige Pfeil hinaus ins Leben; der Mensch als Glied einer Kette. Die Zeichnungen, sonst Ungerers Hauptwerk, sind hier das Beiprogramm. Es geht um die Aphorismen, in vielen Jah-
ren entstanden, schnelle kleine Pfeile, die ins Schwarze treffen. Klaus von Welser, Aphorismensammler und Herausgeber, ist der Meinung, dass der Systematiker seine Gedanken ausführt, aber der Aphoristiker führt sie heim. Tomi Ungerer beobachtet, hält fest, zeichnet, schreibt, beschreibt – »Ich zeichne, was ich schreibe. Ich schreibe, was ich zeichne. Ich bin ein Aufzeichner«, sagt er ja auch von sich. Er macht nicht viele Striche, und er macht nicht viele Worte. Der Aphorismus ist ihm die angemessenste, knappste Form, das auszudrücken, was er sieht und sagt. Ja, die Hölle ist in der Tat das Paradies des Teufels, weil alles eine Frage des Ausgangspunkts ist, und so stimmt es auch, dass das Gleichgewicht der Traum der Waage ist und dass die Wolken ohne den Wind nicht wüssten, wohin. Aphorismen können poetisch sein, witzig, blitzgescheit oder auch banal, sogenannte Binsenweisheiten: »Das Glück, falls es das gibt, ist eine Frage der Disziplin.« Aber auch das ist schön formuliert. Man blättert, man liest sich fest, man hat das so und so ähnlich auch schon Foto: © Diogenes Verlag / Bastian Schweitzer
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enn Arthur Schopenhauer recht damit hat, dass uns die ersten vierzig Jahre den Text unseres Lebens liefern und die folgenden dreißig den Kommentar dazu, dann ist der jetzt siebenundsiebzigjährige Tomi Ungerer der beste Kommentator seines Lebens. Und genauso liest sich auch dieses Buch, diese Sammlung von Gedankensplittern, Bonmots, Aperçus, das, was wir Aphorismen nennen. Man muss ein Talent für so etwas haben. Es gibt durch alle Jahrhunderte große Aphoristiker, gewiss, aber man kann sie immer noch zählen, denn nicht jeder kluge Mensch ist in der Lage, so kurz und knapp, so ironisch, so scheinbar leicht das Wesentliche in wenigen Worten zu sagen. Der Aphorismus, sagte Marie von EbnerEschenbach, eine Meisterin des Fachs, ist der letzte Ring einer langen Gedankenkette.
Foto: © Léa Crespi
gedacht, hätte es aber nie so wunderbar formulieren können, und auf Seite 76 weiß man: »Ein gutes Buch ist ein Buch, zu dem man ein Vorwort schreiben möchte.« Wie schreibt man denn aber ein Vorwort zu einzelnen Sinnsprüchen, die keine Geschichte bilden, außer: Die Geschichte ist hier die Summe eines ganzen Lebens? Indem man ein wenig über Tomi Ungerer schreibt, über den man in diesen Aphorismen so viel erfährt. Er ist ein Kunstarbeiter, der die Welt umpflügt, mit Strichen und Worten. Er zeigt die Welt so, wie sie ist, und darum stehen in seinen Kinderbüchern auch schon mal Whiskyflaschen auf dem Tisch. Pädagogen ist er verdächtig, Feministinnen beschimpfen ihn als Erotomanen, Politiker keiner Richtung können ihn vereinnahmen. Er ist – im Elsass geboren, in der ganzen Welt zuhause – ein umfassend gebildeter Renaissancemensch, ein Weltbürger, der in vier Sprachen denkt, arbeitet, lebt. Er ist ein Moralist, der nur an den Zweifel glaubt und doch nie aufhört zu träumen. Er hat ein großes Talent für die Freundschaft, aber das Verhältnis Mann-Frau ist für ihn ein … »Schlitzkrieg«. Über solche Geschmacklosigkeiten kann er sich ausschütten vor Lachen, er liebt die Provokation, bei der die andern entnervt aufheulen, genau das muss es eben auch bei ihm sein, das ganz und gar Platte. »Ich fahre meinen eigenen Lasterwagen«, kalauert er vergnügt. »Ich bin ein gezeichneter Mensch«, schreibt er, »gezeichnet von Faschismus und Protestantismus. Vom Protestantismus ist mir die Moral geblieben, den Puritanismus habe ich ersetzt durch Erotomanie. Und meine Erotomanie war immer ein Rachefeldzug gegen den Puritanismus.« Und so lauert er, bis wir an solche »Stellen« geraten und gequält schauen, und er jubelt, weil wieder mal ein Schuss getroffen hat, egal, wohin. Tomi Ungerer kann mit Worten genau die Wunde treffen, aber er selbst verletzt nie. Er zeigt, wo es weh tut, und deckt sein hinreißend verschmitztes Lächeln darüber. Er schärft sein Kriegsbeil, wie
es in einem seiner Aphorismen heißt, und dann – begräbt er es. Er ist kein Zyniker, er ist Realist und rät uns, aus der ganzen Scheiße, in der wir versinken, doch einfach Dünger zu machen. Tomi Ungerer ist ein Widerspruch in sich. Der große Mann fühlt sich innen oft insektenklein, seinem Welterfolg misstraut er, er arbeitet rastlos und erholt sich dabei von seinen schweren Krankheiten, und er rät uns, die wir verzweifelt sind: »Vor dem Ertrinken immer einatmen.« In diesen Aphorismen breitet Tomi Ungerer seine ganze Welt- und Lebenssicht vor uns aus, seine ganze Erfahrung, seinen Mut, seine Verzweiflung, seinen Witz, seine Unsicherheit, seine Gelassenheit. Kein Glück, nirgends. Keine Angst, also auch kein Mut, denn: »Wer keine Angst hat, braucht keinen Mut.« Vorwärts und rückwärts sind identisch, je nachdem, von wo man schaut. Und am Ende? Ein Tod, den man nicht fürchten muss. Er ist nicht so grausam wie die Liebe. Er ist, sagt Tomi, lebenswert. »Das Leben ist eine Schule, der Tod die großen Ferien.« Hoffentlich geht Tomi noch lange in die Schule, als unser Lehrer, den wir lieben und brauchen.
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Buchtipp
Tomi Ungerer
Die Hölle ist das Paradies desTeufels Gedanken und Notizen Diogenes
Leinen, 160 Seiten € (D) 14.90 / sFr 26.90 / € (A) 15.40 ISBN 978-3-257-06675-3
»Tomi Ungerer landet stets treffsicher zwischen Ulk und Philosophie.« SonntagsZeitung, Zürich
Die Sekunden beneiden die Stunden, die Wochen sind eifersüchtig auf die Jahre, und die Jahrhunderte trauern dem Augenblick nach. Träfe ich Gott, würde ich zu ihm sagen: »Lass mich in Frieden.« Wenn ich jetzt aufhören würde, Medikamente zu nehmen, würde es mein Leben verlängern oder verkürzen? Pyromanen-Nachlass: eine Brandstiftung. Ich bin umringt von Schutzengeln, das Schönste für einen Teufel wie mich.
Roman · Diogenes
Foto: © Véronique Hoegger
Arnon Grünberg Tirza
Ein Bericht à la Wallraff
Arnon Grünberg
Saubere Laken Zwei seiner Romane hat Arnon Grünberg unter dem Pseudonym Marek van der Jagt geschrieben. Doch nicht nur als Romancier spielt Arnon Grünberg gerne mit seiner Identität. Für diese literarische Reportage ist er in die Rolle eines Zimmermädchens geschlüpft.
Illustration: © Chas Addams
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ch arbeite als Zimmerjunge im Hotel B., circa siebzig Kilometer südlich von München. Das Hotel hat eine eigene Brauerei, ein Restaurant, einen Biergarten und siebzig Betten. Die Rolle des Zimmerjungen habe ich mir selbst ausgesucht, doch stehe ich in einer guten Tradition: Zunächst wäre da Joseph Roth, der erklärte, ein »Hotelmensch« zu sein; als Nächstes die Künstlerin Sophie Calle, die 1983 als Zimmermädchen in einem venezianischen Hotel arbeitete, die persönlichen Gegenstände der Gäste fotografierte und für ihre künstlerische Arbeit benutzte. Auch der niederländische Schriftsteller Jan Arends soll hier nicht vergessen werden. Er dichtete: »Ich / gehe durchs Zimmer und / staube ab. Ich / krieche. Ich / bin ein Tausendfüßler.« Eine gewisse kultivierte Wollust verbirgt sich in der Selbsterniedrigung. Warum Bayern? Man ist dort zu Hause, wo die eigene Abwesenheit registriert wird. In Deutschland fällt meine Abwesenheit und die vieler anderer überall auf, am meisten in Bayern. Darum bin ich hier zu Hause. Sicherheitshalber arbeite ich im
Hotel unter falschem Namen: Anton Morsink. Auch in diesem Namen fühle ich mich zu Hause. Die Wirtin ist eine sympathische Frau, mein Zimmer ist klein, aber nicht unfreundlich. Zum Saubermachen brauche ich keine Uniform zu tragen. Bequeme Kleidung genügt.
Ich werde meine Nase in benutzte Handtücher drücken und es riechen: das Leben. Ich schreibe, weil ich wissen will, wie die Leute das machen: leben. Zweifellos aus dem Gefühl heraus, dass mir das selbst nicht gelingt oder ich es nicht wage. In diesem Sinn ist der Schriftsteller ein Doppelagent: Wem er seine Informationen verkauft, bleibt im Dunkeln, seine Loyalität wechselt je nach Auftrag, für Liebe tut er alles. Morgen früh um halb sieben beginnt meine Arbeit. Unbemerkt werde ich meine Nase in benutzte Handtücher drücken und es riechen: das Leben. Ich werde Haare aus dem Duschabfluss fischen und sie mir genau ansehen,
ich werde das nackte Leben ganz aus der Nähe betrachten.
Tag 1
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orgens um Viertel vor sechs hat das Personal im Hotel noch kein warmes Wasser. Notgedrungen dusche ich kalt; eigentlich sehr erfrischend. Die Schwiegermutter der Wirtin wird mich unter ihre Fittiche nehmen. Sie ist eine quirlige Frau um die sechzig. Anders als erwartet, soll ich heute nicht im Zimmerdienst arbeiten. Stattdessen soll ich zunächst das Frühstücksbüffet vorbereiten. Aus großen Kühlschränken werden Schinken und Käse geholt; das meiste ist vakuumverpackt und vorgeschnitten. Meine Aufgabe besteht darin, den Schwarzwälder Schinken zu arrangieren. Jede Scheibe wird von mir oder der Schwiegermutter in die Hand genommen, manche Scheiben von uns beiden. Wir arbeiten ohne Handschuhe. Die Scheiben dürfen nicht einfach flach auf den Platten liegen, sie müssen sich wölben, damit der Gast leicht mit Diogenes Magazin
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der Gabel hineinpieken und sie sich auf den Teller legen kann. Manchmal wölben meine Scheiben sich nicht genug, dann hilft die Schwiegermuter mit einem friemelnden Zeigefinger ein bisschen nach. Wer sich in einer neuen Umgebung befindet, muss alles daran setzen, die dort geltenden Regeln und Gesetze so schnell wie möglich zu lernen und sich Privilegien zu erwerben. Wer oder was man gewesen ist, spielt keine Rolle mehr. Sich halsstarrig auf alte Privilegien berufen bringt nur Scherereien. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Bevor er ein verfolgter Kriegsverbrecher wurde, war Saddam Hussein ein befreundeter Staatschef. Kurz nach halb acht lerne ich, wie man die Schneidemaschine bedient. Der rohe Schinken ist nicht vorgeschnitten. »Stell sie auf anderthalb«, sagt die Schwiegermutter, »die Leute hier mögen dicke Scheiben.« Zuerst drücke ich den Schinken nicht fest genug an, doch nach einigen Versuchen sehen meine Scheiben aus wie von einem erfahrenen Metzger. Meine Kollegin im Service trägt eine Brille mit schwarzem Rand, weiße Socken in Sandalen und ein Dirndl. Sie flüstert: »Die macht mich noch verrückt.« Sie zeigt auf die Chefin. Ich betrachte das Leben als ein Trainingslager; ich weiß zwar noch nicht, wofür, aber ich habe eine Vermutung: Wir trainieren, um uns hervorzutun. Privilegien taugen nur für die Besten.
Tag 2
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n unserem Hotel gibt es drei Sorten Abfall: Papier, Verpackung und Schweinefutter. Auch benutzte Kaffeefilter verschwinden im Eimer mit Schweinefutter. Die Schweine fressen alles. Meine Chefin fischt eine Semmel aus dem Schweineeimer. Ein Gast hat sie auf dem Teller gelassen. Ich hielt es für Abfall. »Was ist das?«, fragt die Chefin und hält mir die Semmel hin. »Schweinefutter«, antworte ich heiser.
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»So was werfen wir nicht weg.« Sie kratzt etwas Kaffeesatz von der Semmel und legt sie zurück in den Brotkorb auf dem Büffet. Sie ist nicht böse, aber doch indigniert. Als Zimmerjunge bin ich eine Katastrophe. Bettlaken abziehen gelingt mir gerade noch, genauso wie Kopfkissen. Aber Bettdecken wieder ordentlich zu beziehen, kriege ich einfach nicht hin. Ich enttäusche. Das will ich nicht. Erstes Dienstmädchen im Hotel ist die Türkin Esmeralda. Offiziell zumindest. In Wirklichkeit ist sie das einzige. Sie hat niemanden unter sich. Bis ich kam. Sie wohnt seit 1971 in Deutschland, doch ihr Deutsch ist noch immer gebrochen. »Du«, sagt sie, »machst Mülleimer leer.« Ich gehe von Zimmer zu Zimmer und nehme den Abfall der Gäste mit. Viel Aufregendes gibt es dabei nicht zu entdecken. Zeitungen, Faltblätter, leere Flaschen, Arzneiverpackungen, Windeln, selbst in Zimmern, wo gar keine Kinder logieren. Im Bügelraum wird der Müll sortiert. Auf den Knien trenne ich Papier und Verpackung, auch das ohne Handschuhe. Die Geschäftsleitung mag keine Verschwendung, doch irgendwie finde ich es erregend, im Abfall von Fremden zu wühlen. Existentielle Probleme tun sich auf. Ein Röhrchen Tabletten: Das Röhrchen ist eindeutig Verpackung – aber die Tabletten? Ich frage Esmeralda. Sie zögert. Sie hält die Tabletten gegen das Licht. »Schweinefutter«, sagt sie.
Tag 3
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ür ein Zimmermädchen gibt es zwei Sorten Gäste: diejenigen, die abreisen, und die, die dableiben. In den Zimmern der bleibenden Gäste wird mit einem alten Geschirrtuch eilig über Tisch, Bettrand und Fernseher gewischt, die Toilette wird flüchtig geschrubbt, die Handtücher werden gerade gerückt, die Badematte verschoben und die Dusche kurz mit dem Putzlappen berührt. In den Zimmern der Abgereisten je-
doch muss das Bettzeug gewechselt werden. Esmeralda ist das Zimmermädchen, ich bin ihr Assistent. Die Rollenverteilung gefällt mir. »Gehst du noch Schule?«, fragt Esmeralda. »Nein«, antworte ich. Das genügt ihr. Ich folge ihr mit dem Putzwagen und gehe mit ebengenanntem Geschirrtuch symbolisch über Schränke und Türklinken. In Zimmer zwei sehe ich Esmeralda am Bettlaken schnüffeln. Offiziell müssten wir das Laken jetzt wechseln. Der Gast ist abgereist. Ein neuer wird das Zimmer beziehen. »Laken nicht dreckig«, sagt Esmeralda. Sie liest ein Haar herunter und zieht das Bettuch gerade. Ich helfe Esmeralda, die Haare vom Laken zu lesen. Der Gast hier hat eine Menge hinterlassen. Ob Scham- oder Kopfhaar, ist schwer zu sagen. »Viel Haare«, sagt Esmeralda, »aber nicht dreckig.« Als wir fertig sind, haben wir beide einen Teelöffel Haare in der Hand. Jetzt stellt sich das alte Problem: Sind die Haare Papier- oder Verpackungsmüll, oder gehören sie in den Schweineeimer? Offenbar fressen Schweine auch Menschenhaar. »Nicht weitersagen«, sagt Esmeralda. »Aber Gäste, wenn nur ein Nacht bleiben, machen Laken nicht dreckig.« Ich verspreche zu schweigen. »Hol große Handtuch, kleine Handtuch, und saug Flur, aber nicht so langsam.« Bestimmte und unbestimmte Artikel mag Esmeralda nicht besonders. Ich sauge den Flur, aber nicht so langsam. Dies ist ein vollkommener Tag.
Tag 4
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eute Morgen um zehn Uhr ist es mir zum ersten Mal gelungen, ein Bett zu machen, ohne dass Esmeralda noch etwas daran tun musste.
Esmeralda strahlte und sagte: »Super.« Das ist ein Triumph. Vielleicht sogar Glück. Seitdem darf ich auch die Toiletten und Duschen schrubben, offenbar steht diese Tätigkeit höher im Ansehen als Bettenmachen. Und ich darf die Zimmer alleine betreten. Esmeralda geht hinterher nur noch durch, um alles zu kontrollieren. Jedes Zimmer ist eine Überraschung, jede Tür eine neue Hoffnung. Jedes Detail verrät ein Geheimnis. Ein Gast, der ohne Zahnbürste reist, er (ich gehe von einem Mann aus) hat überhaupt keine Toilettensachen dabei. Sein Zimmer wirkt unbewohnt, nur im Schrank steht ein kleiner schwarzer Rollkoffer. Ich spüre die Versuchung, den Koffer zu öffnen, doch ich traue mich nicht. Ich will alles sehen. Auf Zimmer elf wohnt eine junge Österreicherin, Ende zwanzig. Früh am Morgen habe ich sie beim Frühstück gesehen. Ich nehme an, sie ist Vertreterin. Neben einem Bügeleisen liegt ein Buch mit dem Titel: Die Geheimnisse des Unterbewussten. Ein Terminkalender und Zettel mit Namen und Telefonnummern. Eine fahrige Handschrift. Auf dem Bett eine Strickjacke und eine graue Hose. Ich lege die Kleidungsstücke zusammen. Auf dem Nachtschränkchen ein Glas, eine offene Flasche Orangensaft, noch halbvoll, der Verschluss auf dem Boden, eine Dose Nüsse. Warum hat sie bloß den Verschluss nicht wieder auf die Flasche gedreht? Ich spüle das Glas und trockne es mit dem Tuch ab, das ich auch zum Abstauben nehme, denn so ist das üblich hier. Das Tuch, mit dem Toilette und Waschbecken geputzt werden, wird später auch für Fernseher und Fernbedienung genommen. Für ein Zimmermädchen gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Toilette und Fernseher: Beide müssen gereinigt werden.
DIE NEUE TAZ. AB
18. APRIL
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n einem Hotel in Bayern kann man viel Bier erwarten. Und in der Tat, alles hier dreht sich um Bier. Ich werde nicht nur eingesetzt, um Zimmer sauberzumachen – was mir inzwischen leichz von der Hand geht – und das Frühstücksbüffet auf- und wieder abzubauen, nein: Ich muss auch zapfen. Heute arbeite ich mit Diana. Sie denkt, ich möchte auf Dauer im Gaststättengewerbe arbeiten. In einem ruhigen Moment nimmt sie mich beiseite. »Anton«, sagt sie, »ich bin gelernte Sekretärin, aber die Gastronomie macht süchtig. Meine Ehe ist daran kaputt gegangen, jetzt steh ich allein mit einem Kind da, aber wir schlagen uns durch. Weißt du, was einen daran so süchtig macht?« Sie beugt sich zu mir und flüstert mir ins Ohr: »Das Trinkgeld! Aber früher haben die Leute viel mehr gegeben. Jetzt kann ich davon kaum noch tanken, es ist ein Witz. Und hier im Dorf wohnen ist teuer, man zahlt für die Aussicht. Ich zahl achthundert Euro im Monat.« Jeden Tag werde ich etwas mehr Anton Morsink, ich wachse in meine Rolle hinein, doch gleichzeitig wird meine Lage dadurch auch bedenklich. Wer ist dieser Anton Morsink? Wo kommt er her? Was macht die Gastronomie bei ihm kaputt? Was soll er antworten, wenn seine Kollegen fragen: »Was hast du früher gemacht, Anton?« »Anton«, ruft Diana, »fünf kleine Helle!« Ich mache mich ans Zapfen. Nach ein paar Sekunden kriege ich einen Anpfiff, weil ich keine Schaumkrone zustande bringe, aber das macht nichts. Freundlich lächelnd lässt man die kleinen Demütigungen über sich ergehen. Heute Morgen klagte ein Gast, dass sein Frühstücksei zu weich sei. Ich erging mich in Entschuldigungen, obwohl ich fürs Eierkochen gar nicht zuständig bin.
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Es klingt unbescheiden, aber ich habe ein Talent zum Sklaven. Morgens um Viertel nach sechs beginnt meine Arbeit, ab nachmittags um drei habe ich frei. Weil Obst essen dabei meist auf der Strecke bleibt, kaufe ich zwei Pfirsiche und vier Pflaumen, die ich bei mir aufs Fensterbrett lege.
Es klingt unbescheiden, aber ich habe ein Talent zum Sklaven. Tag 6
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uf Zimmer elf wohnt immer noch die junge Österreicherin. Jeden Morgen um sieben erscheint sie zum Frühstück. Wenn sie fertig ist, stellt sie Tasse und Teller zusammen, knüllt ihre Serviette zu einer Kugel und stopft sie in die Kaffeetasse. Dann geht sie eine Zigarette rauchen. Heute Morgen habe ich in ihren Sachen geschnüffelt – um auf dem Flur zu saugen, muss ich an die Steckdose auf ihrem Zimmer. Wie ich vermutete, ist sie Vertreterin und beliefert chemische Reinigungen – bloß womit? Auf dem Nachtschränkchen wieder eine Dose mit Nüssen. Jetzt liest sie nicht mehr über die Geheimnisse des Unterbewussten, statt dessen eine Biographie von Ulrike Meinhof: Lieber wütend als traurig. Heute Morgen trug sie die Strickjacke, die ich vor einigen Tagen für sie zusammengelegt habe. Walter Benjamin schrieb einmal sinngemäß: Einen Menschen kennen kann nur der, der ihn hoffnungslos liebt. Das türkische Dienstmädchen betrachtet mich immer mehr als echten Kollegen. Auf Zimmer drei sagt sie: »Kurz mal ausruhen.« Wir ruhen uns aus. Sie schaut aus dem Fenster und sieht Kinder. »Schön, Kinder da draußen«, sagt sie.
Ich stimme ihr zu. »Bald gehe Rente«, sagt Esmeralda, »dann krieg achthundert Euro. Miete allein schon vierhundert. Darum geh zurück nach Türkei, aber da kenn’ niemanden mehr. Mein Mann 1982 zurückgegangen, mit andere Frau. Seitdem keine Mann mehr gehabt, auch keine Freund, überhaupt keine Mann. Immer nur arbeiten, vier Söhne. Woche über Textilfirma, Samstag und Sonntag in Küche von Direktor.« Esmeralda schaut mich an. »Immer nur arbeiten«, sage ich. »Das ist…« Aber ich weiß nicht mehr, was ich sagen wollte. Zum Mittagessen helfe ich der Frau mit den weißen Socken und den Sandalen im Service. Sie heißt Meryem, aber alle hier nennen sie Maria. »Du machst den Tresen, ich die Tische«, erklärt sie. Ich schenke Limonade ein und zapfe Bier, als hätte ich nie etwas anderes getan. Um halb zwei gibt Meryem mir zehn Euro. »Was ist das?«, frage ich. »Weil du mir immer so gut hilfst, Anton.« »Ach, lass«, sage ich. »Jetzt nimm’s schon«, zischt sie. Beschämt stecke ich den Zehner in die Tasche. Es gibt keinen Weg zurück. Ich muss Anton Morsink bleiben. Ich darf nicht mehr aus der Rolle fallen.
Tag 7
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ffenbar hat Anton Morsink auch eine Mutter. Wie könnte es auch anders sein? Seine Mutter redet genau wie meine. Die Mutter sagt am Telefon: »Wie kannst du so was nur machen?« »Was?«, frage ich. »Schreiben, dass das Hotel die Laken nicht wechselt, wenn Gäste nur eine Nacht bleiben. Da nimmt so ein Hotel dich gutgläubig als Praktikanten, und dann verrätst du die Leute. Pfui. Genau wie damals, als du geschrieben hast, ich würde in Hotels Toilettenpa-
Owl’s Eye
Lesespuren Über Anstreichungen in Büchern
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Illustration: © Tomi Ungerer
um Lesen benötige ich weder gutes Licht noch einen bequemen Sessel oder Ruhe. Ich brauche etwas zum Schreiben, das heißt, eigentlich zum Anstreichen, so wie Charles Simic: »Wo auch immer ich lese, brauche ich natürlich einen Bleistift. Keinen Kugelschreiber, sondern (wenn möglich) einen Bleistiftstummel. Ich unterstreiche beim Lesen, schreibe aber nur Kommentare an den Rand, wenn ich vorhabe, über das Buch zu schreiben. Sonst unterstreiche ich ungewöhnliche Ideen, stimmige Formulierungen und alles Mögliche, was ich sonst wieder vergessen würde.«
Leider ist das Anstreichen bei mir kein Mittel gegen das Vergessen. Erstens lese ich fast nie wieder, was ich unterstrichen habe. Und wenn ich es zweitens doch tue, ergeht es mir wie Julio Cortázar: »Ein vor Jahren weggelegtes Buch öffnen und Randnotizen finden, verfasst mit Grünstift (in Mamas Haus) oder schwarzer Tinte (Studentenzeit). Mir klarmachen, dass ich damals eine Sache gedacht und aufgeschrieben habe und sie jetzt, anlässlich desselben Texts, nicht mehr (oder etwas anderes) denke.« Am schlimmsten ist es natürlich, wenn man sich weder an das Buch noch an die Anstreichungen erinnern kann. Patrick Süskind hat diese leidige Erfahrung in seiner Betrachtung Amnesie in litteris beschrieben. Er schildert darin, wie er mit Genuss und Enthusiasmus in einem Buch zu lesen beginnt, das er in seinem Bücherregal gefunden hat: »Gelegentliche Unterstreichungen im Text oder mit Bleistift an den Rand hingekritzelte Ausrufezeichen – Spuren eines lesenden Vorgängers, die ich in Büchern ansonsten nicht eben schätze – stören mich in diesem Falle nicht, denn so munter perlt die Prosa, dass ich die Bleistiftspuren gar nicht mehr wahrnehme, und wenn ich es doch einmal tue, dann nur in zustimmendem Sinne, denn es erweist sich, dass mein lesender Vorgänger – ich habe nicht den geringsten Schimmer einer Ahnung, wer es sein könnte –, es erweist sich, sage ich, dass jener seine Unterstreichungen und Exklamationen just an jenen Stellen angebracht hat, die auch mich am stärksten begeistern …« Selbstverständlich stellt sich am Ende heraus: »Der Vorgänger war niemand anders
streicht man nicht für sich an, sondern für andere.
als ich selbst. Ich hatte das Buch schon längst gelesen« – und komplett vergessen. Dass Anstreichungen dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, ist ein hartnäckiger Irrglaube. Schüler und Studenten jedenfalls werden weiterhin überzeugt sein, dass alles mit dem Stabilo Boss Angestrichene von ihrem Gehirn bis zum nächsten Examen gespeichert wird. Und die Enttäuschung wird so tief sein wie die Note. Warum macht man überhaupt Anstreichungen in Büchern? Fühlen sich Leser dadurch aktiver, weniger ausgeschlossen? Es heißt, ein Buch lebe nur durch den Leser – vielleicht lebt es erst durch den anstreichenden Leser. Jede Unterstreichung, jeder Randkommentar ist wie die Flagge des Entdeckers, hineingesteckt ins jungfräuliche Papier, eine Markierung, die verkündet: Hier habe ich als Erster gelesen. Anstreichen ist eine Methode, ein Buch wahrhaft in Besitz zu nehmen. In jedem Leser steckt ja auch ein kleiner Lektor und Rezensent, ein verkappter Besserwisser, der Lob, aber auch Tadel verteilen möchte. So stößt man in gebrauchten Büchern gern auf Bemerkungen an den Rändern wie »Humbug!« oder »wie wahr!«, »schön« oder »Heckenpenner!«, »sic« oder eben »sick«. Fremde Anstreichungen nerven oft, es kann aber auch faszinierend sein, die Lesespuren anderer zu verfolgen. Wobei es nicht gleich so sein muss wie in Thomas Hürlimanns Roman Vierzig Rosen. Dort beginnt die junge Marie, die Bücher aus der Bibliothek ihrer Mutter zu lesen, die an Tuberkulose erkrankt ist. Bestimmte Stellen in den Büchern sind mit winzigen Blutspritzern beschmutzt, und für Marie sind genau diese Passagen die interessantesten. Sie merkt, dass ihre Mutter beim Husten immer die wichtigen Stellen getroffen hat. Unappetitlich, aber wahr: Vielleicht
Javier Marías nennt Anstreichungen die Lektürespuren eines Lesers: »Wir markieren offenbar nicht aus Nützlichkeitserwägungen, sondern drücken beim Lesen unsere Gefühle aus.« Deshalb sind Anstreichungen so intim. Und gefährlich, sollten sie in die falschen Hände geraten. Falls Sie den Verdacht haben, dass sich Ihr Partner in jemand anderen verliebt hat oder fremdgeht, gibt es eine viel günstigere Methode, Gewissheit zu erlangen, als einen Privatdetektiv zu engagieren. Lassen Sie ihn einen Liebesroman lesen oder Stendhals Über die Liebe, und wenn er zu den Anstreichern gehört, werden ihn ›seine Stellen‹ verraten. Ab und zu können einem Anstreichungen aber auch Streiche spielen. Als der englische Essayist Alan Bennett einmal ein Buch über Kafka las, das er in einer Bibliothek ausgeliehen hatte, stieß er auf eine Passage, die »mit einem langem, zitternden Strich markiert« war und die er deshalb besonders aufmerksam las, ohne sie ergiebig zu finden. »Als ich die Seite umblättere, bewegt sich die Linie, es ist ein langes, dunkles Haar.« Vor Jahren kaufte ich im Antiquariat einen dicken Band mit Tagebuchaufzeichnungen eines deutschen Autors, ich weiß nicht mehr von wem, vielleicht von Peter Handke oder Peter Rühmkorf. Auf einer Seite – ich sehe sie noch vor mir, sie war mitten im Buch – zitierte der Autor einen Satz von, ich glaube, Bertolt Brecht, er lautete sinngemäß: In einem Buch seien nur die Sätze gut, die man unterstreiche. Das Tagebuch war über 500 Seiten stark, und im ganzen Band war nur dieser eine Satz unterstrichen. Eine schönere (und perfidere) Anstreichung ist mir seither nicht begegnet. Ich würde den Satz von Bertolt Brecht (wenn er es war) gerne richtig zitieren, aber ich finde das Buch in meiner Bibliothek nicht. Was nützen alle Anstreichungen, wenn das angestrichene Buch nicht zur Hand ist? Mehr über das Büchersuchen (und -sortieren) beim nächsten Mal.
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Jan Sidney
Im nächsten Diogenes Magazin: Wie ordnet man Bücher in einer Bibliothek? Diogenes Magazin
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»Wer ist das?«, fragt meine Chefin. »Freundinnen«, antworte ich sehr schnell. »Frühstück für Nicht-Hotelgäste kostet acht Euro«, muss ich den Ungarinnen ausrichten. »So viel haben wir nicht«, sagen die Mädchen. Da ist die Scham wieder. »Ihr bekommt einen Espresso«, sage ich. Beim Servieren schiebe ich einen Zehner unter eine der Tassen. »Bezahlt damit«, flüstere ich. Meine Chefin hat etwas gegen Verschwendung, und sie hasst das Wort »gratis«. Aber sie hat auch ihre menschlichen Seiten. Manchmal legt sie ihre Brille in die Spülmaschine, um sie gründlich sauber zu kriegen. Erst dachte ich, sie sei vergesslich. Aber so reinigt sie ihre Brille.
Tag 8
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orgen kriegen wir hundert Leute zum Mittagessen«, sage ich, »das wird ein anstrengender Tag.« Ich identifiziere mich mit meiner Arbeit, und so gehört es sich auch. Alles wird für die hundert Gäste vorbereitet. Das Frühstücksbüffet, dessen Zubehör sonst tagsüber stehen bleibt, wird jetzt komplett abgeräumt
Illustration: © Chas Addams
pier klauen, das war auch Verrat. Ich stehle kein Toilettenpapier, ich verbrauche weniger als andere Leute, darum nehme ich mir hinterher immer was mit.« »Genau, Mama«, sage ich. Offiziell besteht mein Lohn hier aus Kost und Logis, doch in der Praxis esse ich ausschließlich außer Haus. Mit dem Blick der Chefin auf dem Teller schmeckt einem das Essen nicht richtig. Nach dem Essen mache ich einen Abendspaziergang, um Viertel vor elf gehe ich schlafen. Der Tag eines Zimmerjungen beginnt früh. Was habe ich sonst noch über Anton Morsink erfahren? Er findet es herrlich, wenn seine Vorgesetzten zufrieden sind. Wenn seine Kollegen sagen: »Du wirst uns fehlen«, beginnt er innerlich zu strahlen. Was für ein Schleimer, dieser Anton. Was für ein Streber. Beim Abendspaziergang gestern begegnete ich drei Touristinnen, die mir den Weg versperrten. Junge Ungarinnen auf der Durchreise. Vor allem das »auf der Durchreise« gefiel mir. »Ich arbeite im Hotel G.«, sagte ich. »Kommt doch morgen zum Frühstück vorbei.« Am Morgen stehen sie vor der Tür. Sie haben mich beim Wort genommen. Ich bin überrascht.
und das Geschirr in einen antiken Schrank weggeschlossen. Weil wir nicht genug Eierbecher haben, werden sie nie richtig abgewaschen. Wir halten sie unter Wasser, und wenn etwas Schale dran klebt, kratzen wir die mit den Nägeln ab. Ein bisschen Spucke tut Wunder. Um Viertel nach elf sind wir fertig. Jetzt müssen wir warten. »Isst du gern Weißwurst?«, fragt Meryem. »Ja«, sage ich. Jede andere Antwort wäre unhöflich. Weißwurst ist eine Spezialität des Landes. Schnell essen wir zwei Weißwürste mit Senf und eine Bretzel. Meryem isst, wie sie raucht: verstohlen und hastig. »Wo kommt der Name Meryem her?«, will ich wissen. »Aus der Türkei«, sagt sie. »Bist du verheiratet?« Ich schüttle den Kopf. »Hast du eine Freundin?« Normalerweise gebe ich mich lieber als Jungeselle aus, doch in dieser Situation scheint mir das unvernünftig. »Die Chefin kommt«, zischt Meryem, »schnell aufessen.« Wir haben drei Chefs. Die alte und die junge Chefin und den Chef selber. Samstagmittag um zwölf sind hundert Leute im Gastraum. Sie kommen von einer Beerdigung. Normalerweise legen wir hellgrüne Servietten auf den Tisch. Doch wegen des Trauerfalls nehmen wir heute dunkelgrüne. Auf dem Tisch, wo sonst die Faltblätter und Broschüren liegen, steht jetzt ein Foto der Toten. Eine alte Frau. Niemand nimmt Notiz davon. Die Leute bekommen Schweinebraten mit Knödeln. Ich serviere nicht gern Schweinebraten. Schweinebraten hat immer so viel Soße. »Sie tropfen«, ruft eine Frau erbost. Hundert Gäste, die gleichzeitig essen wollen, das ist kein Zuckerschlecken. Wir sind unterbesetzt. Die Chefin hilft beim Zapfen. Auf dem Tisch stehen auch große
Schüsseln mit Rotkraut. Es schmeckt den Leuten. Um zwei Uhr sind nur noch zwanzig Gäste übrig. Sie sitzen beim Bier und spielen Karten. Schwarze Krawatten hängen über den Stühlen. »Ich glaube, du kannst das Totenfoto wegräumen«, sagt Meryem.
Tag 9
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Um Viertel vor elf gehe ich schlafen. Der Tag eines Zimmerjungen beginnt früh. Früh am Morgen erscheinen sie im Radlerdress zum Frühstück. Hemden und Hosen sitzen eng. Alles zeichnet sich ab. Unterwegs vom Museum zu meiner Dienstbotenunterkunft hält einer der Radler mich an. Als Zimmerjunge ist man immer im Einsatz. »Du bist doch der Junge vom Frühstück?« »Ja«, sage ich. »Was machst du sonst noch?« »Ich mache die Zimmer«, sage ich. »Ich hab ein Problem«, sagt der Radler. »Und das wäre?« »Es gibt zum Frühstück zu wenig Quark.« Er fasst mich freundschaftlich an der Schulter. »Wir fahren jeden Tag
vierzig Kilometer. Wir brauchen viel Quark.« Ich verspreche ihm, für mehr Quark zu sogen. Perfektion ist mein Motto. Im Biergarten des Hotels spielt eine Blaskapelle. Auf dem nahegelegenen See fuhr am Nachmittag eine Blaskapelle auf einem Schiff vorbei. Historisch gesehen schulde ich den Deutschen so manches und bin froh, meine Schuld einlösen zu können.
Tag 10
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eute Morgen um halb sieben sagte ich zur Schwiegermutter der Wirtin: »Wo waren Sie vorgestern? Ich hab Sie vermisst.« Ich dachte, ihr mit der Frage eine Freude zu machen. Jeder ist gern unersetzlich. Und da mein Praktikum hier unter ihren Auspizien verläuft, bin ich auf ihre gute Laune angewiesen. Je schlechter die Laune, desto länger muss ich arbeiten. »Ich war mit Freunden in Garmisch-Partenkirchen«, sagt sie. »Alle acht Wochen darf ich ja auch mal einen Tag frei haben. Alle acht Wochen!« Offiziell jedoch braucht die Schwiegermutter auch heute nicht zu arbeiten. »Was machen Sie dann hier«, fragt Meryem. »Sie wollten doch verreisen?« Die Schwiegermutter wirft ihr Geschirrtuch hin und läuft wütend davon.
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n meinem ersten freien Tag besuche ich eine Ausstellung über den Schriftsteller Ödön von Horváth. Ich mag sein Werk, und einige Zeit hat er in diesem Ort gewohnt. Kurz nach der Machtergreifung, am 10. Februar 1933, spricht Hitler im Radio zum Volk. Ödön von Horváth sitzt in seiner Stammkneipe, dem Hotel ›Zur Post‹. (Das Hotel gibt es noch immer.) Er fragt, ob man das Radio leiser stellen könne. Das macht die anwesenden sa-Leute wütend. Sie eskortieren ihn zu seiner Wohnung. Am nächsten Morgen muss Horváth aus dem Ort fliehen. Am 1. Juni 1938 spaziert der Schriftsteller über die Avenue Marigny in Paris. Ein Baum wird vom Blitz getroffen, und ein Ast fällt Horváth auf den Kopf. Er ist sofort tot. Die Ausstellung vermerkt, dass die nsdap-Anhängerschaft hier im Ort
größer war als im Rest Deutschlands und Bayerns. Bei den letzten Wahlen im März 1933 kam die nsdap auf rund vierundvierzig Prozent. Hier im Ort waren es mehr als fünfzig. Eine Gruppe älterer Männer logiert im Hotel. Sie machen einen Radurlaub.
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Tag 11
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lles hier im Hotel geschieht vorzugsweise heimlich. Heute Morgen richte ich das Frühstück zusammen mit Christel. Sie ist schon etwas älter, rennt aber herum wie eine Zwanzigjährige. Sie rennt auch, wenn es keinen Grund dazu gibt, nur zu mir sagt sie dauernd: »Mach bloß nicht zu schnell, Anton aus Tirol.«
über Ludwig ii., Vergittertes Fenster. Darin lässt er den König denken: »Anblick und Geruch der Menschen beleidigten mich. Schon das Tageslicht tat meinen Augen meistens weh. Ich zog die Nacht vor.« In der Küche herrscht Herr Neumann, der Chefkoch, ebenfalls ein Mann der Nacht. Selbst die Chefin hat Angst vor ihm. »Schnell, alles muss sauber sein, gleich kommt Herr Neumann«, sagt sie um halb neun. Einmal hat Herr Neumann mich mit dem Messer aus der Küche gejagt. Ich hatte den Auftrag, sechs Eier zu kochen, weil die uns am Frühstücksbüfett ausgegangen waren. »In meiner Küche kochst du keine Eier«, rief Herr Neumann und richtete sein Messer gegen mich. Ich habe den Vorfall der Chefin gemeldet. Sie sagte, in der Küche sei es ziemlich normal, mit dem Messer herumzufuchteln. Die Hitze macht heißblütig. Seitdem grüße ich Herrn Neumann immer besonders freundlich.
Tag 12
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So nennt sie mich: Anton aus Tirol. Ein Gast hat eine Semmel auf dem Teller liegen lassen. Wie es aussieht, hat er sie nicht angerührt. Eigentlich muss die Semmel zurück in den Korb auf dem Büffet. Christel sagt: »Also persönlich find ich das ekelig.« Sie schaut, ob die Chefin nicht hinguckt, nimmt einen Bissen von der Semmel, spuckt ihn wieder aus und erklärt: »So, die kann jedenfalls nicht mehr recycelt werden.« Ich will weitergehen, doch sie nimmt mich beiseite: »Das bleibt aber unter uns, Anton aus Tirol.« Der letzte König des unabhängigen Bayern, Ludwig ii., ertrank zusammen mit seinem Psychiater in einem See nicht weit von unserem Hotel. Die Umstände seines Todes wurden nie aufgeklärt, ziemlich fest steht nur, dass der König wahnsinnig war. Klaus Mann schrieb eine Novelle
ein Kissen sieht aus wie tote Maus«, sagt Esmeralda. Ich kann inzwischen viel, aber ein Kissen richtig aufschütteln ist immer noch ein Mysterium für mich. Am glücklichsten bin ich, wenn ich allein mit Esmeralda bin, unbeobachtet von den Chefs, und Esmeralda ist am glücklichsten, wenn die Gäste nicht duschen. Im Grunde herrschen hier noch feudale Zustände wie zu der Zeit, als den Gutsherren auch das Personal gehörte. In der Küche, hinter den Kulissen, manchmal auch davor, arbeiten Leute mit teils zweifelhaften Papieren, die darum bereit sind, viel zu arbeiten, ohne zu viel zu verlangen. Nicht Geldgier, Angst ist die große Triebfeder. Der Geschirrspüler heißt Ricardo, seine Herkunft habe ich nicht eruieren können, weil er den ganzen Tag immer nur murmelt: »Alles Scheiße hier, große Scheiße.« Ich stand daneben, als er gemahnt wurde, weil er zu oft aufs Klo ging.
Illustration: © Bosc
Manche Leute ertragen keine freien Tage. In einem Familienbetrieb gibt es viele interne Spannungen. Die Schwiegertochter beklagt sich beim Personal über ihre Schwiegermutter. »Wenn sie zu eitel ist, eine Brille zu tragen, soll sie sich nicht in die Küche stellen«, höre ich sie sagen. Im Grunde ist natürlich jede Familie ein Familienbetrieb. Meine Schwiegermutter hier ist ein Monster, aber doch eins, für das ich immer mehr Sympathie entwickle. Ich kann gut verstehen, dass man seine freien Tage hasst. Wir haben ein neues Zimmermädchen. Eine Türkin namens Aische. Sie trägt eine kurze Hose, und ihr Deutsch beschränkt sich auf kaum zwanzig Worte. Weil Esmeralda ihren freien Tag hat, muss ich Aische einarbeiten. So schnell geht das. Einen Moment lang bin ich der Chef. In jedem Zimmer fragt Aische: »Laken sauber?« Ich tue, was ich gelernt habe. Ich rieche und sage: »Sauber.« Der Gast ist der natürliche Feind des Zimmerpersonals, merke ich. Ich beginne, meinen Rücken zu spüren. Ein Ärgernis sind auch die Pyjamas. Ich dachte, die seien längst ausgestorben, doch hier lege ich Pyjamas zusammen und verstaue sie unterm Kopfkissen, als könnte der Mensch ohne sie nicht schlafen. Mein Eifer lässt langsam nach. »Schmutzige Handtücher?«, fragt Aische. »Weg?« Die Gäste bleiben noch bis Samstag. Ein junges Pärchen aus Hamburg. Ich kenne sie vom Frühstück. Jedes Lächeln zu viel verlangt. Ich habe keine Lust, ihre Handtücher zu wechseln. Ich drehe die Tücher um, damit man die braunen Flecken nicht sieht. »Unser Geheimnis«, sage ich zu Aische. Ich schaue mich kurz um. »Das Zimmer ist fertig«, erkläre ich entschieden.
»Hast du eine Ahnung, was all das Wasser uns kostet?«, fragte die Chefin. Er versprach, die Toilette in Zukunft seltener zu benutzen. Die Chefs sind nett und menschlich, aber eben doch Chefs. »Dein Vorgänger hieß Mario«, sagt Esmeralda. Ach so, Anton Morsink hatte einen Vorgänger? »Guter Junge«, sagt Esmeralda. »Machmal sagte: ›Ich mach schon mal Zimmer vier.‹ Kam ich auf Zimmer vier – lag da und schläft. Zu viel trinken. Du nicht zu viel trinken?« »Nein«, sage ich. »Aber Kissen aufschütteln kannst auch nicht«, sagt Esmeralda. »Nicht schlimm. Wenn hier weg, nie mehr Kissen aufschütteln, stimmt’s?« Ob sie etwas ahnt? »Ich glaube nicht«, antworte ich. Wenn die Zimmer fertig sind, muss ich im Mittagsservice helfen. Gerade noch habe ich eine Toilette geschrubbt, jetzt laufe ich mit gebratener Forelle und Petersiliekartoffeln durchs Restaurant. Niemand hat mich zum Händewaschen aufgefordert. Darum tue ich es auch nicht. Eigeninitiative wird hier nicht geschätzt. In der Nacht gehe ich zum See. Ich ziehe mich aus. Das Wasser ist weniger kalt, als ich gedacht hatte. Was würde geschehen, wenn ich mich morgen für zwei Jahre bei der US-Army verpflichten würde? Ich habe ein großes Bedürfnis, mich überall zu assimilieren.
Tag 13
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eute ist Zimmer neun nicht zum Frühstück erschienen. Esmeralda hat hineingesehen und berichtet: »Zimmer stinkt nach Bier. Mann liegt auf Bett, redet in fremder Sprache.« Ich werde zur Chefin geschickt und fasse den Bericht des Zimmermädchens zusammen. Die Chefin hebt die Augenbrauen und sagt: »Zimmer neun kommt aus Dubai. Die dürfen doch gar nicht trinken?«
Heute sitzt Esmeralda der Schalk im Nacken. Auf Zimmer drei riecht sie am Parfüm, auf Zimmer fünf probiert sie den Hut eines Gasts und betrachtet sich im Spiegel. Morgen sehe ich Esmeralda zum letzten Mal. Ich habe Blumen für sie gekauft. Fast drei Wochen habe ich hier gearbeitet. Die Illusionen des Gaststät-
Der Gast ist der natürliche Feind des Zimmerpersonals. tengewerbes verinnerlicht. Sauber ist, was sauber aussieht, das Lächeln auf dem Gesicht der Bedienung ist freundlich, solange der Gast hinschaut. Was Machiavelli über den Fürsten schrieb, dass Schein für ihn wichtiger sei als Sein, hätte er auch über uns, Kellner und Zimmermädchen des Hotels B. sagen können. »Was sollen wir ohne dich anfangen, Anton?«, fragt die Chefin. »Kommst du nächstes Jahr wieder?« Weil ich gut gearbeitet habe, darf ich heute im Restaurant essen. Ich bestelle Kaiserschmarrn, ein Gericht, das ich mindestens hundertmal serviert habe. Ich könnte mich reinsetzen. Würden die Kollegen sich verraten fühlen, wenn sie wüssten, dass ich nicht Anton Morsink heiße? Was könnte ich sagen? Verrat ist mein Handwerk. Ich bin gut darin. Doch sie werden es niemals erfahren. Ansonsten kommt in jedem Leben der Moment, in dem man alles rundheraus leugnen muss, empört leugnen, wie die beleidigte Unschuld. So überlebt man. Oder auch nicht. Der Rest ist Melancholie. Morgen um diese Zeit werde ich hier mein letztes Bett machen. Danach nehme ich den Zug nach Oberammergau. Es soll eine schöne Fahrt sein.
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uf dem Volksfestplatz des Ortes organisiert Radio Bayern 1 ein »Fest mit viel Musik!«. Mein Hotel wird an einem Stand
Essen verkaufen. Vor allem Fischsemmeln. Meryem sagt: »Komm doch noch mal vorbei, es ist dein letzter Abend, dann gehen wir hinterher in die Disko.« Ich kann nicht kneifen, meine Verpflichtungen gehen jetzt weiter als bloß Zimmer saubermachen. Trotz des sehr mäßigen Wetters sind fünftausend Leute gekommen, um zur Musik von Radio Bayern 1 Bier zu trinken und Fischklöße zu essen. Durch den Regen hat sich der Festplatz in eine Schlammpiste verwandelt. Meine Kollegen riechen nach Fisch. In die Diskothek kommen wir nicht mehr. Wir setzen uns in ein Zelt, trinken Bier, und die es können, reden bayrisch. »Lass mal was von dir hören«, sagt Meryem. »Du hast meine Nummer.« Am nächsten Morgen packe ich in aller Frühe meinen Koffer. Ich ziehe mein Bett ab, um den Kollegen weniger Arbeit zu machen. In mir eine ungreifbare Trauer. Ich will aus diesem Dorf nicht mehr weg. Vielleicht schlummert tief in mir doch das Bedürfnis nach einem Ort, den man Zuhause nennt. Oder ist es wie in dem Witz von Groucho Marx, nur umgekehrt, dass ich unbedingt Mitglied eines Clubs werden will, der mich niemals als Mitglied aufnehmen würde? Doch vielleicht ist selbst das nicht die ganze Wahrheit. Vielleicht bin ich schon längst Mitglied in diesem Club.
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Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten
Buchtipp Arnon Grünberg
Tirza
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Jörgen Hofmeester, Ende 50, geht ganz auf in seiner Vaterrolle. Vor allem, seit seine Frau ihn verlassen hat. Doch nun wird Tirza, so heißt sein Augenstern, ihn verlassen. Nach dem Abitur will die jüngere Tochter nach Afrika. Der Vater fällt aus seiner Rolle … Diogenes Magazin
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Die Straßen waren dunkel von etwas mehr als Nacht Die schönsten Frauen, die gefährlichste Stadt – L.A. – und die coolsten Sprüche: Philip Marlowe ist der Prototyp für den Privatdetektiv als einsamer Wolf im Großstadtdschungel. Vor 50 Jahren starb Marlowes Erfinder Raymond Chandler. Als Hommage hier eine Auswahl der stärksten Sprüche.
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chießeisen sind nie eine Lösung, sie sind nur ein kurzes Vorspiel zu einem schlechten 2. Akt. Ich brauchte einen Drink, ich brauchte eine hohe Lebensversicherung, ich brauchte Urlaub, ich brauchte ein Häuschen auf dem Land. Was ich hatte, war eine Jacke, ein Hut und eine Pistole. Das Büro war wieder leer. Keine Brünetten mit schönen Beinen, keine Mädchen mit schrägen Brillengläsern, keine dunklen Dandys mit den Augen von Gangstern.
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s war eine Blondine. Eine Blondine, wegen der ein Bischof ein Loch ins Kirchenfenster getreten hätte. Sie hatte ein gusseisernes Lächeln und Augen, die einem das Geld in der Hosentasche zählen konnten. Drüben saß ein trister Bursche auf einem Barhocker und redete auf den Mixer ein, der an einem Glas herumpolierte und ihm mit jenem Plastik-Lächeln zuhörte, das die Leute aufsetzen, wenn sie Mühe haben, nicht laut zu schreien. Neben ihm saß ein Mädchen. Ihr Haar war von hinreißendem Dunkelrot, und sie hatte ein entrücktes Lächeln auf den Lippen, und um die Schultern trug sie einen blauen Nerz, der den Rolls-Royce fast wie ein gewöhnliches Auto wirken ließ. Ganz allerdings nicht. Das gibt's nämlich nicht. Das ist der Unterschied zwischen Verbrechen und Geschäft. Um Geschäfte zu machen, braucht man Kapital. Manchmal denke ich, es ist der einzige Unterschied. Es macht mir nichts aus, wenn Sie meine Manieren kritisieren. Sie sind ziemlich schlecht. Ich habe an langen Winterabenden schon manche Träne darüber vergossen.
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r war ein Mann, der sozusagen mit lauter Kommas sprach, wie in einem schwierigen Roman.
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eine Falle ist so tödlich wie die, die man sich selber stellt.
Von dieser Werbung wäre selbst einer Ziege, die sich von Stacheldraht und zerbrochenen Bierflaschen ernährt, übel geworden. Der Kaffee war abgestanden, und das Sandwich schmeckte so saftig wie ein alter Hemdfetzen. Die Amerikaner essen alles, wenn es nur getoastet ist, von zwei Zahnstochern zusammengehalten wird und irgendwo zwei dünne Salatblätter aufweist, am liebsten ein bisschen verwelkt. Ein toter Mann ist schwerer als ein gebrochenes Herz. Aus zehn Meter Entfernung sah sie wie einsame Spitzenklasse aus. Aus drei Meter Entfernung sah sie wie etwas aus, was nur aus zehn Meter Entfernung gesehen werden sollte.
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Foto: © Weegee
Mit dem Alkohol ist es wie mit der Liebe. Der erste Kuss ist magisch, der zweite vertraut, der dritte schon Routine. Danach zieht man das Mädchen aus.
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Sie öffnete einen Mund wie ein Feuereimer und lachte. Das ließ mir jeden Appetit sofort vergehen. Das Lachen konnte ich nicht hören, aber das Loch in ihrem Gesicht, als ihre Zähne aufgingen wie ein Reißverschluss, das langte mir völlig. Eine Rothaarige, die gefährlich aussah, saß lässig an einem schicken Schreibtisch und sprach in ein blendendweißes Telephon. Ich ging zu ihr hin; sie applizierte mir ein paar kalte blaue Pillen in Gestalt ihrer Augen. Ich habe keinen von ihnen allen wiedergesehen – außer den Bullen. Von denen Abschied zu nehmen, ist noch kein Mittel erfunden worden.
Ein Mini-Drehbuch
Miranda July
Orangen Miranda July ist ein Multitalent: Sie schreibt, ist Performance-Künstlerin und Filmemacherin. Kurz nachdem sie ihren preisgekrönten Spielfilm Ich und du und alle, die wir kennen abgedreht hatte, schrieb sie die folgenden Dialoge. Kurzerhand trommelte sie ein paar Freunde zusammen und drehte aus den ersten drei Teilen einen Kurzfilm mit dem Titel Are You the Favorite Person of Anyone? Der Drei-Minuten-Film wurde im Web zu einem Phänomen, tausendfach schickten sich Fans den Link weiter. Das Diogenes Magazin druckt das Drehbuch erstmals auf Deutsch.
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ind Sie jemandes Lieblingsperson?
Was? Sind Sie die Lieblingsperson von irgendwem? Oh. Sie können ruhig etwas länger nachdenken. Nein, nein, schon gut. Es gibt sehr prominente Persönlichkeiten, die niemandes Liebling sind, es muss also nicht unbedingt bedeuten… Ich aber schon. Ja? Ja. Von meiner Exfreundin. Christina. Phantastisch! Vielen Dank! Darf ich fragen, wie sicher Sie sind: sehr sicher, ziemlich sicher, Sie nehmen es an, nicht so sicher, oder könnte sein? Ich bin sehr sicher. Das ist das Höchste. Ach ja? Was war am zweithöchsten? Ziemlich sicher. Ach. Darunter kommt »Sie nehmen es an«.
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Miranda July Zehn Wahrheiten Stories · Diogenes
Ja. Das ist es. Sie nehmen es an? Ja. Okay, Sie haben mir sehr geholfen. Freut mich. Wenn Sie jemanden kennen, der sich vielleicht an der Umfrage beteiligen möchte, schicken Sie ihn hierher. Mach ich. Noch mal danke. Okay, tschüs. Tschüs.
II Sind Sie jemandes Lieblingsperson? Was? Sind Sie die Lieblingsperson von irgendwem? Okay, kein Interesse. Es ist nur eine Umfrage. Ja. Ich bin Nichtwähler. Es ist nichts Politisches – Ja, ich verstehe. Ich habe kein Interesse an so was. Was meinen Sie denn mit so was? Freie Liebe und das alles. Was? Darum geht es doch gar nicht! Okay, ich weiß, ich bin sicher, es ist eine gute Sache. Ich will nur nichts damit zu tun haben. Okay, das ist Ihr gutes Recht. Okay, tschüs.
Foto Miranda July: © Todd Cole. Illustrationen: © Patric Sandri
III Sind Sie jemandes Lieblingsperson? Was? Sind Sie die Lieblingsperson von irgendwem? Oh. Nein. Sind Sie sicher? Ja, auf jeden Fall. Phantastisch! Danke! Darf ich fragen, wie sicher Sie sich sind: sehr sicher, ziemlich sicher, Sie nehmen es an, nicht so sicher, oder könnte sein? Ich bin sehr sicher. Das ist das Höchste. Ich weiß. He, möchten Sie eine Orange? Was? Eine Orange – meine Frau hat mich gebeten, ein paar von diesen Orangen loszuwerden. Wir haben drei Bäume, und die hören gar nicht mehr auf zu tragen. Die ist also umsonst? Ganz umsonst. Sie tun uns einen Gefallen damit. Kann ich zwei haben? Sicher. Meine Freundin möchte vielleicht auch eine.
Nehmen Sie drei. Sind Sie sicher? Ja! Super! Das sind wunderbare Orangen, danke! Ich danke Ihnen. Danke noch mal! Okay, tschüs. Tschüs.
IV Sind Sie jemandes Lieblingsperson? Was? Sind Sie die Lieblingsperson von irgendwem? Ich weiß nicht, aber darf ich Ihnen eine Frage stellen? Was? Wenn ich in diese Richtung weitergehe, komme ich dann an den Strand? An den Strand? Nein. Der Strand ist auf der anderen Seite der Stadt. Aber ist das nicht in dieser Richtung? Ja schon, im Westen, aber bis dahin sind es an die 30 Meilen. Danke. Sie wollen doch nicht zu Fuß dahin, oder? Doch. Es ist zu weit. Macht nichts. Ich hab reichlich Zeit. Scheiße, das kommt mir auch so vor. Ja. Mir würde ja langweilig werden, und irgendwann würde ich mich einsam fühlen. Ich komm zurecht. Wirklich? Ja. Wer weiß, vielleicht ist es sogar nett, was? Irgendwie idyllisch? Yup. Klingt nett. Würde ich eigentlich auch gerne machen. Sie dürfen mich gerne begleiten. Ja? Sicher. Ach nee. Ich muss hierbleiben und weitermachen. Wie Sie möchten. Ja, das hier ist ziemlich wichtig. Die Umfrage. Habe ich Sie schon gefragt? Was? Sind Sie die Lieblingsperson von irgendwem? Ja, haben Sie. Stimmt, sorry. Also, bis dann. Ja, bis dann. Diogenes Magazin
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V Sind Sie jemandes Lieblingsperson? Oh, danke, nein, ich hab die Umfrage schon gemacht. Was? Ja, da hinten, bei einem anderen Typen. Oh Scheiße. Vielleicht sollten Sie sich einen anderen Standort suchen, weiter weg. Ja, trotzdem Scheiße. Sie sollten heute meine letzte Kandidatin sein. Oh. Ja, sehen Sie, die Sache ist die, wenn Sie mir geantwortet hätten, könnte ich jetzt nach Haus gehen. Oh. Ja, es kommt was im Fersehen, das ich unbedingt sehen wollte. Was denn? ›America’s Next Top Model‹. Ach ja, das ist ja fast wie diese Umfrage hier. Was? Ja, wissen Sie, das hier ist wie ›America’s Next Top Lieblingsperson‹. Ich sehe schon, wo das hinführt. Was? Sie glauben, ich arbeite für ›America’s Next Top Model‹. Nein. Doch, Sie glauben, ich wollte Models für die nächste Staffel rekrutieren. Überhaupt nicht. Ich habe bloß frei assoziiert. Genau, Sie haben versucht, sich selbst mit der Sendung zu assoziieren, über mich. Nein, habe ich nicht. Tja, dann verrate ich Ihnen mal was: Erstens könnte ich durchaus für das Supermodel Tyra Banks arbeiten, das wäre sehr wohl möglich, denn wir sind in L.A., und das ist ein freies Land. Aber ich arbeite nicht für sie. Und zweitens sind Sie nicht hübsch genug, um Model zu werden. Das weiß ich. Na, das ist gut, denn sonst würden Sie womöglich Ihr Leben damit verschwenden, Model werden zu wollen, anstatt etwas Nützliches mit sich anzufangen. Was zum Beispiel? Na, irgendwas zum Beispiel, zum Beispiel Sie wissen schon, ach, ich weiß nicht, irgendwas eben. 60
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Spazieren zum Beispiel? Nein, nicht Spazieren, das ist nicht nützlich. Oh. Sie könnten, na ja, Ärztin werden oder so. Ich weiß nicht. Oder Tierärztin. Ja, das ist ein gutes Beispiel. Aber das werde ich nie machen, mir fehlt die Disziplin dazu. Mir auch, ich schaffe ja kaum das hier. Ja, ich auch. Ich schaffe es jetzt schon kaum, Schritt zu halten. Ja, auch ohne Medizinstudium und alles. Ja, ich schaffe es nicht mal ins Fitnesstudio. Fitnesstudio? Ich schaffe es kaum noch, mich überhaupt zu bewegen. Ich auch. Normalerweise kann ich mich gar nicht mehr bewegen. Ich bin wie ein Ziegel oder ein Stein. Oder ein Essensrest. Ein Essensrest? Wie ein Essensrest, den jemand auf die Straße geworfen hat, und nicht mal die Hunde wollen ihn fressen. Ja, mich werden noch nicht mal Käfer oder Würmer fressen. Nicht einmal Bakterien. Bakterien kommen nicht mal in meine Nähe. Bei mir ist es genauso. Ja? Sind Sie jemandes Lieblingsperson? Ich nicht, aber Sie vielleicht? Ich denke schon. Obwohl Sie wie ein weggeworfener Essensrest sind? Sicher, warum nicht? Vielleicht habe ich einen heimlichen Bewunderer. Wie sicher sind Sie sich da? Nicht so sicher. Aber man darf schließlich hoffen? Genau, hoffen kostet nichts. Machen Sie’s gut. Buchtipp Sie auch. Tschüs. Miranda July Tschüs. Zehn Wahrheiten
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Aus dem Amerikanischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann
Aus dem Amerikanischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann Diogenes Taschenbuch, detebe 23938, 272 Seiten € (D) 8.90 / sFr 15.90 / € (A) 9.20
Zehn Wahrheiten, das sind 16 umwerfende Stories, die von der Kritik gefeiert wurden: »Vorsicht, diese Autorin könnte Ihr Leben verändern: Miranda July hat die Kurzgeschichte für unsere Zeit neu erfunden« (Georg Diez / Die Zeit). »Was für traurige, was für verrückte, was für unglaubliche Geschichten: so zärtlich, so schonungslos, pure Zauberei« (Der Spiegel). Miranda July im Internet: www.mirandajuly.com
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Benedict Wells Becks letzter Sommer
Roman 路 Diogenes
Reise-e-mails
Benedict Wells
Ich beichte: Wir waren Japaner! Einige Schriftsteller können es nicht lassen, auch in den Ferien müssen sie schreiben. So auch Benedict Wells, der mit seinem Debüt Becks letzter Sommer letzten Herbst für Furore sorgte und seinen Verlag während einer Reise quer durch die USA mit einem spannenden und amüsanten Reisetagebuch unterhielt.
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Foto Benedict Wells: © Diogenes Verlag / Bastian Schweitzer. Foto oben: © Benedict Wells
iebe Diogenesen, sitze gerade in einem Internetcafé in Las Vegas, es ist Mittag, draußen ist es heiß, hier drinnen angenehm kühl, und so komme ich endlich dazu, den versprochenen USAReisebericht nachzuliefern.
Die Tour startete in Brüssel, mit im Gepäck waren Ferdinand und Michael, zwei gute Freunde. Mit dem Eurostar ging es durch den Tunnel nach London, dort im Queen-Mary-Shuttle-Verkehr nach Southampton. Ein ungutes Gefühl überkam mich beim Anblick der anderen Gäste im Bus. Durchschnittsalter: 83,2. Durchschnittsgewicht: ebenfalls. Wo waren nur die hübschen Mädels geblieben, von denen wir geträumt hatten? Egal, erst mal rauf aufs Schiff. Die Fahrt mit der Queen Mary Zwo ist wirklich eine abenteuerliche Art zu reisen, die heute fast antiquiert wirkt. Wir waren beinahe die einzigen jungen Leute an Bord, die allein gereist sind. Die anderen Gäste waren entweder
schon auf der Welt, als Bismarck noch Reichskanzler war, oder es waren zwar Jugendliche und Leute in unserem Alter, die jedoch mit ihren Eltern reisten. Von britischen Milliardärstöchtern allerdings keine Spur. Shame on you, Queen Mary 2!!! Man konnte an Deck jedenfalls alles machen, was man wollte. Schwimmen, Dart, Tennis, Golf und Fußball, Musikund Wissensquiz lösen, in verschiedene Clubs oder Kneipen gehen. Abends gab es zudem immer ein Gala-Dinner, wo man in Anzug und Krawatte zu erscheinen hatte. Nie fühlte ich mich wohler als draußen an Deck im Whirlpool und mit Blick auf den Ozean, während die Sonne untergeht. Leider mussten wir auf unserer Fahrt auch den größten Sturm durchstehen, den die Queen Mary jemals erlebt hatte, teilweise Windstärke 12 von 12. Das Schiff schoss hoch und runter wie in einer Achterbahn, tauchte mit der Spitze ins Wasser ein, reihenweise kotzten die
Leute in der Bibliothek oder auf den Treppen. Ich beobachtete, wie sich zwei englische Gentlemen unterhielten, ehe sich der eine wegdrehte, höflich in eine Kotztüte erbrach und dann weiter sprach, als ob nichts geschehen wäre. Ich verzog mich ebenfalls in eine Kabine, um dort mein schändliches Werk zu verrichten. Kaum war ich fertig, fiel ich wie eine Schwangere über eine Packung Ahoi-Brause her, ehe ich mich nur eine Minute später wieder übergeben musste. Clever. Auf dem Schiff lernte ich viele Leute kennen. Es gab auch – wichtig für jeden Schreibenden – eine kleine Romanze mit Lourdes, einer hübschen Mexikanerin, wobei ich mich in diesem Fall gegen vermutlich zehn Mitbewerber aus aller Welt durchsetzen musste. Schlüsselerlebnis war meine großartige Leistung beim Karaoke-Singen – Help von den Beatles. Gesanglich wirklich wahnsinnig schlecht, aber dafür wenigstens extrem laut. Diogenes Magazin
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Schließlich, nach einer Woche, kamen wir frühmorgens in New York an, sahen die Freiheitsstatue und die Skyline von Manhattan in der aufgehenden Sonne. Ich kam mir wie ein Immigrant vor und winkte mit meiner Mütze. Ich muss jedoch sagen, dass mir New York im ersten Anlauf nicht besonders gefiel. Es war schon teilweise ganz nett, den Times Square zu besichtigen oder nachts über die hell beleuchtete Brooklyn-Bridge zu spazieren, aber insgesamt war es ein Ort voller Freaks. Bei jedem Fußgänger hatte ich das Gefühl, er sei irre. Manhattan hat auch die am meisten gefühlte Hektik pro Quadratmeter auf der ganzen Welt. Wir wohnten erst in der Upper East Side, dann in Chinatown. In New York trafen wir auch noch Julia, eine Mitschülerin von früher, die spontan beschloss, den Trip mit uns mitzumachen, und so waren wir zu viert. Los ging’s.
Bei jedem Fußgänger hatte ich das Gefühl, er sei irre. Wir fuhren durch Jersey und durch Pennsylvania, der ganze Staat ist ein einziger Wald, der von einer riesigen Straße geteilt wird. Wir nächtigten immer in Motels wie Holiday Inn, Days Inn, Budget Inn. Zudem schliefen wir oft in einem großen Zimmer zu viert. Das war am günstigsten, auch wenn man sich das Bett teilen musste. Wir kamen sehr gut voran. All die Leute, die uns sagten, ein paar Wochen für die Fahrt gen Westen würden knapp werden – so ein Unsinn. Im Gegenteil, das ist fast zu viel Zeit. Als Nächstes stand jedenfalls Chicago auf dem Plan, und ich muss sagen, es ist eine ganz wunderbare Stadt – herrliches europäisches Flair, viele Kneipen und Cafés, alles ruhig und gemütlich, architektonisch ein Traum. Wir machten eine Fahrt mit dem Boot auf dem Stadtfluss, ansonsten liefen wir einfach nur staunend rum, weil es so schön war. Am nächsten Tag erreichten wir den Missouri River. Der Ort hieß Hermann, ein kleines, von Deutschen gegründetes Dorf. Fest im Würgegriff der Kirche, dazu tausende Amiflaggen. Wir penn64
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ten in der Pension eines älteren Ehepaars, beide evangelikale Republikaner, aber die ersten wirklich netten Menschen, die wir im angeblich so freundlichen Amerika trafen. Es war eine sehr angenehm ländliche Atmosphäre dort, mal abseits der ganzen Interstates und Highways. Unser Track führte uns weiter, nach St. Louis, der langweiligsten, schwülsten und ödesten Stadt der Welt. Alles war geschlossen, jede Bar, jedes Lokal, und das am Samstag. Schnell weiter. Wir kamen zu den Rocky Mountains, besichtigten den Nationalpark, fuhren anschließend nach Grand Junction in Colorado. Vielleicht die beste Strecke, die ich jemals als Autofahrer erlebt hatte. Täler und Berge, Kurven, großartige Westernlandschaft; ich kam mir vor wie ein gediegener alter Rennfahrer, daran ändert auch der peinliche Beinahe-Unfall mit einem Lastwagen nichts. Der Alltag war jedenfalls immer gleich, aufstehen, frühstücken (Burger mit Pommes), dann fahren, fahren, fahren, fressen, abends Motel und gute Nacht. Kamen wir an einen interessanten Ort, blieben wir ein paar Tage, dann ging es wieder weiter. Unendliche Straßen, das Gefühl von Ewigkeit. Ich mochte diese Auto-Atmosphäre: Vorne fährt einer, der Rest unterhält sich, liest, spielt Karten und Gameboy oder schläft. Es wurde oft gelacht, ein treuer Freund ist uns das Hörbuch Fleisch ist mein Gemüse geworden, gelesen von Heinz Strunk, das uns viele heitere Stunden beschert hat. Dann waren wir jedenfalls auch schon an den Canyons. Ein irres Feuerwerk an Panorama. Wir haben uns gegenseitig zu überbieten versucht, sind immer näher an den Abgrund, haben uns über die Klippen gelehnt und wären vor lauter doofem Grinsen fast in die Schlucht gefallen. Das wäre dann der Darwin Award 2008 geworden. Gestern sind wir dann eben in Vegas angekommen. Eine lebendige, grelle, verzerrte, trashige Stadt, aber für zwei Nächte genau das Richtige. Nachdem ich es gestern nur ein bisschen versucht habe, werde ich heute Abend richtig zocken. Jedenfalls bin ich der einzige
Typ hier, der im Anzug rumläuft, allerdings muss ich das Teil ja schon alleine deshalb mal wieder anziehen, weil ich es wegen der Kleiderordnung auf der Queen Mary durch das ganze Land schleppe. Wirke damit zwischen all diesen Mallorca-Flatrate-Saufen-Touristen allerdings doch wie ein Freak. Liebe Diogenesen, melde mich mal nach Ewigkeiten wieder, diesmal mit dem zweiten Teil des Reiseberichts. Wo waren wir stehengeblieben? Das heißt, stehengeblieben sind wir ja eigentlich nie, immer nur gefahren. Mein letzter Bericht war jedenfalls aus Vegas, inzwischen bin ich wieder in New York und berichte artig. Wir spielten in Vegas also im Casino, im MGM Grand, wo wir auch die beiden Nächte blieben. Julia und ich woll-
Fotos: © Benedict Wells
Stehengeblieben sind wir eigentlich nie, immer nur gefahren… ten unbedingt diesen Cirque du Soleil sehen, die Karten waren jedoch sauteuer, 100 Dollar das Stück. Also gingen wir Roulette zocken, mit zwanzig Dollar Einsatz. Es lief schleppend an, wir hatten zwar irgendwann 60 Dollar, doch das reichte natürlich nicht. Bis wir schließlich aus einer Schnapsidee heraus zehn Dollar auf Julias Glückszahl 23 setzten. Ich werde nie den Moment vergessen, als tatsächlich die verfluchte 23 erschien. Unfassbar, Geldregen, abkassieren, und rein in die Vorstellung. Es war grandios. Wenn jemand nicht weiß, wohin mit seinem Geld – Cirque du Soleil. Nach diesem Triumph zockte ich – wie alle gierigen Idioten – noch mal richtig, mit 300 Dollar Einsatz. Ich war erst auf 1100 Dollar, ehe ich dann, anstatt aufzuhören, auf einen Schlag wieder alles verlor. Ja, super, toll gemacht. Doch nicht viel Zeit zum Grämen, weiter ging’s durchs Death Valley. Tatsächlich gab es dort eine astreine Wüste, die wir natürlich besichtigt haben, wie wir ja überhaupt alles besichtigt haben, was es so gab, weil wir nämlich verDiogenes Magazin
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Fotos: © Benedict Wells
dammte Touristen waren. So, jetzt ist es raus. Ich beichte: Wir waren Japaner! Als wir dieses Höllental hinter uns gelassen hatten, ging es noch in den Yosemite-Nationalpark. Bären sahen wir leider keine, na ja, macht aber nichts, ich bin schließlich nicht Irving und kann auch ohne Bären ganz gut leben. Danach kamen wir endlich nach San Francisco, oder San Fran, oder Frisco, sucht euch was aus. Das Städte-Ranking musste neu aufgestellt werden, der bisherige Spitzenreiter Chicago wurde von Platz 1 gefegt. San Francisco ist wirklich genial. Eine wunderschöne, kompakte, eigentlich kleine Stadt (hat in etwa die Größe von Augsburg), mit schöner Architektur, viel Sonne, Meer und so weiter. Am besten war es auf der LombardStreet, auf der schon diverse Verfolgungsjagden gedreht wurden. Erwähnt sei auch der Cable Car, die Tram, die durch die Straßen fährt. Es machte einen irren Spaß, sich draußen festzuhalten und die Straßen runterzusausen. Leider mussten wir irgendwann weiter, die kalifornische Küste entlang, rechts von uns der pazifische Ozean. Eine super Strecke. Wir hielten an diversen Badeorten, und einmal für eine knappe Woche in Carpinteria bei Santa Barbara (ehrlich gesagt dachten wir damals immer, wir wären direkt in Santa Barbara, wir waren aber einfach nur zu blöd, um das Schild richtig zu lesen). Die bisher schönste Zeit. Wir verbrachten den ganzen Tag am Strand. Mit meinem flugs gekauften Kindersurfbrett, auf dessen Oberfläche ein Muster mit lauter kleinen süßen Fischchen war, war ich zwischen all den richtigen Surfern allerdings etwas deplaziert. Sie haben mich auch die ganze Zeit angeschaut, als wäre ich der Dorfdepp. Ich kam mir selbst wie ein 8-Jähriger vor, ließ mir aber nichts anmerken und stürzte mich tapfer in die Wellen. Schlimm war nur die »Möwen-Gang«, eine Bande von vier oder fünf Strandmöwen, die sich als sehr trickreich erwiesen, dauernd Sachen stahlen und mir einmal auch mein Sandwich wegschnappten, als ich eine Sekunde nicht aufgepasst hatte. Schweine! Schließlich ging es nach Los Angeles
weiter, von dort aus wollten Julia und Michael nach Deutschland zurückfliegen. Ach ja, L.A. – wat soll isch sagen. Ne riesige Miststadt halt, ja, ja, bestimmt ganz toll und mit irre vielen Möglichkeiten… nee, das war einfach ne riesige Miststadt, aus. Hollywood war belanglos, die Straßen überfüllt, das Beste war noch der fette Spider-Man beim Einkaufen (siehe Foto). Das ist also aus dem Idol meiner Kindheit geworden, traurig. Als Julia und Michael weg waren, waren Ferdinand und ich auf uns allein gestellt. Zwei unerschrockene Abenteurer – die sich erst mal total in die Hose machten, als sie nach Tijuana fuhren. Es war allerdings auch ziemlich turbulent. Erst mal: Wer nach Mexiko rein will, braucht sich keiner Kontrolle zu unterziehen oder seinen Ausweis vorzuzeigen. Die nehmen da wirklich jeden. Und so sah das dann auch aus.
Das war der Moment, wo ich und Ferdinand »Scheiße« sagten und rannten … Als Erstes sah man ungefähr drei Millionen Taxifahrer, die einen umringten und zur großen Hauptstraße fahren wollten, »La Revolución«, auch »La Revo« genannt. Die Taxifahrer wussten offenbar, wie sie uns diese Sündenmeile schmackhaft machen mussten, denn sie riefen die ganze Zeit »Revolución – Prostitution«. Als wir meinten, wir wollen zu Fuß hin, lachten sie nur. »Viel zu weit, schafft ihr nie.« Zwei Minuten später waren wir zu Fuß da. So viel dazu. Die berüchtigte Straße war allerdings wirklich krass. Überall Touristen (jedoch nicht so viele saufwillige Amis wie erwartet), undurchsichtige Gestalten, dazu mexikanische Jugendliche, die geheiratet hatten und hupend in Oldtimern an uns vorbeisausten. Ansonsten gab es genau drei Dinge, die sich immer wiederholten: Ein Geschäft, in dem man lauter Mexiko-Kram kaufen konnte, also Sombreros und so, dann ein Restaurant, dann ein Club. Am schlimmsten war aber, dass die Verkäufer und Händler dauernd vor ihren Geschäften standen und noch viel aufdringlicher als Diogenes Magazin
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Fahrtmomente, die Sonnenuntergänge waren immer wunderbar: Du sitzt am Steuer, das Abendlicht leuchtet auf die endlose leere Straße vor dir, aus dem CD-Player kommt gute Musik, alles fühlt sich frei und groß an. Wir kamen in Washington an. Ich muss sagen, es ist eine erstaunlich lässige Stadt, sehr entspannt, mit vielen jungen Leuten. Niemand nimmt sich zu wichtig, ganz einfach, weil die Stadt selbst schon so super wichtig ist, dass es gar nicht mehr nötig ist. Wie bei einem riesigen Hund, der ruhig bleibt, während der kleine Terrier
Du sitzt am Steuer, das Abendlicht leuchtet auf die endlose Straße vor dir, alles fühlt sich frei und groß an. aus Minderwertigkeitskomplexen heraus pausenlos rumkläfft. Abends gingen wir dann aus, in der Adams Street, einer ziemlich hippen Straße in Washington. Wir tanzten mit hübschen Mädels und tranken ein bisschen zu viel und stolperten also glücklich durch die Nacht. Es ging weiter nach Rhode Island, Newport. Zurück zur Atlantikküste! Im dichten Nebel ragte auf einmal eine gigantische Brücke auf, die zur Insel führte, gespenstischer Anblick. Ich würde jetzt gerne sagen, dass dann noch etwas Spektakuläreres kam, kam aber nicht, also haltet euch an die riesige Brücke. Es gab kurz darauf aber doch noch einen Höhepunkt, nämlich Boston, das tatsächlich San Francisco und Chicago auf die Plätze verwies. Eine europäische Stadt mit schönen winkeligen Straßen und Gassen, viel irischem Grün, Kneipen und enormem Flair, und alles konnte man zu Fuß erreichen. Wir aßen Hummer am Hafen und fuhren nach Harvard, das allerdings ganz gewöhnlich aussah und überheblich-elitär wirkte. Und in die berühmte Bibliothek kamen wir auch nicht rein. Wir fuhren weiter nach Norden, schauten auch mal im Wal-Mart vorbei, wo wir uns von den irren Amis Waffen zeigen ließen. Unser letzter großer Moment waren die Niagarafälle, die auf der
Fotos: © Benedict Wells
die Taxifahrer waren. »Hey, guys, here, look, good!«, oder »Hey, guys, free blowjob tonight.« Aha, wir waren offenbar gerade an einem Club vorbeigegangen. Jedenfalls gingen die beiden »guys« erst was essen und dann in eine Disco. Wir tranken zwei Tequilas für 20 Dollar, tanzten ein bisschen und machten dann die Fliege. Jetzt wurde es allerdings erst richtig interessant. Denn wir wurden verfolgt. Ein finsterer Mexikaner war schon seit ’ner Ewigkeit hinter uns. Wir taten so, als würden wir nach rechts gehen, der Mexikaner ging ebenfalls nach rechts, überholte uns und verschwand hinter der Ecke, wo er wahrscheinlich auf uns wartete. Wir bogen dann nach links ab, doch kurze Zeit später war er wieder hinter uns, während wir durch dunkle, menschenleere Gassen zur Grenze liefen. Wir gingen schneller, er ebenfalls. Ich machte nun Urwaldgeräusche und brüllte rum wie Olli Kahn nach einem Gegentor, um ihn zu verwirren, doch der Mexikaner durchschaute die Show und war uns weiter auf den Fersen. Das war der Moment, wo ich und Ferdinand leise »Scheiße« sagten und rannten, der Mexikaner rannte hinter uns her. Er kam immer näher und näher, und dann machte er plötzlich einen riesigen Bogen um die beiden Touristen, die bei der Gott-sei-Dank aufgetauchten Polizeiwache standen. Unsere Rettung. Jetzt schnell zurück nach Amerika. Hätte nie gedacht, dass ich mich so darüber freuen würde. Am Grenzübergang hing ein Plakat mit gesuchten Verbrechern, und Nummer 60 sah – und das schwöre ich, das ist keine Schriftstellermär – unserem Verfolger tatsächlich so ähnlich, dass ich ihn melden wollte und mich nur durch Ferdinands einleuchtende Bemerkung »Vergiss es, machen wir lieber, dass wir so schnell wie möglich hier wegkommen« davon abbringen ließ. Es ging nun wieder nach Osten zurück. Ich fasse mich kurz: Wir brauchten vier Tage von der einen Küste zur anderen, jeden Tag fuhren wir elf Stunden, hörten Musik und zur Erheiterung »???«-Folgen, na ja, bisschen albern, ich geb’s zu. Es gab natürlich herrliche
amerikanischen Seite so lala aussahen, auf der kanadischen Seite dagegen beeindruckend wirkten. Und dann waren wir auch schon wieder in New York. Nach fast zehntausend Meilen. Ich dachte, mich kann nichts mehr überraschen, ehe ich das größte Sandwich der Welt bestellte. (Siehe Foto, es sind tatsächlich nicht zwei Sandwiches, die aufeinander gestapelt wurden, sondern nur eins, und ja, ich habe es gegessen). Diesmal wohne ich im East Village. Schöne Gegend, muss ich zugeben. Vermittelt wurde mir die Wohnung von einer netten Deutschen, die Petra heißt, sich jetzt aber Mavinga nennt. Tja, so ist das wohl hier. Vielleicht sollte ich mich jetzt auch Rico Lightsaber nennen und die Stadt unsicher machen. Ferdinand ist heute zurückgeflogen, und mir stehen nun zehn einsame Tage ins Haus, bis endlich das Schiff nach Europa fährt. Verdammte Flugangst! Aber die Zeit brauch ich vielleicht auch, um zu begreifen, was wir in den letzten Monaten erlebt haben. Es war wunderbar, mit drei so unterschiedlichen Menschen so lange unterwegs gewesen zu sein, und bereits jetzt, wo unten auf der Straße die für New York so typischen Polizeisirenen jaulen (ohne die geht’s hier einfach nicht), beginne ich, die Reise zu vermissen.
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Buchtipp Benedict Wells
Becks letzter Sommer Leinen, 464 Seiten € (D) 19.90 / sFr 35.90 / € (A) 20.50 ISBN 978-3-257-06676-0
Ein Roman über die Musik, die Liebe und das Leben: »Das interessanteste Debüt des Jahres. Einer, der sein Handwerk versteht und der eine Geschichte zu erzählen hat: Der 23-jährige Benedict Wells schlägt in seinem Erstling einen neuen unangestrengten Ton an.« Florian Illies / Die Zeit
Top 10
Paulo Coelho
Top10 Reiseziele Rio de Janeiro Wegen der Kontraste: Stadt und Wälder, Meer und Berge, und wegen des kosmopolitischen Lebensstils. Dubai Weil es eine Stadt ist, in der das Unmögliche möglich ist. Genf Ich habe in dieser Stadt einen Teil meines Romans Elf Minuten spielen lassen und kehre seither immer wieder zurück, um in der Altstadt das kleine Stück Jakobsweg abzugehen. Zudem ist sein Wahrzeichen, der Jet d’eau, meiner Meinung nach das schönste Wahrzeichen überhaupt. Saint-Martin Hierhin ziehe ich mich zurück, wenn ich der Natur mit ihren Wäldern, Bergen und Bächen nahe sein will. Die Nähe zu Lourdes macht diesen Ort für mich zu einem heiligen Ort. Berlin Ich war 2006 zur Fußball-Weltmeisterschaft in Berlin und werde das beschwingte Lebensgefühl dieser Stadt niemals vergessen. Paris Weil es einfach schön und poetisch ist.
Madrid Ich habe während der ›Movida‹ dort gelebt. Was mir an Madrid so gefällt, sind das pulsierende Leben, die belebten Bars und die weltoffene Atmosphäre. Baikalsee 2006 bin ich drei Monate lang umhergereist und anschließend mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok gefahren. Der Baikalsee war für mich der Höhepunkt dieser Reise: Ich fühlte mich lebendig und bin sogar in das kalte Wasser getaucht. Kairo Ich werde nie vergessen, wie 1986 zum ersten Mal die Pyramiden vor mir in den Nachthimmel ragten. Ihr Anblick hat mich zutiefst berührt und mich zum Ende meines Romans Der Alchimist inspiriert. Mojave-Wüste Ende der 1980er Jahre bin ich in die Mojave-Wüste gegangen, um eine tiefgehende Verletzung zu heilen. Die vierzig Tage, die ich dort verbracht habe, und wie ich dazu kam, mir selbst zu vergeben, beschreibe ich in meinem Roman Die Walküren (noch nicht auf Deutsch erschienen, A.d.R.)
Im nächsten Diogenes Magazin: Die Top 10 Singles von Benedict Wells Diogenes Magazin
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Intimes
Woody Allen
Liebes Spanisches Tagebuch…
5. März Treffen mit Javier Bardem und Penélope Cruz. Sie ist hinreißend und viel sexueller, als ich dachte. Während des Gesprächs geriet meine Hose in Brand. Bardem ist eines dieser grüblerischen Genies, den werde ich definitiv hart anpacken müssen.
Illustration: © David Levine. Filmfotos: © Concorde Home Entertainement, München
Als Woody Allen seinen letzten Film Vicky Cristina Barcelona mit Javier Bardem, Penélope Cruz und Scarlett Johansson in den Hauptrollen drehte, führte er ein geheimes Tagebuch. Zum Erscheinen der DVD im Juni bei Concorde Home Entertainment hat Woody Allen für das Diogenes Magazin sein Tagebuch geöffnet.
2. Januar Erhielt Angebot, ein Drehbuch zu schreiben und in Barcelona zu verfilmen. Vorsicht ist geboten. Spanien ist sonnig, und ich kriege schnell Sommersprossen. Bezahlung ist auch nicht toll, aber der Agent hat es hingekriegt, dass ich ein Zehntel von einem Prozent von allem kriege, was der Film über 400 Millionen Dollar Gewinn einspielt. Habe keine Idee für Barcelona, es sei denn, man könnte die Geschichte der zwei Juden aus Hackensack in New Jersey, die einen EinbalsamierungsVersandhandel gründen, nach Barcelona verlegen.
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So sehr ich es auch versuchte, ich habe sie nicht überzeugt und musste mich als Mann vom Catering Service verkleiden, um mich wieder aufs Set schleichen zu können.
2. April Habe Scarlett Johansson eine Rolle angeboten. Sie meinte, sie könne erst zusagen, wenn das Drehbuch von ihrem Agenten genehmigt worden sei, und dann von ihrer Mutter, mit der sie ganz eng ist. Anschließend müsse das Drehbuch von der Mutter ihres Agenten genehmigt werden. Mitten in den Verhandlungen wechselte sie den Agenten – und dann die Mutter. Sie ist begabt, aber sie kann ziemlich anstrengend sein. 1. Juni Ankunft in Barcelona. Unterkunft erstklassig. Das Hotel soll offenbar nächstes Jahr einen halben Stern kriegen, sofern bis dahin fließendes Wasser installiert ist.
5. Juni Gleich der Anfang der Dreharbeiten war heikel. Rebecca Hall, obwohl sehr jung und in ihrer ersten Hauptrolle, hat etwas mehr Temperament, als ich dachte, und hat mich vom Set gejagt. Ich erklärte ihr, dass der Regisseur anwesend sein muss, um Regie zu führen.
15. Juni Die Arbeit geht endlich voran. Heute eine heiße Liebesszene zwischen Scarlett und Javier gedreht. Noch vor wenigen Jahren wäre ich es gewesen, der Javiers Rolle gespielt hätte. Als ich das Scarlett gegenüber erwähnte, sagte sie »A-ha«, in einem rätselhaften Ton. Scarlett war zu spät auf dem Set. Ich las ihr ziemlich streng die Leviten, erklärte, dass ich Unpünktlichkeit bei meinen Schauspielern nicht dulde. Sie hörte respektvoll zu, wenngleich ich beim Reden zu bemerken glaubte, dass sie ihren iPod lauter stellte.
30. Juni Das Rohmaterial sieht ganz gut aus, und obwohl Javiers Idee einer riesigen Marsmenschen-Invasion mit Tausenden von kostümierten Statisten nicht besonders gut ist, werde ich die Szene ihm zuliebe dennoch drehen und sie dann beim Schneiden rausnehmen.
20. Juni Barcelona ist eine wunderbare Stadt. Menschenmassen fluten die Straßen, um uns bei der Arbeit zuzusehen. Zum Glück ist ihnen klar, dass ich keine Zeit für Autogramme habe, und sie fragen darum nur die Schauspieler. Später verteilte ich einige Fotos von mir selbst, wie ich Spiro Agnew die Hand schüttle, im Format 20x30 cm, und bot an, sie zu signieren, aber da hatte sich die Menge schon aufgelöst.
3. Juli Heute kam Scarlett mit einer dieser typischen Schauspielerfragen: »Was ist meine Motivation?« – »Deine Gage«, versetzte ich. Sie sagte, na gut, aber sie brauche noch viel mehr Motivation, um weiterzumachen. Ungefähr dreimal so viel. Ansonsten, drohte sie, werde sie einfach gehen. Ich forderte sie auf, Farbe zu bekennen, indem ich als Erster ging. Jetzt waren wir ziemlich weit voneinander entfernt und mussten schreien, um einander zu verstehen. Dann drohte sie damit, sich zu verdrücken. Ich verdrückte mich auch, und bald waren wir in eine Sackgasse geraten. In der Sackgasse liefen mir ein paar Freunde über den Weg, und wir tranken ein paar, und zum Schluss landete die Rechnung natürlich bei mir.
26. Juni Dreharbeiten in der Sagrada Familia, Gaudís Meisterwerk. Überlegte mir, dass ich mit dem großen spanischen Architekten vieles gemeinsam habe. Beide trotzen wir den Konventionen, er mit seinen atemberaubenden Entwürfen und ich, indem ich ein Hummer-Lätzchen unter der Dusche trage.
15. Juli Einmal mehr musste ich Javier bei einer Liebesszene helfen. Die Sequenz erforderte, dass er Penélope Cruz packte, ihr die Kleider vom Leib riss und es ihr im Schlafzimmer besorgte. Oscar-Gewinner, der er ist, musste ich ihm zeigen, wie man Leidenschaft spielt. Ich packte Penélope und riss ihr die Kleider in einem Schwung vom
Heute kam Scarlett zu mir: »Was ist meine Motivation?« – »Deine Gage«, antwortete ich.
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gens, wenn ich aufs Set komme, gebadet und frisch parfümiert, regelrecht unersättlich. Ich mische nicht gern Arbeit und Vergnügen, aber vielleicht muss ich tatsächlich abwechselnd ihre Lust stillen, um diesen Film beenden zu können. Vielleicht schenke ich Penélope Mittwoch und Freitag, und Scarlett Dienstag und Donnerstag. Wie im Schichtbetrieb. Dann wäre der Montag für Rebecca frei, die ich gerade noch davon abhalten konnte, sich meinen Namen auf ihren Schenkel tätowieren zu lassen. Ich werde die Damen auf einen Drink einladen und ein paar Regeln aufstellen. Vielleicht könnte ja das alte System mit Rationierungsmarken funktionieren.
Ist es verwunderlich, dass sich sowohl Scarlett als auch Penélope in mich verknallt haben? 30. Juli Das Rohmaterial sieht ziemlich großartig aus. Vermutlich ist es zu früh, um eine Oscar-Kampagne zu starten. Aber dennoch, ein paar Stichworte für die Dankesrede können mir später viel Zeit ersparen. 3. August Ich denke, es liegt am Terrain. Als Regisseur ist man teils Lehrer, teils Psychologe, teils Vaterfigur, teils Guru. Ist es wirklich verwunderlich, dass sich im Laufe der Wochen sowohl Scarlett als auch Penélope in mich verknallt haben? Das zerbrechliche weibliche Herz. Ich merke sehr wohl, wie mich Javier eifersüchtig anguckt, wenn die Schauspielerinnen mich mit Blicken ausziehen, aber ich habe es dem Jungen erklärt: Bei einer Filmikone muss man einfach mit hemmungsloser weiblicher Begierde rechnen, besonders bei einer Ikone, deren Lippen stets ein herrischhöhnisches Lächeln umspielt. Mittlerweise sind Scarlett und Penélope mor-
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10. August Führte heute Regie bei einer emotionalen Szene mit Javier. Musste ihm die Sätze vorsagen. Solange er mich imitiert, ist er toll. Sobald er aber selbst schauspielerische Entscheidungen treffen muss, ist er verloren. Dann weint er und fragt sich, wie er überleben wird, wenn ich nicht mehr sein Regisseur bin. Ich erklärte höflich, aber bestimmt, dass er sein Bestes geben müsse, wenn ich nicht da bin, und versuchen solle, sich an meine Tipps zu erinnern. Ich weiß, dass ihn das aufgemuntert hat, denn als ich seinen Trailer verließ, brüllten er und seine Freunde vor Lachen.
20. August Im Bett mit Scarlett und Penélope, versuchte, beide glücklich zu machen. Die ménage à trois gab mir eine großartige Idee für den Höhepunkt des Films. Rebecca hämmerte die ganze Zeit an der Tür, und schließlich ließ ich sie herein, aber diese spanischen Betten sind zu schmal für vier, und als sie dazukam, wurde ich ständig auf den Boden gedrängt. Heute Drehschluss. Die Abschiedsparty wie immer ein bisschen traurig. Tanzte eng umschlungen mit Scarlett. Brach ihr den Zeh. Nicht meine Schuld. Als sie mich nach hinten kippen ließ, trat ich drauf. 25. August Penélope und Javier wollen unbedingt bald wieder mit mir arbeiten. Sagten, wenn ich jemals wieder ein gutes Drehbuch hätte, solle ich mich bei ihnen melden. Abschiedsdrink mit Rebecca. Sentimentaler Augenblick. Alle Schauspieler und die Crew haben zusammengelegt und mir einen Kugelschreiber geschenkt. Habe beschlossen, den Film Vicky Cristina Barcelona zu nennen. Die Studiobosse haben das Rohmaterial gesehen. Offenbar lieben sie jedes Einzelbild. Es war die Rede davon, die Premiere in einer LepraKolonie stattfinden zu lassen. Es ist einsam ganz oben.
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Aus dem Amerikanischen von Margaux de Weck
Buchtipp Woody Allen
Der Stadtneurotiker Aus dem Amerikanischen von Eckhard Henscheid und Sieglinde Rahm Diogenes Taschenbuch, detebe 20822, 160 Seiten €(D) 8.90 / sFr 15.90 / € (A) 9.20
»Das Leben ist voller Elend, Leid und Kummer – und dann ist es auch noch viel zu schnell vorbei.« Der Film, einer der bekanntesten von Woody Allen, kam im Entstehungsjahr 1977 bei Publikum und Kritik gleichermaßen glänzend an und gewann vier Oscars – unter anderem für das beste Drehbuch, das in diesem Taschenbuch nachzulesen ist, illustriert mit vielen Filmfotos.
Filmfotos: © Concorde Home Entertainement, München
Leib. Wie das Schicksal so spielt, hatte sie noch nicht ihr Kostüm an, es war ihr eigenes, teures Kleid, das ich ramponiert hatte. Unerschrocken warf ich sie zu Boden, neben den Kamin, und stürzte mich auf sie. Luder, das sie ist, rollte sie sich im Bruchteil einer Sekunde vor meiner Landung weg, was zur Folge hatte, dass ich mir einige wichtige Zähne auf dem Fliesenboden ausschlug. Gute Arbeit geleistet heute, und vermutlich darf ich schon im August wieder feste Nahrung zu mir nehmen.
Serie
In Prüfungen stellen Toren Fragen, die Weise nicht beantworten können.
Die erste Pflicht im Leben ist: so künstlich wie möglich zu sein. Eine zweite Pflicht hat bis heute noch keiner entdeckt.
Die griechische Kleidung war wesentlich unkünstlerisch. Nichts als der Körper sollte den Körper offenbaren.
Lasterhaftigkeit ist ein Mythos, den gute Leute erfunden haben, um die merkwürdige Anziehungskraft anderer zu erklären.
Man sollte entweder ein Kunstwerk sein oder ein Kunstwerk tragen.
Wären die Armen nur nicht so hässlich, die soziale Frage ließe sich leicht lösen. Die einen Unterschied zwischen Körper und Seele machen, haben keines von beiden. Eine wirklich tadellose Knopflochblume ist das Einzige, was Kunst mit Natur verbindet. Religionen sterben, wenn ihre Wahrheit erwiesen ist. Die Wissenschaft ist das Archiv toter Religionen. Guterzogene widersprechen anderen. Weise widersprechen sich. Tatsachen haben nicht die geringste Bedeutung. Stumpfsinn ist mündig gewordener Ernst. In allen unwichtigen Dingen ist Stil, nicht Ernsthaftigkeit, wesentlich. In allen wichtigen Dingen ist Stil, nicht Ernsthaftigkeit, wesentlich. Wer die Wahrheit sagt, wird früher oder später dabei ertappt. Vergnügen ist das Einzige, wofür man leben sollte. Nichts macht so alt wie Glück.
Illustration: © Tullio Pericoli
Nur wer seine Rechnungen nicht bezahlt, darf hoffen, im Gedächtnis der Krämer-Kaste weiterzuleben.
Denken mit
Oscar Wilde
Nur die oberflächlichen Eigenschaften dauern. Des Menschen tiefere Natur ist bald entlarvt. Fleiß ist die Wurzel aller Hässlichkeit. Greise glauben alles. Männer bezweifeln alles. Kinder wissen alles.
Kein Verbrechen ist vulgär. Aber jede Vulgarität ist ein Verbrechen. Vulgär ist das Benehmen anderer.
Voraussetzung zur Vollkommenheit ist Muße. Ziel der Vollkommenheit ist Jugend.
Nur Flachköpfe kennen sich.
Nur Meistern des Stils gelingt es, dunkel zu sein.
Zeit ist Geldverschwendung. Man sollte stets ein wenig unwahrscheinlich sein. Gute Vorsätze haben etwas Fatales: Sie werden immer zu früh gefasst. Es gibt nur eine Entschuldigung, wenn man sich gelegentlich exzentrisch kleidet: Man muss sich stets exzentrisch benehmen.
Die Zeitalter leben in der Geschichte durch ihre Anachronismen. Es ist tragisch, dass so viele gutaussehende junge Männer ins Leben treten, um in einem nützlichen Beruf zu enden. Eigenliebe ist der Anfang einer lebenslangen Romanze.
Frühreif sein heißt vollkommen sein. Jedes Vorurteil über richtiges oder falsches Verhalten beweist eine gestörte intellektuelle Entwicklung. Ehrgeiz ist die letzte Zuflucht des Versagers. Eine Wahrheit hört auf wahr zu sein, wenn mehr als einer an sie glaubt.
Denken mit Oscar Wilde
Extravagante Gedanken über die Magie der Schönheit und die allmächtige Kunst, Kritik als Schöpfung, das dekorative Geschlecht und die menschliche Tragikomödie Diogenes
Diogenes Taschenbuch detebe 23887, 128 Seiten €(D) 7.90 / sFr 13.90* / €(A) 8.20
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Lukas Hartmann Bis ans Ende der Meere
Foto: 漏 Diogenes Verlag / Regine Mosimann
Roman 路 Diogenes
Reise-Essay
Lukas Hartmann
Die verfälschte Wahrheit In seinem neuen Roman Bis ans Ende der Meere beschreibt Lukas Hartmann die Abenteuer des Malers John Webber, der James Cooks dritte Entdeckungsreise begleitete und für die Nachwelt festhielt. Er wurde so zum ersten »embedded journalist« der Geschichte, der sich der britischen Zensur beugen musste. Auch Gemälde und Zeichnungen können lügen.
Foto: © Diogenes Archiv
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och über dem Pazifik umrundet der Highway 11 die Westküste von Big Island, Hawaii. Einige Kilometer südlich von Kailua führt ein Fußweg zur Kealakekua-Bay hinunter, zur Stelle, wo Captain Cook vor 230 Jahren erschlagen worden war. Über Lavageröll, zwischen mannshohem Schilfgras und verwildertem Zuckerrohr geht es steil abwärts. Nach einer mühsamen Stunde erreiche ich das Ufer und stehe vor einem acht Meter hohen Obelisken, der, wie die eingemeißelte Inschrift besagt, zum Gedenken an Cook errichtet wurde. Hier also starb am 14. Februar 1779 der große Entdecker, Navigator und Kartograph. Vom Schiff aus schaute der Expeditionsmaler John Webber dem Tumult am Ufer machtlos zu. Obwohl es ihm unmöglich war, Einzelheiten zu erkennen, hielt er später die Sterbeszene in einem figurenreichen Bild fest, das Captain Cook endgültig zum gro-
ßen britischen Helden erhob. John Webber, ursprünglich Johann Wäber, als Maler ausgebildet in Bern und Paris, kehrte nicht nur mit über 200 Bildern, sondern auch mit einer Reihe von Sammlerobjekten aus der Südsee zurück, die er später seiner Vaterstadt Bern vermachte. Seit ich diese Ethno-
Hier also starb am 14. Februar 1779 der große Entdecker, Navigator und Kartograph graphica im Historischen Museum Bern zum ersten Mal gesehen habe, beschäftigt mich die Frage, was Cook und Webber miteinander verband. Nun sind sie die beiden Hauptfiguren meines neuen Romans. Zwei Jahre lang bin ich ihren Spuren gefolgt; ihretwegen bin ich nach Hawaii gereist. Ich setze mich auf einen Basaltbrocken. Das steinige Ufer ist nahezu
schwarz, das Wasser dunkelgrün gerippt und trotz der Gischtstreifen an einigen Stellen so klar, dass ich Schwärme gelber Fische erkenne, die zwischen Korallenriffen auftauchen und wieder verschwinden. Draußen in der Bucht, wo damals die Resolution und die Discovery ankerten, zeigt sich jetzt ein Katamaran, von dem aus eine Gruppe von Schnorchlern ins Wasser gleitet. Ihre bunte Ausrüstung passt ebenso wenig zur düsteren Umgebung wie der weiße Obelisk in meinem Rücken. Bis James Cook hier an Land ging, hatte er, geboren 1728 als Sohn eines Tagelöhners, einen weiten Weg zurückgelegt. Dank seiner überragenden navigatorischen Begabung war er vom Krämergesellen zum berühmtesten Kapitän der Royal Navy aufgestiegen. Zweimal war er schon, im Auftrag der britischen Admiralität, um die Welt gesegelt und hatte, zusammen mit seinen Diogenes Magazin
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Hintergrundbild: Tod des Captain Cook, Stich von Bartolozzi nach John Webber (1784)
Wissenschaftlern, zahllose Gebiete entdeckt, vermessen, beschrieben; nun war er ein drittes Mal unterwegs. Seine Reiserouten, schaut man sie sich auf einer Karte an, verknüpfen sich zu einem Netz, das die Ozeane von der Antarktis bis zur Arktis, von Patagonien bis zu den Inseln der Südsee umspannt. Schon allein dieses weltumspannenden Routennetzes wegen sehe ich Cook, im Wortsinn, als Pionier der Globalisierung. Keiner vor ihm hat einen so riesigen Raum befahren und für andere erfahrbar gemacht, keiner hat von seinen Reisen eine solche Fülle an Beobachtungen und neuen Erkenntnissen mitgebracht. Aus Cooks Journalen geht hervor, mit welch nüchterner und respektvoller Neugier er den oft verstörend fremden Menschen begegnete, die er antraf. Er notierte, was er sah, und versuchte, ihm unbekannte und rätselhafte Verhaltensweisen zu verstehen, ohne vorschnell zu urteilen. Das war ein völlig
alles entsprach dem Geist der Aufklärung: durch Wissensvermehrung und Vernunft den Zustand der Welt verbessern. Aber von Beginn an fuhr auf Cooks Reisen auch der Schatten mit, in dem Gewaltbereitschaft, Überheblichkeit und Gier lauerten. Der britischen Admiralität ging es ja nicht bloß darum, die Welt zu kartographieren und die Flora und Fauna nach Arten zu katalogisieren; wichtiger war ihr, dass die neu entdeckten Gebiete für die britische Krone in Besitz genommen wurden. Cooks Karten standen stets auch am Anfang von kolonialistischer Ausbeutung und christlicher Missionierung, die rigoros das »Heidentum« bekämpfte. Dazu kam, das Cooks Eigentumsbegriff sich nicht mit jenem der Südseeinsulaner vertrug. Schon kleine Diebstähle brachten ihn in Rage; ihre Urheber bestrafte er mit äußerster Härte. Andererseits fand er kein Mittel, die sexuelle Zügellosigkeit seiner Männer zu bekämpfen. Er wusste zwar, dass sie auf den Inseln die Syphilis verbreiteten; doch die Seeleute waren listig genug, Cooks Anordnungen zu umgehen. Einem Offizier ver-
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Von Anfang an fuhr auf Cooks Reisen auch der Schatten mit … anderer Zugang als jener der spanischen Konquistadoren. Die Reiseberichte Cooks erweiterten das Weltwissen Europas auf spektakuläre Weise. Seine navigatorischen und kartographischen Leistungen sind bewundernswert. Die Karten, die er und seine Offiziere von Neuseeland und den polynesischen Inseln anfertigten, konnten auch ein halbes Jahrhundert später nur wenig verbessert werden. Cook galt zudem als Vorgesetzter, für den das Wohl seiner Untergebenen, bei aller Strenge, kein leeres Wort war. Er erkannte als Erster, wie sich Skorbut bekämpfen ließ, nämlich mit Sauerkraut und frischem Grünzeug. Dies
Karte: © Diogenes Archiv. Bild Cook: © Diogenes Archiv
Captain James Cook, porträtiert von John Webber (1776)
traute der Captain an, er hätte, um sich durchzusetzen, wohl die ganze Mannschaft in Ketten legen müssen. Nach der zweiten Reise wollte sich Cook eigentlich zur Ruhe setzen. Aber sein Naturell ließ dies nicht zu. Er nahm, gegen den Willen seiner Frau, den Auftrag an, auf einer dritten großen Expedition, die zunächst wieder in die Südsee führen sollte, nach der sogenannten Nordwestpassage zu suchen, die, wie die Admiralität vermutete, im hohen Norden Amerikas den Pazifik mit dem Atlantik verband.
Hintergrundbild: © Stich von Bartolozzi / Historisches Museum, Bern
Am 12. Juli 1776 lief die Resolution in Plymouth aus. Sie war ein umgebauter Dreimaster, dreißig Meter lang und zehn Meter breit, nicht viel anderes als ein schwimmendes Gefängnis. Die hundertköpfige Besatzung hauste in winzigen Offizierskajüten und stickigen Mannschaftsräumen. Sie musste ihr Quartier mit Kühen, Pferden und Schafen teilen. König George iii. hatte angeordnet, die Tiere als Geschenk für Südsee-Häuptlinge mitzunehmen. Mit an Bord war auch der 25-jährige John Webber. Einige seiner Bilder in einer Ausstellung der Royal Academy hatten Cooks Vertrauensleute auf ihn aufmerksam gemacht. Ihr Angebot, Expeditionsmaler zu werden, hatte Webber, alles andere als ein Seefahrer, nach kurzer Bedenkzeit angenommen. Was ihn dazu veranlasste, verrät keine Quelle; die Gründe dafür bleiben der Phantasie des Romanciers überlassen.
Webber sollte die Reise in allen visuellen Aspekten dokumentieren. Nachdem er die Seekrankheit überstanden hatte, skizzierte und malte er die Küste von Teneriffa und Kerguelen Island, danach Tasmanier, Maori mit ihren Tätowierungen, polynesische Tänzerinnen, dazu unbekannte Tiere und Pflanzen. Anfangs passte er die Proportionen und Physiognomien der fremden Menschen dem europäischen
Was dem Ansehen der Briten hätte schaden können, durfte John Webber nicht darstellen. Geschmack an; allmählich wurde er in seiner Wiedergabe realistischer. Bei all dem war er jedoch der Zensur unterworfen; was dem Ansehen der Briten hätte schaden können, durfte er nicht darstellen. Dazu gehörten die Auspeitschung delinquenter Matrosen und die grausame Bestrafung von Eingeborenen, die sich, nach dem Kodex der Briten, eines Vergehens schuldig gemacht hatten. Auf der dritten Reise häuften sich solche Szenen. Die dunkle Seite der Expedition trat nun auch in Cooks Charakter deutlicher hervor. Mit Besorgnis stellten die Offiziere fest, dass er sich verändert hatte. Er wirkte ausgebrannt und müde, zog sich häufig für Tage in seine Kajüte zurück; bisweilen steigerte er sich, einer Kleinigkeit wegen, in Wutanfälle, die von allen gefürchtet waren. Auf Tonga ging Cook so weit, dass er ertappten Dieben die Ohren abschneiden ließ; auf Moorea, einer Nachbarinsel von Tahiti, befahl er, die Hütten abzubrennen. Dies alles
blieb Webbers Zeichenstift verboten; so trug er wesentlich dazu bei, die dunkle Seite des Doppelgesichts, das noch heute den Prozess der Globalisierung kennzeichnet, zu beschönigen. In seiner Funktion war er letztlich nichts anderes als ein »embedded journalist«, der überall dabei sein durfte, dafür aber die Sichtweise des Auftraggebers zu übernehmen hatte. Auf dem Weg zur Westküste Nordamerikas entdeckte Cook eine damals unbekannte Inselgruppe, die er Sandwich-Inseln nannte; es ist das heutige Hawaii, der fünfzigste Gliedstaat der USA. Die Schiffe fuhren weiter, in zunehmende Kälte hinein; die Besatzung litt. Erst das Packeis in der Arktis, jenseits der Beringstrasse, trieb sie zurück. Die Nordwest-Passage hatte sich als Phantom erwiesen. Cook beschloss, auf einer der Sandwich-Inseln zu überwintern und im nächsten Jahr sein Glück nochmals zu versuchen. Am 18. Januar 1779 landeten die Schiffe in der Kealakekua-Bay. Von den Einheimischen wurden die Besucher überschwenglich und mit größten Ehren empfangen. Zu Hunderten warfen sie sich vor Cook nieder; vermutlich hielten sie ihn für eine Inkarnation von Lono, dem Gott des Friedens, dessen Fest gerade gefeiert wurde. Was weiter geschah, ist umstritten. Es scheint, dass die Briten die Gastfreundschaft der Hawaiianer aufs Äußerste strapazierten. Sie benahmen sich, trotz Cooks Befehlen, zügellos gegenüber den Frauen, sie ließen sich umsonst be-
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Webber trauerte um seinen Kapitän, den er verehrt und gefürchtet hatte wie einen strengen Vater. Zwei Monate lang rührte er weder Stift noch Pinsel an. Nach einer Reise von beinahe 1500 Tagen, im Oktober 1780, waren die
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Schiffe zurück in London. Webber wurde rasch berühmt. Die Weltumseglung war sein Kapital, von dem er bis zu seinem frühen Tod, 1793, zehrte. In immer neuen Variationen malte er Szenen der Südsee oder veröffentlichte sie als Stiche, in die sich die Sehnsüchte der Europäer nach Schönheit und ursprünglichem Leben projizieren ließen. Was er sonst noch schuf, fällt dagegen ab; die Strapazen der Reise hatten wohl auch einen großen Teil seiner Schöpferkraft aufgebraucht.
Am bekanntesten wurde John Webbers Darstellung vom Tode Cooks. Am bekanntesten wurde Webbers Darstellung vom Tode Cooks. Sie zeigt den Captain, wie er den Soldaten im Boot mit großmütiger Gebärde befiehlt, nicht zu schießen. Gleichzeitig wird er in perfider Weise von hinten angegriffen und niedergeschlagen. Es ist die Pose des Humanisten, des Märtyrers der abendländischen Zivilisation, die Webber hier, gewiss in höherem Auftrag, festgehalten hat. In Wahrheit war es wohl umgekehrt, das scheint ein kürzlich aufgetauchtes Bild zu belegen, das nach einer Skizze des Schiffszimmermanns Cleveley entstand. Darauf wendet sich Cook der Menge zu, die ihn umdrängt, und schießt blindlings in sie hinein. Webbers Version bedient alle Ängste vor der Hinterhältigkeit der »Wilden«. Rousseaus »edler Wilder« wurde zur Kippfigur, die sich jederzeit in einen Mörder und Kannibalen verwandeln konnte. Die Botschaft, die das kolonialistische 19. Jahrhundert daraus ableitete, ist klar: Man muss die Wilden zähmen; sie gipfelt später im Ausspruch des Obersten Kurtz in Conrads Heart of Darkness: »Exterminate all the brutes!« So dachte Cook gewiss nicht. Doch er öffnete die Wege, die – zum Beispiel – dazu führten, dass amerikanische Missionare, die um 1820 eintrafen, und danach Zucker- und Kaffeepflanzer die hawaiianische Kultur innerhalb kürzester Zeit zerstören
konnten. Zu diesem Zeitpunkt war die Bevölkerung durch eingeschleppte Krankheiten, vor allem durch die Syphilis, bereits erheblich geschrumpft. Während ich mir, am Ufer sitzend, die Szenen rund um Cooks Tod vorzustellen versuche, sind ein paar Kajaks in meiner Nähe gelandet. Die Paddler fotografieren sich gegenseitig vor dem Cook-Monument. Ich frage sie, weshalb, und sie antworten, Cook sei ein berühmter Entdecker, da lohne sich doch ein Foto, oder nicht? »Ohne ihn wären wir doch gar nicht da«, meint eine Touristin aus Colorado. Und ihr Begleiter fügt lachend hinzu: »Ohne ihn hätte es keine Mischlinge gegeben, auch nicht einen wie Obama. Der wurde doch auf Hawaii geboren.« Ja, denke ich, aber Obamas Vater kam aus Kenia, die Mutter aus den USA; die »Natives«, die Eingeborenen, machen heute bloß noch knapp sieben Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Gegen Mittag steige ich von der Bucht, wo schon lange keine Häuser mehr stehen, wieder zum Highway hinauf. Der Mauna Loa, der 4000 Meter hohe Vulkan, dessen Gipfel Cooks Männer vergeblich zu erreichen versuchten, bleibt hinter dunklen Wolken verborgen. Der Pazifik hingegen zeigt sich in glitzerndem Azurblau. Schöner könnte er nicht sein.
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Buchtipp Lukas Hartmann
Bis ans Ende der Meere Leinen, 496 Seiten € (D) 21.90 / sFr 38.90 / € (A) 22.60 ISBN 978-3-257-06686-9
Im Juni 1776 schifft sich der junge Zeichner John Webber auf dem Dreimaster Resolution ein. Kapitän ist James Cook. Webber wird zum Vertrauten des Kapitäns, stirbt beinahe und begegnet seiner großen Liebe. Vier Jahre später kommt Webber nach England zurück, gezeichnet von den Strapazen der Reise. Die Sehnsucht nach der Südsee wird ihn nie mehr loslassen. Und auch nicht die Erinnerungen an diese dritte und letzte Weltumsegelung des legendären Captain Cook.
Hintergrundbild: © Stich von Bartolozzi / Historisches Museum, Bern
wirten, sie verletzten Tabus, indem sie den Zaun eines Kultplatzes als Brennholz verwendeten und einen Verstorbenen auf heiligem Gelände beerdigten. Das führte zu wachsenden Spannungen. Nach ihrer Wegfahrt kehrten die Schiffe, eines gebrochenen Mastes wegen, nochmals in die Bucht zurück. Nun kippte die Stimmung in offene Feindseligkeit um. In der zweiten Nacht wurde ein Beiboot der Discovery gestohlen. Cook war außer sich vor Zorn. Mit Hilfe einiger Marinesoldaten versuchte er, den alten König als Geisel zu nehmen, um die Rückgabe des Bootes zu erzwingen. Es war der schlimmstmögliche Tabubruch, und er führte zu einem Aufstand. Die Briten schossen in die Menge; die Hawaiianer schlugen und stachen auf Cook und seine Verteidiger ein. Cook blieb, mit vier anderen Briten, tot liegen. Als der Schock nachließ, schwankte man auf den Schiffen zwischen Vorsicht und Rachegelüsten. Cooks Stellvertreter, Kapitän Clerke, selbst todkrank, neigte zu Zurückhaltung. Einige seiner Offiziere, vor allem Leutnant Bligh, der spätere Kapitän der Bounty, wollte die Hawaiianer streng bestrafen. Wahrscheinlich kam es in Napoopoo, dem Dorf in der Nähe des Kultplatzes, zu einem Massaker. Der Matrose Heinrich Zimmermann, ein Deutscher, der später, entgegen dem Verbot der Admiralität, ein Reisetagebuch veröffentlichte, schreibt von 300 Toten, darunter Frauen und Kinder. In den offiziellen Berichten wird das, wie es auch heute üblich wäre, heruntergespielt oder verschwiegen.
Hinter den Kulissen
Heinz Schmied
Autorenjäger Im Keller des Hauses vis-à-vis vom Diogenes Verlag befindet sich das Handlager, ein kleines Bücherlager mit allen lieferbaren Diogenes Titeln für den internen Gebrauch. Heinz Schmied betreute während dreißig Jahren das Handlager und daneben viele große und kleine Aufgaben im Verlag. Ein Porträt der »guten Seele« des Hauses und seiner ganz persönlichen Galerie von Autogrammen und Zeichnungen, die er für die Ewigkeit gesammelt hat, denn sie zieren die Wände seiner Arbeitsstätte.
Fotos: © Diogenes Verlag / Bastian Schweitzer
Heinz Schmied im Handlager des Diogenes Verlags, wo er dreißig Jahre gearbeitet hat. Oben Zeichnung des Musikers Stephan Eicher, für den Philippe Djian und Martin Suter Songtexte schreiben, und von Tomi Ungerer.
Oben: Grüße der zwei Diogenes Verleger Rudolf C. Bettschart und Daniel Keel, darunter Autogramme von Bernard MacLaverty und Loriot.
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Signaturen von Anthony McCarten, Friedrich Dönhoff und Benedict Wells im Diogenes Handlager, darunter Ingrid Noll, Manfred Deix (abgeschnitten), Martin Suter, Urs Widmer und (ganz unten) Niklaus Meienberg.
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in Lager mit über 1800 Titeln und ein Verlag mit 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kann viel Arbeit und Stress mit sich bringen. Davon merkt man bei Heinz Schmied wenig: Heinz, wie alle im Verlag ihn nennen, ist immer hilfsbereit, immer freundlich. Es ist der Mann, der dafür sorgt, dass in den Etagenküchen des Verlags der Kaffee oder das Mineralwasser nicht ausgeht, kaputte Glühbirnen sofort ausgewechselt werden, alle Bücher an Lager sind, die Post pünktlich verschickt wird und vieles mehr. Und wie vielen Autoren Heinz geholfen hat! Alfred Andersch war er beim Umzug behilflich. Für die Bildhauerin Hildi Hess, die Ziehmutter des Verlags, in deren Haus Daniel Keel vor über fünfundfünfzig Jahren Untermieter war und den Diogenes Verlag gründete, hat er eine Maschine gebaut, damit sie noch im hohen Alter trotz Rheumabeschwerden an ihren Skulpturen arbeiten konnte. Und er hat Tomi Ungerer ausfindig gemacht, als dieser vor vielen Jahren im Krankenhauskittel aus einer Klinik in Küsnacht ausgebüxt war, um einer Rückenoperation zu entgehen.
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Kein Wunder, dass viele Autoren bei ihren Besuchen im Verlag zuerst bei Heinz vorbeischauen. Viele haben ein ganz spezielles Souvenir dagelassen: Die Wände im Lager sind mit Zeichnungen, Grüßen und Unterschriften von Diogenes Autoren übersät. Den Anfang machte Tomi Ungerer. »Wenn du etwas auf die Wand zeichnest, bleibt das eine Ewigkeit bestehen. Dann weiß man noch, wenn wir mal alle tot sind, wer das war, Tomi«, forderte ihn Heinz
Schmied einmal salopp auf, etwas zu zeichnen. »Mich kennt man auch noch in hundert Jahren«, prophezeite Tomi Ungerer und hinterließ dennoch ein Autogramm auf Stein. Und eine erotische Zeichnung, die bei einigen Mitarbeiterinnen für Unmut sorgte. »Tomi hat sich krankgelacht, als er die Zeichnung machte. Und, schlau wie er ist, hat er sie hinter die Türe gemalt, damit man sie verstecken kann.« Heute sind fast alle Wände vollge-
schrieben oder -gezeichnet. So ist im Keller eine in Stein ›geschriebene‹ Verlagschronik entstanden, die das angrenzende Archiv ergänzt und ihre ganz eigenen Geschichten erzählt. Federico Fellini verewigte sich mit seiner Frau Giulietta Masina, kurz vor seinem Tod. »Fellini war sehr schwach. Es war traurig, besonders wenn ich bedenke, dass ich ihn und Giulietta, als ich ganz neu im Verlag war, durch Zürich chauffierte und ihnen die Stadt zeigte.«
Fotos: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag
Von links nach rechts: Donna Leon, Jakob Arouni und F.K. Waechter. Unten eine Zeichnung von Manfred Deix mit dem Text: »Ich stehe auf Heinz, denn er ist wie die Schweiz: schön, wohlhabend und allseits beliebt!«.
Nur einer fehlt in der Galerie: Friedrich Dürrenmatt. Dabei hatte Heinz zu dem großen Autor ein sehr enges Verhältnis. »Als das Zürcher Kunsthaus die große Dürrenmatt-Ausstellung organisierte, fuhr ich mit dem Verlagslieferwagen nach Neuchâtel, um die Gemälde und Zeichnungen aus Dürrenmatts Atelier nach Zürich zu bringen. Fritz begrüßte mich mit seinen drei Schäferhunden, die wie der Satan bellten (ich habe höllische Angst vor Hunden). Die Angst vergaß ich, als wir drei Flaschen Weißwein gebechert hatten. Ich weiß nicht, wie ich es zurück nach Zürich geschafft habe, und dazu noch mit dieser kostbaren Fracht!« Heinz Schmied ist ein Mann mit großem Herzen und immer zupackenden Händen. Seit 30 Jahren ist Heinz Schmied im Verlag – er kann es selbst kaum glauben. Damals, 1977, steckte die Schweiz wie heute in einer Rezession. Über 140 Bewerber hatten sich auf die Stellenanzeige gemeldet: »Wir suchen Magaziner / Chauffeur für eine saubere (Bücher) und selbstständige Arbeit mit sehr gutem Monatslohn (Dauerstelle). Eintritt sofort.« Heinz fing am 1. April 1978 an. Jetzt ist er in Pension gegangen, und alle im Verlag vermissen ihn. kam
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Das erste Mal M
eine Kindheit verbrachte ich in China; als ich in späteren Jahren in Deutschland aufs Gymnasium ging, staunte man nicht schlecht, wie locker mir ein unternehmungslustiges »Wohlan denn!« entschlüpfte. Was Wunder, dass ich als kleines Mädchen das etwas modernere Heidi dem dickleibigen Sigismund Rüstig vorzog und mich nach einiger Zeit in der schweizerischen Bergwelt besser auszukennen meinte als in Nanking. Zwar liebte ich auch die dortigen Purpurberge, aber wie konnten sie mit den nie gesehenen roten Felsenspitzen am Falknis oder dem feurigen Schneefeld an der Schesaplana wetteifern? »Eine Geschichte für Kinder und auch für solche, welche Kinder lieb haben«, steht auf der Titelseite. Heidi, das arme Tröpfli, wird gleich zu Beginn der Erzählung zu seinem Großvater auf die Alm gebracht, dick verpackt in mehrere Textilschichten, damit es alle Habe beisammenhat. Als sanft-energische Vorgängerin einer Pippi Langstrumpf tut Heidi das Unerhörte: Auf halbem Weg zur Höhe schält es sich aus seinen Kokons, entledigt sich der schweren Schuhe und springt von da an nur noch im Unterrock vergnüglich fürbass. Schließlich erweist es sich sogar als Vorkämpferin für die Gleichberechtigung: Da der Opa ein begabter Hobbyschreiner ist, guckt es ihm so manches ab und möchte es ihm gleichtun. Da ich selbst keinen Großvater mehr hatte, wurde mir der Alm-Öhi zum Ersatz, der mit seinen dicken grauen Augenbrauen und dem furchtbaren Bart wie ein alter Heide
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aussieht. Rebellisch beharrt er darauf, die Enkeltochter nicht zur Schule zu schicken, ein Grund mehr für mich, ihn zu vergöttern. Heidi versteht es jedoch, den grauen Panther zu zähmen und am Ende zu bekehren. Auch seine Ziegen wuchsen mir ans Herz, weil das Schwänli und das Bärli durchaus ähnliche Eigenschaften wie das Heidi aufwiesen, wahrend mir der dämliche Geißenpeter, der mit elf Jahren noch nicht lesen kann, ein überhebliches Gelächter entlockte, die blinde Großmutter ein paar Tränen. Eigentlich ist dieses Buch eine Heimwehgeschichte, denn Heidi gerät wider Willen nach Frankfurt, einer wohl schon zur damaligen Zeit hektischen Großstadt. Die dort ansässigen Menschen kamen mir weitaus exzentrischer vor als das schweizerische Naturkind. Das geradezu scheußliche Fräulein Rottenmeier, der tumbe Diener Sebastian, die schnippische Jungfer Tinette und der langweilige Lehrer sind lächerliche Chargen und alles andere als Sympathieträger. Die Hausdame Rottenmeier sagt Adelheid zu Heidi, was ich als bodenlose Unverschämtheit empfand. Für mich war es herzzerreißend, wie sehr meine Heldin unter dem Verlust ihrer Heimat litt. Deswegen favorisierte ich das Happy End, um endlich Heidis wiedergefundene Lebensfreude teilen zu können. Auf der Alm, wo blaue Enziane, rote Himmelsschlüssel, goldene Ziströschen und duftende Prünellen in frischen Lüften und hellem Sonnenschein gedeihen und wo der Wind in hohen Tannen braust – dort fand ich mein heimliches Paradies im heimischen Ostasien. Ingrid Noll
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Illustrationen: © Jean-Jacques Sempé
Ingrid Noll und Martin Suter über erste Leseerfahrungen
Foto Ingrid Noll: © Isolde Ohlbaum; Foto Martin Suter: © Fabio Derungs; Illustration: © Jean-Jacques Sempé
M
ein allererstes Leseerlebnis hat, wie wohl bei vielen Zürchern meines Alters, mit dem Bären MO und seiner erstaunlichen Vorliebe für das Waschmittel OMO zu tun. Ich wusste damals noch nicht, dass Bären Waschmittel benutzen, notierte den Sachverhalt aber eifrig. O und M waren sympathische Buchstaben: Man konnte sie nicht spiegelverkehrt schreiben, etwas, was mir als hartnäckigem Linkshänder mit anderen Vertretern der Gattung immer wieder passierte. Aber als ein richtiges Erlebnis kann ich natürlich »MO OMO MO« nicht bezeichnen. Die wahren Leseerlebnisse, an die ich mich erinnere, haben mit Karl May zu tun. Ich las einen großen Teil seines Gesamtwerks nämlich heimlich. Nun ist es nicht so, dass Karl May in den fünfziger Jahren noch immer als Schundliteratur verpönt war und von der lernbegierigen Jugend ferngehalten wurde. Karl May wurde über dem Ladentisch in der Pestalozzi-Bibliothek in Oerlikon verliehen, die nicht im Rufe stand, die Jugend mit indizierten Werken verderben zu wollen. Ich erinnere mich an mehrere Meter der grünschwarzen Buchrücken von Winnetou 1 bis 3 über Old Shatterhand, Durchs wilde Kurdistan bis zu exotischeren Titeln wie Weihnacht und Ich. Alle wurden mir anstandslos und ohne Vorweisung von Personalausweisen und elterlichen Bewilligungen ausgehändigt. Aber mein Vater hatte mir erzählt, dass er in seiner Jugend Karl May heimlich lesen musste. Das stellte ich mir sehr abenteuerlich vor: Karl May lesen, und erst noch
heimlich! Und so richtete ich mir im Keller ein Leseversteck ein. In der obersten Etage der Apfelhurde. Die Apfelhurde war ein grob gezimmertes Regal, in welchem man die Kartoffeln und Winteräpfel lagerte. Im Sommer war sie leer und eignete sich hervorragend als heimlicher Leseort. Ich richtete sie mir mit einer Decke und einem Kissen und etwas Zwischenverpflegung komfortabel ein und las beim Licht einer Taschenlampe, obwohl der Keller sehr wohl eine Deckenlampe besaß. Manchmal lud ich einen Freund ein und richtete ihm eine zweite Hurde ein. Dann lasen wir zu zweit, jeder in seinem Band, stumm, ohne uns über das Gelesene auszutauschen, und knipsten die Taschenlampen aus, sobald wir Schritte auf der Kellertreppe hörten. Ich kann mich nicht erinnern, je wieder mit dieser Mischung von Abenteuer und Behaglichkeit ein Buch gelesen zu haben. Vielleicht sollte mir jemand das Lesen verbieten. Martin Suter
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Vorschaufenster Ausstellungen Friedrich Dürrenmatt. In der Ausstellung Witzerland im Schweizerischen Landesmuseum Zürich sind Vergrößerungen aus Die Heimat im Plakat zu sehen, 2.4.–13.9.2009, www.witzerland.ch. Auch das GünterGrass-Haus Lübeck zeigt Bilder von Dürrenmatt, 3.6.–30.8.2009 Paul Flora. Ausstellung in der Galerie Thomas Flora, Innsbruck, 23.6.–5.9.2009 Jean-Jacques Sempé, Tomi Ungerer, Saul Steinberg, Tatjana Hauptmann, Bosc, Chaval. Ausstellung in der Galerie Hauptmann und Kampa, Zürich, 17.9.–18.12.2009, www.galeriehaka.com Jean-Jacques Sempé. Ausstellung in der Bayerischen Staatsbibliothek München, 9.7.–9.8.2009, www.bsb-muenchen.de
James Cook und die Entdeckung der Südsee. Bundeskunsthalle Bonn, 28.8.2009– 28.2.2010, danach im Kunsthistorischen Museum Wien und im Historischen Museum Bern. Tomi Ungerer. Ausstellung zum Thema Brot und Essen. Museum der Brotkultur Ulm, 19.9.-15.11.2009
Sarah Michelle Gellar, Jonathan Tucker, David Thewlis. Kinostart (D) geplant: Herbst/Winter 2009. Anthony McCarten, Hand aufs Herz. Regie: Anthony McCarten, mit Melanie Lynskey und Craig Hall in den Hauptrollen. Kinostart (D) geplant: Ende 2009.
Kino
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Maurice Sendak, Wo die wilden Kerle wohnen. Regie: Spike Jonze, mit Hilfe von Live-Action in Kostümen und Computeranimation. Kinostart (D, CH): 10.12.2009. Martin Suter, Lila, Lila. Regie: Alain Gsponer, mit Daniel Brühl, Hannah Herzsprung und Henry Hübchen. Kinostart (D) geplant: September 2009. Paulo Coelho, Veronika beschließt zu sterben. Regie: Emily Young. Mit
Ingrid Noll, Ladylike. Regie: Vanessa Jopp, mit Monika Bleibtreu, Gisela Schneeberger und Günther Maria Halmer. Geplante Ausstrahlung: Ende 2009 im ZDF. Doris Dörrie hat eine Fernsehserie über reifere Frauen mit dem Titel Klimawechsel in München und Umgebung abgedreht. Geplante Ausstrahlung: Herbst 2009 im ZDF.
»Er hat alles Geld in Scheiße verwandelt!« »Ich kann mir nicht helfen, seine Wunder hatten früher mehr Format.« 86
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Illustration: © F. K. Waechter
Cartoon von F.K. Waechter
Schreibtisch
Gewinnspiel
Foto Schreibtisch und Bild: © Diogenes Verlag / Diogenes Verlag; Foto Simenon: © Jill Kremetzs
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rstes Indiz: Auf dem Schreibtisch liegt ein großformatiges Buch mit dem Titel Medicina Legale – Gerichtsmedizin. Die Vermutung, dass hier Kriminalromane geschrieben werden und dass dieser Tisch in Italien steht, liegt nahe. Aber es ist nicht etwa Donna Leons Schreibtisch in Venedig, sondern jener einer englischen Kollegin, die auch sehr erfolgreiche Romane um einen Ermittler geschrieben hat, der kein Commissario ist, sondern Maresciallo der Carabinieri und in der Stadt ermittelt, die historisch die größte italienische Konkurrentin der Serenissima war. Georges Simenon begrüßte den ersten Roman der Autorin mit einem »Bravissimo!«. Es war eine gegenseitige Bewunderung, was die prominent platzierte Postkarte auf dem Tisch erklärt, die Simenon zeigt. Der schöne dunkle Holztisch ist leider nicht nur auf dem Foto verwaist. Die Autorin starb im August 2007, kurz nachdem sie den 14. Fall des Maresciallo vollendet hatte.
Wer schreibt hier?
Schicken Sie die Antwort bis zum 30.9.2009 per Post oder per E-Mail (wo@diogenes.ch) an: Diogenes Verlag, Gewinnspiel, Sprecherstraße 8, CH-8032 Zürich Als Hauptpreis winkt ein limitiertes Sondermodell von Parker, der Füllfederhalter Duofold Lucky 8 im Wert von € 688.–, außerdem werden fünf € 100-Büchergutscheine verlost.
Parker
Duofold Lucky 8 Limited Edition
1. Preis Diogenes Magazin
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Mag ich – Mag ich nicht
Martin Walker
Vorschau Das nächste Diogenes Magazin erscheint Ende September. Unter anderem mit einem Gespräch mit Anthony McCarten, einem Besuch im Atelier von Tatjana Hauptmann, Erzählungen von F. Scott Fitzgerald und Joey Goebel, zum ersten Mal auf Deutsch. Und vieles mehr. Um sich die Wartezeit zu verkürzen, besuchen Sie unsere Website mit aktuellen News und Magazinen:
www.diogenes.ch
D Nr.2
Herbst 2009 Euro 2.– sFr 3.50
Diogenes
Magazin
Anthony McCarten Zwischen Europa und Neuseeland, zwischen Schreiben und Filmen Leon de Winter über seinen neuen Roman Der kleine Nick – jetzt auch im Kino
Weiße Sandstrände. Der Nacken einer Frau. Der Duft eines Säuglingskopfes. Skifahren bei Sonne. Ein komplettes englisches Frühstück mit Würstchen, Speck, Eiern, Black Pudding, Tomaten und frisch gepresstem Orangensaft. Einen gern gelesenen Roman nach vielen Jahren noch einmal zu lesen. Der erste Tag in einer neuen Stadt. Theater auf einer Freilichtbühne. In Flüssen schwimmen. Mit Freunden bis in den Abend hinein zu Mittag essen. Im hohen Gras schlafen. Eine Frau lachen hören.
Mag ich nicht: Wasser, das nach Chlor schmeckt. Stumpfe Rasierklingen. Leute, die nicht zugeben, dass sie etwas nicht wissen. Leute, die glauben, alles zu wissen. Angst machende Zeitungsberichte über krebserregende Lebensmittel. In Supermärkten angebotenes Obst und Gemüse, das toll aussieht, aber nicht schmeckt. Frauen, die zu viel Make-up auftragen. Militärverpflegung, Militärmusik, Militärtribunale. Kneipengerüche am Morgen. Coverversionen von Songs, die ich gut kenne. Das Gefühl von Hilflosigkeit, wenn mein Computer spinnt.
Im nächsten Diogenes Magazin: Lukas Hartmann 88
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Foto: © Diogenes Verlag / Bastian Schweitzer
Mag ich:
Au revoir
Schnelle Geschichten für müde Leser U
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nd vor Freude darüber, dass die Gäste endlich gingen, sagte die Frau des Hauses: »Bleiben Sie doch noch ein wenig.«
iner geht ins Wirtshaus, um etwas zu essen, vertieft sich in die Zeitung, ruft nach zwei Stunden den Kellner, fragt, was er schuldig ist, und rechnet alles, was er essen wollte, auf, als ob er’s gegessen hätte.
Anton ◊echov
Friedrich Hebbel
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ls Buddha sieben Jahre alt war: »Räum dein Zimmer auf«, sagte Buddhas Mutter. »Räum dein Leben auf«, antwortete Buddha.
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in Ehepaar hatte schlechtes Wetter im Urlaub? Nein, dem Wetter wurde schlecht. Günter Bruno Fuchs
Jakob Arjouni
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er Tod, eine bildschöne Frau, hochmütige Frau, arbeitet als Garderobendame in einem Nachtklub. Alle Stammgäste versuchen, sie zu verführen, und allen gelingt es. Roland Topor
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er Vorhang öffnet sich. Ich trete an die Rampe. Ich erschieße mein Publikum. Ich verbeuge mich. Der Applaus kommt vom Band.
in Büblein klagte seiner Mutter: »Der Vater hat mir eine Ohrfeige gegeben.« Der Vater aber kam dazu und sagte: »Lügst du wieder? Willst du noch eine?«
F.K. Waechter
Johann Peter Hebel
Illustration: © Tomi Ungerer
Ambrose Bierce
Stendhal
Buchtipp
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in Politiker ging eines sonnigen Tages spazieren. Da bemerkte er, wie ihn sein Schatten verließ und sich schnell davonstahl. »Komm zurück, Schurke!«, rief der Politiker. »Wenn ich ein Schurke wäre«, antwortete ihm der Schatten und beschleunigte seinen Schritt, »hätte ich dich nicht verlassen.«
an kennt in Frankreich die Anekdote von Fräulein von Sommery, die, von ihrem Liebhaber in flagranti ertappt, ihm kühn die Tatsache ableugnete und, als er sich das nicht gefallen ließ, sagte: »Ach, ich sehe wohl, du liebst mich nicht mehr; du glaubst lieber das, was du siehst, als das, was ich sage.«
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lle Hühner des Hofs traten geschlossen in den Generalstreik, um gegen das Futter zu protestieren, das nach Teer stank. Sie versuchten, keine Eier mehr zu legen, aber trotz aller Anstrengungen legten sie doch welche. So scheiterte der Generalstreik, und sie mussten weiter das Futter fressen, das nach Teer stank.
Luigi Malerba
Ruckzuck Die schnellsten Geschichten der Welt
Kurz und bündig Die schnellsten Geschichten der Welt
von Ernest Hemingway, Friedrich Dürrenmatt, Loriot, Patricia Highsmith, Donna Leon, Ingrid Noll, Philippe Djian, Anna Gavalda, Doris Dörrie, Jakob Arjouni und anderen
von Anton ¢echov, Franz Kafka, Robert Walser, F. Scott Fitzgerald, W. Somerset Maugham, Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky, Loriot, Doris Dörrie, John Irving und anderen
Diogenes
Diogenes
Diogenes Taschenbuch detebe 23746, 208 Seiten € (D) 8.90 / sFr 15.90 / €(A) 9.20
Diogenes Taschenbuch detebe 23680, 224 Seiten € (D) 7.90 / sFr 13.90 / €(A) 8.20
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as Mädchen küsste den Frosch und wurde zur Kröte.
Ennio Flaiano