Diogenes Magazin Nr. 2

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Rufus Beck Paulo Coelho Jessica Durlacher Joey Goebel Tatjana Hauptmann Anthony McCarten Ian McEwan Christian Schünemann Jean-Jacques Sempé Maurice Sendak Patrick Süskind Barbara Vine Laura de Weck Benedict Wells Leon de Winter

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Herbst 2009

Diogenes

Magazin

Hand aufs Herz Anthony McCarten gibt Auskunft

Große Zeichner Patrick Süskind über Sempé Zu Besuch bei Tatjana Hauptmann Ein Interview mit Maurice Sendak Inspiration: Wie kommen Autoren zu ihren Ideen?

Diogenes Magazin

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Amuse-Bouche

Ian McEwan

Hallo, hätten Sie gerne ein Buch geschenkt?

Illustration: © Edward Gorey / Foto: © Basso Cannarsa / Opale / Titelseite, Foto: © Bohdan Cap

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itte der Sechziger, als ich in der Oberprima war und für meine Englisch-Abschlussprüfung paukte, gehörte Ian Watts The Rise of the Novel zu den Büchern, die jeder gelesen haben musste. Aus diesem klugen und klaren Buch erfahren wir, dass in den Anfangstagen des Romans dessen Leserschaft fast ausschließlich weiblich war. Eine neu aufkommende Schicht von Frauen, die genug Muße dafür hatten, machte nicht nur die Entwicklung dieser neuen Literaturform erst möglich, sondern prägte auch entscheidend deren Inhalt. Die prachtvolle erste Blüte des Romans im 18. Jahrhundert war Richardsons Clarissa. Wohl nie zuvor war das Entstehen von Gefühlen in einer solchen Detailliertheit dargestellt worden. Nach David Lodge, und der muss es wissen, ist es die erste ausführliche Schilderung eines individuellen Bewusstseins überhaupt. An Ian Watt musste ich vor kurzem wieder denken, als ich mit meinem Sohn Greg durch den Park nicht weit von meinem Haus zog, um ein paar Bücher zu verschenken. Vintage Books hatten mir einen kompletten Satz ihrer neuen Serie ›Future Classics‹ geschickt. Jedes einzelne davon hatte ich bereits in einer anderen Ausgabe im Regal, und Regalplatz wird allmäh-

Wenn Frauen nicht mehr lesen, dann ist der Roman tot. lich knapp. Wir steckten noch ein paar alte amerikanische Paperbacks meiner eigenen Romane hinzu und alles, was sonst noch übrig war. Wir machten die Runde bei den Leuten, die zur Mittagspause auf dem Rasen picknickten. In noch nicht einmal fünf Minuten hatten wir dreißig Romane verschenkt. All die jungen Frauen, die wir ansprachen (in der Londoner Innenstadt ist anscheinend jeder jung), nahmen gern und dankbar ein Buch. Manche wühlten in der Kiste und murmelten: »Kenne ich, kenne ich, kenne ich …«, bis sie eines fanden. Andere fragten, ob sie zwei haben könnten, sogar drei.

Bei den Männern war das anders. Sie runzelten misstrauisch oder auch angewidert die Stirn. Nicht einmal mit der Versicherung, dass es nichts koste, ließen sie sich überreden. »Nein, lieber nicht. Das ist nichts für mich. Danke, Kumpel, aber nein.« Nur eine einzige sensible Männerseele konnten wir verführen. Seit dem 18. Jahrhundert hat sich nichts geändert. Kognitive Psychologen, die von angeborenen Verhaltensweisen ausgehen, versichern uns, dass Frauen über ein feineres Sensorium der emotionellen Wahrnehmung verfügen als Männer. Der Roman – nach dieser Definition die weiblichste aller Literaturformen – liefert genau das, was sie mit ihrer biologischen Ausstattung wollen. Aus anderen Zimmern im geschäftigen Haus der Sozialwissenschaften hören wir diejenigen, die uns mit der gleichen Überzeugung versichern, dass alles eine Frage gesellschaftlicher Prägung sei. Aber vielleicht sind ja die Ursachen weniger interessant als das Faktum selbst. Lesezirkel, Autorenlesungen, Untersuchungen des Buchhandels sagen alle dasselbe: Wenn Frauen nicht mehr lesen, dann ist der Roman tot.

Aus dem Englischen von Manfred Allié. Von Ian McEwan ist zuletzt bei Diogenes das Opernlibretto »For you« erschienen.

»Aber es scheint fast, als sei es ein allgemeines Bedürfnis, die Fähigkeit des Romanschreibers herabzusetzen und seine Arbeit zu unterschätzen und die Werke verächtlich zu behandeln, die sich nur durch Genie, Witz und Geschmack empfehlen. ›Ich bin kein Romanleser; ich schaue bloß selten mal in einen Roman; glauben Sie doch nicht, dass ich oft Romane lese; für einen Roman ist das wirklich recht gut.‹ So spricht die allgemeine Heuchelei. ›Und was lesen Sie da, Miss …?‹ – ›Ach! Bloß einen Roman!‹, antwortet die junge Dame und legt dabei ihr Buch mit affektierter Gleichgültigkeit oder flüchtiger Scham beiseite. Es ist bloß (…) irgendein Werk, in dem sich die größten Geisteskräfte offenbaren, in dem die gründlichste Schilderung ihrer Spielarten, die heitersten Ergüsse von Witz und Humor der Welt in erlesener Sprache übergeben werden.« Jane Austen, Die Abtei von Northanger

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Ersatz für das leidige

Editorial Anstelle eines langweiligen Editorials hier das Rüstzeug fundierter Kurzkritik für einige Kultursparten: Literatur »Die Deckel dieses Buches sind viel zu weit auseinander.« Ambrose Bierce Film »Sie zog wieder alle Register ihrer Darstellungskunst, von A bis B.« Dorothy Parker über Katharine Hepburn Fernsehen »Am zuverlässigsten unterscheiden sich die TV-Programme noch immer durch den Wetterbericht.« Woody Allen

Patrick Süskind über Sempé 26 Sempé hat Süskinds Die Geschichte von Herrn Sommer illustriert, aber nicht nur deshalb ist Patrick Süskind ein langjähriger Bewunderer des französischen Zeichners.

Zum Lesen

Zugabe Absagebrief für unverlangt eingeschickte Manuskripte: »Wir reichen Ihnen beiliegend das Manuskript zurück und empfehlen Ihnen, eine Büroschublade damit auszulegen.« Raymond Chandler

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Vier Liebeserklärungen 24 Ein Dramolett von Laura de Weck Letztes Schuljahr Eine Erzählung von Joey Goebel

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Amuse-Bouche Schaufenster Reaktionen auf das erste Diogenes Magazin Impressum Vorschaufenster

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Illustration unten: © Edward Gorey, Illustration oben: © Sempé

Theater »Die Vorstellung begann um acht Uhr. Als ich nach zwei Stunden auf die Uhr sah, war es halb neun.« Alfred Kerr


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Illustration oben: © Edward Gorey, Foto links: © Time & Life Pictures / Getty Images, Illustration Mitte: © Paul Flora, Foto rechts: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

Inhalt

Maurice Sendak 42 Ein ungewöhnlich offenes Gespräch mit dem Vater der weltbekannten und heißgeliebten Wilden Kerle.

Inspiration 32 Patricia Highsmith, John Irving, Paulo Coelho und andere Autoren verraten, wie sie ihre Ideen finden.

Portfolio Das große Balladenbuch

Titel-Geschichte

Ausserdem

Anthony McCarten 14 Der Shooting-Star der angelsächsischen Literatur in einem langen Gespräch über das Schreiben, Filmen, Neuseeland, Großstädte, Glück …

Joey Goebel 57 Typisch(e) Amerikaner Eine kleines ABC bekannter USCharaktere: vom College-Girl über den Gangsta bis zum Redneck.

Rubriken Denken mit Fernando Pessoa

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Top 10 Singles von Benedict Wells

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Tatjana Hauptmann 4 Ein Besuch im Atelier der berühmten Kinderbuch-Illustratorin.

Owl’s Eye Wie sortiert man seine Bücher?

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Wer schreibt hier? Gewinnspiel

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Interviews 14

Anthony McCarten

Rufus Beck 21 Anthony McCarten gehört neben Ian McEwan und John Irving zu den angelsächsischen Lieblingsautoren des bekannten Vorlesers und passionierten Lesers. Rufus Beck erklärt, warum. 42

Maurice Sendak Das erste Mal Ruth Rendell alias Barbara Vine

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Literarisches Kochen Mit Maigret

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Mag ich – Mag ich nicht Lukas Hartmann

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80 Jessica Durlacher und Leon de Winter 74 Sie leben zusammen und schreiben jeder für sich. Wie funktioniert das? Diogenes Magazin

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Das große Balladenbuch Die schönsten deutschen Balladen, ausgewählt von Christian Strich Mit vielen Bildern von Tatjana Hauptmann

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Atelierbesuch

Ein Besuch bei Tatjana Hauptmann

Ich will einfach nur Bücher machen

Foto links: © Guido Häfliger, Zürich / Fotos rechts: Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

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eine Lieblingsballade?« Tatjana Hauptmann überlegt. »Vielleicht Erich Kästner, Der Maskenball im Hochgebirge …« Eben hat sie die Illustrationen für Das große Balladenbuch beendet, zarte Bleistiftzeichnungen und große Farbtafeln zu den schönsten deutschen Balladen, von Goethe und Schiller über Heine und Fontane bis zu Morgenstern oder eben Kästner. »Nein, ich hab’s, Der Bau der Marienkirche zu Lübeck!« Theodor Storms Ballade erzählt, wie der Teufel die Marienkirche bauen hilft, weil er glaubt, es handle sich um ein Weinhaus. Als er seinen Irrtum bemerkt, will er blindwütig den halbfertigen Bau zerstören. »Da sagen die Handwerker: Ach komm schon, Teufel, wir können doch miteinander reden. Sie versprechen ihm, nebenan ein Weinhaus zu errichten. Darum steht bis heute neben jeder Kirche eine Kneipe – das ist doch der Hammer, diese Geschichte!« Tatjana Hauptmann lacht, schüttelt die Locken. Auf ihrem Zeichentisch mit Blick über den Zürichsee liegen die Origi-

nalzeichnungen, da tummeln sich Königskinder, Zauberlehrlinge, Moorknaben und Feuerreiter. Dass Tatjana Hauptmanns Lieblingsballade humorvoll-diesseitig ist, verwundert nicht: In den augenzwinkernden Details und verschmitzten Arrangements ihrer Bilder scheint der Zeichenstrich selbst zu lächeln. Zu den traurigschaurigen Balladen der deutschen Romantik aber hat sie hinreißend melancholische Bilder geschaffen. Viele der Gedichte kannte sie aus der Schule, »die mussten wir auswendig pauken, Die Bürgschaft und solche

Sachen«. Die Arbeit am Buch hat ihr erlaubt, die Balladen mit neuen Augen zu sehen – und per Zeichenstift in die Landschaft ihrer Kindheit zurückzukehren. »Die Lorelei zum Beispiel war bei uns um die Ecke, das kannte ich ja alles.« Wie man ihrer lebhaften Erzählweise anhört, ist Tatjana Hauptmann in der hessischen RheinEbene aufgewachsen. Die Mutter tanzte bis zu Tatjanas Geburt im Wiesbadener Ballett, der Vater, ein russischer Emigrant, war Baron und Kommunist, sowohl in seiner adligen Verwandtschaft als auch unter seinen Genossen ein Außenseiter. Mitschüler schmähten Tatjana und ihre Schwester Nina als »Polackenkinder« – in der Adenauer’schen Bundesrepublik der Nachkriegszeit fiel die Familie aus dem Rahmen. Außergewöhnlich war auch die frühe Begabung von Tatjana: Mit zwölf schuf sie, in einer Collagetechnik, ihr erstes Bilderbuch: Pony komm, wir kaufen was. Der Leiter des Offenbacher Klingspor-Museums, auf Buch- und Schriftkunst speDiogenes Magazin

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Neben dem Zeichentisch stehen Hunderte von Tatjana Hauptmanns »heißgeliebten« Faber-Castell-Stiften bereit, frisch gespitzt und nach Härten sortiert.

sich erweichen und sagte, wir sollten an einem Tischchen auf ihn warten. Es dauerte über zwei Stunden, ich wäre aufgestanden und gegangen, hätten mich mein Mann und meine Freundin nicht zurückgehalten. Endlich setzte sich Daniel Keel zu uns und öffnete die Mappe. ›Pass auf, gleich fällt ihm der Zigarillo aus dem Mund!‹, flüsterte meine Freundin. Keel guckte auf einmal, als ob die Sonne aufgeht …« Ein Jahr später erschien Ein Tag im Leben der Dorothea Wutz bei Diogenes, und wie sehr freute sich Tatjana Hauptmann – »ich bin fast umgefallen vor Glück!« –, als ein Brief von Tomi Ungerer bei ihr eintraf. Sie kann ihn bis heute wörtlich zitieren: »Liebe Tatjana Hauptmann, bei Daniel Keel habe ich Ihre Schweine getroffen. Ich bin immer froh, junges frisches Talent zu sehen. Viel Erfolg für die Zukunft! Ihr Tomi Ungerer.« Noch ein Jahr später folgte Hurra, Eberhard Wutz ist wieder da!, danach war es für Tatjana Hauptmann mit den Schweinereien erst einmal vorbei. Nach verschiedenen Bilderbüchern zu eigenen und fremden Texten entstand 1987 Das große Märchenbuch: Tatjana Hauptmann illustrierte die hundert schönsten Märchen aus Europa, von den Gebrüdern Grimm über Perrault bis Andersen, ausgewählt von Daniel Keel, ein großer Kritiker- und Verkaufserfolg und mittlerweile ein moderner Klassiker für Kinder und ihre Eltern. Zur Reihe der Diogenes Hausbücher für die ganze Familie steuerte Tatjana Hauptmann mit dem Großen Sagenbuch, einem Ringelnatz-Buch und den Schönsten Geschichten aus Tausendundeiner Nacht (nacherzählt von Urs Widmer) drei weitere Prachtbände bei – und nun das Balladenbuch. Als Diogenes Verleger Daniel Keel mit der Idee zum Balladenbuch auf sie zukam, war Tatjana Hauptmann gleich Feuer und Flamme. Zu literarischen Texten hat sie ohnehin eine besondere Beziehung: »Literatur ist meine Leidenschaft.« Auf dem Fenstersims im Treppenaufgang stapeln sich Neuerscheinungen und Klassi-

Fotos: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

zialisiert, wurde auf die junge Künstlerin aufmerksam, er lud sie gleich zu einer Ausstellung ein, das Buch und Tatjana hatten sogar einen Auftritt im Fernsehen. »Danach gab ich keine Ruhe, bis ich mich in Offenbach bei der Werkkunstschule bewerben durfte. Ich war vierzehn und immer noch zwei Jahre zu jung für die Aufnahmeprüfung.« Tatjanas Talent entging den Prüfern nicht, sie erhielt die Sondererlaubnis, vorerst Abendkurse zu besuchen. Später folgte eine Graphikausbildung in Wiesbaden an der Kunstgewerbeschule, die sie mit neunzehn abbrach, als ihr Sohn David zur Welt kam. Um ein Zubrot für die junge Familie zu verdienen, zeichnete sie unter anderem Mainzelmännchen für das ZDF. Ihr eigener Stil, das waren damals realistische Zeichnungen, die sie in Galerien ausstellte, bis es ihr davor grauste. Eine Freundin von der Kunstgewerbeschule, die sich an die frühen Kinderbücher der vierzehnjährigen Tatjana erinnerte, riet ihr, ein Kinderbuch zu machen, und eines sonnigen Tages lag Tatjana Hauptmann auf einer Wiese, als plötzlich eine rundliche Schweinedame bei ihr vorstellig wurde: »Auf einmal sah ich sie vor mir, ganz deutlich, und ich wusste, sie heißt Dorothea Wutz.« Mit einer Mappe unter dem Arm ging Tatjana Hauptmann einige Monate später, von ihrem Mann und einer Freundin begleitet, zur Frankfurter Buchmesse: zum Stand des Diogenes Verlags. »Bei meiner Ausstellung im Klingspor-Museum wurden im Raum nebenan die Originale von Kein Kuss für Mutter von Tomi Ungerer gezeigt. Als ich die sah, wusste ich: Ich will auch zu Diogenes.« Im Messe-Trubel war es nicht leicht, Diogenes Verleger Daniel Keel zu fassen zu kriegen. »Es war an einem Freitag, ich erinnere mich genau, und er war nur für diesen Tag zur Buchmesse gekommen. Als wir ihn ansprachen, stand er in einer Menschenmenge und reagierte eher unwirsch. Erst wollte er sich die Zeichnungen nicht ansehen, dann ließ er


Fotos: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

ker, die sie lesen möchte, und über die gelesenen Titel führt sie Buch. Seit Jahren hält Tatjana Hauptmann in grünen Schulheften ihre Lektüren fest: Autor, Titel, wann sie das Buch angefangen hat, wann sie fertig war. Sie schwärmt von Julien Green, Erinnerungen an glückliche Tage, das sie soeben verschlungen hat. Und davor? Tatjana Hauptmann blättert zurück: viel Kafka zur Zeit, Ingo Schulzes jüngstes Buch, ein tschechischer Roman, die Herr-Lehmann-Trilogie von Sven Regener, »den finde ich klasse«. Neben Kommentaren und Kurzbewertungen mit einem bis fünf Sternchen notiert sie in ihrem ›LeseTagebuch‹ Zitate, die ihr gefallen, auch legt sie Rezensionen bei. »Das ist das Tolle beim Lesen, man sitzt irgendwo, kann sich in eine fremde Welt vertiefen, schon ist man dort. Man braucht gar nicht zu reisen!«, sagt die Künstlerin, ein bekennender Reisemuffel. In die Vergangenheit reist sie allerdings gern, für die Vorarbeiten zu ihren Bildern: »Von der Marienkirche in Lübeck habe ich mir Fotos besorgt, die steht ja heute noch. Aber dann musste ich herausfinden: Wie sah eine Baustelle damals aus, wie waren die Gerüste, die Werkzeuge?« Was für ein Gesicht hatte König Franz i., der in Schillers Ballade Der Handschuh vorkommt? Welche Gestalt ein Seitenraddampfer zu John Maynards Zeiten? Für ihre aufwendigen Recherchen greift Tatjana Hauptmann auch auf das eigene Archiv zurück, in dem sie allerlei Bildmaterial aus Zeitschriften und Büchern sammelt. »Man weiß nie, was man mal brauchen kann. Kleidung und Alltagsgegenstände müssen in meinen Zeichnungen schon stimmen – aber dann muss man sich von den Details lösen, denn letztlich zählt die Atmosphäre, der Gesamteindruck.« Für die eigentliche Zeichenarbeit braucht Tatjana Hauptmann zweierlei: Ruhe und Licht, »am liebsten Nordlicht«. Beides findet die Frühaufsteherin in den ersten Morgenstunden: »Da ist das Licht am allerschönsten, gleichzeitig hat man das Gefühl, die Welt

gehöre einem, man sei allein auf der Welt.« Mittags macht sie gern eine längere Pause, setzt sich zwischen die Rosen, Hortensien und Rhododendren ihres blühenden, wuchernden Gartens. Ihr Haus auf einer Anhöhe nahe bei Zürich verrät in jedem Raum die Liebe zu schönen Gegenständen und skurrilen Objekten, zu Ornamenten und leuchtenden Farben. Manchmal regt die mit Herzblut selbst erschaffene Umgebung die Phantasie der Künstlerin an: »Die Illustration zu Goethes Heidenröslein im Balladenbuch, zu der hat mich ein Kerzenhalter in Rosenform inspiriert, der seit Jahren bei mir herumsteht.« Normalerweise zeichnet Tatjana Hauptmann bis etwa sechs Uhr abends, ein langer Arbeitstag. »Das Zeichnen ist nun einmal meine Lieblingsbeschäftigung. Ich will einfach nur Bücher machen«, sagt Tatjana Hauptmann mit einem Lachen. Und sitzt sie an einem Buchprojekt, erzählt sie zum Abschied, dann arbeitet es in ihr weiter, selbst wenn sie ihre Einkäufe erledigt: »Ich gehe dann über die Straße und erkenne keinen Menschen. Ich lebe in einer anderen Welt – meine Nachbarn kennen das schon und sind nicht beleidigt, wenn ich einmal nicht zurückgrüße.« mdw

Lineale und andere Utensilien sind in Tatjana Hauptmanns Arbeitszimmer fein säuberlich an der Wand aufgehängt, Tusche und Farben finden sich im Wandschrank. Die Halbmaske auf dem mittleren Bild ist antik, Tatjana Hauptmann hat sie beim Trödler entdeckt.

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Portfolio

Illustration: Š Tatjana Hauptmann

Das groĂ&#x;e Balladenbuch

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Die Lorelei Heinrich Heine

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ch weiß nicht, was soll es bedeuten, Dass ich so traurig bin; Ein Märchen aus alten Zeiten, Das kommt mir nicht aus dem Sinn. Die Luft ist kühl, und es dunkelt, Und ruhig fließet der Rhein; Der Gipfel des Berges funkelt Im Abendsonnenschein. Die schönste Jungfrau sitzet Dort oben wunderbar, Ihr goldenes Geschmeide blitzet, Sie kämmt ihr goldenes Haar.

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Sie kämmt es mit goldenem Kamme Und singt ein Lied dabei, Das hat eine wundersame, Gewaltige Melodei.

Illustrationen: © Tatjana Hauptmann

Den Schiffer im kleinen Schiffe Ergreift es mit wildem Weh; Er schaut nicht die Felsenriffe, Er schaut nur hinauf in die Höh’. Ich glaube, die Wellen verschlingen Am Ende Schiffer und Kahn; Und das hat mit ihrem Singen Die Lorelei getan.

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err von Ribbe ck auf Ribbeck im Havelland, Ein Birnbaum in seinem Gar ten stand, Und kam die go ldene Herbste szeit Und die Birne n leuchten wei t und breit …


Der Reiter und der Bodensee Gustav Schwab

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a bricht der Abend, der frühe, herein: Von Lichtern blinket ein ferner Schein. Es hebt aus dem Nebel sich Baum an Baum, Und Hügel schließen den weiten Raum. Er spürt auf dem Boden Stein und Dorn, Dem Rosse gibt er den scharfen Sporn. Und Hunde bellen empor am Pferd, Und es winkt im Dorf ihm der warme Herd. »Willkommen am Fenster, Mägdelein, An den See, an den See, wie weit mag’s sein?«

Die Maid, sie staunet den Reiter an: »Der See liegt hinter dir und der Kahn.

önigskinder, s waren zwei K nder so lieb; die hatten eina kommen, sammen nicht sie konnten zu viel zu tief … das Wasser war

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Der Fremde schaudert, er atmet schwer: »Dort hinten die Ebne, die ritt ich her!« Da recket die Magd die Arm in die Höh’: »Herr Gott! so rittest du über den See!« (Auszug)

Illustrationen: © Tatjana Hauptmann

Und deckt’ ihn die Rinde von Eis nicht zu, Ich spräch’, aus dem Nachen stiegest du.«


Der Bau der Marienkirche zu Lübeck Theodor Storm

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m alten heiligen Lübeck Ward eine Kirche gebaut Zu Ehren der Jungfrau Maria, Der hohen Himmelsbraut. Doch als man den Bau begonnen, Da hatt’ es der Teufel gesehn; Der glaubte, an selbiger Stelle Ein Weinhaus würde erstehn. Draus hat er manch arme Seele Sich abzuholen gedacht Und drum das Werk gefördert Ohn’ Rasten Tag und Nacht.

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er reitet so spät durch Nacht un d Wind? Es ist der Vater mit seinem Kin Er hat den Kna d; ben wohl in de m Arm, Er fasst ihn sich er, er hält ihn warm …

Auszüge aus Das große Balladenbuch

Die Maurer und der Teufel, Die haben zusammen gebaut; Doch hat ihn bei der Arbeit Kein menschlich Aug geschaut.

Illustrationen: © Tatjana Hauptmann

Drum, wie sich die Kellen rührten, Es mochte keiner verstehn, Dass in so kurzen Tagen So großes Werk geschehn. Und als sich die Fenster wölben, Der Teufel grinset und lacht, Dass man in einer Schenke So Tausende Scheiben macht. (Auszug)

160 Seiten, 22 x 27 cm, Leinen, Vierfarbendruck, ISBN 978-3-257-01014-5

Die schönsten deutschen Balladen von Schiller, Heine und Goethe bis Brecht und Kästner, in einem Prachtband, ausgewählt von Christian Strich, märchenhaft illustriert von Tatjana Hauptmann.

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Als Fabio Volo den Diogenes Verlag zum ersten Mal besuchte, fühlte er sich gleich zu Hause. Beim Abendessen mit dem Verlag und den Diogenes Vertreterinnen und Vertretern im Zürcher Restaurant Wolfbach stellte sich näm-

lich heraus, dass Eigentümer Maurizio Davini wie der Autor aus Brescia stammen. Natürlich half Fabio Volo seinem neuen Freund sofort in der Küche bei der Zubereitung des Desserts.

FC Diogenes Seit März 2009 wird jeden Montagabend die Sporthalle der Kantonsschule Hottingen in Zürich zum Schauplatz ungeahnter Sportlichkeit, zum Laufsteg für allerlei Sportartikel-

hersteller und zur Arena des Frohsinns: Diogenes Verlagsleute stürzen sich in ihr anderthalbstündiges Fußballspiel. Hier wird gerannt, geschwitzt, geflucht, gerempelt und vor allem – geschossen! Hier werden Aggressionen abgebaut, Muskeln aufgebaut und sich, ab und zu, im Anschluss ein Bier gegönnt. So etwas spricht sich herum. Eines Tages war es so weit: 10 Minuten vor Abpfiff flog die Tür zur Turnhalle auf, unser Autor Benedict Wells kam im schwarzen Profi-Outfit herein (gerade zurück von einer Lesung am Literaturfestival Leukerbad) und ließ das bisher ausgeglichene Spiel neue Züge annehmen und den gegnerischen Torwart alt aussehen. Sind wir froh, dass Benedict Wells uns nicht jede Woche fertigmacht. Das Trikot des FC Diogenes schmückt übrigens eine Zeichnung von Friedrich Dürrenmatt.

Rauchen Exakt seit dem 17. November 2005 ist der Diogenes Verlag rauchfrei, nur Gäste und Autoren dürfen sich weiterhin eine Zigarette anzünden. Nicht selbstverständlich bei zwei Verlegern, die jahrzehntelang viel geraucht haben (Daniel Keel Gauloises filterlos, Rudolf C. Bettschart keine Zigaretten, sondern Zigarillos, denn, so Bettschart: »Papier ist zum Bedrucken da, nicht zum Rauchen«). Keel raucht nur noch sehr selten, Bettschart auch weniger als früher. Seitdem Gesundheitswarnungen die Zigarillopackungen verschandeln, lässt sich Bettschart von Hans Höfliger (der sonst im Verlag die Covergestaltung verantwortet) Schildchen zum Überkleben machen. Bettschart: »Wenn ich die Packung zeige, lacht jeder. Es ist wohl die erfolgreichste Diogenes Werbung.«

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Orwell vs. Dan Brown In diesem Zusammenhang ist George Orwells Essay Bücher kontra Rauchen aus dem Jahre 1946 zu erwähnen, der gerade bei Penguin neu aufgelegt wurde. Orwell argumentiert darin gegen die These, dass Bücher zu teuer seien, und stellt fest: »Bei den heutigen Preisen gebe ich weit mehr für Tabak aus als für Bücher.« Aber resigniert schließt Orwell seinen Essay mit den Sätzen: »Wenn unser Bücherverbrauch so niedrig bleibt wie bisher, so lasst uns doch zumindest zugeben, dass dies daran liegt, dass Lesen ein weniger interessanter Zeitvertreib ist, als zum Windhundrennen, ins Kino oder in die Kneipe zu gehen, und nicht daran, dass Bücher, ob gekauft oder geliehen, zu teuer sind.« Am 14. Oktober erscheint der neue Roman von Dan Brown. Seit dem Erfolg von Sakrileg wird die Kirche Saint-Sulpice in Paris, die den Schlüssel zum Heiligen Gral bergen soll, von (vor allem amerikanischen) Touristen gestürmt, die die Rosenlinie aus dem Buch suchen (und dabei das berühmte Fresko von Delacroix ignorieren). Ganz in der Nähe von Saint-Sulpice befindet sich die englischsprachige Buchhandlung Village Voice Bookshop. Buchhändler Michael Neil hat uns stolz erzählt, dass er 2005 (als bei Penguin eine Neuausgabe von George Orwells Essay Why I write erschien) in einem Jahr 452 Exemplare von Dan Brown Sa-

Foto T-Shirt: © Archiv Diogenes Verlag, Illustration Kater: © Edward Gorey, Foto oben links: © Margaux de Weck / Diogenes Verlag

Small World


krileg im Taschenbuch verkauft hatte, sein Topseller aber mit 473 Exemplaren George Orwells Essay war. Für das diesjährige Duell Orwell versus Dan Brown drükken wir die Daumen. (www.villagevoicebookshop.com)

Geburtsanzeige

Sempé in München

Ronald Searle

Das Magazin für den überforderten Intellektuellen · Nr. 33

Über zehn Jahre ist es wohl her, dass Sempé zum letzen Mal in Deutschland signiert hat. Hier ein Foto von der Vernissage von Tag für Tag, die in der Bayerischen Staatsbibliothek stattfand, auf dem Jean-Jacques Sempé mit seiner Frau Sophie und der Diogenes Lektorin Anna von Planta (links) zu sehen ist.

Illustrationen: © Chaval, Foto oben: © Ruth Geiger / Diogenes Verlag, Foto Mitte: © Julia Weinberger

Bücherliebe

Der Erstling ist für jeden Autor speziell. Doch auch Nummer Zwei weckt Vaterfreuden. Diese Geburtsanzeige von Benedict Wells erreichte den Verlag per E-Mail, kurz nachdem der Roman Spinner erschienen war: »Mein zweites Baby … kam heute bei mir an, es wiegt mehrere hundert Gramm und ist wohlauf. Nach einer sechsjährigen schriftstellerischen Schwangerschaft war heute endlich der glückliche Tag gekommen, wo ich die Kleine im Arm halten kann. Es ist schon wieder ein Mädchen geworden, nach meiner blonden einjährigen Tochter nun eine schwarzhaarige. Das angehängte Bild zeigt Vater und Kind wohlauf. Ich danke euch allen, die ihr mir bei der Geburt geholfen habt!«

»In der Politik sind die Nullen gefährlich, die vorne stehen. In der Wirtschaft die Nullen, die hinten stehen.«

Nach der Lektüre der Glosse von Ian McEwan auf Seite 1 in diesem Heft wissen wir: Männer lesen keine Romane. Und nun müssen wir im Magazin Joy erfahren, dass es doch einen männlichen Roman-Leser gibt. Leider ist dieser atttraktive Mann (Florian, 24) jetzt vergeben. Und so hat es Carolin (23, Sportstudentin) geschafft: Sie besorgte sich einfach das gleiche Buch, das Florian in der Münchner U-Bahn las (siehe unten), und sprach ihn an.

Geld kostet zu viel Über Banker, Manager, Geld, die Börse

Friedrich Dürrenmatt, Doris Dörrie, Urs Widmer, Martin Suter, Anthony McCarten u.a. F. Scott Fitzgerald Wie man Unsummen verprassen kann & Wie man mit nichts über die Runden kommt

André Comte-Sponville Kann Kapitalismus moralisch sein?

Mit Zeichnungen von

Tomi Ungerer, Sempé, Bosc, Chaval, Paul Flora, F.K. Waechter u.a.

400 Seiten für nur 8 Euro, macht gerade einmal 2 Cent pro Seite, eine sichere Anlage! Dieses Papier verliert garantiert nicht an Wert!

»Wer Bücher schenkt, schenkt Wertpapiere.« Erich Kästner


Anthony McCarten Hand aufs Herz Roman 路 Diogenes

Anthony McCarten Englischer Harem Roman 路 Diogenes

Anthony McCarten Superhero Roman 路 Diogenes


Titelgeschichte

Anthony McCarten im Gespräch

Hand aufs Herz

Foto links: © Bohdan Cap, Foto oben: © Concorde Home Entertainment, München

Als Neuseeländer, der bei London lebt, pendelt Anthony McCarten zwischen der Alten und Neuen Welt, als Romancier und Filmemacher zwischen zwei Genres, in denen er vor allem eines möchte: packende Geschichten erzählen. Aber Multitalent Anthony McCarten glänzt auch darin, amüsante und tiefsinnige Antworten in Interviews zu geben, wie er hier beweist. Diogenes Magazin: Was hat Sie auf die Idee zu dem Roman Hand aufs Herz gebracht? Anthony McCarten: In den achtziger Jahren gab es genau so einen Wettbewerb, wie ich ihn beschreibe. Als Schriftsteller ist man ständig auf der Suche nach dramatischen Situationen, die ein universelles Thema auf den Punkt bringen, nach einem Mikrokosmos, in dem sich die Geheimnisse des Makrokosmos widerspiegeln. Nehmen Sie zum Beispiel Ingmar Bergmans Film Das siebente Siegel, wo der Ritter mit dem Tod eine Partie Schach spielt, oder Hemingways Der alte Mann und das Meer, wo der alte Fischer so erbittert mit dem riesigen Fisch kämpft und am Ende doch nichts als ein Skelett an Land zieht – Ereignisse, die das Geheimnis und die Sinnlosigkeit, aber auch die Großartigkeit und Schönheit des alltäglichen Überlebenskampfs und der Suche nach Sinn verkörpern. Nun, in einem bescheidenen Sinne schien mir dieser verrückte Wettbewerb um ein Auto

eine geeignete Metapher für das moderne städtische Leben mit seinem allgegenwärtigen Konkurrenzkampf, in dem der eigene Nachbar zum Konkurrenten wird, ein Ergebnis von Überbevölkerung und ständig knapper werdenden Ressourcen. Ich fragte

Wir werden erzogen, immer mehr zu wollen. Ich nenne das die »Hätte-ich-doch-nur«Schule des Glücks. mich, was wohl geschieht, wenn es nur einen Preis gibt und vierzig Menschen bereit sind, dafür zu kämpfen, ja sogar ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um dieser eine zu sein, der letzte Überlebende, der strahlende Gewinner. Was ist, wenn das Leben nur einen von vierzig gewinnen lässt? Was wird aus den anderen neununddreißig? Was passiert mit dem Sieger?

Was bedeutet es, wenn man gewinnt? Was bekommt man durch den Sieg, und was wird einem genommen? Verliert man nicht sofort die Verbindung zu den anderen neununddreißig? Alles Fragen, die sich ganz natürlich aus dieser einen kleinen Situation ergaben. Und Hände haben auch etwas Symbolisches. Hände, die sich flach an ein Auto drücken. Hände die berühren, und doch nicht zugreifen, nicht in Besitz nehmen können, all das. Haben Sie je selbst an einem solchen Wettbewerb teilgenommen? Nein. Aber, wie schon gesagt, wir sind Tag für Tag Konkurrenten in Situationen, die nach dem gleichen Muster wie dieser Wettbewerb ablaufen. Wenn ich mich bemühe, einen Verleger für einen Roman oder Geldgeber für einen Film zu finden, wenn ich versuche, ein Stück auf die Bühne zu bringen oder in zu kurzer Zeit einen Film zu drehen, dann stehen meine Erfolgschancen weit schlechter als vierzig zu eins. Diogenes Magazin

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besiedelten Ballungszentrum, wo der Kampf ums Überleben besonders gut sichtbar ist, weil er sich unmittelbar

Ein Auto ist ein gutes Sinnbild für das Flüchtige, dem wir alle nachjagen, etwas Blitzendes, Wertvolles, ein Vehikel für unsere Träume. vor unseren Augen abspielt: die drängelnden Massen, die Notwendigkeit, die Stimme zu erheben, um sich Gehör zu verschaffen, die Unsichtbarkeit des modernen Individuums, das darum kämpft, seine speziellen Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen. Dieser Kampf ist allgegenwärtig, ganz gleich, ob es eine Rezession gibt oder nicht, aber momentan ist er deutlicher sichtbar. Tom ist ein gescheiterter Geschäftsmann, der denkt: »Gott, in meinem Alter sollte ich Geschäftsführer sein, die Auffahrt zu meinem Haus sollte ein hundert Meter langer Kiesweg

sein.« Sind die Karriereerwartungen von Menschen in westlichen Gesellschaften zu hoch, bekommen sie deshalb Depressionen? Wenn man viel von sich erwartet, setzt man sich automatisch unter Druck, und das kann sich negativ auswirken, wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden. Wir im Westen werden erzogen, immer mehr zu wollen – ich nenne das die »Hätte-ichdoch-nur«-Schule des Glücks. Hätte ich doch nur ein Auto, einen liebevolleren Partner, bessere Freunde, mehr Geld, einen interessanteren Job, ein Publikum, das mir applaudiert, dann könnte ich endlich glücklich sein. Aber kaum haben wir eins oder zwei dieser Ziele erreicht, fühlen wir uns schon wieder unglücklich und konstruieren uns ein neues »Hätteich-doch-nur« oder »Wäre-ich-dochnur«. In dem Roman erwähne ich die Ergebnisse einer Umfrage, wonach Menschen, die nach Beliebtheit und materiellem Wohlstand streben, sich selbst eine geringere Lebensqualität bescheinigen als Menschen, für die es wichtiger ist, sich selbst zu akzeptieren und sich persönlich weiterzuentwickeln. Mit anderen Worten: Man darf nur nicht glauben, dass neuer Besitz einen alten Schmerz heilen kann. Aber es ist schwer, sich damit abzufinden, wie wir sind, und nicht das Gefühl zu haben, wir sollten noch besser sein. Wir streben von Natur aus nach mehr. Tom hat immer das Gefühl, dass er »zu spät dran« ist, dass

fotos: © Concorde Home Entertainment, München

Welchen Ratschlag würden Sie jemandem geben, der an einem solchen Wettbewerb teilnimmt? Denk immer daran: Es kann nur einer gewinnen, aber warum solltest du nicht dieser eine sein? Und vergiss nicht, bequemes Schuhwerk anzuziehen. Woher haben Sie Ihr Wissen über Schlafentzug? Ich habe einen Experten für Schlafentzug an einer englischen Universität konsultiert. Er hat mir klargemacht, wie wichtig der Schlaf für uns ist. Er hat mir die Fakten dargelegt, und das hat mir sehr geholfen. Wenn man zum Beispiel nachts eine Stunde zu wenig schläft, dann steigt die Chance, dass man am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit einen Autounfall hat, um dreißig Prozent. Aber wir schlafen alle eine Stunde zu wenig, dachte ich! Und trotzdem bilden wir uns ein, wir seien immer noch zu Höchstleistungen fähig – was für ein fataler Irrtum. Und nach drei Tagen fängt der Verstand an, uns ein Schnippchen zu schlagen. Halluzinationen, Wahnvorstellungen. Die Welt gerät ganz schnell aus den Fugen. Die Figuren in Hand aufs Herz haben große Mühe, finanziell über die Runden zu kommen. Als Sie den Roman schrieben, hatte die Rezession noch nicht begonnen. Hatten Sie irgendwelche Vorahnungen? Ich lese Zeitung, aber wer hat diese Rezession vorhergesehen? Mein Interesse galt dem Leben in einem dicht


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er sein Lebensziel verfehlt. Ich glaube, diese Angst ist weitverbreitet. Darwins Formel vom Survival of the Fittest ist oft in dem Sinne missverstanden worden, dass der Stärkere überlebt. Haben Sie bei Hand aufs Herz an Darwin gedacht? O ja. Dieser Wettbewerb ist Darwin pur, eine Versuchsanordnung, die erproben soll, welche Kombination von menschlichen Eigenschaften das höchste Maß an Ausdauer gewährleistet, welche Eigenschaften dafür sorgen, dass man länger auf den Beinen bleibt als andere. Und diese lebenserhaltenden Eigenschaften können ebenso gut seelische oder emotionale sein wie physische; ›Fitness‹ im Darwin’schen Sinne kann also ohne weiteres bedeuten, dass der eiserne Wille eines alten Mannes der körperlichen Leistungsfähigkeit eines jungen Sportlers überlegen ist. Denken Sie nur daran, dass die Küchenschabe überlebt hat, nicht der Dinosaurier. Ein witziges Detail in Ihrem Roman ist die Art, wie Tom sich selbst zensiert. Es kommt immer häufiger vor, dass er nicht sagt, was er denkt. Diese Passagen sind im Roman durchgestrichen. Was würde passieren, wenn jeder tatsächlich sagt, was er denkt? Ich wünschte, Sie hätten mir diese Frage nicht gestellt. Ich freue mich, dass Sie mir diese Frage gestellt haben. Und die Antwort ist ganz einfach. Verdammt, ich habe nicht die leiseste Ahnung, was ich jetzt sagen soll. Ehr-

lich gesagt (Lügner!) ist es so, dass … dass …. könnten wir bitte zur nächsten Frage übergehen? Ich hätte vor dem Antworten doch erst mal aufs Klo gehen sollen. Die ehrliche Antwort? Es wäre das Chaos. Das absolute Chaos. Warum haben Sie einen Wettbewerb um ein Auto gewählt? Weil sich Menschen heute über ihre Autos definieren?

Denken Sie nur daran, dass die Küchenschabe überlebt hat, nicht der Dinosaurier. Wie ich schon sagte, hat der Autowettbewerb mich gewählt, und ich habe einfach »Aha« gesagt und die Idee zwanzig Jahre lang auf Eis gelegt. Mir war immer klar, dass ein Auto ein gutes Sinnbild für das Flüchtige ist, dem wir alle nachjagen, etwas Blitzendes, Schimmerndes, Wertvolles, ein Vehikel für unsere Träume. Haben Sie ein Auto? Bis gestern hatte ich eins. Ich bin von München zurück nach Bristol geflogen, und dort habe ich dann mit angesehen, wie der Parkwächter mit meinem Auto gegen einen Lastwagen fuhr. Man könnte sagen, ich habe alle Bestandteile, aus denen man ein Auto bauen könnte. Die Dreharbeiten für Hand aufs Herz haben nur fünfzehn Tage ge-

dauert. Das muss noch anstrengender gewesen sein als der Wettbewerb, den Sie in Ihrem Roman beschreiben … Genau genommen waren es zwanzig Tage, aber es war tatsächlich eine Belastungsprobe. Die Schauspieler, die um das Auto herumstanden, mussten nicht so tun, als seien sie müde, wütend, überdrüssig. Die Wut auf den Regisseur steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Sehen Sie sich den Film an – ihre Gesichter sprechen Bände: »Ich hasse Anthony McCarten.« Wie sind Sie zum Film gekommen? Ich wollte das schon immer ausprobieren, und deshalb habe ich ein paar Kurzfilme selbst finanziert, bis ich das Geld für meinen ersten Spielfilm zusammenhatte. Doris Dörrie, die Drehbücher schreibt und Filme dreht, hat einmal gesagt: »Ich schreibe lieber; beim Filmen kostet jede Minute Geld, und wenn ich schreibe, muss ich nicht bei jedem Satz an Geld denken.« Was machen Sie lieber, schreiben oder Filme drehen? Filmarbeiten sind buchstäblich das Abenteuerlichste, was ich bisher erlebt habe, und das ist ein gewisser Ausgleich für die Einsamkeit des Schreibens. Ich finde beides gleich aufregend, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Und anders als Doris sitze ich gern während einer kostspieligen Verzögerung der Dreharbeiten in meinem Regiestuhl und genieße den unverwechselbaren Ge-

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ruch von verbrennendem Geld. Es ist ein großartiges Erlebnis. Wie haben Sie die Schauspieler ausgewählt, und wie arbeiten Sie mit ihnen? Ich habe die Schauspieler sehr sorgfältig ausgewählt, denn ich wollte, dass ihre bloße Ausstrahlung die Geschichte erzählt. Ich brauchte Gutmütigkeit für die eine Figur und kalte Verbissenheit für die andere. Man weiß genau, wann man diese Eigenschaften auf einem Gesicht entdeckt. Die beiden Schauspieler, die ich gefunden habe, besitzen diese Eigenschaften von Natur aus, sie drücken sie aus durch die Art, wie sie gehen, reden, lächeln, durch ihr gesamtes Wesen. Das macht die Besetzung leicht. Mit der richtigen Besetzung muss man nicht mehr viel tun, und als Regisseur sollte man nicht zu viel tun. Welche Regisseure bewundern Sie? David Lean, Kubrick, Scorsese, Sergio Leone, Elia Kazan, Clint Eastwood. Aber in den meisten Fällen sind es ein oder zwei ihrer Filme, derentwegen ich sie bewundere, denn bei jedem Regisseur gibt es Höhen und Tiefen, abhängig von dem Drehbuch, das er vor sich hat. Es gibt nur sehr wenige herausragende Drehbücher, herausragende Projekte. Es kommt auf das Drehbuch und die Schauspieler an. Das sind die Wurzeln eines brillanten Films. Was waren Ihre Ziele nach der Schule? Ich kam aus einer kleinen Stadt am Ende der Welt. Was sollte diese Welt mit mir anfangen? Was wurde durch mein Dasein verändert? Die Antwort war einfach: nichts. Ich fühlte mich vollkommen überflüssig. Ich wusste nicht, was ich werden wollte. Sie sind in Neuseeland geboren und aufgewachsen, dann aber nach Los Angeles und London gegangen. Träumen alle jungen Neuseeländer davon, ihre Heimat zu verlassen? Ja, wir reisen gern und viel. Dieser Drang entspringt dem Gefühl, dass direkt hinter dem Horizont eine rauschende Party im Gange ist, zu der wir nicht eingeladen sind.

Welche Erfahrungen haben Sie in Los Angeles und London gemacht? Es war ein einziges Wettrennen. Lassen Sie mich ein Beispiel erzählen, das mir dazu in den Sinn kommt: Ende der neunziger Jahre − ich war gerade in London angekommen − besuchte ich eine Aufführung in einem ausverkauften Theater im West End. Ich hatte einen Stehplatz ganz oben auf der Galerie, zu der man über eine von

Glück heißt, dass man drei Dinge hat, auf die man sich freuen kann. zwei Treppen gelangte. Schon in der ersten Hälfte des Stücks taten mir die Füße ziemlich weh, doch dann entdeckte ich ganz unten, nicht weit von der Bühne, einen freien Platz. Ein perfekter Platz. Also beschloss ich, in der Pause als Erster nach unten zu stürmen und den Platz in Beschlag zu nehmen; dagegen hat in London niemand etwas einzuwenden. Da ich selber Theaterstücke schreibe, bildete ich mir ein, ich hätte ein Gespür für den Augenblick, wenn die erste Hälfte zu Ende ging, und glaubte, das

Buchtipp

Anthony McCarten Hand aufs Herz Roman · Diogenes

336 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06730-9

Ein Ausdauerwettbewerb, bei dem ein glänzendes neues Auto zu gewinnen ist. Doch für zwei Wettbewerbsteilnehmer geht es nicht ums Gewinnen, sondern ums nackte Überleben …

würde mir einen Vorteil verschaffen, für den Fall, dass jemand anderes auf die gleiche Idee kommen sollte. Sobald die Lichter auf der Bühne verloschen, rannte ich zur Tür hinaus und stürmte die Treppe auf meiner Seite hinunter. Doch dann hörte ich ein Poltern. Ich werde es nie vergessen. Es klang wie eine Viehherde, das Trampeln einer Menschenmenge, die von den Stehplätzen auf der anderen Seite der Galerie die andere Treppe hinunterstürmte, alle angetrieben von der gleichen Idee, alle wollten sie den einen freien Platz erobern. In diesem Augenblick wurde mir klar: Ich bin in London. Ich bin in der Großstadt. Sie leben jetzt in England auf dem Land. Ist das ein besserer Ort zum Schreiben? Ja, es gibt viel weniger Ablenkungen. Keine großen Theateraufführungen. Weniger gute Filme. Es ist ziemlich langweilig, aber produktiv. Die Widmung in Hand aufs Herz lautet »Für Margaret Mary McCarten, 1921–2007« – Ihre Mutter? Ja. Eine wunderbare Frau. Ich habe sie sehr geliebt. Wir waren acht Geschwister. Ich bin der Zweitjüngste. Als meine Mutter in die Wechseljahre kam, herrschte großes Bedauern, wie in einer kleinen Stadt, die die Schließung einer Fabrik beklagt. Wann haben Sie mit dem Schreiben begonnen? Als ich siebzehn war, glaubte ich, ich könne meinen Lebensunterhalt als Journalist verdienen. Wie lang haben Sie an Hand aufs Herz gearbeitet? Ungefähr ein Jahr. Es hat länger gedauert, bis das Buch endgültig Form annahm, als bei den anderen. Die Tatsache, dass ich mich nicht von dem Auto und den Leuten, die darumstanden, entfernen konnte, war ein ziemliches Problem. Ich musste die Handlung sehr sorgfältig anlegen, so dass der Leser wirklich ein Gefühl dafür bekam, dass es anfangs vierzig Personen waren, dann nur noch neununddreißig, dann achtunddreißig, weil sie nach und nach ausscheiden, und ich musste dafür sorgen, dass mit der zuDiogenes Magazin

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hat das Gefühl, dass dazu ein gewisses Maß an Aggression unabdingbar ist. Der Preis, den er für diese Einstellung zahlen muss, ist seine Einsamkeit. – »Passivität und Krebs, das gehört zusammen. Nettsein ist genauso selbstzerstörerisch wie Rauchen.« Ja, der Schaden, den man durch zu viel Güte anrichtet, ist ein innerer Schaden. Wie entsetzlich, wenn man nur gut sein kann, sich verpflichtet fühlt, immer nur gut zu sein. Das ist wider die menschliche Natur. Freud hat all diejenigen, die die zwei Seiten unseres Wesens leugnen, zu den Qualen der Psychose und letztlich zum körperlichen und seelischen Zusammenbruch verurteilt. Unsere animalische Natur fordert Ventile für animalisches Verhalten, damit wir gesund bleiben. – »Manchmal denkt man, dass es einfach das Beste am Leben ist, wenn man ihm nachts im Schlaf entflieht.« Das trifft auf all die Menschen zu, deren Leben nicht im Gleichgewicht

ist. Schlaf ist das Einzige, was ihnen Erleichterung bringt. Vielleicht auch Essen. Und andere sinnliche Genüsse. – »Vielleicht war das der Grund, warum Menschen überhaupt auf der Jagd nach Liebe waren, nicht weil man daraus Freude bezog, sondern weil es eine Möglichkeit war, aus sich selbst etwas Besseres zu machen.« Ich habe einfach das Gefühl, dass Liebe Ungewissheit braucht, um zu gedeihen und Bestand zu haben. Und die gesündeste Art von Ungewissheit, die die schleichende, tödliche Selbstzufriedenheit aufhält, ist das Gefühl, dass man durch die Nähe zu einer anderen Person ein besserer Mensch wird. Dieses Gefühl, dass man etwas Besseres wird, fügt der Liebe etwas Entscheidendes hinzu − sie wird zu einer Reise zur Vollkommenheit, nicht zu einem bestimmten Ziel.

kam/Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié

Foto: © Roger Eberhard

nehmenden Erschöpfung die Spannung wuchs. Ja, es war sehr schwierig. Haben Sie irgendwelche Tipps für angehende Schriftsteller? Es ist ein Gewerbe, in dem man auf viel Ablehnung stößt. Selbst wenn jemand es schafft, dass seine Bücher gelesen, wahrgenommen, diskutiert, ja sogar bejubelt werden, hört die Ablehnung nicht auf. Wenn man sich dessen bewusst ist, öffnen einem die gelegentlichen Erfolge für kurze Zeit die Pforten zum Paradies. Der Roman, den Sie gerade abgeschlossen haben, hat das folgende Motto: »Warum bist du unglücklich? Weil 99,9 Prozent von allem, was du denkst und von allem, was du tust, für dich selbst ist, und so jemand gibt es gar nicht« (Wei Wu Wei). Was ist Glück für Sie? Glück heißt, dass man drei Dinge hat, auf die man sich freuen kann. Geht es nicht in all Ihren Büchern um die Suche nach dem Glück? Meine Antwort ist eine Frage: Worüber sollte man sonst schreiben? Könnten Sie ein paar Zitate aus ihrem Roman kommentieren? Zum Beispiel: »Was Sie nicht begriffen haben: […] Nettigkeit […] schadet nur in einer Welt, wo Aggression die häufigste Kommunikationsform ist.« Heutzutage sind viele, vor allem junge Menschen insgeheim überzeugt, dass Güte eine Tugend für Verlierer ist. Man könnte sogar sagen, dass Güte in unserer Zeit im Verdacht steht, sie sei die Methode, mit der die Schwachen die Starken beherrschen, weil sich die Schwachen dadurch moralisch über die anderen erheben und sie so gewissermaßen schikanieren − mit anderen Worten: Güte ist eine höhere Form des Egoismus. In dem Roman hat Tom dieses Gefühl und spricht es auch aus. Aber Jess ist eine Verkörperung des christlichen Gebots, dass man seinen Nächsten lieben soll wie sich selbst. Tom, der Vertreter des Individualismus, würde das vermutlich als völligen Blödsinn abtun, weil die Menschen sich in Wirklichkeit selbst hassen. Tom fühlt sich Jess überlegen, er will um jeden Preis gewinnen und


Interview

Foto links: © Christian Kaufmann / vanit.de, Foto rechts: © Roger Eberhard

Rufus Beck über Anthony McCarten Diogenes Magazin: Hand aufs Herz ist bereits der dritte Roman von Anthony McCarten, den Sie als Hörbuch einlesen. Sind Sie ein McCarten-Fan? Rufus Beck: Das kann man wohl so sagen, ich habe fast alle seine Bücher und ein Theaterstück auf Deutsch und auf Englisch gelesen. Mein literarisch-angelsächsisches Dreigestirn heißt jetzt: John Irving, Ian McEwan und Anthony McCarten. Was hat Ihnen an seinen früheren und an diesem Roman besonders gefallen? Alle Romane von Anthony McCarten schreien förmlich nach einer Verfil-

mung, die tollen Dialoge, die liebevoll gezeichneten Charaktere, die ungewöhnlichen Plots … Natürlich unterscheidet sich ein Roman immer von einer Verfilmung, der Roman lässt mich in das Innere einer Figur schauen, ihren Gedankengängen folgen. Das kann kein Film. Einen typischen McCarten-Roman gibt es für mich nicht, alle Bücher sind in Sprachbehandlung, Handlung und Dramaturgie sehr unterschiedlich. Superhero ist wie ein Drehbuch geschrieben, kurze, knappe Ortsund Personenbeschreibungen, eben so kurze, knappe Dialoge. Es ist zum einen die Geschichte eines todkran-

ken Jugendlichen, der noch nie mit einem Mädchen geschlafen hat und der ahnt, dass die Zeit dafür auch nicht mehr reichen wird. Aber es ist auch die Geschichte eines Arztes, der dem Jungen mit unorthodoxen Methoden zu helfen versucht. Das Buch hat den Groove von Hip Hop und Rap, eine jugendliche Sprache: Die Story ist aus der Sicht des Protagonisten geschrieben. Donald Delpe (natürlich spielt McCarten auf Donald Duck an) ist ein hochbegabter Comiczeichner, der heimlich ein Comic-Tagebuch führt; der Roman hat also zwei Erzählebenen. Der filmrealistische Blick des jungen Erzählers wechselt mit den inDiogenes Magazin

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baut‹ noch eine Kitschnudel, aber McCartens Geschichten und Figuren berühren mich zutiefst, und dabei kommen seine Geschichten so leicht, locker, lässig, daher, mit viel Witz und Charme. Seine Romane sind Pageturner, doch hinter den Figuren gibt es eine Tiefe zu entdecken, die ich in dieser Form nur aus den Romanen von John Irving und Ian McEwan kenne.

Anthony McCartens Geschichten berühren mich zutiefst, dabei kommen sie so leicht, locker, lässig daher, mit viel Witz und Charme. In Anthony McCartens Romanen sind die Dinge nie so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Bestes Beispiel ist sein letzter Roman Englischer Harem, den man als Liebesgeschichte, Tragikomödie und gesellschaftskritischen Roman bezeichnen kann. Hauptfigur ist ein persischer Einwanderer in London, Sam Sahar, der nach iranischem Recht mit zwei Frauen verheiratet ist, bis er schließlich die arbeitslose einundzwanzigjährige Supermarktkassiererin Tracy kennenlernt, die er ebenfalls heiraten will. Bei McCarten liest sich das in seinem prägnanten, urkomischen Stil so: Tracy zu ihren Eltern: »Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die

gute: Ich heirate. Die schlechte: Er ist Perser. Und übrigens: Er hat schon zwei Frauen.« Es ist eine Geschichte über den Zusammenprall der Kulturen. Wer aber in Sam nur den hinterwäldlerischen, fundamentalistischen Muslim sieht, wird bald eines Besseren belehrt. Natürlich ist seine Geschichte viel verwickelter und absurder: Sam ist voller Widersprüche, er hat ein zu großes und gutes Herz, und das wird ihm auch zum Verhängnis. Ja, nichts ist, wie es scheint! Jeder bekommt sein Fett ab, sogenannte aufgeklärte Westler genauso wie strenggläubige Orientalen. Der Leser ertappt sich dabei, in Klischees zu denken, und McCarten spielt genüsslich mit Vorurteilen, um sie sofort zu zerstören. Der Roman beschreibt mit viel Humor und ohne erhobenen Zeigefinger die Bewunderung, Faszination, aber auch die Angst vor fremden Kulturen. Auch Anthony McCartens neuer Roman Hand aufs Herz vollbringt das Kunststück, Liebesgeschichte, Gesellschaftskomödie, Slapstick, Satire und Melodram unter einen Hut zu bringen. Um sein Autohaus in die Schlagzeilen zu bringen, veranstaltet ein Geschäftsmann einen Wettbewerb: Wer am längsten seine Hand auf der Karosserie eines Landrovers liegen lässt, gewinnt den Wagen. Die Veranstaltung zieht sich sage und schreibe fünf Tage hin, bis schließlich der völlig erschöpfte Gewinner feststeht. Zu diesem irrsinnigen Spektakel kommen Verzweifelte, Abenteurer, verarmte Zocker, Neugierige und publicity-hungrige Londoner. Ein wunderbar schräges Ensemble von liebenswerten Verlierern. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen zwei völlig konträre Charaktere, Tom Shrift, ein hochintelligenter Zyniker, und Jess Podorowski, eine verwitwete Politesse und Mutter eines behinderten Kindes. Welcher Figur hätten Sie den Sieg am ehesten gegönnt? Welche Figur ist Ihnen am sympathischsten,welche am unsympathischsten?

Foto: © Rufus Beck

timen, surrealen und pubertären Fantasien im Stile eines Manga-Comics. Die Story ist berührend, aber niemals kitschig, sie ist komisch, voller Sympathie für die handelnden Personen. Slapstick-Szenen stehen hoch emotionalen Momenten gegenüber. Superhero ist eine Liebeserklärung an das Leben, und wie in allen Romanen von Anthony McCarten gibt es auch hier ein traurig-schönes Happy End. Ist das ein Widerspruch in sich? Nein. Der jugendliche Held kann den Krebs nicht besiegen, er stirbt, aber sein Freund, der Arzt, hat eine plötzliche Eingebung, er steigt aus seinem alten Leben aus und beginnt ein neues: Und dann setzt er sich, eine Laune des Augenblicks, auf das breite Treppengeländer. Warum denn nicht? Er tut es für Donald. Und auch wenn ein paar Fremde missbilligende Blicke werfen, hebt er den Fuß, der ihn noch hält, und rutscht das Geländer hinunter, nimmt den schnellen Weg nach unten, gewinnt durch sein Gewicht rasch an Fahrt, die Hände als Steuer hinter sich, Beine gespreizt, das Haar vom Fahrtwind nach hinten geblasen, und die Krawatte flattert über der Schulter. Er tut es für Donald, den verrückten Jungen, der immer im Clinch mit der Welt lag und der doch nie aufgegeben hat, der immer gekämpft hat, selbst wenn es überhaupt nicht so aussah, und am allermeisten am Ende, als es überhaupt nichts mehr gab, was das Kämpfen noch wert war. Schneller und schneller saust der schwere Mann, bis es aussieht, als werde nichts ihn je wieder aufhalten. Unten machen die Leute ängstlich Platz. Sie sehen ihn kommen und ziehen einander beiseite. Schließlich soll keiner verletzt werden. Leute wollen ein langes, glückliches Leben. Niemand möchte zerschmettert werden von einem Psychologen im freien Fall. Der Film kommt zum Halt. Stopp. Standbild. Abblende. Ende. Wer hätte das gedacht. Es kommt sehr selten vor, dass ich beim Lesen eines Buches so berührt bin, dass ich weinen muss. Ich bin, glaube ich, weder ›nah am Wasser ge-


dieses »Ich« durfte auf keinen anderen übergehen, solange auch nur ein Tröpfchen Blut in den Adern floss – da musste man durchhalten, bis man mit seiner Kraft am Ende war. Sie haben Anthony McCarten während einer Lesereise in Deutschland persönlich kennengelernt, wie ist der Mensch hinter den Büchern? Ich habe bisher noch mit jedem angelsächsischen Autor viel Spaß gehabt und tolle gemeinsame Lesungen erlebt. Ich mag den britischen Humor, die Höflichkeit, das Understatement, den Tonfall, für mich ist das Musik! Anthony ist zwar in Neuseeland geboren, aber doch ein ziemlich typischer Brite. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden, er hat mir auch sein Theaterstück Continental Breakfast geschickt, in dem es für mich eine wunderbare Rolle gibt. Stimmt es, dass Sie einen Landrover Discovery fahren, das Auto, das es im Buch zu gewinnen gibt? Lustigerweise habe ich genau an dem Tag meinen neuen Landrover Discovery in Empfang genommen, als ich die deutsche Übersetzung von Hand aufs Herz zugeschickt bekam. (Da ich mich sehr viel in den Bergen aufhalte, bin ich auf ein Allradauto angewiesen.) Der ›Disco‹, wie dieser Landrover liebevoll genannt wird, spielt im Roman eine wesentliche Rolle, und ich konnte natürlich sehr gut nachvollziehen, welchen Reiz dieses Gefährt für die Figuren hatte (siehe Foto). Welche Diogenes Bücher würden Sie gerne als Hörbuch lesen? Ich würde gerne noch alle anderen Romane von John Irving einlesen, Owen Meany, Zirkuskind etc., bisher habe ich fünf Hörbücher von Irving produziert. Auf meinem Wunschzettel sind außerdem die Romane von Ian McEwan, Arnon Grünberg, Leon de Winter, Patricia Highsmith, Amélie Nothomb, die Texte von Edward Gorey, und und und. Und natürlich möchte ich alle Diogenes Autoren, denen ich bisher meine Stimme geliehen habe, auch weiterhin interpretieren dürfen. kam

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und sein Luftballon

© IMAV, Paris

Bei McCarten gibt es keine unsympathischen Figuren, was nicht heißt, dass die Charaktere nie etwas Unmoralisches tun, aber beim Lesen entsteht nie eine emotionale Distanz zu den sogenannten Bösewichten. McCarten verurteilt seine Figuren nicht, stellt sie auch nicht in die Ecke, er beobachtet sie, ist immer ganz nah am Menschen. In Hand aufs Herz benimmt sich eine der Hauptfiguren, Tom Shrift, man kann es nicht anders ausdrücken, wie ein richtiges Arschloch. Und doch versteht man diesen merkwürdig überheblichen Loser sehr gut, bewundert vielleicht sogar ein bisschen seine unbedingte Ehrlichkeit und Prinzipientreue. Auf jeden Fall ist man neugierig, was aus diesem Kauz werden wird, und ist überhaupt überrascht, dass dieser Misanthrop eine wunderbar rührende Rolle in dieser Liebesgeschichte spielen wird. Ihre Lieblingspassage in einem Roman von Anthony McCarten? In Superhero hat der Arzt Adrian eine plötzliche Erkenntnis: Warum bewahren wir die Fassung, warum sind wir konform, warum bleiben wir, wer wir sind? Weil wir immer das Schlimmste befürchten? Bauen wir unser ganzes Leben immer nur als Verteidigungsstellung gegen das Schlimmste auf, das uns widerfahren könnte? In Hand aufs Herz ist es eine der vielen zarten Liebesszenen, diesmal zwischen dem Autohändler und seiner Ehefrau, die in all den Jahren die amourösen Abenteuer ihres Mannes stillschweigend geduldet hat: Er spürte, dass sie beide eine Entscheidung bekräftigt hatten, ohne dass sie ein einziges Wort darüber gesagt hatten, ein alter Kontrakt, der erneuert worden war, ohne Schlupflöcher, ohne Kleingedrucktes, mit bedingungsloser Garantie, ein Kontrakt, in dem stand: Ich werde für dich da sein. Solange ich lebe. Und dieser Bund war nicht auf das Jugendamt übertragbar, auf einen Stiefvater, einen Freund, einen Geliebten. Nein, in dem Text stand klar und deutlich »Ich werde«, und dieses Versprechen musste gehalten werden,

10 CD, 726 Min. 978-3-257-80187-3

Diogenes Hörbuch Gelesen von Rufus Beck »McCarten hat ein Händchen für tolle Geschichten, kann ernste Themen mit viel Witz behandeln.« Westdeutscher Rundfunk

Anthony McCarten Englischer Harem

10 CD

5 CD, 379 Min. 978-3-257-80278-8

Roman

Diogenes Hörbuch Gelesen von Rufus Beck »Anthony McCarten hat die unglaubliche Gabe, Geschichten so aufzuschreiben, dass es einem das Herz zerreißt, während man über seine Einfälle, Sprüche und seinen unbesiegbaren Humor lacht.« Hamburger Abendblatt

5 CD

Anthony McCarten Hand aufs Herz Roman

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Ein Dramolett

Laura de Weck

Vier Liebeserklärungen Anmerkung: Der Gedankenstrich (–) steht für »Pause«.

1. Szene Nola /Anton, beide sind 8 Jahre alt. Pausenplatz. Anton: Willst du mit mir gehen? Nola: Ja. Anton: Super. – Nola: Und … jetzt? Anton: Was jetzt? Nola: Wohin gehen wir jetzt? – Anton: Ach so, ich weiß nicht … Worauf hast du Lust? Nola: Weiß ich doch nicht, du hast mich doch gefragt. Anton: Ach so … Wir könnten … zum Kiosk. Nola: Zum Kiosk? Anton: Ja, zum Beispiel. Nola: Hast du Taschengeld? – Anton: Ja … also schon ein bisschen, aber wir können auch … Ich meinte das mehr so allgemein, dass wir hierhin gehen und dann dorthin gehen und, weißt du, jeden Tag, so allgemein … Nola: Allgemein? Anton: Ja. Nola: Ne, dann lieber zum Kiosk. Anton: Okay. – Nola: Los, gehen wir. Anton: Ja … Aber … jetzt müssen wir uns schon … Nola: Was? Anton: Ich weiß nicht … Willst du mir die Hand geben? Nola: Ich bin doch schon acht! Anton: Ich weiß … Aber trotzdem, damit … wir zeigen, dass wir … uns gern haben … Nola: Was? Anton: Ja, irgendetwas müssen wir doch jetzt anders machen als vorher. – Nola: Ach so. – Du meinst, du willst mit mir zusammen sein? Anton: Ja … Nola: Du bist so blöd. Das macht man doch nicht mehr so. Da muss man sich küssen! Nola ab. 24

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Laura deWeck Lieblingsmenschen Ein Stück Diogenes


2. Szene Lea /Anton, 16 Jahre alt. Disco. Anton küsst Lea. Lea: Bist du bescheuert? Anton: Was? Lea: Fass mich nicht an! Anton: Ach so … ich wollt nur … Lea: Ich hab schon kapiert, was du willst! Anton: Ich meinte doch nur … Lea: Ist mir schon klar, was du meinst: Du willst mit mir ins Bett! Anton: Nein! Nein, wirklich nicht … Lea: Ihr Jungs wollt doch immer das Gleiche. Anton: Wirklich, wirklich nicht, ich wollt dir damit sagen … Lea: Dann sags doch! Dann sag doch was, anstatt gleich so auf Knutschen und Sex und so. Sags doch! Anton: Wir haben doch schon so viel gesagt … Deswegen hab dich ja so gern … Lea: Jaja, klar, jetzt plötzlich, jetzt plötzlich: »Hab dich doch so gern« und so … jaja. Ich glaub euch Scheiß-Jungs überhaupt nichts mehr. Ich geh erst mit einem Typen ins Bett, wenn der mich liebt, kapierst du? Hast wohl noch nie von gehört, was? Liebe. Fremdwort. Brauchst wohl Nachhilfe. Anton: Nein, wirklich, wirklich. Das meinte ich doch damit! Was hätt ich denn machen … was hätt ich denn sagen sollen! Lea: Wie wärs mit: »Ich liebe dich.« Arschloch. Lea ab.

3. Szene

Foto links: © Marc Wetli

Esther /Anton, 24 Jahre alt. Park. Anton: Ich liebe dich. – Esther: Wie meinst du das? Anton: Wie? – Esther: Fühlst du dich einsam? Anton: Nein, ja, also … Keine Angst, ich bin Single. Esther: Aha. Anton: Aber einsam, ich weiß nicht … – Esther: Brauchst du jemanden, der dir hilft? Anton: Ich? Nein. Weiß nicht … Esther: Aha. – Soll ich für dich kochen? Anton: Nein … Also, nur, wenn du willst … – Esther: Wollen deine Eltern, dass du bald heiratest? Anton: Nein! Also … Keine Ahnung, vielleicht würden sie sich freuen … Esther: Aha. Anton: Wie meinst du das jetzt …? – Esther: Brauchst du Geld?

Anton: Geld? Esther: Aha. Anton: Wofür denn? Ach so, sollen wir zum Kiosk? Esther: Zum Kiosk? Anton: Vergiss es … – Esther: Weißt du, Anton, ich hab schon früh angefangen mit Männern. Alle haben mir gesagt: »Ich liebe dich», aber keiner hat mich wirklich geliebt. Verstehst du? Ich lass mich nicht mehr ausnutzen. Anton: Aber, ich will doch … Esther: Sorry, Anton, aber da musst du dir schon was anderes einfallen lassen. Esther ab.

4. Szene Leila /Anton, 32 Jahre alt. Im Café. Leila: Du bist so still. Anton: Ja … – Leila: Bist du immer so still? Anton: Nein … – Leila: Was ist denn? Anton: Nichts. Alles gut. – Leila: Ich weiß so wenig über dich. Anton: Ja. – Leila: Erzähl doch … über dich. Erzähl doch was. Anton: Was denn? Leila: Ich weiß nicht. Aber über irgendetwas müssen wir uns doch unterhalten oder irgendwas machen. Wir können doch nicht einfach so still dasitzen. Anton: Nein. Leila: Ich quatsch dich immer voll, jetzt bist du dran. – Anton: Ich weiß nicht … ich … ich würd dir gern sagen, dass … oder dir einfach einen … aber es ist alles so schwierig … Manchmal denk ich, ich bin der Einzige, der … wenn man … jemanden … so, dass es weh, aber schön weh … Nein. Blöd. Also, dass man dauernd … Wallungen … Nein. Ich weiß, altmodisches Wort, aber mir fällt nichts anderes … Mir fällt sowieso überhaupt gar nichts ein, wie das … oder was man dafür oder dagegen tun … Dabei müssten das doch andere, doch auch schon gehabt haben … Die ganzen Bücher und Filme sind doch voll mit … Und ich hab jetzt wirklich, mein ganzes Leben lang … informiert, aber ich weiß nicht, und keiner kann mir sagen, wie ich … Wenn du … du so da. Und ich so … Leila: Ich liebe dich auch. Anton: Wie? Leila: So. Leila küsst ihn. Anton: Uuh … Was? Leila: Ich-will-mit-dir-gehen, kapiert?

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Sempé Eine Annäherung von Patrick Süskind

D Der Text von Patrick Süskind ist das Vorwort zum soeben erschienenen SempéKatalog »Tag für Tag«.

Jean-Jacques Sempé

Tag für Tag Sempé in deutschen Sammlungen Mit einem Vorwort von Patrick Süskind Diogenes

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a erzählt neulich jemand von einem chinesischen Roman mit dem Titel Die umzingelte Festung, wobei mit der Festung nicht nur das Reich der Mitte, sondern vor allem die Ehe gemeint sei, ein Vergleich, der auf Montaigne zurückgehe, der von ihr gesagt habe: »Wenn man draußen ist, will man hinein, wenn man drinnen ist, will man hinaus.« Dieser Roman stamme von einem Autor namens Soundso und sei das Bedeutendste, was je über China … – aber da höre ich schon längst nicht mehr zu, sondern gehe wie in Trance zum Bücherregal, unterste Reihe, wo die großen Formate stehen, ziehe die Alben von Sempé heraus, setze mich auf den Boden und beginne zu suchen. Nach einer halben Stunde, endlich, habe ich gefunden, woran ich mich zu erinnern glaubte, einen Band mit dem Titel Halb gewonnen, Seite 41: eine großformatige Tuschzeichnung, rechts eine enorme mittelalterliche Festung, Typ Carcassonne, links das weite

Land mit vereinzelten Olivenbäumen, dazwischen, minutiös ausgeführt, das Heer der Belagerer mit Lanzen, Schilden, Leitern, Katapulten, Rammböcken und einem Federbusch am Hut des berittenen Kommandeurs. Durch ein Bogenfenster sieht man in den Burgfried hinein, wo der mürrische Burgherr nebst Gattin, Hofnarr und Hauskatze beim opulenten Mittagessen sitzt. Ein Emissär, der offenbar soeben vom Feind zurückgekehrt ist, steht vor ihm stramm und übermittelt die Botschaft: »Was sie wollen, ist ganz einfach. Sie sähen es gern, wenn sie hier drinnen wären und wir draußen.«

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ewiss, das hat nur sehr partiell etwas mit dem chinesischen Roman zu tun, ist aber ein typisches Beispiel dafür, wie unauslöschlich manche Bilder aus Sempés Kosmos demjenigen eingeprägt sind, der sie einmal, und sei es vor Jahren oder Jahrzehnten, angeschaut, gelesen, de-


Illustration: © Sempé

chiffriert hat, wie jäh sie wieder im Gedächtnis hervortreten und wie obsessiv sie verlangen, abermals angeschaut zu werden, weil man sich von ihnen die Steigerung dessen erwartet, was man soeben erlebt, gesehen, gehört hat. Bei jeder Gelegenheit kann einem so etwas passieren: im Flugzeug, wenn einem das plastifizierte Essen serviert wird; beim Herumlungern auf einer öden Party; beim Durchstreifen eines herbstlichen Parks; beim Betrachten eines Kronleuchters oder einer Statue oder eines Gemäldes im Museum oder eines Sonntagsmalers am Strand oder der Kinder auf dem Spielplatz. Plötzlich durchzuckt einen dieser kleine Stromschlag: Das ist wie bei Sempé! Selbst wenn man nur am geöffneten Fenster steht und gedankenverloren hinausschaut auf die Stadt, kann es geschehen, mehr noch, die Situation kann sich geradezu in eine Zeichnung von Sempé verwandeln, man fühlt sich wie jene gefiederte Schimäre, halb Mensch,

halb dicker Vogel, die er auf einer Fensterbalustrade hocken lässt, mit einem Blick, der sehnsuchtsvoll und melancholisch in die Ferne geht und dem man gleichwohl ansieht: Nie wird dies sonderbare Wesen, obwohl es Flügel hat, die Krallen lösen und sich hinaus in die große Freiheit stürzen. Der Journalist Claus Heinrich Meyer berichtet sogar – durchaus glaubwürdig –, er habe sich beim Besuch der Würzburger Residenz mit ihrem gigantischen Treppenhaus und den riesigen Gewölben und Portalen nicht mehr als ein authentisches Individuum empfunden, sondern als eine winzige Figur, die von Sempé in die Wirklichkeit hineingezeichnet worden ist.

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ber Gott sei Dank ist die Welt nicht nur wie von Sempé gezeichnet, sondern umgekehrt zeichnet Sempé die Welt, namentlich die französische, auch wie sie an und für sich ist, wie wir sie allerdings nicht sehen

würden, wenn er sie nicht so für uns zeichnete, wie er sie eben zeichnet. Ich will damit sagen: Es gibt gewiss keine bessere kulturelle, soziologische und ästhetische Landeskunde Frankreichs als das Œuvre von Sempé. Wer wissen will, wie es in irgendeinem Pariser Bistro zur Mittagszeit zuging und noch immer zugeht, wer dort verkehrt, was dort gegessen wird (Kaninchen auf Jägerart) und worüber geredet wird (Fußball, Fernsehen, Firma), der braucht nur Sempés Monsieur Lambert zur Hand zu nehmen, und er wird sich am Ende des Bandes selbst als Stammgast fühlen. Die Welt der kleinen Angestellten samt ihren Träumen, das Milieu der Intellektuellen samt ihren Neurosen, die Hektik der Hauptstadt, die weite Leere der Provinz, der sommerliche Wahnsinn an der Côte d’Azur, das Dorffest irgendwo im Süden mit Biertheke, Bühne für die Rockband und Lichtergirlanden zwischen den Platanen, der alte Prunk der Schlösser, der Verfall Diogenes Magazin

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äre er deshalb ein Abbildner der Wirklichkeit, eine Art zeichnender Fotograf? Überhaupt nicht. Mit Realismus haben Sempés Bilder nichts zu tun. Die meisten der von ihm gezeichneten Pariser (oder auch New Yorker) Straßenkreuzungen, Gebäude, Plätze, Parks oder Cafés gibt es in der Wirklichkeit nicht, obwohl wir Stein und Bein schwören würden, sie schon einmal gesehen zu haben, und zwar genau so wie von ihm gezeichnet. Das Gleiche gilt für seine Menschen. Sie kommen uns durchaus vertraut, ja natürlich vor, obwohl sie, sei’s im Detail oder im Ganzen, oft etwas grotesk Unproportioniertes haben. Sempés Kinder sind klein wie Mäuse und dennoch Kinder, wie wir sie alle kennen (und eben keine Karikaturen von Kindern). Sempés Fahrräder besitzen oft keine Speichen, und ihre Rahmen sind so dünn wie ein Federstrich. Seine Musiker spielen auf Geigen mit verkehrten Schalllöchern, auf Saxophonen mit verdrehten Mundstücken, auf Trompeten mit vier statt drei Ventilklappen. An seinen Klavieren, so sagte er einmal selbst, stimme nicht viel mehr als die Anordnung der schwarzen Tasten in Zweier- und Dreiergruppen. Trotzdem sind die Klaviere, die er zeichnet – in intimen Salons, flankiert von roten Samtvorhängen, einem winzigen Mädchen mit Pferdeschwanz und einer Katze, oder auf offener Bühne als Ungetüm von Konzertflügel, dem sich der befrackte Pianist nähert wie ein Torero dem Stier –, Klaviere schlechthin, so wie seine Musiker, ob im Streichquartett oder in der Bigband, Musiker schlechthin sind. Und wer nicht wüsste oder es vergessen hätte, was Fahrradfahren eigentlich bedeutet – nämlich nicht eine Art der Fortbewegung mit Hilfe eines durch Muskelkraft angetriebenen Fahrzeugs

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unter Ausnutzung des Drehimpulserhaltungssatzes, sondern eine hochemotionale und psychologisch ausdrucksstarke Tätigkeit des Menschen, die sich zusammensetzt aus Mühsal und Leichtigkeit, Bedrängnis und Freiheit, Angst und triumphalem Glücksgefühl –, der halte sich an Sempés Simple question d’équilibre, eine Hommage an das Fahrrad und dessen Benutzer, die vielleicht seine elegantesten und beschwingtesten Zeichnungen enthält.

Plötzlich durchzuckt einen dieser kleine Stromschlag: Das ist wie bei Sempé!

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ie Illusion von Stimmigkeit in Sempés Bildern entsteht durchs Detail. Ihr großer Reiz aber entsteht durch die raffinierte Mischung und Kontrastierung jener Details – die mit größter Hingabe, beinahe kindlicher Besessenheit und oft in irrwitziger Anzahl ausgetüftelt sind –, mit Partien, wo die souveränste Andeutung vorherrscht. Landschaften, Bäume, Gewässer, aber auch Gesichter, Kleider, Schuhe werden oft nur mit sparsamsten Linien oder Pinselstrichen ausgeführt. Nicht so die Kaffeekanne älterer Bauart aus blauem Porzellan mit aufgesetztem Filterteil, die seitlich auf einem Louis-xvi-Beistelltischchen steht, nebst drei Mokkatassen, Zuckerdose und Silberlöffelchen. Acht Striche – und fertig ist der Notenständer, perfekt als solcher zu erkennen, jedes weitere Detail, sollte man glauben, ist überflüssig. Nicht so

bei Sempé. Er fügt (und zwar unfehlbar) noch eine Flügelschraube hinzu, die realiter eine Höhenverstellung der senkrechten Teleskopstange ermöglicht (obwohl er eine Teleskopstange gar nicht zeichnet), und jene winzige, über der Mitte der oberen Querstange des Pultes hinausragende stilisierte Lyra, die in der Tat bei gewissen Klappnotenständern seit über hundert Jahren als Verzierung und, bei Bedarf, zum Anklemmen eines Lämpchens dient – zwei völlig unnötige Einzelheiten, die aber dem an und für sich banalen Gegenstand zugleich Komik und Würde verleihen und dadurch das Auge des Betrachters ganz ungemein erfreuen. Von den drei Dutzend mit rührendem Eifer gezeichneten Schraubenschlüsseln in der Werkstatt eines Fahrradhändlers bis hin zum typischen Fensterknauf der Pariser Altstadtwohnungen, der sogenannten Olive, die es an Präzision der Darstellung mit einer technischen Zeichnung aufnehmen könnte (das beherrscht er nämlich auch) – die Liste der Sempé’schen Details ist unerschöpflich, und ich will nur noch eines davon erwähnen, weil es auf unzähligen Sempé-Zeichnungen erscheint, weil es mein Lieblingsdetail ist, und weil es in seiner Bedeutung weit über das hinausgeht, was wir gemeinhin von einem Detail erwarten. Ich meine die Sempé’sche Porreestange.

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ine Porreestange bei Sempé hat meistens zwei oder drei, selten vier und nur in einem einzigen Fall acht sehr vereinzelt wachsende Würzelchen. In Wirklichkeit besitzt eine ordentliche Porreestange mindes-

Illustrationen: © Sempé

der Dörfer – all das ist bei Sempé nicht nur zu sehen, sondern beinahe zu erfahren, so sehr gelingt es ihm, uns in seine Bilder hineinzuziehen.


Illustration: © Sempé

tens hundert Würzelchen, die pinselhaft dicht beieinanderstehen. Sempés Porreestangen stecken in den Einkaufstaschen oder Fahrradkörben von französischen Hausfrauen, und zwar fast immer kopfüber, das heißt mit dem bewurzelten Ende nach oben. Wer je Porree gekauft und in einer Einkaufstasche oder einem Fahrradkorb nach Hause transportiert hat (Sempé gehört gewiss nicht dazu, ich schon), weiß, dass eine solche Art des Verstauens widersinnig, unpraktisch, ja beinahe unmöglich ist, da sich die Blätter des Gemüses nach oben hin spreizen und folglich dem verkehrten Einführen in ein Behältnis widersetzen. Es wäre, als wollte man einen Weihnachtsbaum von der Spitze her in sein Transportnetz zwängen oder einen aufgefächerten Blumenstrauß kopfüber in eine Vase stopfen. Sempé schert sich nicht darum. Seit einem halben Jahrhundert zeichnet er Porreestangen mit zwei oder drei vertrockneten Würzelchen, die falsch herum in der Einkaufstasche stecken. Nun gibt es dafür freilich eine technische Erklärung, die auch dem Drehbuchschreiber und dem Regisseur geläufig ist: Die Porreestange hat kraft ihrer herausragenden Länge als einziges Gemüse die Fähigkeit, den Betrachter auf rein visuelle Weise darüber aufzuklären, dass die Hausfrau, aus deren Tasche sie hervorlugt, soeben vom Markt kommt, wo sie fürs Mittag- oder Abendessen eingekauft hat. Und verkehrt herum steckt sie in der Tasche, weil sie sonst als Porreestange nicht mehr zu erkennen wäre, sondern, beispielsweise, mit einer noch nicht aufgeblühten Gladiole verwechselt werden könnte. Aber das ist nicht das Wesentliche. Sempés Porreestange, selbst wenn sie aus der semantischen Not des Zeichners geboren sein sollte, hat viel weiterreichende Bedeutung. Sie ist ein Signal. Sie sagt: »In den unsichtbaren Tiefen dieser Tasche, aus denen einzig ich mit meinem leicht verdickten und kümmerlich bewurzelten Ende rage, befindet sich noch anderes kümmerliches Gemüse, nämlich, um präzise zu

sein, Zwiebeln, Karotten, Kartoffeln, weiße Rüben und das Viertel einer Knolle Sellerie, dazu vielleicht noch ein Stück durchwachsenes Rindfleisch von der Rippe oder ein Suppenhuhn.« Und der Betrachter, der als zweites Signal etwa das Handtäschchen am Arm der Hausfrau und ihr Hütchen über onduliertem Haar erkennt, sieht in Sekundenschnelle den pot-au-feu vor sich, den sie, denn es ist Samstag, ihrem Gatten in weißer Porzellanterrine zum Mittagessen servieren wird, im Salon einer kleinen Pariser Dreizimmer-

Aber Gott sein Dank ist die Welt nicht nur wie von Sempé gezeichnet… altbauwohnung mit Zierkamin, Blümchentapete und einem zerrupften Kronleuchter, der von der Stuckdecke hängt. Handelt es sich bei dem komplementären Signal jedoch um ein Kopftuch, das die Hausfrau trägt, so entsteht in unserer Phantasie sogleich das Bild ihrer Souterrainwohnung oder ihres winzigen Häuschens im Dorf und darin vornehmlich der Küche mit den an der Wand aufgehängten Pfannen und Kasserollen, dem Abtropfgestell neben dem Spülstein und, auf einem leicht schmuddeligen Gasherd stehend, dem großen Aluminiumtopf, in dem das erwähnte Gemüse, geschält und in Stücke geschnitten, in zwei Litern Wasser brodelt, um anschließend, durch die blecherne moulinette getrieben, den potage zu ergeben, eine Suppe von rötlichbrauner Färbung und breiiger Konsistenz, die nun ihrerseits wieder

eine ganze Kette von Assoziationen privater, aber auch soziologisch bedeutsamer Art auslösen kann. So viel vermag eine von Sempé gezeichnete Porreestange. Dass sie darüber hinaus komisch ist, erwähne ich zuletzt und beinahe mit Verlegenheit, denn es fällt nicht leicht, diese Komik zu erklären. Wie kann ein Gemüse komisch sein? Gewiss, wenn die deutsche Bundeskanzlerin auf den Stufen des Élyséepalastes vom französischen Staatspräsidenten mit rotem Teppich und republikanischer Garde empfangen würde, und aus ihrer Handtasche lugte eine Porreestange hervor, so wäre diese Szene zweifellos komisch, aber nicht wegen der Porreestange an sich, sondern deshalb, weil sich ein Gegenstand – es könnte genauso gut ein Kochlöffel oder eine Klempnerzange sein – überraschenderweise an einem Ort zeigt, wo er absolut nichts verloren hat. Sempés Porree hingegen befindet sich an einem Ort, wo er durchaus hingehört, nämlich in der Einkaufstasche einer französischen Hausfrau. Und dennoch ist er komisch …

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empés Humor ist von sehr eigener Art. Zwar kennt und meistert auch er die große und grobe Fallhöhe des Grotesken, aber er braucht sie nicht. Er kommt mit subtilerem Gefälle aus. Un léger décalage heißt eines von Sempés Alben, und im Grunde könnte dieser Titel als Motto über seinem ganzen Œuvre stehen: un léger décalage, eine kleine Abweichung, eine leichte Verschiebung, ein geringes Verrückt-Sein. Das Wort cale steckt in dem Begriff, der Keil, und gemeint ist nicht der Keil, der spaltet, sondern der Keil, der eine Sache, ein Möbel etwa oder einen Bilderrahmen, an seinem rechten Platz und in seiner unverrückten Form und Ordnung festhält und dessen Entfernung – décalage – das Wohlgefügte aus dem Lot geraten lässt. Dieses Verrückt-Sein, oder sagen wir der Einfachheit halber, dieser Ruck, entsteht im Werk von Sempé auf die mannigfaltigste Weise. Schon in seinen frühen Zeichnungen Diogenes Magazin

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brigens auch tiefe Melancholie und eine Dimension des Schreckens und der Bedrohlichkeit. Denn es ist keineswegs so, dass Sempé allein der Großmeister der Heiterkeit und

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des schmunzelnden Aperçus wäre. Gewiss, da gibt es Bilder, in denen sich die reine Lebensfreude spiegelt, herrliche Gemälde des Schwelgens in Stille, Sinnenlust und Pracht. Diesen stehen andere gegenüber, die den

Brüchigkeit der Welt, in der wir leben, und des Lebens selbst. »Zu Tisch!«, ruft gutgelaunt Madame zum Fenster hinaus in die sommerliche Gartenpracht, sie hält die dampfende Suppenterrine in der Hand, der Tisch ist schon gedeckt, die Flasche Wein entkorkt; der aber, den sie ruft, Monsieur, sitzt abseits unter einer Pergola, mit wirrem Haar und gramzerfurchter Stirn, den verzweifelten Blick auf eine Schachpartie geheftet, die er unweigerlich verlieren wird, denn sein Gegner, der ihm gegenübersitzt, im rabenschwarzen Gewand und mit der Sense über der Schulter, ist kein anderer als der Tod.

Hass und die abgrundtiefe Boshaftigkeit des Menschen zum Thema haben, insbesondere, wenn es um das Verhältnis der Geschlechter zueinander geht. Da sehen wir Biedermänner, die ihre Gattinnen auf subtil-sadistische Weise quälen oder gar, zumindest in Gedanken, zertreten und mit dem herabgerissenen Kronleuchter zerschmettern. Und ebenso biedere Damen, die ihren Ehemann wie einen Hund halten. Oder jene bürgerliche Hausfrau, die gerade mit ihrer Freundin in der Küche das Geschirr abspült und dabei durchs Fenster ihrem Mann nachblickt, der weit unten auf der Straße mit seinem Aktenköfferchen ins Büro geht … »Wenn ich ein Gewehr zur Hand hätte«, so sagt sie lapidar, »ich könnte ihm glatt die Birne wegschießen.«

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ei der Mehrzahl der Bilder, der Bildgeschichten und der Bildromane von Sempé ist aber eher eine hintergründige Angst zu spüren und eine Trauer über die Verlassenheit des Einzelnen und der Paare, über die

o weit reicht die Spanne: von der kleinen Witzzeichnung bis zum metaphysischen Tableau. Und in dieser Spanne sind umfangen ein höchst persönlicher, höchst origineller Blick auf die Welt und zugleich eine Chronik von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart von schier Balzac’scher Fülle. Darum genügt es nicht, ein Album von Sempé rasch im Stehen in der Buchhandlung wie ein Daumenkino durchzublättern – ach wie nett, schau wie lustig! –, nein, man muss es mit nach Hause nehmen, den günstigen Moment abwarten, wo man für eine gute Weile ungestört ist, sich in eine Ecke damit setzen, am besten auf den Boden, und es Seite für Seite anschauen, darin lesen (auch wenn es keinen Text hat) und es langsam dechiffrieren. Was für ein Gewinn, was für ein Vergnügen!

Illustration: © Sempé

ist er vorhanden, und sei es nur in der Disproportion der Figuren im Verhältnis zu ihrer Umgebung, in der Gegensätzlichkeit von idyllischem Bild und ätzender Bildunterschrift oder in der schon erwähnten fast manischen Hingabe ans scheinbar nebensächliche Detail. Später wird er überaus deutlich, bei den Schimären etwa, oder wenn Gottvater höchstpersönlich in Begleitung seiner Engelein am Vorstadthimmel erscheint. Oder bei jenem Ehepaar, das in der Abendsonne spazieren geht, er groß, sie klein, beide von nichtssagender Durchschnittlichkeit, ein geradezu banales Bild – jedoch: Der Schatten, den er wirft, ist klein, der ihre groß. Und schließlich gibt es Bilder – vielleicht die schönsten –, da ist der Ruck so unscheinbar, dass man ihn zwar sofort spürt, aber kaum noch, oder erst nach längerer Betrachtung, dingfest machen kann: zwei Starkstrommasten am fernen Horizont und ein winziges Flugzeug am Himmel über einem uralten Bahnwärterhäuschen, vor dem der Bahnwärter geduldig wartet, irgendwo im Nirgendwo der Provinz; drei abgelegte Ringe neben den Tasten des Klaviers, auf dem eine junge Frau spielt; die ganz leicht nach links verschobene Pobacke einer Radfahrerin; die blau kolorierte Mütze eines Kindes in einer ansonsten nur mit schwarzer Tusche ausgeführten Zeichnung; die zwei oder drei Würzelchen am Ende einer Porreestange … Es können geringste Verrückungen sein, die Sempés Bilder gleichsam aus dem verkeilten Rahmen der Normalität oder der scheinbaren Harmlosigkeit kippen lassen und ihnen dadurch Komik, leisen Witz oder hinreißenden Charme verleihen.


Serie Sonne scheint, und wenn sie nicht scheint die Wärme, wo auch immer sie zu finden ist. Glücklich, wer auf seine Persönlichkeit zugunsten der Vorstellungskraft verzichtet, sich am Betrachten fremder Leben erfreut und, wenn auch nicht alle Eindrücke, so doch das äußere Schauspiel der Eindrücke anderer erlebt. Glücklich, zu guter Letzt, wer auf alles verzichtet und wer, da er auf alles verzichtet hat, um nichts beschnitten oder gebracht werden kann.

Wir verwirklichen uns nie. Wir sind zwei Abgründe – ein Brunnen, der in den Himmel schaut. Ich habe es stets abgelehnt, verstanden zu werden. Verstanden werden heißt sich prostituieren. Ich ziehe es vor, als derjenige, der ich nicht bin, ernst genommen und als Mensch mit Anstand und Natürlichkeit verkannt zu werden. … mein ganzes Leben ist eine noch nicht unterschriebene Quittung. Vielleicht ist es mein Schicksal, ewig Buchhalter zu bleiben, und Dichtung und Literatur sind nur ein Schmetterling, der sich auf meinem Kopf niedersetzt und mich umso lächerlicher erscheinen lässt, je größer seine Schönheit ist. Die Vorstellung zu reisen erfüllt mich mit Ekel. Ich habe bereits alles gesehen, was ich nie gesehen habe. Ich habe bereits alles gesehen, was ich noch nicht gesehen habe. Letzten Endes reist man am besten, indem man fühlt. Alles auf alle Weise fühlt. Alles im Übermaß fühlt. Denn alle Dinge sind, genau genommen, maßlos. Und die gesamte Wirklichkeit ist etwas Maßloses, etwas Gewaltsames. Eine überdeutliche Sinnestäuschung. Ich bin nichts. Werde nie etwas sein. Kann nichts sein wollen. Dennoch trage ich in mir alle Träume der Welt. Manche haben im Leben einen großen Traum und versäumen diesen Traum. Andere haben im Leben nicht einen Traum und versäumen auch ihn.

Illustration: © Tullio Pericoli

Meinungen haben heißt sich an sich selbst zu verkaufen. Keine Meinung haben heißt existieren. Alle Meinungen haben heißt Dichter sein. Lesen heißt durch fremde Hand träumen. Flüchtig lesen heißt uns von der Hand befreien, die uns führt. Ober-

Denken mit

Fernando Pessoa flächliche Bildung ist die beste Voraussetzung für ein gutes Lesen und Tiefgang. Seine Persönlichkeit erweitern, ohne ihr etwas Fremdes hinzuzufügen – weder von anderen etwas erbitten noch anderen befehlen, aber die anderen sein, wenn man andere braucht. Unsere Bedürfnisse auf ein Minimum herabsetzen, damit wir in nichts von anderen abhängen. Man hat mir von Menschen erzählt, von Menschheit, Doch ich habe nie Menschen gesehen und nie eine Menschheit. Wohl aber einige verblüffend unterschiedliche Menschen, Jeder vom anderen durch einen menschenleeren Raum getrennt. Wünsche wenig, und du bekommst alles. Wünsche nichts, und du bist frei. Glücklich, wer vom Leben nicht mehr verlangt, als es ihm aus freien Stücken gibt, und sich vom Instinkt der Katzen leiten lässt, die Sonne suchen, wenn

Der Bauer, der Romanleser, der reinste Asket – diese drei kennen das Glück des Lebens, denn alle drei verzichten auf ihre Persönlichkeit – der eine, weil er instinkthaft lebt und somit unpersönlich, der andere, weil er in der Vorstellungswelt lebt und somit im Vergessenen, der Dritte, weil er nicht lebt und, da er nicht tot ist, schläft. Ach, was für Gefängnisse, die Wünsche! Was für ein Tollhaus, der Sinn des Lebens! Es nötig haben, andere zu beherrschen, heißt andere nötig haben. Der Vorgesetzte ist ein Abhängiger. Wir alle, die wir träumen und denken, sind Hilfsbuchhalter in einem Stoffgeschäft oder in irgendeinem anderen Geschäft in irgendeiner Unterstadt. Wir führen Buch und erleiden Verluste; wir zählen zusammen und gehen weiter; wir ziehen Bilanz, und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns.

Denken mit Fernando Pessoa Sätze, Reflexionen, Verse und Prosastücke über Leben und Traum, Seele und Herz,Vernunft und Absurdes, Ästhetisches und Mystisches Diogenes

Diogenes Taschenbuch detebe 23740, 160 Seiten

Im nächsten Magazin: W. Somerset Maugham Diogenes Magazin

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Illustration: Š Paul Flora


Thema

Inspiration Wo finden Schriftsteller die Ideen für ihre Bücher? Was inspiriert sie? Ein einsamer Mann am Strand, eine Frisörmesse in London oder ein Lied im Radio – all das kann der Keim zu einem Roman sein, wie Patricia Highsmith, Georges Simenon, Christian Schünemann oder John Irving verraten.

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ine lästige Frage, die Autoren immer wieder gestellt wird, ist: »Woher haben Sie Ihre Ideen?« Agatha Christie antwortete einmal ›very british‹: »Meine Ideen besorge ich mir immer bei Harrod’s.« Ähnlich einfach geht es in Paul Floras Zeichnung Inspiration zu: Der Schriftsteller pflückt sich aus dem Buchstabenbaum einfach seine Ideen. Die Realität sieht ein wenig komplizierter aus. »Den ersten Anstoß zu einem Roman«, so Ian McEwan, »können so unterschiedliche Dinge liefern wie eine bestimmte Stimme, ein imaginärer Ort, der mich umtreibt, ein visuelles Detail.« Oder aber reale Begebenheiten, Vorkommnisse. Zwei klassische Beispiele sind Goethes Die Leiden des jungen Werther und Flauberts Madame Bovary. Der echte Werther hieß Karl Wilhelm Jerusalem und war ein Bekannter Goethes. Er erschoss sich nicht wegen einer Lotte, sondern

wegen der verheirateten Elisabeth Herd. Diesen Fall und Goethes eigene, vergebliche Liebeswerbung um Maximiliane von La Roche (die ihn auch zu Lottes berühmten schwarzen Augen inspirierte) verwob er zu seinem Bestseller. Flauberts Emma Bovary hieß in Wirklichkeit Delphine Delamare, und wie die Romanfigur hatte sie blutjung geheiratet, den Arzt Eugène Delamare im Provinznest Ry. Aus Langeweile und Frust ging sie Liebschaften ein, vernachlässigte den Haushalt und machte Schulden. Von ihren Liebhabern fallengelassen und von Gläubigern bedrängt, vergiftete sich Delphine alias Emma. Der Fall hatte 1848 in Frankreich landesweit für Aufsehen gesorgt, und Flauberts Freunde Maxime Du Camp und Louis Bouilhet hatten dem Schriftsteller geraten, aus diesem fait divers einen Roman zu machen.

Das Prinzip ist sich gleich geblieben: Knapp 150 Jahre später erfuhr der niederländische Autor Arnon Grünberg von einem Botschaftsangestellten die Anekdote, die ihn zu seinem Roman Gnadenfrist inspirierte: Bei der Geiselnahme auf einem Empfang in der japanischen Botschaft in Lima 1996 waren seltsamerweise keine holländischen Diplomaten anwesend. Möglicherweise waren sie von einem Mitglied der Guerillagruppe Tupac Amaru gewarnt worden, einer Frau, die mit einem niederländischen Diplomaten eine Affäre hatte. Im Roman heißen sie Malena und Jean Baptist Warnke. Auch Anthony McCartens Superhero beruht auf einer ›vermischten Meldung‹, die 2001 in Sydney für kontroverse Schlagzeilen sorgte. Ein 15jähriger Junge, der unheilbar an Krebs


ünemann h c S n ia t is r h C

r e t n u n i e l l A Frisören

e 50 000 Frisör n in London! he sc en M um e t, rt isie r Stad o viele gut fr ktober in de elt sind im O W en nz alon Interga ›S r m aus de -Messe, de ör is Fr n te eit größ bieten hat: he Neues zu auf der weltw nc ra B e di das man sehen, was dermaterial, national‹, zu , dieses Wun an ieit T s m au eleisen it sp Haarscheren cht. Haarbüg au br en en iz rf he hä es Vor niemals zu sc die ohne lang amikflächen, er ben 5 000 K ha en tt en la gelg den Frisör l al on V . sind all ergattert, einsatzfähig oyal Albert H R e di r fü e kart Bühne zeieine Eintritts esten auf der B r de n te es die B . r stellen kann wo am Abend und Ringfinge aaren alles an H it m mit Daumen an re m t, wie Farbe he ch Sc ni e e in gen, was er ke pi en, die . Ich ka Ich kann en . hr ör fa is Fr re uren und Bas aa in H Ich bin ke mit in die all diesen Sä it da m n Chemieunter, he ht sc sc n en at deren M e ich scho im e Haare kl di an di d f n, un ge au ör. in se en br lt as g ha in Gan Prinz ist Fris rblose M figur Tomas iak Prozesse n man eine fa an on en m w om , m R mA ht n ne te tu ei e ts vo en sein. M Dunst e Frisör ngen und im tet, Frisör zu Tagen so viel ri up en nd ha es ei be di r e in aa m ni H ins h habe ll für To as , wo sich nden habe. Ic te auch ein Fa nd in London ta U . nn rs rn kö ve t te da it ch hl d, ni ir tw richt riminalfall sc und gebürste en dritten K fönt, toupiert ge t, rb p-Stylist, Er soll in sein fä ge , Mit seinem To schnippelt . ge ch el ei vi er so -B o ge meln, w bedrängt Backsta lten Models, mich in den fahre los. äh h st Ic rw eu . se hl in au sc se , er in sein erden Prinz dr aus München icht die Köpfe Pyramiden w der Starfrisör vollbringen. rt er im Neonl ie en is ur fr uen, is n ha Ulrich Graf, Fr de sc e än chs H lter zu dersam ylistin und se über die Schu und links wun n ts er ch st isör, ei re e M Fr di n seiner Farbst in he, de r Teams, h bin ke en. Ich versuc en. Sorry, ic isten andere ht ss yl oc St pa fl n en ge zu ör r de ab is te n vo Fragen elt, Nes unter Fr ent für meine rme gedrechs Ich bin allein r. Tü om lle t, M te er n zu ts m ge if n ti m el hr zi ge r einz bin Sc den rich mbildner. Ich stehen, und wie jedes Haa tü h, zu os lic K eg ög n W ei m im al ha un m ohne nicht Bucking m ümmel so Choreograph, d Street und as ist im Get or in D xf ke O , e. el n, ht od ic re M ie ch kein rn? zu spaz meine Ges zu verhedde n Hyde Park n Anfang für i und Geföne re er, durch de ss ch es be ppig aus. und suche de G ru ch im st do franst es vielleicht örtruppen en is es nd Fr e E n är n de W de . en zwisch kämmen ig und an pt mit Friatt mich hier m das Konze dick, zu wulst st ih n, zu ss t he is da l se ei ne zu rt aa te, oh Palace an Panne. Das H m lösen könn es still. Eine dieses Proble er ie w mmen: , ko gt Plötzlich ist in le re ich sie he erhaft über eb he fi f se , ra gt G ie fl nd hren h lang Und währe hie um die O d unglaublic e sind es, un d Choreograp el un vi , el re od swich aa M Ip H r, s su ird au ich rote hat unglaubl Roman. Sie w au Im . Fr ie e ar ng ju em Die nne sie Ros noch. Ich ne sind sie auch in Konzept in. n Müll und se Studentin se de ne in ei l d ei un rt aa en H komm beginnt die Graf das it läuft. Bald wirft Ulrich Ze ät lit ie D ea . R es r In de was Neu h Graf. Die Er kreiert et ons für Ulric ti n. fe va O au H ng n di an über de er Erfolg. St ird ein riesig rschwunden. zur ve st Show. Sie w ng manuskript ren ist lä aa H n te ro n rtiges Roman fe n ei gem n f Frau mit de be ra ich G d Haarfar äter legt Ulr echniken un tt it hn Sc ar Ein Jahr sp n se Rosem ie ungen vo und sagt: »Die die Beschreib t er ha zt r E uf e. se t it Se rt. Jetz gekommen.« hler korrigie wie gerufen Fe f on au nd d Lo un in n ir lese n wäre m n roten Haare mit den tolle . nur im Roman gibt es doch e di h, ic sw s Ip Studentin au Aber so eine

Foto oben: © Ulrich Graf, München

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Illustration: © Paul Flora

erkrankt war, wollte vor seinem Tod unbedingt entjungfert werden. Freunden wurde es erlaubt, ihn aus dem Krankenhaus zu holen und ins Rotlichtviertel von Sydney zu entführen. »Er war sehr, sehr glücklich, und nur traurig darüber, dass es so schnell vorbei war«, sagte der KrankenhausPsychologe gegenüber der Presse. Anthony McCarten stieß am 23. Dezember 2001 im Daily Telegraph auf diese Geschichte, vier Jahre später war der Roman fertig. (Den Artikel kann man noch heute online auf www.telegraph.co.uk nachlesen: »Medical row over ›sex therapy‹ for dying boy«). Ian McEwan findet auch in Wissenschaft und Forschung Inspiration, ebenso wie in realen Begebenheiten. Das Thema seines Romans Liebeswahn beispielsweise ist das Clérambault-Syndrom, an dem Stalker häufig leiden. Und das berühmte Anfangskapitel ist von einem Vorfall in Süddeutschland inspiriert: Ein Vater und sein erwachsener Sohn versuchten bei starkem Wind einen Werbeballon anzubinden, wurden dabei in die Höhe gerissen und stürzten zu Tode. Nach einer Lesung wurde Ian McEwan gefragt: »Warum muss sich Ihre Inspiration von Zeitungsnachrichten näh-

ren?« McEwans Antwort: »Liebeswahn ist pure Fiktion, der Roman basiert weder auf einem eigenen Erlebnis noch auf einer besonderen Begebenheit im Leben von jemand anderem … auch wenn es jenen Ballonunfall in Süddeutschland tatsächlich gab. Wenn Literatur die Welt auf irgendeine interessante Weise abbilden soll, ist es unvermeidlich, und vielleicht sogar notwendig, dass Schriftsteller alle Stoffe benutzen, die sie wollen. Vielleicht gibt es da eine Divergenz zwischen der angloamerikanischen Tradition auf der einen Seite und der kontinental-europäischen auf der anderen. In der angelsächsischen Welt sind die Grenzen zwischen Fiktion, Journalismus und Sozialreportage oft verwischt. Vielleicht schätzt die europäische Tradition reine Erfindung als das Höchste ein.« Am Schluss von Liebeswahn ist ein Artikel aus der British Review of Psychiatry abgedruckt, in dem die Professoren Robert Wenn und Antonio Camia über einen realen Fall von Clérambault-Syndrom berichten. In einer Besprechung des Romans kritisierte die New York Times: »Wenn man im Anhang auf die Fallgeschichte stößt, auf der der Roman basiert, weiß man, wo das Problem liegt. McEwan hat sich einfach zu nah an die Fakten gehalten und seiner Phantasie nicht genug Freiraum gelassen.« Der Rezensent war wunderschön in die Falle ge-

tappt, denn es gibt weder die British Review of Psychiatry noch die beiden Professoren (die beiden Nachnamen bilden zusammen ein Anagramm zu Ian McEwan). Der ganze Fallbericht war nichts weiter als eine kleine literarische Spielerei von Ian McEwan und eine ausgefuchste Rache an allen, die denken, von realen Begebenheiten inspirierte Romane taugten weniger. Was macht man aber, wenn die Idee einmal da ist? Dann fangen die Probleme erst an, denn »Genie ist ein Prozent Inspiration und neunundneunzig Prozent Transpiration«, so Thomas Alva Edison. Georges Simenon rechnete einmal aus, dass er während der Niederschrift eines Romans fünfeinhalb Kilo verlor, pro Kapitel rund achthundert Gramm. Inspiration ist eben nicht alles, Schweiß auch nicht. William Faulkner behauptete: »Die chemische Analyse der sogenannten dichterischen Inspiration ergibt 99 % Whisky und 1 % Schweiß.« Wie Christian Schünemann, Georges Simenon, Patricia Highsmith, John Irving oder Paulo Coelho in den folgenden Beiträgen zeigen: Eine Regel gibt es nicht.


Georges Simenon

Der auslösende Moment ch war mit einem Boot, der Ostr ogoth, in Delfzijl angekommen … Eines Morgens ging ich in das kleine Café, wo ich immer hinging und das ich seh r mochte. Es war ziemlich dunkel, strahlte aber eine außerge wöhnliche Sauberkeit aus … Ich bestellte einen Genever mit einem Tropfen Zitronensirup und trank ihn in aller Ruhe, dan n trank ich noch einen, und ich möchte nicht beschwören, dass ich nicht noch einen dritten bestellte … Wodurch wurde das alles in Gang gesetzt? Durch drei Gläschen in der ruh igen und harmonischen Atmosphäre meines kleinen Cafés? Durch die Penner, die ich in allen Häfen getroffen hatte? Ich bin unfähig, darauf zu antworten. Den Mechanismus kenne ich im Grunde nicht. Es ist nie der feste Wille da, ein Buch zu schreiben. Es beginnt eher mit einer Art Unbehagen. Vielleicht das Bedürfnis, meiner unmittelbaren Realität zu entf liehen? Ich bin mir dessen nicht sicher, aber es ist eine Erk lärung. Sobald eine Figur geboren ist, nimmt sie Form an, und ich möchte schwören, dass sie dann aus sich selbst heraus wei terl ebt. Wie andere Romanciers auch, neh me ich an, erhalte ich bis heute imm er noch eine große Zahl von Briefen. Sie kommen aus den verschiedensten Länder n, den vers chiedensten Milieus auch, Ärzte, Psychologen, Psychiater, Professoren, dann auch noch die große Masse Menschen, die keine intellektuel len Berufe haben. Die meisten dieser Briefe, von wem sie auch kommen, stellen mir nun dieselbe Frage: »Wie läuft der Mec hanismus Ihres Schaffens ab?« Beim ersten Maigret »Maigre t und Pietr der Lette«, der auch der erste Roman war, den ich unter meinem eigenen Nam en erscheinen ließ, versuche ich immer noch herauszufinden, was das auslösende Moment war. Es geschah in Delfzijl in dem kleinen Café mit den so schön polierten Tischen und beim Geruch des Genevers. Aber die anderen Romane? Ich glaube, dass eine Winzigkeit aus reicht, ein bestimmtes Licht, eine bestimmte Art von Reg en, der Geruch eines Fliederbus che s oder eines Misthaufens. So wird in mir ein Bild aus gelöst, das ich mir selbst nicht aus gesucht habe und das manchmal keinerlei Beziehung hat zu der Empfindung ganz am Anfang: Das Bild eines Quais in Lüttich, Antwerpen ode r in Gabun. Ein wimmelndes Dur cheinander von Gesichtern. Lange Zeit gehörten dies e Bilder fast ausschließlich zu meiner Kinder- und Jugend zeit. Wir waren eine sehr große Familie. Mein Vater hatt e zwölf Geschwister, meine Mutter auch zwölf, und das ging von der Nonne bis zum Clochard, vom Selbstmörder bis zum Großgrundbesitzer, von der Pächterin eines Bistros für Seeleute bis zu Patienten geschlossener Abteilungen in Nervenheilanstalten. Den Rest schenke ich mir! Wenn ich die Romane noch einmal lesen würde, die ich bis zum Alte r von etwa vierzig Jahren geschrieben habe, würde ich wah rscheinlich Ähnlichkeiten zwischen meinen Gestalten und Gestalten aus der Wirklichkeit wiederfinden. Keine genaue n Porträts. Nichts Präzises. Ohne es zu wissen, hatten sie mich in eine Stimmung versetzt, und auch ich selbst hatte davon keine Ahnung. Aus dem Französischen von Hans

Jürgen Solbrig

Foto: © Epoca / Sergio del Grande

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Patricia Highsmith

Ripleys Geburt de, erinnere n den Ort, wo Ripley ›geboren‹ wur talt ohne Ges als t dor ich mich, weil er sich Es war te. iste einn Geschichte in mein Gedächtnis rbst hhe Frü r ode in Positano, im Spätsommer nte woh Ich . t war 1951, als ich zum ersten Mal dor euns vor el, und mit einer Freundin in einem Hot Balmern war ein rem Zimmer oder unseren Zim das Meer. Es ist und nd Stra kon mit Blick auf den te mit angetäueine idyllisch geschwungene Küs nen Fischerklei en ten oder vor Anker liegend und unangenehm für nig booten. Aber der Strand ist stei gegen sechs Uhr auf ich die Füße. Eines Morgens wachte kühl und ganz still. Die und ging auf die Terrasse. Es war den Klippen konnte ich hoch hinter dem Hotel aufragen s ein Stück. Keine Mennicht sehen, nur rechts und link ts regte sich, nur eine schenseele weit und breit, nich auf einmal einen jungen Möwe da und dort, da sah ich daherkommen, der mit Mann in Shorts und Sandalen ulter von rechts nach einem Handtuch über der Sch blickte zu Boden – nalinks am Strand entlangging. Er konnte nur sehen, dass türlich, wegen der Steine. Ich hdenkliches, es schien er ganzen Haltung lag etwas Nac sein In e. hatt r Haa kles dun r er glattes, ehe Er wirkte auf mich nicht wie der Haut. Und warum war er allein? ihm nicht wohl zu sein in seiner les Bad zu nehmen. Hatte er sich Stunde allein loszieht, um ein küh sportliche Typ, der zu so früher wieder gesehen. ging in ihm vor? Ich habe ihn nie mit jemandem gestritten? Was die ersten Seiten schrieb – da ley-Geschichte ausdachte, als ich o Und als ich mir dann die erste Rip Gestalt am Strand von Positan da die Szene mit der einsamen mir ob r, meh t nich gegar fest ich ß ich wei das Bild nicht schriftl ommen ist oder nicht. Ich hatte überhaupt wieder in den Sinn gek f erhielt einen anderen r Positano-Szene benutzt (das Dor eine in nie h auc n dan es e hab halten und in meinem Gehirn, nadennoch unauslöschliches Foto und s ene lich verb ein wie war Namen). Es de: »Woher hatten Sie diese Idee ter von Journalisten gefragt wur hezu vergessen, bis ich Jahre spä t zerbrach, mich zu erinnern vermir den Kopf nach einer Antwor mit Ripley?« Und während ich en einsamen jungen Mann am , hatte ich auf einmal wieder dies suchte, wo das nur gewesen war mindestens zweihundert Metern b sein Aussehen – wie es mir aus die Strand vor mir, und ich beschrie nengelernt?« lautete natürlich . »Haben Sie diesen Mann je ken war en mm eko vorg tung twir fern Gas r Ent noch je, etwa in eine nicht einmal genau, ob ich ihn ß wei ich und , Nein ge. r Fra zwa e nächste ersten Europareis gesehen habe. Ich war auf dieser der wie o, itan Pos in Bar r eine au r schaft ode t im Traum eingefallen, Aussch o geblieben, aber mir wäre nich noch ein paar Tage in Positan gesehen hatte. Wozu einmal frühmorgens am Strand ich den en, halt zu r ane erik nach diesem Am öglich alles kaputtgemacht. Ein näheres Hinsehen hätte wom auch, was hätte ich davon gehabt?

Illustration: © Paul Flora

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e Uhde Aus dem Amerikanischen von Ann


John Irving

z t a S e t z t e l Der

nach Rutund unterwegs war in Vermont h Ic . . Ich 05 20 ar an nu en Rom nach lles begann im Ja dachte über dies h Ic n. gi laster in den ur Pf ir es ch uh Hand p ging, ein ra m ca er land zu meiner öß wusste auch Fl m sportierte. Ich n Koch in eine an ne tr ei n se um üs es Fl f ss r Trift au fzog. Auf dem wusste erst, da me noch bei eine en Sohn allein au ig äm hr st -jä um 12 Ba en in an tte und se diesen Song 1950ern, als m Blue«. Ich hatte Frau verloren ha e in in se Up ed üh fr gl an ch »T Ko job in the lan-Song, schon, dass der anders: »I had a ein alter Bob-Dy f nz lie ga e en ph ag W ro St m ne ich eine day the CD-Player in mei Plötzlich hörte much /And one ert Mal gehört. d like it all that nd di r hu ve n ne ho I sc t t Bu m / bestim cook for a spell s / Working as a great north wood So funktioniert ax just fell.« meines Romans. tz Sa n te tz le n meiner Ärztin, hatte ich de Sprechzimmer irurgin ankam, im ch ich nd n Ha bi r um ne ei Ka d als die Ärztin n Satz an. Als ich bei m Rezeptblock. Un e mit dem letzte n ng ei fa s h al Ic . ts er ch m ni zept aussteleibtisch lag das bei mir im mir selbst ein Re e Auf ihrem Schr . rd ift wü St ich m , ne sie ei h, dachte suche ich nach vollschreiben sa ich ihren Block m d un m sich sein ka in here nn – so musste ittel oder so. gerade erst bega zm r, er ue hm te Sc en Twisted n Ab ei in e r t len, fü ten Nach n, das groß isse seiner letz , dass sein Lebe gn hl ei fü Er Ge n s den re da ba rw tte ht »Er ha den Titel ve en te und furc n Satz auch für te während der Nö tz n, le be n uf ha de ra t da ich hl t fü ge es nich Vater ge mir, bei dem es Absicht. Ich le eite Roman von ist zw er r hi de ll, st fa er Zu ist eher River.« Es Welt sah« war es p und wie er die . ch rli konnte. Bei »Gar tü mich na gelingt, freut es an, aber wenn es bei Diogenes. h im April 2010 lic ht sic us ra vo t ng erschein an von John Irvi – Der neue Rom

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von Planta nischen von Anna Aus dem Amerika


Paulo Coelho

Vor dem Computer

Illustration: © Paul Flora, Foto: Guggen heim Stills

/ © Diogenes Verlag

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in Buch schreiben gehört zu den einsamsten Tätigkeiten der Welt. Alle zwei Jah re setze ich mich vor den Computer, schaue auf das unbekannte Meer meiner Seele und sehe, dass es dort ein paar Inseln gibt – Ideen, die soweit gereift sind , dass sie erforscht werden können. Dann besteige ich mein Boot namens Sprache und halte Kurs auf die nächstgelegene Insel. Unterwegs gelange ich in Strömun gen, Winde, Stürme, aber ich rudere immer weiter, bis zur Erschöpfung, bis ich merke, dass ich von meinem Kurs abgekommen bin und die Insel, zu der ich unterw egs war, am Horizont nicht mehr zu sehen ist. In diesem Augenblick gehen mir grauenhafte Szenarien durch den Kopf, zum Beispiel die, dass ich den Rest meines Lebens damit zubringen könnte, über frühere Erfolge zu sprechen, oder dass ich junge Schriftsteller erbi ttert kritisiere, nur weil ich selber nicht mehr den Mut aufbringe, eigene neue Büc her zu publizieren. War es nicht mein Traum, Sch riftsteller zu werden? Also mus s ich weiterhin Absätze, Kapitel schaffen, bis an mei n Lebensende schreiben, ohne mic h vom Erfolg, von Niederlagen, von Versagensä ngsten lähmen zu lassen. Denn was hätte mein Leben sonst für einen Sinn? Ziellos am Strand von Copaca bana spazieren gehen? Vorträg e halten, weil reden einfacher ist als schreiben? Mich kalkuliert-mysteriös aus der Welt zurückziehen, zur lebenden Legende wer den und auf viele Freuden verz ichten? Nach diesen Schreckensvisione n fasse ich den Entschluss: bess er jetzt anfangen (ich muss imm Feder finden, aber das steht auf er eine weiße einem anderen Blatt). Ich merke, jedes Mal wenn ich ein Buch sch holt sich derselbe Prozess: Mor reib e, wiedergens wache ich um neun auf, bere it, mich gleich nach dem Frühstü den Computer zu setzen (früher ckskaffee an war es die Schreibmaschine); ich lese die Zeitungen, mache eine gehe in die nächste Bar, um mit n Spaziergang, den Leuten ein Schwätzchen zu halten, komme nach Hause zur mir ein, dass ich ein paar Leute ück. Dann fällt anrufen muss. Ich starre den Com puter an. Nun ist es bereits Mittags ein Sandwich und sage mir, eige zeit, ich esse ntlich hätte ich seit elf schreib en sollen. Anschließend muss durchsehen. ich meine E-Mails Wenn ich damit fertig bin, mache ich mich daran, Ordner aufzurä umen. Das mache ich eine Stunde mein Computer zum ordentlichs lang – in der ten der Welt wird. Dann ist fast schon Zeit fürs Abe ndessen. Nur um vor mir selber kein schlechtes Gewissen mehr ich mir, ich könnte ja noch eine zu haben, sage halbe Stunde schreiben. Ich beg inne aus Pflichtgefühl – aber plötzlic es mich, und ich höre nicht wie h überkommt der auf. Die Hausangestellte ruft mich zum Abendessen, ich bitt zu unterbrechen, eine Stunde spä e sie, mich nicht ter ruft sie mich wieder, ich hab e zwar Hunger, aber eine Zeile, Seite muss ich noch schreiben. einen Satz, eine Als ich mich an den Tisch setz e, sind die Speisen kalt, ich sch und eile zurück an den Compute ling e sie hinunter r – jetzt bin nicht ich es mehr, der alles kontrolliert, ich komme auf ich nie zuvor gedacht habe, die Dinge, an die ich mir nie hätte träumen lassen. Ich trinke eine Tasse Kaffee und erst um zwei Uhr morgens, als noc h eine, und mir vor Müdigkeit die Augen zufa llen, höre ich mit dem Schreiben Ich gehe zu Bett, mache mir noc auf. h eine Stunde lang Notizen zu den Dingen, die ich im nächsten Abs ten will, die sich aber nachträglic atz verwerh immer als vollkommen nutzlos erw eisen – das Notieren dient nur nen Kopf zu leeren, bis der Schlaf dazu, meikommt. Ich gebe mir selber das Versprechen, am nächsten Tag zufangen. Doch der nächste Tag schon um elf anverläuft wie der Tag zuvor: Spa ziergang, Plausch in der Bar, schlechtes Gewissen, Wut. Ich zwi Mittagessen, nge mich zur ersten Seite, und so weiter und so fort. Anders geh t es nicht. Aus dem Brasilianischen von Maralde Meyer-Minnemann




Interview

Maurice Sendak im Gespräch mit Bill Moyers

Reif sein ist alles Bill Moyers: Lange, bevor ich Sie persönlich kennenlernte, hat mir mein Freund Joseph Campbell einmal erzählt, dass die folgende Szene aus Wo die wilden Kerle wohnen eine der großartigsten Stellen der Literatur sei. Er hat das Buch geholt und mir die Stelle vorgelesen: »Und als er dort ankam, wo die wilden Kerle wohnen, brüllten sie ihr fürchterliches Brüllen und fletschten ihre fürchterlichen Zähne und rollten ihre fürchterlichen Augen und zeigten ihre fürchterlichen Krallen, bis Max sagte: ›Seid still!‹, und sie zähmte mit seinem Zaubertrick: Er starrte in alle ihre gelben Augen, ohne ein einziges Mal zu zwinkern. Da bekamen sie Angst und nannten ihn den wildesten Kerl von allen und machten ihn zum König aller wilden Kerle.« Und dann hat Joseph Campbell gesagt: »Dies ist ein großartiger Augenblick, denn nur wenn der Mensch seine eigenen Dämonen bezwingt, kann er König seiner selbst, wenn nicht der ganzen Welt werden.« 42

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Maurice Sendak: Sehr ergreifend. Das habe ich gar nicht gewusst. Bill Moyers: Und Sie haben sich das einfach so ausgedacht?

Ich habe mir nie vorgenommen, Kinderbücher zu schreiben. Maurice Sendak: Das habe ich mir einfach so ausgedacht. Bill Moyers: Wie lang ist das her? Maurice Sendak: Sehr lang. Als ich Wo die wilden Kerle wohnen schrieb, war ich 32. Und wenn er recht hat, ist es wirklich ein schöner und sehr bewegender Gedanke. Bill Moyers: Glauben Sie, dass er recht hat? Müssen wir alle, Kinder wie Erwachsene, unsere ungezähmten Leidenschaften in den Griff bekommen? Maurice Sendak: O ja, wir sind Tiere. Wir sind gewalttätig, wir sind kriminell. Wir unterscheiden uns gar nicht

sonderlich von den Gorillas, den Affen, diesen wunderbaren Tieren. Dabei sollen wir zivilisiert sein. Man erwartet von uns, dass wir täglich zur Arbeit gehen, dass wir nett zu unseren Freunden sind und unseren Eltern Weihnachtskarten schicken. All das sollen wir tun, und das macht uns ganz schön zu schaffen, da es in heftigem Widerspruch zu dem steht, was wir von Natur aus wollen. Und wenn ich mir überhaupt etwas anrechnen darf, dann vielleicht die Tatsache, dass ich Kinder so sein lasse, wie sie wirklich sind: unhöflich, liebevoll … sie wollen nichts Böses. Sie kennen einfach nur den rechten Weg nicht. Doch wie sich dann manchmal herausstellt, ist der sogenannte ›rechte‹ Weg der völlig falsche Weg. Was für ein ungeheures Durcheinander. Bill Moyers: Ist das Schreiben von Büchern manchmal so wie ein Guerillakrieg? Maurice Sendak: Ja, gut gesagt. Man kämpft wirklich die ganze Zeit gegen

Illustration: Maurice Sendak, Foto rechts: © Time & Life Pictures / Getty Images, Foto Filmplakat: © 2009 Warner Bros. Ent. All Rights Reserved

»Maurice Sendak gilt heute zu Recht als einer der besten Kinderbuchautoren der Welt, wenn nicht als der beste überhaupt«, so die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Für das Time Magazine ist er sogar der »Picasso des Kinderbuches«. Für seine Fans ist er vor allem der Vater des wohl beliebtesten Bilderbuchs der Welt, Wo die wilden Kerle wohnen, das Hollywood jetzt verfilmt hat. Grund genug für ein langes Gespräch über sein Leben und sein Werk.


Maurice Sendak

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Frau würde sich bestimmt gern mit Ihnen unterhalten.« So war es immer. Immer. Als dann der Erfolg kam, gab man den Frauen den Laufpass. Denn sobald Geld im Spiel war, kamen die Männer und haben alles vermurkst. Sie haben das Geschäft ruiniert. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit. Und ich habe gedacht: »Das hast du getan.« Mein Selbstvertrauen ist nie besonders ausgeprägt gewesen. Also habe ich mich versteckt, ganz wie die Opernsängerin Christa Ludwig es gesagt hat, habe mich in dieser bescheidenen, Kinderbuch genannten Form versteckt, um mich ganz ausdrücken zu können.

Kinderbücher waren schlicht das unterste Ende der Fahnenstange. Ich wollte kein Maler werden, wollte keine ausgefallenen Zeichnungen anfertigen, keine Bilder für irgendwelche Galerien. Ich wollte mich verstecken, wo mich niemand fand, wo ich mich gänzlich zum Ausdruck bringen konnte. In meinen besten Büchern führe ich einen Guerillakrieg. Bill Moyers: Warum haben Sie Wo die wilden Kerle wohnen geschrieben? Maurice Sendak: Ich weiß nicht, darauf habe ich keine Antwort. Lassen Sie mich aber kurz erzählen, wie es zu dem Buch kam. Ich hatte bereits eine Reihe von Büchern veröffentlicht, aber damals, in den Fünfzigern, konnte man kein Buch mit eigenen Bildern machen, wenn man nicht schon eine Reihe Bücher geschrieben hatte, die ein wenig Geld einbrachten oder doch zumindest bewiesen, dass man Talent besaß und sich an ein Buch mit eigenen Bildern wagen konnte. Damals sprang nicht viel Geld dabei heraus. Ich glaube kaum, dass

Madonna in den Fünfzigern auf die Idee gekommen wäre, ein Kinderbuch zu schreiben. Aber dann war es so weit. Ich hatte zehn Jahre Lehrzeit hinter mir und konnte das Risiko eingehen. Meine Lektorin hieß Ursula Nordstrom, ohne Frage die beste Kinderbuch-Lektorin überhaupt, eine hinreißende, leidenschaftliche Frau, die Talent auf zehn Meilen entdecken konnte. Ich habe nicht studiert, bin auf keine Kunsthochschule gegangen. Meine Zeichnungen waren so plump, meine Schuhe glänzten wie die von Mutt und Jeff in den Comics von Walt Disney. Aber sie hat über all das hinweggesehen und mich geformt, mich dazu gebracht, erwachsen zu werden. Und dann war es irgendwann Zeit für mein erstes Bilderbuch. Als Titel hatte ich vorgeschlagen: Wo die wilden Pferde wohnen. Ursula Nordstrom hat ihn geliebt, diesen Titel, fand ihn poetisch und vielsagend. Also gab sie mir einen Vertrag für Wo die wilden Pferde wohnen, doch nach ein paar Monaten stellte sich dann zu ihrem Kummer und Ärger heraus, dass ich keine Pferde zeichnen konnte, dabei musste das ganze Buch voller Pferde sein, wenn es einen Sinn ergeben sollte. Ich erinnere mich an ihren ätzenden Ton, als ich die unterschiedlichsten Sachen ausprobierte. »Maurice«, sagte sie schließlich, »was kannst du eigentlich zeichnen?« Und ich dachte, na ja, alles Mögliche; ich kann alles Mögliche zeichnen, nur ohne Vertrag kann ich überhaupt nichts zeichnen. Aber dann ist jemand gestorben, und mein Bruder, meine Schwester und ich, wir waren beim Schiwe-Sitzen, einem jüdischen Trauerritual, und wir konnten nicht anders, wir mussten dauernd lachen, wie hysterisch. Ich weiß noch, dass unsere Verwandten aus der alten Heimat gekommen waren, die wenigen, die herüberkommen konnten, ehe sich die Pforten schlossen, alles Verwandte mütterlicherseits. Was haben wir sie verabscheut! Die Grausamkeit der Kinder, Sie wissen ja, Kinder sind unerbittlich. Und diese Leute sprachen

Illustration: © Maurice Sendak

sich selbst. Ich weiß nicht, ich habe mir nie vorgenommen, Kinderbücher zu schreiben. Ich fühle mich nicht berufen, Kinder zu retten; ich habe ihnen nicht mein Leben geweiht. Ich bin auch kein Hans Christian Andersen. Niemand baut mir in irgendeinem Park ein Denkmal, auf dem Kinder herumklettern. Kommt nicht in Frage, okay? Weshalb trotzdem? Letztens habe ich ferngesehen, und seitdem habe ich so eine Ahnung. Es war eine Sendung über Christa Ludwig, eine großartige Opernsängerin, die ich mal in Europa gehört habe. Jetzt zieht sie sich von der Bühne zurück. Am Ende dieses Konzerts gab sie überraschenderweise ein Interview. Sie sagte: »Es ist gut jetzt.« Daraufhin wurde sie gefragt: »Warum lieben Sie Schubert? Sie singen fast nur Schubert.« Der Moderator schien Schubert nicht besonders zu mögen. »Ich meine, er ist so simpel, fast wie ein Wiener Walzer.« Und sie lächelte und sagte: »Schubert ist groß und sehr zartfühlend, doch hat er sich eine Form gesucht, die verhalten und bescheiden schien, damit er in diese Form gleichsam hineinschlüpfen und emotional explodieren konnte, damit er seine Gefühle in dieser Miniaturform auf jede nur mögliche Weise ausdrücken konnte.« Und ich war plötzlich schrecklich aufgeregt. Schreibe ich vielleicht deshalb Kinderbücher, habe ich mich gefragt. Schließlich habe ich mir auch eine einfache Form gesucht, eine, die in den vierziger und fünfziger Jahren wirklich sehr einfach war. Ich meine, Kinderbücher waren schlicht das unterste Ende der Fahnenstange. Wenn die Erwachsenen eine Verlagsparty feierten, wurden wir nicht mal eingeladen. Bill Moyers: Männer schrieben damals sowieso keine Kinderbücher. Das war eine Welt der Frauen, nicht wahr? Maurice Sendak: Stimmt, es war eine Frauenwelt. Und in dem Augenblick, in dem man auf eine Party kam, wurde man scheel angesehen. »Was machen Sie denn so?« – »Ich schreibe Bücher für Kinder.« – »Ach ja? Meine


Illustration: © Maurice Sendak

kein Englisch, sie waren ungepflegt, hatten scheußliche Zähne. Nasen sprossen aus wirrem Haar, und aus den Nasen sprossen Härchen. Sie hoben uns hoch, umarmten uns, küssten uns: »Ach, fressen könnte ich dich.« Wir wussten, sie würden alles essen, einfach alles. Das waren sie also, die wilden Kerle. Und als ich an die Diskussionen mit meinem Bruder und meiner Schwester dachte, daran, wie wir über diese Leute gelacht haben, die wir später so lieben lernten, da beschloss ich, sie zu zeichnen, die wilden Kerle, meine Onkel, Vettern und Tanten. Und da waren sie. Bill Moyers: Diese wilden Kerle sind also … Maurice Sendak: Ja, meine Verwandten, meine jüdischen Verwandten. Bill Moyers: Das Erscheinen von Wo die wilden Kerle wohnen war eine Riesensensation. Bibliotheken wollten es nicht ins Regal stellen, ein Bibliothekar sagte sogar: »Das ist kein Buch, das ein sensibles Kind im Dämmerlicht finden sollte.« Maurice Sendak: Ja, wie im Chor hieß es: »Gebt das Buch keinen Kindern.« Bill Moyers: Aber warum? Maurice Sendak: Wahrscheinlich war es einfach das erste amerikanische Kinderbuch, in dem das Kind frech zur Mutter ist und sie sogar bedroht. Unmöglich, absolut unmöglich. Und dann sperrt sie den Jungen obendrein auch noch auf sein Zimmer und gibt ihm nichts zu essen. Unmöglich. So was tun Mamas nicht. Und Kinder regen sich nicht über ihre Eltern auf. Unerhört, so etwas. Aber das Schlimmste ist: Er kommt nach Hause, und sie hat ihm etwas zu essen hingestellt. Er wird nicht bestraft. Bill Moyers: Als Sie erzählten, wie Max sich über seine Mutter ärgert, haben Sie da geahnt, dass man sich so darüber aufregen würde? Maurice Sendak: Nein. Meine Mutter war oft sauer auf mich. Das war für mich überhaupt nichts Ungewöhnliches. Ich meine, mir kommt es sogar vor, als ob sie ständig sauer auf mich gewesen wäre. Sie hat mich auf Jiddisch einen ›wilden Kerl‹ genannt und

durch das ganze Haus gejagt. Also habe ich mich auf der Straße versteckt und gehofft, dass sie alles vergessen hatte, wenn ich mich abends wieder in die Wohnung schlich. Für mich war das normal, so wie man sich duckt, wenn der Vater nach einem ausholt. Meine Mutter war hart, sehr hart. Bill Moyers: Wurden Sie je ohne Essen ins Bett geschickt? Maurice Sendak: Ich bin oft ohne Abendessen ins Bett gegangen, weil ich gehasst habe, was meine Mutter uns gekocht hat. Das war für mich keine Strafe. Wenn sie mich bestrafen wollte, hat sie mich zum Essen gezwungen. Das stimmt, wirklich. Wir hausten in einer ziemlich unordentlichen, wüsten Wohnung, drei Kinder, ein hart arbeitender Vater, eine Mutter, die emotionale und psychische Probleme hatte, von denen wir aber nichts wussten. Mamis sind angeblich immer perfekt. Sie sollen für dich da sein, dich lieben, dich küssen. Filme, die wir sahen – etwa mit Claudette

Man erfindet doch keine Geschichten, man lebt sein Leben. Colbert, die ihre Kinder umarmt –, zeigten uns, wie es sein sollte. Aber so war es eben nicht, und dafür hatten wir überhaupt kein Verständnis. Bill Moyers: Wenn ich das richtig verstehe, haben Sie keine Geschichte erfunden, sondern beschrieben, was sie selbst erlebt haben. Maurice Sendak: Aber genau das ist die Kunst. Ich meine, man erfindet doch keine Geschichten, man lebt sein Leben. Ich bin aber nicht Max. Mir fehlt der Mut, den Max hat. Und ich hatte auch nicht so eine Mutter wie Max, eine Mutter, die geben, die lieben kann. Sie kennen diese kleine

Szene, sie ist völlig trivial und findet in jedem Haus statt, an jedem Dienstag oder Donnerstag: Er wird wütend, sie wird wütend. Und so machen sie weiter, bis er fünfunddreißig ist und eine Therapie anfängt, weil er sich fragt, warum er nicht heiraten kann. Ich werde oft gefragt: »Was ist aus Max geworden?« Eine etwas verschämte Frage, auf die ich gern antworte: »Na, er steckt sein Leben lang in einer Therapie und muss eine Zwangsjacke tragen, wenn er vor seinem Therapeuten sitzt.« Bill Moyers: Dies ist vermutlich eine merkwürdige Frage, aber ich muss Sie Ihnen trotzdem stellen: Sie wurden doch 1928 geboren, nicht wahr? Maurice Sendak: Ja. Bill Moyers: Und ich habe gehört, dass Ihnen die Entführung und Ermordung des kleinen Lindbergh schrecklich zu schaffen gemacht hat … Maurice Sendak: O ja! Sehen Sie, dieser Junge, das war ich, es ging allein um mich … Das Kind wurde 1932 entführt, am 2. März 1932, also war ich etwa dreieinhalb Jahre alt. Ich kann mich noch genau erinnern. Ich weiß, dass ich nicht lesen konnte, aber das Radio war ständig an. Ich erinnere mich an die tränenerstickte Stimme von Frau Lindbergh, als sie im Radio sprechen durfte. Sie sagte, ihr Baby habe eine Erkältung, und ob der Mann oder die Männer oder die Frauen, die ihn entführt hatten, ihm bitte die Brust mit Kampfer einreiben könnten. Es sei nur eine leichte Erkältung, aber sie wolle nicht, dass sie schlimmer würde. Daran kann ich mich lebhaft erinnern. Bill Moyers: Wenn Sie sagen, Sie seien das gewesen, dann meinen Sie, Sie hätten diese Angst gekannt? Hatten Sie Angst, entführt zu werden? Maurice Sendak: O ja, und wie. Ich war ein sehr krankes Kind und hatte Angst vor dem Sterben. Meine Eltern waren Immigranten. Sie waren nicht zimperlich, nicht diskret. Sie haben immer geglaubt, ich würde sterben. Und meine Mutter hatte geweint und geschrien, weil ich so ein krankes Baby war. Ich habe das alles gehört. Diogenes Magazin

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Foto: © The New York Times / Reduxl / laif

Ich wusste bereits sehr früh, dass ich sterblich bin. Meine Großmutter hat mir einen weißen Anzug genäht, dazu trug ich weiße Strümpfe und weiße Schuhe. So saß ich dann mit ihr auf der Veranda vor dem Haus, damit der Engel des Todes glaubte, ich sei schon ein Engel, und deshalb an uns vorbeiflog. Ich war ganz weiß angezogen, und solange ich weiß angezogen war, konnte mir nichts passieren. Bill Moyers: Man hat Sie so angezogen, um das Schicksal zu täuschen? Maurice Sendak: Ja. Ich hatte gerade eine schwere Krankheit überstanden, und in den Nachrichten ging es fast nur noch um das Lindbergh-Baby. Irgendwie gab es da für mich einen seltsamen Zusammenhang. Es hieß, ich würde nicht lange leben, das hatte man mir gesagt – das Baby der Lindberghs wurde entführt, aber es konnte doch nicht sterben, weil es schließlich ein reiches, nichtjüdisches Baby war. Es hatte blaue Augen und blondes Haar, sein Vater war Captain Marvel und die Mutter die Prinzessin des Universums. Außerdem wohnten sie in einem Ort namens Hopewell in New Jersey, wo es Schäferhunde gab, Kindermädchen und Polizei. Wie sollte da jemand unerkannt eine Mauer hochklettern, in ein Zimmer einsteigen und ein Baby stehlen können? Wie schutzlos waren Babys selbst unter den Reichen? Jedenfalls konnte ich den Gedanken nicht ertragen, dass das Baby tot war. Mein Leben hing davon ab, dass dieses Baby wiedergefunden wurde, denn wenn es starb, hatte ich keine Chance. Ich war schließlich nur das Kind armer Leute, verstehen Sie? Ich meine, es klingt vielleicht nicht besonders sinnvoll, aber so lautete für mich nun mal die Gleichung. Als aber das Baby tot aufgefunden wurde, ist etwas sehr Wichtiges in mir gestorben … ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Bill Moyers: Sie sagen, etwas sei in Ihnen gestorben. Ich bin kein Therapeut, nur ein Journalist, aber für ein paar Pennies sage ich Ihnen, was ich davon halte. Ich glaube, damals wurden all diese Bücher in Ihnen geboren,


die düsteren Phantasien, Träume, diese Vorstellungen vom Bösen in der Welt, mit dem sich die Kinder herumschlagen müssen. Maurice Sendak: In vielen Kinderbüchern kommt der Tod vor, der tote Vogel, die tote Katze, der tote dies, die tote das. Ich weiß nicht, ich behaupte nicht, die richtige Antwort zu kennen. Ich gebe sie höchstens indirekt, ich formuliere sie nicht aus, aber Kinder mögen umgeben sein von Menschen, die sie lieben und beschützen, doch Kinder müssen wissen, dass es schlimme Dinge gibt. Bill Moyers: In Ihren Büchern kommen oft mutige Kinder vor. Was muss ein Kind haben, um mutig sein zu können? Maurice Sendak: Unschuld. Eine große Unschuld, so dass es wirklich nicht weiß, wie böse die Welt sein kann. Wie kann sie denn auch nur so böse sein? Bill Moyers: Fasziniert Sie der Tod? Maurice Sendak: Ein wenig. Es ist schon seltsam mit ihm. Der Tod ist ein Abenteuer. Und wissen Sie, wer das gesagt hat? Ausgerechnet Peter Pan. Ich mag den Jungen nicht. Bill Moyers: Warum nicht? Maurice Sendak: Ach, es liegt eigentlich nicht an ihm, sondern an seinem Autor J.M. Barrie. Dieses Sentimentalisieren von Kindern, dieses Verniedlichen. Schaut man Peter Pan ins Herz, ist er doch vom Tod wie besessen. Er fürchtet sich vor dem Leben. Vergisst man die dämliche Musik und diesen blöden Unsinn – das Krokodil und Hook und all das Zeugs –, ist es eine wirklich höchst merkwürdige Geschichte. Na ja, Barrie war auch ein merkwürdiger Mann. Bill Moyers: Können Sie etwas über Ihren Freund Lloyd aus Ihrer Kinderzeit erzählen? Maurice Sendak: Was? Wieso? Bill Moyers: Weil ich glaube, dass die Lindbergh-Geschichte dazu passt, aber wenn ich mich irre und Sie nicht wollen … Maurice Sendak: Nein, Sie haben recht, es gehört dazu. Mag sein, dass ich noch im Kindergarten war, sechs

Jahre, vielleicht auch sieben, jedenfalls habe ich mit meinem Freund Lloyd gespielt. Diese hohen Wohnhäuser in Brooklyn mit den langen Wegen dazwischen, auf denen wir Kinder herumtobten. Der sicherste Ort zum Spielen. Wäsche hing zwischen den Gebäuden. Lloyd und ich spielten Ball. Der Ball war groß – ich glaube, dass er groß wie ein Basketball war. Wir haben ihn uns einfach nur zugeworfen, hoch und immer höher, um ihn dann aufzufangen. Ich habe ihn geworfen, sehr hoch, und er hat ver-

Kinder mögen umgeben sein von Menschen, die sie lieben und beschützen, doch Kinder müssen wissen, dass es schlimme Dinge gibt. sucht, ihn zu fangen, was aber nicht gelang, der Ball prallte auf und rollte auf die Straße. Und Lloyd tat, was uns strikt verboten war, er lief nämlich direkt auf die Straße. Man konnte ihn gar nicht kommen sehen. Dann weiß ich noch – ich kann mich an kein Auto erinnern, aber ich sehe Lloyd, wie er lang ausgestreckt durch die Luft fliegt. Vielleicht trügt die Erinnerung, aber ich sehe seine Arme, den Kopf – er fliegt. Dann weiß ich nur noch, dass es passiert ist, dass er gestorben ist. Er war auf der Stelle tot. Bill Moyers: Eine wahre Geschichte. Maurice Sendak: Ja, sie ist wahr. Bill Moyers: Und so viele Kinder fliegen in Ihren Geschichten – Ida, die Kinder auf den Amseln, Mickey … Maurice Sendak: Ja, in I Want to Paint My Bathroom Blue fliegt der Held durch das ganze Buch. Und im Randall-Jarrell-Buch fliegt er auch. Sie sind besser als mein Therapeut. Bill Moyers: Und billiger! Maurice Sendak: Richtig, und netter. Bill Moyers: Fühlen Sie sich für Lloyds Tod verantwortlich? (Sendak nickt.) Fühlen Sie sich für die Kinder in Auschwitz verantwortlich?

Maurice Sendak: Für die Kinder in Auschwitz fühle ich mich nicht verantwortlich – auch wenn mir meine Eltern das einreden wollten. Bill Moyers: Warum das? Maurice Sendak: Wenn ich lange draußen blieb und das Essen auf dem Tisch stand, wenn man mich schon dreimal gerufen hatte, ich aber immer noch Stoopball oder sonstwas auf der Straße spielte, dann sagte meine Mutter, ich sollte jetzt lieber raufkommen, denn: »Weißt du, dein Vetter Leo, der ist in deinem Alter, aber er darf nicht Ball spielen, der ist nämlich im Konzentrationslager und vielleicht schon tot. Du hast großes Glück, dass du hier bist, und jetzt kommst du nicht mal rauf, um zu essen. Leo hat nichts zu essen.« So wurde mir ständig ein schlechtes Gewissen eingeredet, weil ich großes Glück gehabt habe – das Glück, dass mein Vater hierhergezogen ist –, ich meine, das war doch wirklich einfach nur dummes Glück. Bill Moyers: Dass Sie dem Holocaust entkommen sind? Maurice Sendak: Ja. Mein Vater ist hergezogen, meine Mutter ist hergezogen. Sie waren arm, haben Arbeit gesucht, haben Geld verdient, Leute rübergebracht, blablabla. Aber als sie herzogen, gab es noch keinerlei Anzeichen von einem Holocaust, nur den üblichen, normalen Antisemitismus, den sie gewohnt waren. Also ja, ich habe sie gehasst. Ich habe diese toten Kinder gehasst, weil sie mir ständig vorgehalten wurden. Das war so grausam von meinen Eltern. Ich habe mich ständig so gefühlt, als wäre es unverschämt, wenn ich Spaß hatte, während diese Kinder im Ofen gebraten wurden. Bill Moyers: Wie beschwichtigen Sie Ihre Dämonen? Wie finden Sie Ihren Frieden in einer Welt, die so voller schauriger Dinge ist? Maurice Sendak: Ich weiß nicht. Ich lese. Als ich herkam, war ich zum Beispiel schrecklich aufgeregt. Wird alles gut gehen, habe ich mich gefragt, aber ich hatte ein kleines Buch mit Gedichten von Emily Dickinson dabei, das bequem in jede Tasche passt. Und ich Diogenes Magazin

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las drei, vier Gedichte. Sie ist so tapfer, diese aufregende, leidenschaftliche, kleine Frau. Danach habe ich mich gleich besser gefühlt. Kunst ist schon immer meine Rettung gewesen. Herman Melville, Emily Dickinson und Mozart sind meine Götter. Ich glaube an sie mit aller Kraft. Wenn Mozart in meinem Zimmer ertönt, bin ich mit etwas verbunden, das ich nicht erklären kann und auch nicht zu erklären brauche. Ich weiß, wenn es für mich einen Lebenszweck gibt, dann den, Mozart zu hören. Oder ich gehe im Wald spazieren und sehe ein Tier, dann ist es der Zweck meines Lebens, dieses Tier zu sehen. Ich kann es mir ins Gedächtnis rufen, kann es beobachten. Dazu bin ich hier. Und das ist wichtiger als mein Ego, wichtiger als alles, was mich ausmacht. Ein Beobachter. Bill Moyers: Ihr Freund Tony Kushner sagt, Ihr Gemüt würde von Fatalismus und Glauben überschattet. Maurice Sendak: Von Glauben? Na ja, gut. Bill Moyers: Stimmt das? Er kennt Sie. Sendak: Richtig, er kennt mich fast zu gut. Fatalismus: Ja. Die Kriege in Europa durchlebt und so viele Menschen in der Familie verloren, als ich noch ein Kind war – ich habe sie nicht einmal alle gekannt. Glaube: totaler Glaube an die Kunst. Bill Moyers: An die Kunst? Maurice Sendak: An die Kunst – Melville ist ein Gott. Bill Moyers: Und warum? Maurice Sendak: Weil ich verehre, was er schrieb. Er war ein Genie. Er schrieb Moby Dick, Pierre, Maskeraden und Billy Budd. Bill Moyers: Billy Budd, dieses ewige Kind. Maurice Sendak: Macht den Leuten eine höllische Angst und weckt ihren Hass. Weil er so gut ist. Claggart bringt ihn um. Claggart hat den Jungen im Visier. So viel Güte und blondes Haar, solche blauen Augen will er nicht tolerieren. Das macht Angst, da will man zuschlagen, ausradieren. Sind wir kein Land, wo Dinge gern ausradiert werden? Wir mögen es, 48

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wenn Menschen versagen, das lieben wir einfach. Die New York Times ist manchmal voll davon, auf jeder Seite Geschichten von Menschen, die versagen. Und geht es nicht gerade um Kinder, die vom Dach fallen oder in Öfen gesteckt werden, geht es um Skandale. Wer macht Fehler, welcher Film bringt weniger Geld, wessen Bücher sind Flops, welchen Künstler trifft man nicht mehr auf den New Yorker Partys. Übertreibe ich? Ich habe damit nichts mehr zu tun. Sagen wir einfach, es liegt am Alter. Ich bin

Kunst ist schon immer meine Rettung gewesen. von allem enttäuscht, wie es alte Leute traditionellerweise eben sind. Das macht mir zu schaffen, und ich frage mich: »Bin ich zu traditionell? Kämpfe ich nicht genug dagegen an?« Aber mir ist nicht nach Kämpfen. Bill Moyers: Ist die Zeit für eine gewisse Lebensreife gekommen? Ich meine, schließlich werden Sie niemals sterben. Das meine ich ernst. Die meisten von uns leben nur so lang, wie sich ihre Enkel an sie erinnern, aber Sie werden niemals sterben.

Buchtipp

80 Seiten, 16,7 x 17 cm, Pappband ISBN 978-3-257-00525-7

Die Abenteuer eines kleinen wohlbehüteten Hundes, der auszieht, das Leben zu erleben. Denn: »Es muss im Leben mehr als alles geben.«

Maurice Sendak: Da habe ich eine Neuigkeit für Sie: Auch mich wird’s mal nicht mehr geben! Bill Moyers: Aber die Bücher bleiben. Maurice Sendak: Die Bücher bleiben, doch ich werde tot sein. Was ich jetzt sage, ist nicht witzig gemeint und klingt hoffentlich auch nicht dumm, denn es ist einfach ein wunderbares Vermächtnis. Ich habe meinen Erfolg nie selbstverständlich gefunden, er hat mich stets überrascht, und ich habe mich immer darüber gefreut. Manche meiner Bücher liebe ich aufrichtig, andere hasse ich, wieder andere sind mir völlig egal, aber wenn man mir sagt: »Wie kannst du bloß deprimiert sein, Maurice? Deine Bücher wird es immer geben«, dann denke ich: »Ja und? Wen kümmert’s? Was soll ich jetzt machen, was soll ich für mich machen, bevor es vorbei ist?« Außerdem möchte ich wieder frei und unbekümmert sein, so wie damals als Kind, als ich mit meinem Bruder Flugzeuge gebastelt und ein vollständiges Wachsmodell der Weltausstellung von 1939 gemacht habe. Wir hatten unseren Spaß. Damit will ich sagen, dass ich eine Karriere und meinen Erfolg gehabt habe – wollte Gott, Herman Melville wäre es so ergangen, er hätte den Erfolg viel eher verdient gehabt. Herman Melville ist im Leben nichts Gutes widerfahren. Ich möchte bis an mein Ende arbeiten, für mich leben, reif sein ist alles. Was aber diese Reife ist, das muss jeder für sich selbst herausfinden. Bill Moyers: Sie zitieren Shakespeare – erinnern Sie sich an das vollständige Zitat aus König Lear? Maurice Sendak: »Dulden muss der Mensch sein Scheiden aus der Welt, wie seine Ankunft: Reif sein ist alles.« Bill Moyers: Reif sein? Fühlen Sie sich denn nicht reif genug? Maurice Sendak: Ich werde jeden Tag ein bisschen reifer. Damit will ich sagen, dass das Leben für mich mit zunehmendem Alter immer besser wurde. Ich meine, jung sein war doch wirklich eine ungeheure Zeitverschwendung. Ich war ein schrecklich unglücklicher Mensch. Ich werde oft gefragt: »Wie jung möchten Sie wie-


der sein?« Und ich antworte meist: »Na ja, sagen wir 69?« In der Zeit, die davor lag, war das Lernen so langsam, das Vollenden, die Erfahrungen, das Einschätzen dieser Erfahrungen … Erst jetzt fühle ich mich – na ja, vielleicht nicht gerade glücklich, ich weiß nicht, was das ist –, aber zufrieden. Bill Moyers: Nehmen wir das als Schlusswort – und wie geht es aus: »Und er lebte zufrieden bis an sein Ende« oder »Die Nacht senkte sich herab«? Maurice Sendak: Ich bin inzwischen so reif, dass die Leute mich richtig zum Anbeißen finden. Ach, ich weiß nicht. Sagen wir nur: Wenn ich von Reife rede, denke ich an einen Brief, den John Keats an seinen nach Amerika ausgewanderten Bruder schrieb. Er schilderte, wie es für ihn war, ein Stück Pfirsich zu essen. Es gibt kaum eine zweite Textstelle, die so sexy ist: Wie er langsam den Pfirsich in den Mund steckt. Nichts überstürzen. Lass dem Gaumen Zeit, die Frucht zu schmecken, lass sie auf der Zunge liegen, lass sie ein bisschen zergehen, lass dir den Saft aus den Mundwinkeln rinnen … Es ist, als beschriebe er eine unglaubliche Sexorgie. Und dann, dann beißt man zu. Aber reif muss er sein, der Pfirsich, köstlich muss er sein, keinen Augenblick seiner Köstlichkeit darf man verschwenden. So war das Leben für ihn, den großen Dichter. Alles zu genießen, alles was geschieht. Ich möchte reif werden.

Foto: © J. Scott Applewhite / AP / Keystone

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Wo die wilden Kerle wohnen? Auch im Weißen Haus in Washington! Während der diesjährigen Osterfeier im Garten des Weißen Hauses las Präsident Barack Obama das Buch höchstpersönlich Kindern vor (und auch seinen Bodyguards). Diogenes Magazin

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Illustration: Š Tomi Ungerer


Erzählung

Joey Goebel

Letztes Schuljahr Die Kehrseite des American Dream zeigt sich in den USA auch in den Schulen – private Eliteschulen auf der einen Seite, Metalldetektoren an den Eingängen der heruntergekommenen öffentlichen Schulen auf der anderen. In seiner Erzählung beschreibt Joey Goebel das letzte Schuljahr – für eine junge Lehrerin und ihre Schülerinnen und Schüler. September

Illustration: © Tomi Ungerer

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a schön. Gehen wir noch einmal die Wortarten durch«, sagte Mrs. Jacobs mit lauter, strenger Stimme, die ihr selbst noch nicht geheuer war. Ihre normale, leise Stimme war im Klassenzimmer fehl am Platz und für ihren Mann zu Hause reserviert. »Können wir den Unterricht im Freien machen?«, fragte ein Mädchen mit einem Notendurchschnitt von zwei Komma vier. »Leider nicht. Wie müssen diese Stunde hinter uns bringen. Aber ich sage euch was. Wenn ihr heute die Wortarten gut lernt, dann sehen wir uns am Freitag zusammen einen Zeichentrickfilm an.« Der Vorschlag, die Schüler mit Zeichentrickfilmen zu bestechen, stammte von einer anderen Lehrerin. »Sie sind ganz versessen darauf», hatte sie gesagt. Und es stimmte, auf einmal herrschte im Klassenzimmer gespannte Stille. »Wir fangen ganz einfach an. Wer weiß ein Beispiel für ein Substantiv?« Keine Reaktion. Statt Wörtern hörte Mrs. Jacobs Husten und das Knistern von Bonbonpapier. Im Klassenzimmer war es nie ganz still, es war, als wohne

dort ein riesiger, sich windender Tausendfüßler, der nicht zur Ruhe kam, Selbstgespräche führte und gelegentlich zu seinem eigenen Vergnügen furzte. »Hallo, ihr da draußen im Schülerland! Wenn sich keiner meldet, muss

Im Klassenzimmer war es nie ganz still, es war, als wohne dort ein riesiger, sich windender Tausendfüßler, der nicht zur Ruhe kam. ich irgendwen aufrufen. Ihr wisst, dass ich das nicht mag.« Cynthia wusste noch genau, wie sie sich früher als Schülerin hinter ihren Tisch geduckt und gehofft hatte, dass die Lehrerin sie nicht aufrief. Sie hatte sich geschworen, falls sie jemals Lehrerin würde, ihre Schüler nie gegen deren Willen zum Reden zu zwingen. Auch würde sie keine Referate vergeben oder die Schüler laut vorlesen lassen. »Sagt einfach irgendein Wort! Die Chancen stehen gut, dass es ein Substantiv ist.« »Arsch!« Die Antwort des Jungen führte zu

hysterischem Gelächter aus dreißig Kehlen. Mrs. Jacobs schüttelte den Kopf und unterdrückte ein Grinsen. »Das stimmt. Wisst ihr noch? Ein Substantiv bezeichnet eine Person, einen Ort, ein Ding oder eine Idee. Er hat ein Ding genannt. Gut gemacht, Travis.« Travis sah Mrs. Jacobs feindselig an, was aber offenbar sein normaler Gesichtsausdruck war. Wie auch einige seiner Mitschüler hatte er einen glasigen Blick. Sein Notendurchschnitt lag bei vier Komma eins. »So, jetzt möchte ich ein Beispiel für ein Verb hören.« »Fahrzeug?«, schlug ein Mädchen vor, das immer tief ausgeschnittene Blusen trug, damit die zahlreichen Knutschflecke besser zur Geltung kamen. »Tja, frag dich mal selbst, kann man etwas fahrzeugen?« »Klar.« »Nein, das kann man nicht.« »Und ob man das kann, Mrs. Jacobs!« »Ein neuer Versuch, bitte. Wisst ihr noch? Verben sind Tuwörter.« »Hintern«, sagte ein junger Proll, der verstohlen einen Popel aß. Die Jugendlichen kicherten hemmungslos. Diogenes Magazin

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»Das könnte sogar funktionieren. Wolltest du vielleicht ›hindern‹ sagen?« »Nein. Ich wollte Arsch sagen.« Die Schüler kicherten wieder. »Tut mir leid. Möchte es noch jemand probieren?« »P. Diddy?«, schlug ein Mädchen vor, das beim Gähnen herausfordernd die Brust vorstreckte. »Sagt einfach, was euch gerade in den Sinn kommt. Ich möchte ein Tuwort hören. Etwas, das man macht.« »Sterben.« »Stimmt! Danke sehr, Thomas.« Thomas war ein »Freak«, der sich eine Feinstrumpfhose über die Arme gestreift hatte. »Kann man sterben tun? Ja. Folglich ist sterben ein Verb. Genau wie laufen, springen, kriechen und so weiter. Nun suchen wir mal ein Adjektiv. Hier ist ein Tipp für euch. Adjektive beschreiben Substantive. Kann mir jemand ein Adjektiv nennen?« Sie hörte nur das Summen eines Handys und wie eine Seite aus einem Spiralblock gerissen wurde. Ein Junge hinten im Klassenzimmer legte seinen Kopf auf den Tisch. »Kommt schon. Wir haben das schon mal durchgekaut.« »Gladiator?«, schlug Dan vor, der nie sein Buch zum Unterricht mitbrachte. Er hatte einen Schnitt von vier Komma fünf. »Danke, Dan, aber ein Gladiator ist eine Person, und wie wir gelernt haben, sind Personen – » »Ich hab Gladiator auf dvd. Kann ich die mal mitbringen?«, fragte ein anderer Schüler, und zwar der Junge, der sich nicht wusch. »Nein. Wir bleiben bei den Adjektiven. Ich weiß, das schafft ihr.« »Kann ich mal austreten?«, fragte Christy, die zwar fünfmal unentschuldigt gefehlt hatte, aber irgendwie einen Schnitt von drei Komma zwei schaffte. »Also gut. Aber das nächste Mal wartest du bis zum Ende der Stunde.« Das Mädchen nahm sich einen Holzklotz, der als eine Art ›Passierschein‹ für das Verlassen des Klassenraums diente. Als Schülerin hatte es Cynthia immer gemein gefunden, wenn Lehrer 54

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die Kinder nicht auf die Toilette gehen ließen. »Also. Zurück zu den Adjektiven.« »Moment mal. Ich muss auch aufs Klo«, sagte Derek Pruitt, der junge Mann, der den Kopf auf seinen Tisch gelegt hatte. Er war groß, muskulös und sah aus, als wäre er dreißig. Sein wahres Alter verriet einzig die schüttere Gesichtsbehaarung, die verzweifelt versuchte, einen Schnurr- und einen Ziegenbart zu bilden – drei unterernährte, pelzige Würmchen, die nicht zueinanderkamen. Sein Notendurchschnitt lag bei vier Komma neun. »Warte, bis Christy zurückkommt.« »Aber ich muss. Die haben Sie auch gehen lassen.« »Du darfst gehen, wenn Christy zurückkommt. Und jetzt möchte ich …« »Das versteh ich nicht. Ich muss jetzt aufs Klo«, nuschelte Derek ermattet. »Das ist ungerecht, und das wissen Sie auch.« »Wenn ich so drüber nachdenke, könnt ich auch mal wieder pissen«, sagte Travis. »Halt’s Maul«, sagte Derek. »Ich bin als Nächster dran.« Verärgert tippte sich Travis mit dem Stinkefinger an die Schläfe. Zu seinem Glück sah Derek diese Geste nicht. »Kriegen wir eine Pinkelpause?«, fragte ein schwangeres Mädchen. »Leute, hört mal zu. Ihr dürft alle austreten, aber nicht gleichzeitig, in Ordnung? Nur ein wenig Geduld, und ich verspreche euch, dass ihr austreten dürft. Aber während ihr wartet, bis ihr an der Reihe seid, könnt ihr genauso gut die Wortarten lernen.« »Kann ich dann jetzt sofort einen Schluck Wasser kriegen?«, fragte Derek. Mrs. Jacobs seufzte. »Nein. Du kannst auf dem Weg zur Toilette einen Schluck Wasser trinken.« »Aber Sie lassen mich ja nicht auf die Toilette. Wie soll ich das denn machen? Das ist doch bescheuert.« »So läuft das nicht«, sagte ein anderes schwangeres Mädchen. »Können wir den Unterricht nicht im Freien machen?« »Nein! Ihr könnt den Unterricht nicht im Freien haben!« Mrs. Jacobs

spürte, wie Schweißtröpfchen an ihren Armen hinunterliefen. Aus Angst, man könnte auf ihrer geblümten Bluse Schweißflecken sehen, ließ sie die Arme unten. »Ich will, dass mir jetzt jemand sofort ein Adjektiv nennt. Es ist ein Wort, das etwas beschreibt. Beispielsweise ›enttäuscht‹. Sie war eine enttäuschte Lehrerin.« »Das interessiert doch keine Sau», sagte Derek. »Damit kann man rein gar nichts anfangen.« »Und ob man damit etwas anfangen kann. Man kann damit korrekt sprechen, und korrektes Sprechen macht die Welt ein wenig zivilisierter.« »Na und? Es ist trotzdem blöd.« »Vielleicht kommt es euch blöde vor, aber ihr hättet es schon in der zweiten Klasse lernen sollen. Vielleicht ist es blöde, wenn ein Schüler der Oberstufe nicht weiß, was ein Adjektiv ist.« Derek hüstelte und sagte dabei gleichzeitig »Schlampe«. »Ach, Derek, das war so was von raffiniert. Geh raus auf den Flur.« »Juhuu! Ich wollte ja raus aus Ihrem blöden Kurs.« Derek stolzierte aus dem Klassenzimmer, wobei er sich schamlos in den Schritt fasste. Er knallte die Tür so schwungvoll zu, dass die zierliche Mrs. Jacobs zusammenzuckte. »Entschuldigt mich einen Moment«, sagte sie, als sie ihm nachging. »Derek, was ist denn los?« »Gar nichts.« »Aber du wirkst total wütend.« »Ich wollte nur aufs Klo.« »Das ist mir klar, und vielleicht hätte ich auch nichts gegen eine gelegentliche Pinkelpause, wenn du sie nicht immer zum Rauchen zweckentfremden würdest.« »Das stimmt doch gar nicht«, sagte er und musterte seine High-TechBasketballschuhe. Zu diesen Schuhen trug er meist Hemden mit Kragen, Schlabberjeans und goldene Halsketten, eine Kombination, die sie an der Schule häufig sah. Das Besondere an Derek war, dass seine Jeans ständig rutschten. Um das zu verhindern, fasste er sich andauernd beiläufig in den Schritt.


Illustration: © Tomi Ungerer

»Derek, jedes Mal, wenn du vom Klo kommst, riechst du nach Zigarette. Einige Schüler haben sich schon beschwert.« Er zuckte mit den Achseln. »Warum hacken Sie eigentlich ständig auf mir rum?«, fragte er. »Ich hacke nicht auf dir herum. Ich mag dich. Wenn du nicht gemein bist, finde ich dich witzig. Andererseits quatschst du permanent und behandelst mich respektlos, und damit muss Schluss sein.« »Ich weiß. Ich bin halt völlig von der Rolle, weil ich anderthalb Kids zu Hause hab, die ich irgendwie ernähren muss. Das ist ganz schön schwierig.« »Wie meinst du das, anderthalb Kids?« »Die eine, Brandy, ist von mir, das weiß ich, aber mein Vetter und ich, wir teilen uns den Jungen, Cody, weil wir wissen, einer von uns beiden muss der Vater sein, aber wir hatten nie Bock, uns auf diesen Vaterschaftstest einzulassen. Wenn ich ehrlich sein soll, wollten wir gar nicht wissen, wer der Vater ist. Deshalb zahl ich den einen Monat Unterhalt und er den anderen.« Mrs. Jacobs räusperte sich, weil sie hoffte, sich so das Lachen verkneifen zu können. »Okay, ich werde daran denken, dass du zu Hause unter beträchtlichem Druck stehst, und wenn du reden willst – ich bin für dich da.« Derek nickte. »Keine Angst, im April werde ich achtzehn, und dann mache ich hier die Fliege.« »Na schön. Dann bleib mal ein Weilchen hier auf dem Flur, okay?« »Okay.« Er hockte sich im Schneidersitz auf den Boden. Mrs. Jacobs wusste, immer wenn sie die Anwesenheitsliste durchging und die Namen vorlas, würde jemand »Der ist tot!« gröhlen, wenn ein Schüler fehlte. Sie wusste, dass die Jungs den Abfalleimer ausschließlich als Basketballkorb benutzten. Und sie wusste auch, dass ein aufsässiger Schüler, wenn man ihn allein auf dem Schulflur stellte, immer einen Rückzieher machte. (Gleiches galt auch für Schülerinnen.) Ohne Publikum verliert ein

Schüler den Drang, aufzubegehren. Mrs. Jacobs fand es tröstlich, dass die Jugendlichen nicht völlig unerreichbar waren. Deshalb hatte sie Lehrerin werden wollen: um Schüler zu erreichen. Nicht um lediglich die Phase zu verlängern, bis sie im Gefängnis landeten.

Deshalb hatte sie Lehrerin werden wollen: um Schüler zu erreichen. Nicht um lediglich die Phase zu verlängern, bis sie im Gefängnis landeten. Mrs. Jacobs kehrte zu der ausgelassenen Klasse zurück. »Ruhe!«, schrie sie, was aber nur wenige Schüler bewog, ihr Aufmerksamkeit zu schenken. Ganz gleich, wie laut sie sprach, man gehorchte ihr nicht. Mit ihrem mädchenhaften guten Aussehen, den geblümten Blusen und hübschen Röcken, die ihr bis unter die Knie reichten, war sie keine Achtung gebietende Gestalt. Sie hatte langes, lockiges Haare und roch immer gut. Sie hatte helle Haut mit Sommersprossen und war immer geschminkt und wurde von anderen Lehrern oft für eine Schülerin gehalten. »Hallo!« Die Schüler sorgten weiterhin für einen enormen Geräuschpegel. Mrs.

Jacobs schlug mit der Faust auf ihren Tisch, als zerquetsche sie ein unsichtbares Insekt. Das laute Krachen verschaffte ihr Aufmerksamkeit. »Ich weiß wirklich nicht, was ich mit euch anfangen soll. Ich bemühe mich, auf eurer Seite zu sein, doch das interessiert euch überhaupt nicht. Ihr lasst einfach nicht zu, dass ich euch gut behandle.« Sie gab ihnen Lernhilfen, in denen genau stand, was in den Tests dran kam, und trotzdem fielen die meisten durch. Sie bestrafte ihre Schüler selten, wenn sie zu spät kamen, obwohl die Schulleitung ganz versessen darauf war, Unpünktlichkeit zu ahnden. Als sie die griechischen Sagen durchnahmen, gestand sie ihrem Kurs, sie könne die griechischen Sagen auch nicht leiden. »Und es tut mir leid«, fuhr sie fort, wobei sie mit möglichst vielen Schülern Blickkontakt aufnahm. »Ich tue das höchst ungern, aber ihr lasst mir keine andere Wahl. Ab jetzt schalte ich auf stur – entweder ihr spurt, oder es geht ab auf den Flur.« Eine halbe Stunde später drängte sich zwei Drittel von Mrs. Jacobs’ Klasse auf dem Flur, nur noch neun Schüler verloren sich zwischen den leeren Tischen. Oktober

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ch entschuldige mich dafür, wie die anderen Sie behandeln», sagte Thomas, während er sein mit Erdnussbutter und Marmelade bestrichenes Sandwich aus der Alufolie nahm. Wie gewöhnlich waren seine Mitschüler an diesem Tag kratzbürstig und aufsässig gewesen, besonders ein Mädchen, das Mrs. Jacobs anschrie, weil sie ihm nicht erlaubt hatte, ein Glas Wasser zu holen und ihre Antibabypille zu nehmen. »Das ist furchtbar nett von dir, Thomas. Ich wünschte, alle meine Schüler wären wie du.« Am selben Tag schickte sie Derek zum stellvertretenden Schulleiter, nachdem er ohne erkennbaren Grund einen Slangausdruck für Oralsex gerufen hatte. Obwohl auf dieses Vergehen Diogenes Magazin

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Illustration: © Tomi Ungerer

normalerweise Nachsitzen stand, erhielt Derek nur eine Verwarnung und durfte in die Klasse zurück, nachdem er versprochen hatte, sich zu benehmen. Mrs. Jacobs kroch auf allen Vieren über den verdreckten, grauen Teppichboden und machte hinter ihren Schülern sauber. Im Jahr zuvor hatte sie als Referendarin mitangehört, wie ein Hausmeister sich beschwerte, Mrs. Soundsos Klassenzimmer sei ein Schweinestall, weil sie ihre Schüler ganz offensichtlich nicht unter Kontrolle hatte. Mrs. Jacobs wollte nicht, dass die Hausmeister so etwas über sie sagten. Sie fand, am einfachsten wäre sie den Müll ihrer Schüler los, wenn sie ihn in den Pausen selbst aufsammelte. In der Mittagspause blieben nur Mrs. Jacobs und Thomas zwischen den sterilen, beigefarbenen Wänden des Klassenraums zurück. Laut Schulordnung mussten sich mittags alle Schüler in der Cafeteria aufhalten. Doch Thomas hatte sich höflich erkundigt, ob er im Klassenzimmer essen dürfe, und Mrs. Jacobs zeigte Verständnis. Als Fünfundzwanzigjährige, deren Schulzeit noch nicht lange zurücklag, wusste sie noch genau, wie schrecklich eine Cafeteria für einen introvertierten Schüler sein konnte. Und da Thomas gut in der Schule war, kam sie seiner Bitte gerne nach. Mrs. Jacobs warf die Abfälle ihrer Schüler in den Papierkorb. Etliche dieser Abfälle waren gefaltete Zettel, die Schüler einander geschrieben hatten. Mrs. Jacobs widerstand der Versuchung, die Zettel zu lesen. Zwar wunderte sie sich über die Leichtfertigkeit ihrer Schüler, war aber diskret genug, um ihre Zettel samt durchgekauten Papierkügelchen wegzuwerfen. »Warum essen Sie nicht mit den anderen Lehrern?«, wollte Thomas von Mrs. Jacobs wissen, die gerade an ihrem mit Geflügelsalat belegten Croissant knabberte. »Ich habe es versucht, aber das ist nicht mein Fall.« »Sie mögen die nicht, stimmt’s?« »Das hat nichts mit Sympathie oder Antipathie zu tun. Ich weiß nur nie, worüber ich mich mit ihnen unterhal-

ten soll. Sie reden furchtbar gern über die Nackte Kanone-Filme. Von denen ich keinen gesehen habe.« »Sie mögen alte Filme, nicht wahr?« Thomas deutete mit dem Kopf zum Schwarzen Brett, an das Mrs. Jacobs Schwarzweißfotos von James Dean, Clark Gable, Natalie Wood, Elizabeth Taylor, Marilyn Monroe, Betty Grable und Paul Newman gepinnt hatte. »Ich mag alle Filme, aber die alten besonders. Früher habe ich Fotos alter Filmstars an meine Zimmerwand geklebt. Ich finde, sie verleihen diesem Raum ein wenig Atmosphäre.« Als Mrs. Jacobs sich umdrehte, bemerkte sie, dass irgendwer auf mehrere Fotos entzündete Penisse gekritzelt hatte. Am Nachmittag, gleich nach dem letzten Klingeln – Cynthia hatte gerade Putzmittel auf eine Tischplatte gesprüht, um eine Karikatur von sich zu entfernen, auf der sie von hinten genommen wurde –, hörte sie aus dem Flur metallisches Scheppern. Sie lief zur Tür und sah, wie direkt vor dem Klassenzimmer ein großer Mann brutal einen kleinwüchsigen Schüler verprügelte. Ein ganzer Schwarm Jugendlicher hatte sich schon versammelt und feuerte den Mann an, während der den Jungen wiederholt gegen die Spinde warf. Cynthia sah, dass der Mann Derek war. Sie war die einzige Lehrkraft weit und breit, doch sie kannte ihre Grenzen. Mit knapp eins achtundfünfzig und einem Gewicht von fünfzig Kilo versuchte sie erst gar nicht, die Schlägerei zu beenden. »O Gott! Hört auf!«, schrie sie. Das Flehen des Opfers, dessen Kopf auf den Teppichboden geschlagen wurde, übertönte ihren Befehl. »Hör auf!«, rief der Junge. »Bitte! Hilfe!« Die Schreie des Jungen ließen erkennen, dass er den Stimmbruch noch vor sich hatte. Es war der jämmerlichste Laut, den Cynthia je gehört hatte. Sie eilte zum Telefon im Klassenzimmer, um im Sekretariat anzurufen, doch niemand nahm ab. Sie hörte, wie Derek den hilflosen

Typisch(e) Amerikaner von Joey Goebel

DAS COLLEGE-GIRL Der Zweck des College besteht natürlich darin, die eigene Ausbildung voranzutreiben, doch das College-Girl (und übrigens auch der College-Boy) hat diesen Gedanken erst nachträglich. Dies kommt auch in seinem Outfit zum Ausdruck. Zum Unterricht erscheint es in Trainingshose und Flipflops – bisweilen auch in Schlafanzughose. Nur zu Saufpartys ist sein Aufzug vorzeigbar. Es nutzt den Umstand, der Kontrolle der Eltern entzogen zu sein, voll aus und gerät außer Rand und Band. Das College-Girl nennt das »Experimentierphase«, weil das auch im Fernsehen so heißt. Die Entfernung zwischen College und Elternhaus verhält sich direkt proportional zum Ausmaß des »Experimentierens«. Die Zahl der Zeitzonen zwischen College-Girl und Eltern wiederum ist identisch mit der Zahl seiner Sexualpartner pro Semester. Bedenkt man allerdings die gegenwärtige Wirtschaftslage und die Tatsache, dass sein Abschluss höchstwahrscheinlich wertlos sein wird, ist dies vielleicht der richtige Ansatz.

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Typisch(e) Amerikaner von Joey Goebel

DIE SOCCER MOM Ob ihre Kinder wirklich Fußball spielen, ist unerheblich. Die Soccer Mom ist eine Mittelschichtmutter und Chauffeurin ihrer Kinder, die, so scheint es, ein erheblich bewegteres Leben haben als sie selbst. im Gegensatz zu konservativen Politikern, für die der Begriff »Familienwerte« lediglich ein Wahlkalkül ist, glaubt die Soccer Mom tatsächlich daran. In Shorts und weißen Tennisschuhen strebt sie nach Perfektion. Ihre größte Fähigkeit ist es, weniger perfekten Menschen ein schlechtes Gewissen zu machen.

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wobei man seine kaputten, angeschlagenen Zähne sah. Sie wandte sich mit klopfendem Herzen ab. Später erfuhr Cynthia, dass das Opfer ein Schüler aus einem Integrationsprogramm für Sonderschüler war, der den Fehler gemacht hatte, Derek mit einem zusammengerollten Blatt Papier zu schlagen. November

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ynthia unterrichtete in drei Oberstufenkursen Englisch. Jetzt hatte sie gerade eine Vorbereitungsstunde. Dass sie so wenig Kurse hatte, lag an dem sogenannten Blockunterricht, bei dem neuerdings eine Unterrichtsstunde achtzig Minuten dauerte. Cynthia fand, dass achtzig Minuten Unterricht am Stück dem berüchtigt kurzen Konzentrationsvermögen von Jugendlichen widersprach, so wie auch der Unterrichtsbeginn um acht Uhr früh übermäßige Wachheit erforderte. Cynthias Vorbereitungsstunde war der einzige Teil des Schultags, wo sie sich ein wenig Entspannung erlaubte. Sie zog ihre Lackschuhe aus, setzte sich an den Tisch und benotete Arbeiten, während sie Cola light trank und Radio hörte, meist den Sender mit Hits aus den Achtzigern. Plötzlich hörte sie das Rascheln eines sich nähernden Trainingsanzugs. Mr. Durbin, der Baseballcoach, schlenderte in ihr Zimmer, ein Lächeln unter dem Schnurrbart. »Da sind Sie ja«, sagte er. »Ich hab gehört, wie sich ein paar Lehrer über Ihre Filmfotos unterhielten. Cool.« »Danke.« »Sie unterrichten Englisch, stimmt’s?« »Stimmt.« »Waren Sie hier nicht mal selbst Schülerin?« »Ja. Ich habe ’92 meinen Abschluss gemacht.« »Und ich ’90. Das waren noch Zeiten, was?« »Na ja, immerhin waren es Zeiten.« Mr. Durbin sah sie seltsam an, weshalb sie das Thema wechselte. »Ich war dermaßen erleichtert, als Sie und Mr. Owens damals diese Schläge-

rei beendet haben. Ich wusste mir nicht zu helfen.« »Welche Schlägerei war das?« »Die vor ein paar Wochen, direkt vor meinem Klassenzimmer.« »Klar. Das war echt brutal. Ein Glück, dass ich zufällig vorbeikam. Ich schätze, Derek hätte den geistig behinderten Jungen umgebracht, wenn ich nicht aufgetaucht wäre.« »Wie geht’s dem Jungen?« »Gut, glaube ich.« Mr. Durbin spielte beim Reden permament mit seiner Schlüsselkette. »Dieser Derek Pruitt ist ein Monster. Ich bin nur froh, dass er den Rest des Schuljahrs auf einer Alternativen Schule verbringt.« »Ja. Allerdings mögen viele Kids Alternative Schulen. Da bekommen sie Raucherpausen. Manchmal unternehmen sie Exkursionen zu McDonald’s.« »Ist das Ihr Ernst?«, fragte Mrs. Jacobs. »Ja.« »Das ist absurd.« »Völlig. Und gefällt Ihnen das Unterrichten bisher?« Was für einen schrecklichen Beruf habe ich da gewählt, dachte sie. Am liebsten würde ich kündigen und nie wieder einen jungen Menschen sehen. »Wenn ich mich erstmal daran gewöhnt habe, auf strikte Disziplin zu achten, macht es mir bestimmt mehr Spaß«, sagte sie. »Glauben Sie mir: Man muss zu seinen Schülern gemein sein, wenn sie einen respektieren sollen.« »Ja, aber ich bin eigentlich kein gemeiner Mensch.« »Üben Sie! Zu Hause! Haben Sie Kinder?« »Nein.« »Verheiratet?« »Ja.« »Aha. Dann üben Sie an Ihrem Mann. Seien Sie gelegentlich gemein zu ihm.« Mrs. Jacobs lachte. »Das meine ich ernst.« »Das bringe ich nicht über mich. Ich liebe meinen Mann heiß und innig.« »Auch gut. Tja, egal, wenn die Kids

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Jungen wüst beschimpfte, und ging zurück zur Tür. »Genug. Das reicht jetzt«, rief sie in den tobenden Flur. Inzwischen hatte Derek sein Opfer gegen einen Spind gepresst. Er drückte den Kopf des Jungen gegen die Lamellen. (Der Sinn dieser Öffnungen war wohl, dass ein in den Spind gesperrter guter Schüler genug Luft bekam und nicht erstickte.) Dann rieb er das Gesicht des Jungen an den Lamellen rauf und runter, als raspele er einen großen Käseblock mit einer Reibe. Endlich schoben sich zwei Lehrer durch die Menge und zerrten Derek von seiner Beute weg. Als Derek weggeführt wurde, grinste er Cynthia an,


Ihnen Ärger machen, schicken Sie sie zu mir.« Neben seiner Arbeit als Trainer führte Mr. Durbin die Aufsicht, wenn Schüler nachsitzen mussten. Es war allgemein bekannt, dass er dabei wenig mehr tat als sich auf seinem Laptop Porno-Websites anzusehen, ein lässliches Vergehen verglichen mit den außerschulischen Aktivitäten anderer junger Lehrkräfte überall im Schulbezirk. Dezember

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mgeben von Schülern, die einander beschimpften und ihre Subwoofer voll aufdrehten, nahm eine von Mrs. Jacobs’ Schülerinnen ihr am letzten Schultag in der Parkplatzausfahrt die Vorfahrt. Während die Schülerin demonstrativ ihre Zigarette aus dem Fenster ihres Honda Accord hielt, streckte Mrs. Jacobs den Mittelfinger aus, ließ ihn aber unterhalb des Armaturenbretts, wo man ihn nicht sah. Sieben Jahre zuvor war Cynthia Jacobs, geborene Cynthia Crafton, die jahrgangsbeste Schülerin gewesen. Schon damals hatten andere Schüler ihr die Vorfahrt genommen. In Cynthias Abschlussjahr beschloss der Schulleiter, mit der Tradition zu brechen und die Abschlussreden von den besten Sportlern der Schule halten zu lassen. Cynthia war erleichtert, da sie Angst davor gehabt hatte, in der Öffentlichkeit zu reden. Am Ende der Abschlussfeier verzichtete Cynthia darauf, ihre Kopfbedeckung in die Luft zu werfen, was in ihren Augen ein albernes, kindisches Ritual war. Als Hunderte von Mützen auf den Boden der Sporthalle fielen, bedeckte sie mit beiden Armen schützend den Kopf. Auf dem College wählte sie Pädagogik an weiterführenden Schulen als Hauptfach, denn seit sie den Film Der Club der toten Dichter gesehen hatte, wollte sie High-School-Lehrerin werden. Stand and Deliver und Dangerous Minds bestärkten Cynthia in der Überzeugung, der Lehrerberuf sei ihre Zukunft.

Nicht nur die von Robin Williams, Edward James Olmos und Michelle Pfeiffer gespielten Film-Lehrer inspirierten Cynthia zu diesem Vorhaben, sondern auch das wirkliche Leben. Im Laufe ihrer gesamten Schulzeit und ihres Studiums hatte sie sich immer den Lehrkräften näher gefühlt als ihren Mitschülern und Kommilitonen. Wenn Cynthia mit dem Lernen fertig war, mied sie Gleichaltrige und unterhielt sich lieber mit dem Lehrer oder Dozenten über aktuelle Ereignisse oder Soap Operas. Für sie waren ihre Lehrer wie Prominente, Stars. Sie wirkten so exzentrisch

Am liebsten würde ich kündigen und nie wieder einen jungen Menschen sehen, dachte sie. und mysteriös, und Cynthia fragte sich, wie sie wohl außerhalb der Schule sein mochten. Sie überlegte, was sie an Wochenenden taten und welche Filme sie am liebsten sahen. Wenn sie beiläufig irgendein Detail aus ihrem Privatleben preisgaben, beispielsweise ein Restaurant, in dem sie gern aßen, notierte sich Cynthia das. Als Cynthia Lehrerin geworden war, merkte sie, dass es gar nicht so abwegig war, Lehrer mit Prominenten zu vergleichen. Ein Lehrer steht von Berufs wegen auf einer Bühne, er muss etwas aufführen, so wie ein Prominenter auch. Tag für Tag musste sie vor einem schwierigen Publikum einen Auftritt hinlegen. Sie musste sich mitten auf die Bühne stellen und einen Monolog nach dem anderen halten, Monologe, die allesamt bewirken sollten, die Schüler zu unterhalten oder wenigstens ihre Aufmerksamkeit zu sichern, was dem höheren Zweck diente, sie zum Lernen zu bewegen. Am Ende des ersten Halbjahres lagen die Statistiken vor: Von Mrs. Jacobs’ siebenundachtzig Schülern hatten fünf einen Schnitt von unter zwei. Sechsunddreißig waren durchgefallen.

Januar

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ls Cynthia am ersten Tag ihres zweiten Schulhalbjahres aufwachte, war ihr übel. Die Vorstellung, in die Schule zurückkehren zu müssen, schob sich vom Kopf in den Magen, und das anschließende Erbrechen hatte zur Folge, dass sie ihren Parkplatz verlor. Den Mardi-GrasPerlen nach zu urteilen, die vom Rückspiegel des Wagens baumelten, hatte ein Schüler ihr den Platz weggeschnappt. Wegen des Blockunterrichts begannen die Schüler im neuen Halbjahr mit anderen Kursen. Eigentlich hätte sich Mrs. Jacobs auf eine ganz neue Gruppe von Schülern freuen können, aber weil im ersten Halbjahr so viele durchgefallen waren, sah sie viele derselben vertrauten, unaufmerksamen Gesichter wieder, mit ihren offenen Mündern und glanzlosen Augen. Statt nach altem Lehrerbrauch unmögliche Schüler zum ›Problem eines anderen‹ zu machen, verurteilte Mrs. Jacobs die Schüler dazu, ihren Kurs zu wiederholen. Als sie am ersten Schultag ihr Klassenzimmer betrat, war sie nicht überrascht, ein benutztes Kondom auf ihrem Schreibtisch zu finden. »Das hat schon so einen Bart, Leute«, sagte Mrs. Jacobs und schmiss das Kondom in den Papierkorb. Dann baute sie sich vor dem Kurs auf. »Na schön. Guten Morgen. Einige von euch kennen mich bereits. Ich bin …« Ihr fiel auf, dass in der vorletzten Reihe ein junger Mann den Kopf auf den Tisch gelegt hatte. »Bitte die Köpfe heben.« Der blondierte Kopf, in Mrs. Jacobs’ Kursen eine gängige Frisurvariante, blieb unten. »Der Kurs ist zehn Sekunden alt, und schon kündigt einer die Mitarbeit auf.« Sie ging zum Tisch des Jungen und berührte ihn leicht an der Schulter. »Verfluchte Scheiße, was wollen Sie!«, brüllte er, als er den Kopf hochriss. Mrs. Jacobs sprang sichtlich erschrocken zurück. Der müde Bursche Diogenes Magazin

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war Derek Pruitt. Sie hatte die Namen noch nicht aufgerufen und war erstaunt, ihn hier zu sehen. Während der Winterferien hatte sie seinen Namen wegen mehrerer Drogenvergehen in der Zeitung gelesen. Mrs. Jacobs ging langsam rückwärts in den vorderen Teil des Klassenzimmers. »Ich möchte, dass du den Kopf oben lässt, Derek. Und wir wollen uns einer jugendfreien Ausdrucksweise befleißigen.« Aus der Mitte zwischen Dereks drei Bartbestandteilen drang ein Knurren, Derek musterte seine Lehrerin finster, dann legte er den Kopf wieder auf den

Tisch. Als sie ihm sagte, sie würde ihn melden, wenn er den Kopf nicht hob, reagierte er nicht. Gegen Ende des Unterrichts legten noch vier Schüler ihren Kopf auf den Tisch. Obwohl die Unhöflichkeit sie wurmte, beneidete Mrs. Jacobs die Schüler, deren Köpfe gleichgültig auf den Tischen lagen. Einigen Schülern gelang es sogar, trotz des andauernden Lärms zu schlafen. Sie stellte sich vor, wie angenehm es sein würde, wenn ihr alles egal wäre, wie sie den Kopf auf ihren überfüllten Schreibtisch legen, die verschränkten Arme als Kissen, die grellen Lampen des Klassenraums ausgeblendet.

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Doch Mrs. Jacobs konnte sich nicht einfach entschuldigen und ein Nickerchen halten. Was die Schüler anging, die ihre Köpfe gesenkt hielten – die ließ man am besten schlafen, wie sie im letzten Halbjahr gelernt hatte. Nach der Stunde schickte sie alle fünf, einschließlich Derek, mit einem schriftlichen Verweis zum Direktor. Der bestrafte sie mit einer Stunde Nachsitzen, wo den Schülern Mr. Durbin zufälligerweise gestattete, eine Runde zu schlafen.

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it jeden Schultag und mit jedem Konflikt mit Derek und Konsorten wuchs Cynthias Bedürfnis, nicht mehr zu unterrichten, sondern im Bett zu bleiben. Als ihre morgendliche Übelkeit den gesamten Januar anhielt, wurde ihr klar, dass ihre Magenprobleme weniger mit Schulangst als mit Schwangerschaft zu tun hatten. Zu kündigen kam nicht mehr in Frage, da sie das Geld brauchte, um ihr Kind zu verwöhnen. Cynthia und ihr Mann waren begeistert, aber in der Schule verriet sie es keinem. Sie sagte es den Lehrern nicht, die gerne tratschten, so dass es die Schüler wahrscheinlich erfahren hätten. Indem sie ihre Schwangerschaft geheim hielt, beschützte sie ihr Kind. Sie schwor sich, wie schlecht ihre Schüler auch sein mochten, welche abscheulichen Verbrechen sie als Erwachsene begehen mochten, dieses Kind würde gut geraten, das konnte sie garantieren. Sie würde ihr Kind vor dem Übel der Welt bewahren, und zwar schon jetzt, während es noch in ihr heranwuchs. Am Tag nachdem Mrs. Jacobs ihre Schwangerschaft bemerkte, las sie in ihren Kursen das Buch Die Nacht. »Von dem Buch hab ich noch nie gehört. Warum müssen wir das lesen?«, fragte Travis, als Mrs. Jacobs den Roman verteilte. Weil es willkürlich von irgendwelchen Dienststellen ausgewählt wurde, die ich nie kennenlernen werde, dachte sie. »Ihr lest dieses Buch, weil wir aus den Fehlern der Geschichte lernen können, sie nicht zu wiederholen«, sagte sie. »Wer kann den Fehler benennen, von dem ich hier rede?« Sie hörte das Platzen einer Kaugummiblase und Gequassel ohne Bezug zum Thema. »Na los. Eine der schlimmsten Greueltaten des zwanzigsten Jahrhunderts? Ich gebe euch einen Hinweis: Es steht hinten auf dem Buchumschlag.« Mrs. Jacobs seufzte. »Anne?«, fragte sie ein Mädchen in der ersten Reihe. Ein Schulterzucken von Anne.

»Es ist der Holocaust«, sagte Mrs. Jacobs. »Und ich als Lehrerin halte es für meine Pflicht, euch Ereignisse wie den Holocaust bewusst zu machen, damit eure Generation nicht zulässt, dass wieder etwas Ähnliches geschieht.« Mrs. Jacobs betrachtete ihre Schüler und stellte sie sich als Nazis vor. »Und ich warne euch, es könnte wieder geschehen. Jede Generation ist gewalttätiger und skrupelloser als die vorhergehende. Ich dachte früher, das Gegenteil träfe zu. Ich dachte früher, die unmenschlichsten Zivilisationen hätten vor langer Zeit existiert. Nehmen wir die vergangene Woche, als wir uns das Video über die Antike, über Griechenland und Rom, angesehen haben, da fiel mir auf, dass viele von euch es cool fanden, wie gewalttätig die Menschen damals waren. Doch nichts

»Ich lese mit euch dieses Buch, weil ich vor eurer Generation Angst habe.« war gewalttätiger als das zwanzigste Jahrhundert. Es gab einen Weltkrieg, und der hatte sogar noch eine Fortsetzung. Jetzt können wir uns auf den Dritten und den Vierten Weltkrieg freuen.« Ein paar Schüler lachten. Immerhin hatte Mrs. Jacobs die Aufmerksamkeit der Klasse geweckt. »Um also deine Frage zu beantworten, Travis, ich lese mit euch dieses Buch, weil ich vor eurer Generation Angst habe.« Die Schüler lachten noch etwas mehr. »Let’s talk about sex, baby«, sang plötzlich Derek. »Let’s talk about you and me.« Der Kurs spendete frenetisch Beifall, ermunterte Derek, weiter zu singen. »Let’s talk about sex, baby.« »Bitte, Derek. Das reicht. Ich möchte dich nicht wieder zum Direktor schicken.« »Let’s talk about – » »Derek, du bekommst einen Verweis.«

Typisch(e) Amerikaner von Joey Goebel DER GANGSTA Der Gangsta ist das, was herauskommt, wenn der Amerikaner seine Neigung zum Machotum auf die Spitze treibt: ein Mann, der mit Freuden im Feuergefecht stirbt, weil ihn irgendjemand in der Disco versehentlich angerempelt hat. Derart besessen ist der Gangsta von dem, was er »Respekt« nennt. Der Gangsta ist üblicherweise ein Schwarzer, der erkannt hat, dass Drogenhandel (und/oder das Rappen über die eigene Großartigkeit) seine einträglichste Karriereoption ist. Der Gangsta kann auch ein Weißer sein, dessen Minderwertigkeitskomplex allerdings doppelt so groß ist, weil er weiß: Er wird niemals schwarz sein. Aber egal, ob schwarz oder weiß, der Aufzug ist der gleiche: Schlabberkleidung, Jeans, die so weit nach unten hängen, dass man seine Boxershorts sieht, eine ganze Sammlung von Goldketten – und Tattoos, die er vielleicht eines Tages bereut.

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»Na und.« Er sprach, als steckte er unter einer Dunstglocke. Seine Worte quollen wie Marihuanarauch aus seinem Mund. Mrs. Jacobs setzte den Unterricht fort, nur um bald wieder von Derek unterbrochen zu werden. »Nimm die Füße von meinem Tisch, sonst schneid ich dir deine Scheißzehen ab!«, knurrte er den Jungen hinter ihm an. Mrs. Jacobs füllte einen Verweiszettel aus und gab ihn Derek. »Geh damit zum Direktor.« »Na logo«, erwiderte er. Dann griff er sich in den Schritt und stolzierte aus dem Klassenraum. Für diesen Wutausbruch musste Derek nachsitzen, was er ohne Widerspruch akzeptierte. Er fand nachsitzen »irgendwie cool«. Von Strafen ließ er sich nicht beeindrucken, und als Mrs. Jacobs endlich seine Mutter erreichte, sagte die, sie könne nicht zu einem Elterngespräch kommen, man solle aber die nötigen Maßnahmen ergreifen. Sie habe es versucht, käme aber auch nicht an Derek heran. März

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rs. Jacobs fand es absurd, dass man von ihr erwartete, mit diesen Schülern Shakespeare durchzunehmen. Doch sie musste sich an den Lehrplan halten. Julius Cäsar stand be-

reits auf dem Unterrichtsprogramm, wie zum Hohn. Als es so weit war, ließ sie das Stück von den Schülern mit verteilten Rollen vortragen. Mitten im 1. Akt klingelte plötzlich ein Handy zur Melodie eines Rapsongs, den die Schüler häufig auf dem Parkplatz spielten. »Was geht ab?«, sagte Derek kühl in das Handy, als antworte er aus dem tiefsten Schwarzenghetto, dabei war er so weiß wie die meisten seiner Mitschüler. »Leg auf, Derek«, sagte Mrs. Jacobs.

Sie stellte sich vor, wie es wäre, mit gezücktem Messer die Schüler als Geiseln zu nehmen. Derek hob den Zeigefinger in Richtung seiner Lehrerin, als Aufforderung an sie, einen Moment zu warten. »Ey, Kleine«, fuhr er fort. »Was machste so? … Du putzt das Haus? Scheiße, gute Idee. Vielleicht hilft dir das dabei, dass dein dicker Arsch ’n bisschen kleiner wird … Yeah, mach das.« Dereks Mitschüler hörten auf zu lesen und widmeten ihre ganze Aufmerksamkeit Dereks Telefonat. Mrs. Jacobs stand neben ihm und schaute in seine düsteren Augen.

»Derek, hör auf zu telefonieren«, sagte sie so streng wie möglich. »Is mir egal, ey«, fuhr er fort. »Für ’ne Vierzehnjährige hast du echt fette Titten.« Die Mitschüler lachten, was Derek irritierte. Er senkte das Handy und widmete seine Aufmerksamkeit den Mitschülern, die ihn alle beobachteten. »Klappen halten, ihr Arschficker.« »Derek, das ist die letzte Warnung.« Derek erhob sich, ging lässig an Mrs. Jacobs vorbei und aus dem Klassenzimmer, ohne das Telefonat zu unterbrechen. »Lest das Stück mit verteilten Rollen weiter«, sagte Mrs. Jacobs, als ob die Schüler ihr gehorchen würden. Sie verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. »Geht klar. Wir sehn uns heut Abend, Kleine«, sagte Derek, ehe er das Handy wieder in die Tasche seiner hängenden Jeans steckte. »Derek, bisher war ich nachsichtig mit dir, aber das war zu viel.« »Sie sollten mal was für die Nerven nehmen. Ich hab mir bloß ’ne Tussi für die Nacht organisiert.« »Stimmt irgendwas nicht? Gibt es etwas, worüber du reden musst?« »Was nicht stimmt, sind Sie. Sie sind ja echt ätzend.« Er nahm die Hand nicht von seinem Schritt.

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»Was soll ich nur machen? Ich kann von dir verlangen, was ich will, du stellst dich stur. Ich habe dich fünf Mal um deine Hausarbeit gebeten, doch du machst sie einfach nicht. Und du hast in meinem Kurs einen Notendurchschnitt von vier Komma neun. Willst du denn nicht versetzt werden?« »Das ist mir mittlerweile so was von egal. Mit vier Komma neun werd ich nun mal nicht versetzt, was soll ich mir da den Arsch aufreißen? Außerdem geh ich eh an dem Tag ab, an dem ich achtzehn werde.« »Wann ist dein Geburtstag?« »Neunter April.« »Den streiche ich mir im Kalender an. Doch bis dahin musst du dich ändern, denn wenn du die Schule verlassen hast, wirst du merken, dass sich dieses Benehmen irgendwann irgendwer nicht mehr bieten lässt.« »Ich komm schon klar. Das hat ja siebzehn Jahre lang funktioniert.« Als an diesem Tag nach dem Unterricht zwei Schüler nacheinander Mrs. Jacobs die Vorfahrt nahmen, ertappte sie sich dabei, dass sie den Mittelfinger ein ganzes Stück über das Armaturenbrett hob. April

Illustration: © Tomi Ungerer

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rs. Jacobs bedauerte, dass Thomas ihr mittags nicht mehr Gesellschaft leistete. Anfang April wurde er der Schule verwiesen, weil er gedroht hatte, eine Pistole mit in die Schule zu bringen. Ein paar Jungs hatten ihn das ganze Jahr ungestraft schikaniert. Sein Spind befand sich direkt neben einer Tür, und tagaus, tagein machten sich einige gut gekleidete Jungen (Freunde von Derek) einen Spaß daraus, die Tür aufzustoßen und Thomas damit zu treffen. Als ihn die Tür eines Morgens wieder getroffen hatte, fuhr Thomas herum und drohte, die Jungs zu erschießen. Sie verpetzten ihn. Am Nachmittag war sein Spind leer geräumt, und der Direktor hatte ihn aus der Schülerliste gestrichen. Jetzt hatte Mrs. Jacobs niemanden mehr, mit dem sie reden konnte, wenn sie in der Mittagspause den Müll ihrer

Schüler aufsammelte. Mittlerweile behielt sie die gefalteten Zettel, die sie auf dem Fußboden fand. Sie steckte sie in ihre Handtasche und nahm sie mit nach Hause, wo sie und ihr Mann sich köstlich amüsierten. Als sie eines Tages über den grauen Teppichboden robbte, fand sie unter Dereks Tisch ein Springmesser. Wenn ich ihn doch nur damit erwischt hätte, dachte sie. Vorsichtig, als wäre es ein Beweisstück, nahm sie das Messer und legte es hinten in ihre unterste Schreibtischschublade. Während der restlichen Mittagspause stellte sie sich vor, wie es wäre, mit gezücktem Messer die Schüler eines ihrer Kurse als Geiseln zu nehmen. Entweder ihr lernt die Wortarten oder ihr sterbt, dachte sie. Sie würden sofort reagieren, die Hände heben und richtige Antworten von sich geben, bis hinunter zu den Präpositionen. Dann würde die Polizei anrufen und fragen, welche Forderungen sie stelle, und sie würde entschieden und beherzt sagen: »Ich will, dass diese Schule vor Sportveranstaltungen keine Jubelfeste mehr organisiert und dass sie nicht jedesmal dichtmacht, wenn die Basketballmannschaft an einem Wettkampf teilnimmt. Ich will, dass ein Pflichtkurs angeboten wird, in dem gesunder Menschenverstand und Umgangsformen unterrichtet werden. Ich will, dass Siebzehnjährige die Schule abbrechen dürfen. Und ich will, dass jemand den beschissenen Kopierer repariert.« Es war noch eine Woche bis zum neunten April, doch für Mrs. Jacobs kam er nicht schnell genug. Bald würde sich Derek aus dem geschützten Raum ihres Klassenzimmers und in die, wie manche Lehrer gern sagten, »wirkliche Welt« katapultieren, wo ihn, wie sie vorhersah, ein Gericht zu einer so harten Strafe verurteilen würde, dass man nie wieder etwas von ihm hörte. Zu wissen, dass sie sich bald mit einem hoffnungslosen Fall weniger befassen musste, war für sie täglich ein Trost. Am zweiten April kam es zu einer Störung, nachdem eine freche Schülerin namens Shanequa von der Toilette

Typisch(e) Amerikaner von Joey Goebel KÜSTENINTELLEKTUELLE Dass die Küstenintellektuellen an einem Ort leben möchten, wo Intelligenz als Vorteil und nicht als »schwuchtelhaft« gilt, kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen. Ihre Brillen und Turnschuhe von urbanem Chic transportieren aber auch einen Anflug von Überlegenheit. Sie würden es niemals öffentlich zugeben, aber sie haben das unausgesprochene Gefühl, außerhalb von New York oder Los Angeles könne sich nichts wirklich Wichtiges ereignen. Die Ironie besteht darin, dass keiner von ihnen ursprünglich aus New York oder L.A. kommt. Sie stammen allesamt aus den kleinen, in ihren Augen stupiden und bedeutungslosen Städten des mittleren Westens, und vielleicht würde das Kernland der USA nicht an Braindrain leiden, wenn sie nicht alle der gleichen Regel ihre Stereotyps gefolgt wären: dass Intellektuelle unbedingt den Ort wechseln müssen.

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DER DICKE AMERIKANER Für Europäer personifiziert dieser Mann Amerika vielleicht am besten: der übergewichtige Mann mit all seinen Exzessen, der mehr zu sich nimmt, als er sollte, und sich auf diesem Weg zu einem Ekelpaket entwickelt. Der stereotype fette Amerikaner ist ein unzivilisierter Gammler, der infolge seiner Ignoranz und Trägheit dick geworden ist. Fairerweise muss jedoch gesagt werden, dass er seine Pfunde womöglich aufgrund bestimmter gesundheitlicher Probleme behält, unabhängig davon, wie sehr er sich bei McDonald´s gehen lässt. Und im Unterschied zu den kompakteren Städten in Europa legen die weitläufigen amerikanischen Städte im Alltag eher das Autofahren nahe als die Bewegung. Dennoch ist Fettleibigkeit ein zunehmend verbreitetes Problem unter amerikanischen Kindern. Andererseits wette ich: Unser Präsident ist garantiert dünner als Ihrer.

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»Ja, Derek.« »Ich wollte nur sagen, dass ich mir was überlegt habe. Ich bin hier schließlich nicht der Einzige, der schlechte Noten hat. Vielleicht ist daran ja die Lehrerin schuld.« Mehrere Schüler begleiteten die Beleidigung mit Uuuh-Rufen. Mrs. Jacobs errötete. »Näh. Echt mal«, fuhr Derek fort. »Wie viele von euch haben Fünfen oder Sechsen? Meldet euch.« Die Hälfte der Schüler hob die Hand. Mrs. Jacobs spürte, wie ihr ganzer Körper unangenehm heiß wurde. »Na schön. Wenn du glaubst, das sei so leicht, dann komm du doch nach vorn und unterrichte.« »Astrein.« Derek stand auf, fasste sich kurz in den Schritt und stolzierte nach vorn. Mrs. Jacobs setzte sich an seinen Tisch. Ihr wurde übel, als sie auf der Sitzfläche des Stuhls Dereks Körperwärme fühlte. »Warum bringen Sie uns nicht die Wortarten bei, Mr. Pruitt?«, fragte sie. »Na klar. Wird Zeit, dass wir hier mal ’n bisschen Englisch lernen. Der Junge in der ersten Reihe, nenn mir jetzt sofort ein beschreibendes Wort, sonst gibt’s Stress!« »Kiffen«, antwortete der Junge. »Hört sich gut an.« »Toll«, sagte Mrs. Jacobs. »Warum bringst du uns jetzt nicht Konjunktionen bei, o genialer Derek?« »Kinderkram. Ihr da hinten, hört auf zu quatschen, verdammt. Okay, jetzt nennt mir einer von euch ein Beispiel für das, was sie gerade gesagt hat, sonst mach ich euch platt.« »Bier«, antwortete ein Mädchen. »Ja, super. Du hast’s drauf.« »Sehen Sie. Er ist ein guter Lehrer, Mrs. Jacobs«, sagte ein anderes Mädchen. »So sollten Sie auch unterrichten.« »Du sagst es. Ich hab Erfolg«, sagte Derek. »Was jetzt?« »Oh! Oh! Ich muss dringend auf die Toilette, Herr Lehrer!«, rief Mrs. Jacobs. »Ich will unter dem Vorwand, urinieren zu müssen, eine Zigarette rauchen! Können wir den Unterricht im Freien machen??«

Illustration: © Tomi Ungerer

Typisch(e) Amerikaner von Joey Goebel

zurückkam. Die Schüler schrieben gerade einen Test über König Arthur, als Shanequa plötzlich laut wurde. »Jemand hat meine Sachen durchwühlt!« »Shanequa, sei still und schreib deinen Test. Wenn du damit fertig bist, darfst du reden.« »Aber Mrs. Jacobs, jemand hat meine Sachen durchwühlt! Ich komme vom Klo und bin bestohlen wurden!« »Wenn du deinen Spickzettel meinst, den habe ich an mich genommen«, erwiderte Mrs. Jacobs. »Ich hasse Sie. Sie hatten kein Recht, meine Sachen zu durchwühlen.« »Ich musste deine Sachen nicht mal durchwühlen. Der Spickzettel lag oben auf deinem Tisch.« Shanequa sprang von ihrem Platz auf und verließ den Raum. »Sie dürfen nicht in meinen Sachen rumkramen!«, schrie sie beim Gehen. »Zurück an die Arbeit«, sagte Mrs. Jacobs und benotete wieder Hausarbeiten. »Was soll das jetzt?«, nuschelte Derek. »Gehen Sie nicht hinter ihr her wie sonst immer hinter mir?« »Ich darf den Raum während eines Tests nicht verlassen.« »Was soll das denn heißen? Dass wir alle schummeln?« »Nein. Nicht alle. Zurück an die Arbeit.« »Aha. Sie meinen also, ich bin ein Schummler?« »Nein, Derek, das tu ich nicht. Wenn du abschreiben würdest, wären deine Noten besser. Normalerweise schreibst du nicht mal was in die Leerstellen eines Lückentexts.« Die anderen Schüler lachten, und Derek murmelte leise »Miststück« vor sich hin. Mrs. Jacobs ignorierte diese Bemerkung und hoffte, dass die Schüler ihren Test fortsetzen würden, was auch geschah. Während des Tests sah Derek Mrs. Jacobs immer wieder finster an und strich sich über die schüttere Gesichtsbehaarung. Nach dem Test stellte sich Mrs. Jacobs vor die Klasse. Bevor sie mit dem Unterricht begann, sah sie, dass Derek sich meldete.


Illustration Cicero-Titel 8/09: Silke Bachmann

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»Halt den Mund«, sagte Derek. »Genau so hört ihr euch an«, sagte Mrs. Jacobs. Sie stand auf und ging nach vorn. »Danke, Derek. Setz dich wieder auf deinen Platz.« »Scheiße, nein. Sie haben gesagt, ich bin der Lehrer. Jetzt schwing deinen Arsch zurück auf den Stuhl.« Seine Mitschüler fingen an zu lachen und hörten nicht wieder auf. Derek rührte sich nicht. Mrs. Jacobs fühlte sich matt. Aus ihren Achseln strömte der Schweiß. »Ich meine es ernst«, rief sie. »Setz dich!« »Das reicht, Schlampe! Marsch zum Direktor, aber fix!« Der Kurs brach in ohrenbetäubendes Gelächter aus. Mit pochendem Kopf sah sie ihre fröhlichen, johlenden Schüler an und lief aus dem Raum. »Das dachte ich mir«, sagte Derek. Cynthia lief in die Toilettenkabine und verriegelte die Tür. Dann spülte sie nach, was die Schülerin vor ihr versäumt hatte. Hektisch zerrte sie ihr Höschen runter und zog den Rock hoch. Als sie etwas später nach unten schaute, sah sie, dass das Toilettenwasser rot war. Sie blieb eine Weile sitzen. Allmählich schlug ihr Herz langsamer, und ihr Körper kühlte sich ab, während sie das Gekritzel an den Klowänden las. Alles war zotig und voller Schreibfehler, sie fand kein einziges auch nur halbwegs freundliches Wort. Zwei Mädchen kamen in den Waschraum und zündeten sich Zigaretten an. »Neulich abends haben wir einen durchgezogen, und er hat gesagt, wirfst du gern mal ’n Trip ein, und ich sage, eigentlich nicht, und er sagt, gibt nicht so viel, was du magst, stimmt’s? Und ich sag, ich mag deinen Schwanz, und dann haben wir’s gemacht.« »Cool. Weiß Chris davon?« »Teufel, nein. Aber das war meine Rache, weil er’s mit Melissa gemacht hat.« »Gut gegeben.« Cynthia fing an zu weinen. Sie bemühte sich, leise zu sein, konnte das Schluchzen aber nicht unterdrücken. Sie hörte die Mädchen lachen, ehe sie


sich weiter über ihr Wochenende unterhielten. Als die Mädchen weg waren, erhob sich Cynthia. Sie hatte keine Tränen mehr und wischte sich mit dem Ärmel ihrer geblümten Bluse übers Gesicht. Sie sah nach unten auf die Blutklumpen in der Kloschüssel und beschloss, sie nicht wegzuspülen. Als Mrs. Jacobs in ihr Klassenzimmer zurückkam, stand Derek immer noch vorn, die Hand im Schritt. Der Kurs war relativ ruhig. Mrs. Jacobs ging zu Derek und schaute ihm in die blutunterlaufenen Augen. Er lächelte und zeigte seine missgestalteten Zähne. »Was geht ab?« »Verschwinde aus meinem Klassenzimmer.« »Aber Sie ham gesagt, dass ich der Lehrer bin.« »Verschwinde aus meinem Klassenzimmer, du Abschaum.« Die Schüler verstummten. »Wundern Sie sich nicht, wenn Ihr Haus heute Abend aus ’m fahrenden Auto heraus beschossen wird«, sagte Derek, ehe er aus der Tür stolzierte. Die Schüler beobachteten Mrs. Jacobs, als sie sich an ihren Tisch setzte und den Kopf senkte. Sie musterten

Buchtipp

Joey Goebel

Heartland Roman · Diogenes

Illustration: © Tomi Ungerer

720 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06694-4

Gott, Vaterland und Freiheit? Eher: Geld, Vetternwirtschaft und Feigheit! Ein großes Familienepos und Portrait des Vor-ObamaAmerikas. Herrlich grausam.

ihren Schopf, die lockigen, braunen Haare, um die sie ihre mageren Arme geschlungen hatte. Da ihre Schüler so ungewöhnlich still waren, schlief sie in dieser Stellung beinahe ein. Dann durchbrach ein Furzen die Stille, woraufhin gelacht wurde, woraufhin geredet wurde, woraufhin die vertraute Kakophonie aus Beschimpfungen, Flüchen und schlechter Grammatik wieder begann.

Typisch(e) Amerikaner von Joey Goebel

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erek wurde wegen der angedrohten Schießerei – eine Drohung, die nie umgesetzt wurde – der Schule verwiesen. Cynthia hörte am Halbjahresende auf zu unterrichten. Einige Schüler fingen in den letzten anderthalb Monaten an, sie zu mögen. Sie verteilte keine Hausaufgaben mehr und saß fast nur noch vorn an ihrem Tisch. Sie tadelte nur noch, wenn die Schüler so laut redeten, dass sie ihre Soap Operas nicht mehr hörte. Am Halbjahresende hatten nur zwanzig Schüler nicht bestanden. Die anderen, die keinen Abschluss bekamen, hatten an ihrem achtzehnten Geburtstag die Schule verlassen. Wesentliche Fortschritte: keine. Cynthia nahm ein Zweitstudium auf und machte ein Examen in Sozialarbeit. Ihre berufliche Zukunft lag in der Arbeit mit Senioren. Sie mochte ältere Menschen. Sie redeten so höflich und hatten einen guten Filmgeschmack. Sie waren Cynthia für ihre Anwesenheit dankbar und glaubten, einen Engel um sich zu haben. Im Laufe der Jahre las Cynthia die Namen ihrer ehemaligen Schüler in der Zeitung, meist in Artikeln über Gerichtsverhandlungen, manchmal aber auch wegen ihrer Heldentaten im Ausland. Von Derek Pruitt hörte sie nie wieder etwas, doch manchmal sah sie vor ihrem inneren Auge seinen Ururenkel, wie er Frauen und Kinder in den Hinterkopf schoss, während in einiger Entfernung im Zuge des Zwölften Weltkriegs Bomben fielen.

Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog

DER REDNECK Der amerikanische Redneck, auch bekannt als Country Boy, Good Ol’Boy oder Bauerntölpel, gedeiht in den unendlichen Weiten zwischen Ost- und Westküste. Er ist ein einfacher Mann und stolz darauf. Das könnte man als einnehmende Eigenschaft gelten lassen, wäre da nicht jene Schlichtheit des Gemüts, die es möglich machte, dass George W. Bush nicht nur einmal, sondern zweimal gewählt wurde. Der Redneck glaubt wie der Gangsta, wenngleich auch dessen Erzrivale, an die Männlichkeit als höchste Tugend. Alle Klischees vom Redneck treffen zu: Er liebt Pick-upTrucks, Countrymusik und Schusswaffen. Er hasst Abtreibungen, Homosexuelle und Bücher. Nur wenige Rednecks sind tatsächlich von Hass erfüllt Kleingeister. Viele sind höflich und wohlmeinend. Manche aber sind die unheimlichsten Amerikaner überhaupt, und doch absolut überzeugt von ihrer eigenen Tugendhaftigkeit.

Die Texte der Serie »Typisch(e) Amerikaner« erschienen erstmals in der Zeitschrift »Kulturaustausch« Nr. 3 / 2009. Aus dem Amerikanischen von Andreas Bredenfeld Diogenes Magazin

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Top 10

Benedict Wells

Top 10 Singles mal und etwas verspielt an, ehe dann auf einmal dieser stampfende Rhythmus ins Spiel kommt. Franz Ferdinand sind auf CD einfach super, sie sollten viel weniger touren und viel mehr Alben aufnehmen, am liebsten würde ich sie zwei Jahre lang in ein Studio einsperren.

2. Reptilia, The Strokes Ich kam 2003 nach Berlin, lebte in einer Bruchbude und schrieb wie verrückt, Geld war Mangelware. Und trotzdem habe ich mir aus einem Instinkt heraus das zweite Album der mir damals unbekannten Band The Strokes gekauft, was bedeutete, dass es danach mehrere Tage lang nur Fertignudeln zum Essen gab. Egal. Ich hörte den Song und das Album tausend Mal beim Schreiben, auf der Straße, beim Fertignudelessen, es veränderte alles.

8. Who Put The Weight Of The World On My Shoulders, Oasis Es ist ein Jammer, dass eines der besten Lieder von Oasis auf keinem ihrer Alben drauf ist, sondern nur auf dem Soundtrack des recht miesen Fußballfilms Goal. Was für eine Verschwendung. Ich habe diesen Song immer beim Schreiben von Becks letzter Sommer gehört, er ist eine Hymne. Ich mag ihn fast noch lieber als Wonderwall oder Live Forever.

3. The Rip, Portishead Neben Teardrop von Massive Attack und Atmosphere von Joy Division eines der schönsten ruhigen Lieder, die ich kenne. Es steigert sich ganz langsam, wird druckvoller, am Ende bricht es richtig aus. Ich hatte anfangs immer eine Gänsehaut beim Hören. Als ich das letzte Kapitel von Spinner schrieb, lief der Song in Endlosschleife. 4. My Favourite Girl, King Creosote Ein sehr, sehr schönes Lied, wehmütig, traurig, wunderbar melancholisch. Ich glaube, wenn man verliebt ist oder Weltschmerz hat, gibt es nichts Besseres. Leider kennt kein Schwein King Creosote, dabei sind fast alle seine Sachen super. 5. Take Me Out, Franz Ferdinand Genialer Song. Am besten ist er, wenn er seine Richtung ändert. Er fängt erst nor-

6. All Along The Watchtower, Bob Dylan Mit diesem Song kriegte er mich. Vorher war Dylan für mich nur ein vager Begriff, ich stellte mir einen hundertjährigen Prediger vor, der irgendwelche Hippiemusik machte. Natürlich ohne vorher jemals etwas von ihm gehört zu haben. Durch das coole und irgendwie angriffslustige All Along The Watchtower betrat ich Dylans kleines Zauberreich und habe seitdem nie wieder den Ausgang gefunden.

Im nächsten Magazin: Top 10 Filme von Martin Walker 68

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7. Billie Jean, Michael Jackson Ich gehöre ja einer Generation an, die Jackson nur noch als Weißen kannte, der mit seinem Affen lebte, sein Baby vom Balkon hielt und allerlei andere Sachen machte, die hier nicht hingehören. Egal. Die Musik überlebt. Allein der Anfang dieses Songs. Wer da nicht mit den Füßen wippt, ist tot. Als ich klein war, war ich der größte Michael-Jackson-Fan der Welt. Leider waren auch alle anderen Jungen in meiner Klasse der größte Michael-Jackson-Fan der Welt. Um die Mädchen zu beeindrucken, übten wir zehntausend Stunden am Tag die Tanzschritte oder den Moonwalk, wir kauften uns sogar Hüte. Heute glaube ich, dass ich zu dem Song mal echt gut tanzen konnte, aber das bilde ich mir wahrscheinlich nur ein.

9. Hold On, Hot Chip Nicht fantastisch, aber ein gewitzter Song. Hab ihn reingenommen, um mal noch was anderes in dieser Liste zu haben. An dieser Stelle hätten aber auch Songs von The Clash, Jamie T, Matisyahu oder den Chemical Brothers stehen können. Bin kein Musikkritiker, also benutze ich mit Sicherheit die falschen Begriffe, wenn ich dieses Lied als funky, elektronisch und trickreich preise. 10. Riders on the Storm, The Doors Ich habe diesen Song in verschiedensten Stimmungen gehört, mit verschiedensten Menschen, in verschiedensten Situationen. Er hat wirklich immer gepasst. Am liebsten mochte ich ihn, als ich in Amerika war und bei Regen durch die Rocky Mountains gefahren bin. Ich liebe das Pianospiel.

Foto: © Cora-Mae Gregorschewski

1. Neighbourhood 1, Arcade Fire Ich habe diesen Song einmal gehört. Na ja. Ich habe ihn fünf Mal gehört. Nicht schlecht, hat was. Ich habe ihn zehn Mal gehört. Wirklich, wirklich gut. Die nächsten hundert Male wurde er weiterhin immer besser. Nach zwei Jahren war ich dann auf dem besten Konzert meines Lebens, als Arcade Fire in Köln spielten. Als ich den Song dort live hörte, fühlte ich mich so unglaublich glücklich, wie einen nur gute Musik glücklich machen kann. Vielleicht hatte ich sogar feuchte Augen, aber das würde ich hier nie zugeben. Ich liebe dieses Lied, verdammt!


Serie

Das erste Mal Ruth Rendell alias Barbara Vine über ihre ersten Leseerfahrungen

Illustration: © Sempé

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as Bild, das noch immer vor meinem inneren Auge steht, zeigt ein tanzendes, gestikulierendes Etwas mit menschlichem Gesicht, Katzenohren und einem Körper mit Bärenpelz. Das Paradoxe ist, dass ich dieses Bild damals – ich muss etwa sieben gewesen sein – eigentlich nie wiedersehen wollte. Ich wusste ganz genau, an welcher Stelle in Andrew Langs Märchenbuch es vorkam, in welchem Viertel des Buches und zwischen welchen Seiten, und ich war fest entschlossen, es nie mehr anzuschauen, es ängstigte mich zu sehr. Andererseits – so pervers ist der Mensch, und mag er noch so jung und unschuldig sein – war die Versuchung riesengroß, nur mal eben verstohlen hinzugucken. Die Seiten in dem gefährlichen Bereich rasch durchzublättern und einen kurzen, angsterfüllten Blick darauf zu werfen. Welches von Langs Märchenbüchern es war, das rote, blaue, gelbe oder lilafarbene, weiß ich nicht mehr. Gelesen habe ich sie alle. Es waren die ersten Bücher, die mir nicht von anderen vorgelesen oder ans Herz gelegt worden waren, und ihnen verdanke ich eine beständige Liebe zu Märchen

und noch etwas anderes, etwas, das für mich immer wieder faszinierend und auch von praktischem Nutzen ist. Andrew Lang war der Erste, von dem ich lernte, meine Leser das Fürchten zu lehren.

Ich wollte eigentlich nie das lesen, was meine Eltern wünschten. Zweifellos ist das normal. Weil ich eine skandinavische Mutter hatte – so muss ich es sagen, denn sie war halb Schwedin, halb Dänin, mit einer isländischen Großmutter, geboren in Stockholm, aufgewachsen in Kopenhagen –, wurde ich früh an Hans Christian Andersen herangeführt, den ich von Anfang an nicht leiden konnte. Er war mir zu moralisch. In seinen Märchen steckte meist eine Botschaft und eine Drohung. Merkwürdigerweise – aber vielleicht ist es gar nicht so merkwürdig – war die Geschichte, die ich am meisten hasste, das Lieblingsmärchen meiner Mutter (die eine streng lutherische Ader hatte), nämlich Das Mädchen, das auf das Brot

trat. Es handelt von der hochmütigen Inger, die einen Laib Brot als Trittstein benutzt, um ihre feinen Schuhe in der Furt nicht nass zu machen. Das Ende vom Lied war natürlich, dass sie in das Reich der Moorfrau hinuntersank, eine Art Jauchegrube, in der es von grusligem Krabbelgetier nur so wimmelte. Und das war erst der Beginn ihrer Leidensgeschichte. Ich wollte eigentlich nie das lesen, was meine Eltern wünschten. Zweifellos ist das normal. Die Ausnahme ist wohl Beatrix Potter, aber ihr entwachsen wir früh und kehren erst nach zwanzig oder dreißig Jahren zu dieser ersten Liebe zurück. Liest irgendjemand heute noch Die Wasserkinder? Charles Kingsley ist nicht weniger belehrend als Andersen, aber auf andere Art. Ihm geht es weniger um moralische als um soziale Missstände. Von Ingers Armut und ihrer entbehrungsreichen Kindheit nimmt Andersen überhaupt keine Notiz. Kingsleys arme kleine Schornsteinfegerjungen erregten immer meine Neugier und mein Mitgefühl. Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal in einem Haus wohnen würde, in dessen riesigem Diogenes Magazin

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Kamin man noch die Fußstützen sieht, an denen die Jungen mit ihren Besen hochkletterten. Die Wasserwesen, die dem verwandelten Tom begegneten, weckten in mir ein lebenslanges Interesse für Naturgeschichte. Zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Tolkiens Der kleine Hobbit las ich das Buch zum ersten Mal. Als ich es zwanzig Jahre später noch einmal las, empfand ich das gleiche Entzücken, das gleiche Glück, die gleiche atemlose Lust. Damals, als ich neun war, verspürte ich all diese Gefühle zum ersten Mal – Gefühle, die allen Freunden der Literatur vertraut sind und die sich ungefähr auf der zweiten Seite einstellen, wenn man merkt: Das Buch ist nicht nur gut, sondern unendlich reichhaltig, packend, ein Buch, das man nur unter Zwang aus der Hand legt, das unerbittlich auf einen kraftvollen, dramaturgisch überzeugenden Schluss zutreibt. Zur selben Zeit, als mich Der kleine Hobbit fesselte, las ich auch The Complete Book of British Butterflies, ein dicker Wälzer, verfasst von dem berühmten Naturwissenschaftler F.W. Frohawk. Was für ein wunderbarer Name. Er hört sich an, als sei der Mann selbst ein Riesenschmetterling oder ein großer Nachtfalter. Dieses Buch besitze ich immer noch, von meinem Schreibtisch aus kann ich es im Bücherregal sehen. Früher habe auch ich Schmetterlinge gesammelt, sie in einer Flasche mit ammoniakgetränkter Watte getötet und auf eine Nadel gespießt. Die Missbilligung einer Schulkameradin, die ich eigentlich nicht mochte, vor der ich aber offenbar Respekt hatte, machte dem ein Ende, und abgesehen von ein paar Fliegen und vielleicht ein, zwei Stechmücken habe ich seither kein Lebewesen umgebracht – außer zwischen zwei Buchdeckeln, versteht sich. Mein Vater ertappte mich bei der Lektüre von Thackerays Buch der Snobs und prophezeite mir sehr richtig, ich würde es nicht verstehen. Ich hatte es mir nur genommen, weil ich nichts anderes hatte. Der Leser, die Leserin muss lesen, und sei es in Er70

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mangelung anderen Lesestoffs Das Buch der Snobs oder das Telefonbuch. Wenn in den Ferien die Schulbibliothek geschlossen und die Stadtbücherei zu weit weg war, um dort rasch ein Buch zu holen, konnte ich nur auf die Bücherschränke meiner Eltern zurückgreifen. Sie waren beide Lehrer und beide Leser, besaßen aber nur wenige eigene Bücher. Sie konnten sie sich nicht leisten. Ein paar Lehrbücher aus dem Studium hatten sie, ein paar moderne Romane, die sie zu Weihnachten bekommen hatten und

Der Leser, die Leserin muss lesen, und sei es in Ermangelung anderen Lesestoffs das Telefonbuch. die Gesammelten Werke ihrer jeweiligen Lieblingsschriftsteller, bei meinem Vater war es Hardy, bei meiner Mutter Kipling. Ich erinnere mich an einen scheußlich verregneten Sonntagnachmittag, an dem ich mich mit der Einführung in die Paläontologie quälte und mit einem Buch über Eruptivgestein. Mein Vater hatte Geologie studiert. Lohnender war Marie Stopers Das Liebesleben in der Ehe, das einzige Buch im Regal, das einen unbedruckten Schutzumschlag hatte – ein Hinweis auf ein »Spezialgebiet«, wie Pornohändler zu sagen pflegten. Bei Stopes fand sich allerdings kein Porno und sehr wenig Information. Ich staunte damals und staune noch heute darüber, dass es in diesem Buch, geschrieben von einer Meisterin der Umschreibung und Beschönigung, angeblich um Sex geht. Wie trist waren die Abende, an denen mein Vater mir Hardy vorlas. Er las bestimmt sehr gut und in überzeugendem Wessex-Tonfall, denn er stammte aus Devon, aber mich als Heranwachsende langweilten diese braven, einfachen Bauern unter ihren grünen Bäumen unaussprechlich. Heute wäre mir die neuerliche Lek-

türe von Herzen in Aufruhr zu mühselig, und Die Heimkehr finde ich fast selbstmörderisch düster, aber damals überlegte ich die ganze Zeit nur, wie ich es anstellen könnte, der Lesung zu entkommen, ohne die Gefühle meines geliebten Vaters zu verletzen. Nicht dass ich viktorianische Romane durchweg abgelehnt hätte – ganz im Gegenteil! Damals begann meine lebenslange Liebe zu Trollope. Auf Dr. Thorpe, einen Roman, den ich – eine hübsche Ironie – gerade für Penguin Classics herausgegeben und mit einer Einführung versehen habe, stieß ich im Bücherschrank einer Tante. Man riet mir von der Lektüre ab. Das Buch sei unschicklich, hieß es hinter vorgehaltener Hand. Heute ist es unglaublich (damals eigentlich auch schon), dass man mich vor einem Roman warnte, in dem ein Mädchen ein uneheliches Kind hat und das Wort »Verführer« vorkommt. Aber so war meine Familie eben. Ohne ihren Widerstand hätte ich das Buch nie aufgeschlagen. Wie viele von uns halten einem Schriftsteller zeitlebens die Treue, weil er uns einst so gut wie verboten worden ist? Wie viele von uns entwickeln einen nachhaltigen Widerwillen gegen einen bestimmten Autor, weil unsere Eltern uns, als wir jung und empfänglich waren, daraus vorgelesen haben? Meine Abneigung gegenüber Hardy hat sich später gelegt, inzwischen hege ich eine zurückhaltende Bewunderung für ihn. Die Begeisterung meiner Mutter für Tennyson hat ihn mir ein für allemal verleidet – was mag wohl eine schwedische Dänin an Maud gefunden haben? –, und aus Kipling mache ich mir bis heute nichts. Aber durch die Enzyklopädie The Wonderland of Knowledge, die mir meine Mutter in meiner Kindheit kaufte, lernte ich die griechische Mythologie kennen, und die Odyssee ist noch heute eins meiner Lieblingsbücher. Ein weiteres Lieblingsbuch, dem ich treu geblieben bin, ist Der Weg allen Fleisches von Samuel Butler. Das Exemplar, das ich heute noch besitze, hat mir seinerzeit eine Schulfreundin zum


Geburtstag geschenkt. Ich würde gern sagen, dass ich von Butler gelernt habe, Heuchelei zu meiden, tatsächlich aber lernte ich nur, was der Begriff bedeutet. Ich würde gern sagen, dass sein Buch mich lehrte, mich von faulem Zauber fernzuhalten, tatsächlich zeigte es mir nur, ihn bei anderen zu erkennen. Während meiner ButlerLektüre war ich nämlich gleichzeitig in W. Somerset Maugham verliebt. Das war eine absurde Schwärmerei, ein Kult, wie ihn junge Leute ein paar Jahre später mit Popstars treiben sollten. Schuld daran war Der bunte Schleier, der auf den so überaus einflussreichen elterlichen Bücherregalen stand. Ehe ich endgültig das Interesse an Maugham verlor, war es mir stets gelungen, genug Geld zusammenzukratzen, um jedes seiner Bücher gleich nach Erscheinen zu kaufen. Dadurch kam ich zu einer schönen Sammlung von Maugham-Erstausgaben und einem von Maugham infizierten Stil – französisiert, archaisch, peinlich –, in dem ich meine ersten Kurzgeschichten und einen sehr schlechten Roman schrieb. Kein Wunder, dass sie allesamt abgelehnt wurden.

Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann

Buchtipp

Barbara Vine Das Geburtstagsgeschenk

Foto: © Geoff Wilkinson / Rex Features / Dukas

Roman · Diogenes

384 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06731-6

Ivor Tesham, Machtmensch, Draufgänger und Politiker, macht seiner Geliebten zum achtundzwanzigsten Geburtstag ein riskantes Geschenk, das seine Karriere und sein Leben zu zerstören droht.

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Literarisches Kochen

Kochen mit Maigret Coq au vin »Ich habe mich schon oft gefragt, wie Sie es machen.« Das war Madame Pardons Stimme. Sie sprach von dem Coq au vin, das sie soeben genossen hatten. »Es hat einen ganz besonderen GeSimenon schmack«, fuhr sie fort, »ein Aroma, Maigrets das man kaum spürt, aber es verleiht Geständnis Sämtliche Maigret-Romane ihm das gewisse Etwas, und ich bin Band 54 bis heute nicht dahintergekommen, was es sein könnte.« »Ach, dabei ist es so einfach! Ich nehme an, Sie gießen zuletzt immer noch einen Diogenes Schuss Cognac dazu, stimmt’s?« »Cognac oder Armagnac. Was ich gerade habe.« »Sehen Sie! Und ich weiche vom traditionellen Rezept ab und nehme elsässischen Schlehenschnaps. Das ist das ganze Geheimnis.« Aus: Georges Simenon, Maigrets Geständnis

Für 4 Personen 1 Hähnchen vo n etwa 2 kg, zerlegt und in Stücke geschn itten 3 Karotten, ge putzt, klein ge schnitten 1 Lauchstenge l, geputzt, in St reifen geschnitt 1 Zwiebel, fein en gehackt 1 Stengel Pete rsilie ½ Lorbeerblat t, 2 Zweige Thy mian Schweinefett od er Butter zum Anbraten 4 Schalotten, fe in gehackt 2 Knoblauchze hen, gepresst 1 gestrichener Esslöffel Meh l 100 ml Rieslin g Salz, Pfeffer, M uskatnuss 1 Eigelb 100 g Crème fr aîche ½ Zitrone, Saft 10 ml klarer Sc hlehenschnaps (oder Cognac oder Armagna c)

Buchtipp

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in Drittel der Karotten sowie Lauch, Zwiebel und Petersilienstengel zusammen mit den Geflügelfüßen bei mittlerer Hitze andämpfen. Das halbe Lorbeerblatt und einen Thymianzweig dazugeben und mit 300 ml Wasser ablöschen. ½ Stunde auf etwa ein Drittel (100 ml) einköcheln lassen. Durchpassieren und bereithalten. In einem Schmortopf Schweinefett oder Butter erhitzen und die Geflügelstücke darin bei großer Hitze anbraten. Herausnehmen, den Rest der Karotten, die Schalotten und den Knoblauch hineingeben und über gelinder Hitze 10 Minuten goldgelb dünsten. Das Fleisch wieder in den Topf geben, mit dem Mehl bestäuben,

die durchpassierte Bouillon und den Riesling sowie ein Thymianzweiglein dazugeben, mit Salz, Pfeffer und etwas geriebener Muskatnuss würzen. Zugedeckt 1 Stunde köcheln lassen (ein über 1 ½ Jahre altes Hähnchen 2 Stunden). Wenn die Fleischstücke gar sind, aus dem Topf heben und auf einer vorgewärmten Platte anrichten.

Simenon und Maigret bitten zu Tisch Die klassischen französischen Bistrorezepte der Madame Maigret gesammelt von

Robert J. Courtine

Den Topf vom Feuer nehmen. Das Eigelb mit der Crème fraîche verrühren und hineingeben. Mit dem Zitronensaft und dem Schlehenschnaps abschmecken und die Sauce über das Fleisch giessen.

detebe 22958, 224 Seiten ISBN 978-3-257-22958-5

Empfehlung: Dazu frische Teigwaren servieren. Zu Hähnchen in Weißwein trinkt Maigret einen Riesling.

Original französische Bistrorezepte und die traditionellen Gerichte von Madame Maigret. Köstlich und gut nachkochbar!

Diogenes

Im nächsten Magazin: Kochen mit Martin Suter Diogenes Magazin

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Interview

Jessica Durlacher und

Leon de Winter Diogenes Magazin: Wie sieht das Leben zweier verheirateter Schriftsteller aus? Jessica Durlacher: Leon bereitet das Frühstück für unsere zwei Kinder vor, vergisst dabei aber immer, ihnen etwas zu trinken zu geben. Leon de Winter: Das mache ich extra, damit Jessica glaubt, sie vollendet Dinge. Nach dem Morgenspaziergang treffen wir uns zum zweiten Kaffee, bevor jeder in sein Arbeitszimmer verschwindet. Jessica arbeitet im unserem Gartenhaus, etwa zehn Meter von unserem Haus entfernt. Dann klingeln ständig die Hausapparate.

Jessica Durlacher: Wir telefonieren acht- bis zehnmal am Tag miteinander. Leon ruft öfter als ich an. Dann liest er mir etwas aus einem seiner Artikel vor, oder es ist ihm eine schöne Formulierung eingefallen. Das hört nicht auf, bis ich sage: »Jetzt ist Schluss!« Leon de Winter: Mich kann niemand und nichts stören. Ich murmle »Ja« oder »Nein« oder »Okay«, während ich einfach weiterschreibe. Jessica Durlacher: Ich springe in sein Zimmer und frage ihn etwas, und er 74

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Foto: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

Wenn man an einem Buch arbeitet, ist das eine Herausforderung für die ganze Familie.


Foto: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

Wir schreiben selten zur selben Zeit. sagt ja, ja. Aber später kann er sich nicht mehr daran erinnern. Mitten im Chaos des Familienlebens zu sitzen und alles um sich herum zu vergessen, das würde ich auch gerne können. Wir schreiben selten zur selben Zeit, denn wenn man an einem Buch arbeitet, ist das eine Herausforderung für die ganze Familie. Ich tauche dann komplett ein in die Welt des Romans, denke ständig darüber nach und rede von nichts anderem. Wenn das zwei Leute zur selben Zeit tun, noch dazu Ehepartner und Eltern, geht das nicht gut. Was machen Sie, wenn Jessica auf großer Lesereise ist? Leon de Winter: Dann bin ich allein hier. Es ist schrecklich. Der Mensch, den ich am liebsten habe, ist nicht da. Das Haus ist zu ruhig, mein einziger Trost sind unsere zwei Kinder. Jessica Durlacher: Sie gucken dann zusammen fern und essen merkwürdige Sachen. Es ist im Grunde so, als wären drei Kinder allein zu Hause. Kommen Sie sich manchmal gegenseitig in die Quere mit den Themen, über die sie schreiben? Jessica Durlacher: Manchmal, wenn wir etwas Besonderes entdecken oder erleben, reklamiert es jeder für sich – zum Spaß natürlich. Das Leben meines Neffen ist zum Beispiel voller Besonderheiten, die wir beide sehr witzig finden. Er handelt mit Naturdärmen, aus denen Würste gemacht werden. Das ist offenbar ein einträgliDiogenes Magazin

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ches Geschäft, faszinierend und abstoßend zugleich. Leon war begeistert und wollte darüber schreiben. Auch ich fand daran Gefallen, bis ich eingesehen habe, dass diese Figur einfach besser in Leons Werk passt. Leon de Winter: Es ist schon komisch, früher hat man uns nie verglichen, das beginnt erst bei ihrem dritten Roman. Jessica Durlacher: Als ich Emoticon geschrieben habe, arbeitete auch Leon an einem Buch, das in Israel spielt. Wenn er zur selben Zeit damit herausgekommen wäre, hätte man uns direkt verglichen. Deshalb hat Leon die Veröffentlichung seines Romans verschoben. So haben wir das Problem gelöst.

Jessica schmeckt die Sprache ab, für mich ist sie nur ein Mittel zum Zweck.

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Buchtipp

Jessica Durlacher Schriftsteller!

Diogenes

Buchtipp

Leon de Winter Das Recht auf Rückkehr Roman · Diogenes

detebe 23784, 128 Seiten ISBN 978-3-257-23784-9

560 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06733-0

Eine raffinierte Intrigengeschichte – und ein luzider Blick hinter die Fassaden von Literaturstars. Spannend wie ein Krimi.

Über einen Vater, der seinen Sohn verliert. Ein Roman über Zeiten, in denen Weltpolitik das private Glück immer mehr zerstört.

Foto: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

Sie sind jeweils der erste Leser des anderen, wird da kritisiert? Jessica Durlacher: Natürlich kritisieren wir uns! Leon de Winter: Jessicas Kritik kann sehr grob sein. Als sie die erste Fassung von Malibu las, strich sie mit einem roten Filzer ganze Absätze an und schrieb »Bullshit« oder »blöd« daneben. Ich schlafe dann noch einmal darüber, und wenn es wirklich gravierend ist, ändere ich etwas. Meistens aber an einer anderen Stelle … Jessica Durlacher: Du machst dasselbe mit mir. Bei meinem Roman Das Gewissen hat Leon ganze Kapitel herausgenommen und umgestellt. Ich war verzweifelt. Bis ich realisiert habe, dass es mein Buch ist. Ich habe alles wieder reingenommen und bin es noch mal durchgegangen. Leon de Winter: Ich mache eher Anmerkungen über den Aufbau des Buches und die Frage, wie man eine Geschichte am besten erzählt. Ich möchte Jessicas Umgang mit der Sprache, ihren Stil nicht zerstören. Sie schmeckt die Sprache ab, für mich ist sie nur ein Mittel zum Zweck.


Owl’s Eye

Bücherordnung Wie sortiert man seine Bücher am besten?

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Illustration: © Tomi Ungerer

ch habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt«, sagte bekanntlich Jorge Luis Borges. Doch eine Bibliothek kann auch die Hölle sein, wenn man nämlich ein Buch sucht und es nicht findet. Mehrmals ist es schon vorgekommen, dass ich ein Buch neu kaufen musste, weil es zu Hause einfach nicht mehr zu finden war – wahrscheinlich verschwunden im Bücher-Bermudadreieck der zweiten Regalreihe. Wie sortiert man also Bücher in der eigenen Bibliothek? Theoretisch so, dass man sie auch wieder findet. Die Praxis sieht natürlich ganz anders aus. »Wer Bücher besitzt und Bücher liebt, mag seine Bibliothek groß oder klein sein, wird die Erfahrung gemacht haben, dass es keine befriedigende und allgemeingültige Lösung gibt, wie man sie ordnen soll, und dass es ohne Kompromisse dabei nicht abgeht«, meint etwa Hans Erich Nossack in seiner Plauderei Das Alltagsdasein von Büchern. Gehen wir also systematisch vor. In seinem Aufsatz Kurze Notizen über die Kunst und die Art, seine Bücher zu ordnen, nennt Georges Perec zwölf Möglichkeiten: alphabetisch, nach Kontinent oder Ländern, nach Farben, nach Kaufdatum, nach Erscheinungsdatum, nach Format, nach Gattung, nach Literaturepoche, nach Sprachen, nach Lesevorrang, nach Einband, nach Reihen. Wer es wissenschaftlich korrekt machen möchte, der kann auf die ›Dewey Dezimalklassifikation‹ zurückgreifen, die in den USA von über 80 Prozent der öffentlichen Bibliotheken genutzt wird. Am besten lernt man dieses System kennen, indem man 60 Nächte im Library Hotel in New York bucht und jeden Tag das Zimmer wechselt. Denn zehn Etagen sind den zehn Überkategorien des ›Dewey Dezimalsystems‹ zugeordnet, und die 60 Zimmer diversen Unter-

der 16th Street Ende 2004 nach Farben. Dabei wurden 20 000 Bücher umplatziert, was Chris Cobb und seinen 16 Mitstreitern innerhalb von zehn Stunden und mit Hilfe von vielen Pizzas und 30 Liter Wasser gelang. Über Umsatzsteigerungen in dieser Zeit ist nichts bekannt.

kategorien (und diese sind jeweils mit vielen Büchern der jeweiligen Kategorie bestückt). So ist die achte Etage das literarische Stockwerk mit Zimmern wie 800.006 (Krimis), 800.005 (Märchen), 800.001 (Erotika) oder 800.002 (Klassik). Philosophie-Fans ziehen lieber in die elfte Etage mit den Zimmern 1100.006 (Liebe), 1100.002 (Ethik) oder 1100.001 (Logik). Ein Nachteil: Nicht nur die Rechnung wird bei diesem Luxus-Hotel saftig, auch die Nutzung des Dewey’schen Systems ist kostenpflichtig. So wurde dem Library Hotel gleich nach der Eröffnung der Prozess gemacht. Zum Glück für alle lesehungrigen Gäste kam es zu einer außergerichtlichen Einigung. Die dem Dewey-System entgegengesetzte Methode ist die Sortierung nach Farben. Der französische Schriftsteller Valérie Larbaud sorgte Anfang des letzten Jahrhunderts für Aufsehen, weil er die 15 000 Bücher seiner Bibliothek in verschiedenen Farben binden ließ, je nach Sprache. Englisch blau, spanisch rot – ein Regenbogen im eigenen Haus, lange bevor es die edition suhrkamp gab. Larbauds Bibliothek ist heute in der öffentlichen Bibliothek seiner Geburtsststadt Vichy zu bestaunen. Die wohl einzige nach Farben sortierte Buchhandlung gab es übrigens in San Franciso – und nur für einige Wochen. Der Künstler Chris Cobb ordnete die Buchhandlung ›Adobe Bookshop‹ in

Es gibt laut Georges Perec drei Kategorien von Büchern: »Bücher, die einfach zu ordnen sind«, »Bücher, die nicht allzu schwer zu ordnen sind« und »Bücher, die eher unmöglich zu ordnen sind«. Aber vielleicht ist die perfekte Ordnung auch gar nicht wünschenswert. Umberto Eco beispielsweise hat in der Nachschrift zu Der Name der Rose behauptet: »Die ideale Bibliothek sollte ein wenig sein wie der Stand eines bouquiniste, eines Straßenbuchhändlers: ein Ort für unverhoffte Entdeckungen.« In seiner berühmten Bibliothek der Kulturgeschichte schuf Aby Warburg ein eigenes Klassifikationssystem, das so angelegt war, dass es den Benutzer zu Büchern und Ideen hinleiten sollte, mit denen er noch nicht vertraut war. Aby Warburg nannte es das »Gesetz der guten Nachbarschaft«. Ein Buch, das man fand, war vielleicht nicht das, das man eigentlich brauchte. Das Nachbarbuch enthielt aber vielleicht genau das Gesuchte. Man könnte diese Ordnung auch die Serendipity-Methode nennen, nach dem englischen Wort für das zufällige Finden von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem. Sollte nicht jeder für seine Bibliothek ein eigenes System erfinden? Darüber beim nächsten Mal mehr. Wobei – zum Schluss noch eine viktorianische Ordnungsmethode, die heute nur noch selten Anwendung findet: »Die Hausfrau wird bedacht sein, dass die Werke männlicher und weiblicher Autoren räumlich getrennt auf verschiedenen Regalen platziert werden. Deren Nähe, außer bei verheirateten Schriftstellern, sollte nicht Jan Sidney toleriert werden.«

Im nächsten Magazin:

Wie sortiert man seine Bücher am besten? / Teil 2 Diogenes Magazin

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Vorschaufenster Das unabhängige Hörbuch-Magazin

Kino

2 Ausgaben gratis für Sie!

Maurice Sendak, Wo die wilden Kerle wohnen. Regie: Spike Jonze Kinostart (D, CH): 17.12.2009. Martin Suter, Lila, Lila. Regie: Alain Gsponer, mit Daniel Brühl, Hannah Herzsprung und Henry Hübchen Kinostart (D, CH): Winter 2009. Hildegard von Bingen, Vision Regie: Margarethe von Trotta. Ab 24.9.2009 im Kino (D). Als Diogenes Taschenbuch (detebe 23958) erschienen: Hildegard von Bingen, Lieder, mit einem Nachwort von Walter Nigg

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oder im Internet unter:

www.hoerbuechermagazin.de 78

D Diogenes Magazin

Donna Leon, Wie durch ein dunkles Glas. Regie: Sigi Rothemund, mit Uwe Kockisch als Commissario Brunetti, Erstausstrahlung am 22.10.2009 im Ersten Martin Suter, TV-Doku. Erstausstrahlung am 26.12.2009 auf Arte Ingrid Noll, Ladylike. Mit Monica Bleibtreu, Günther Maria Halmer, Gisela Schneeberger, Ende 2009 im ZDF Jack London, Der Seewolf. Im Dezember 2009 als Zweiteiler im ZDF mit Sebastian Koch in der Hauptrolle

Impressum Ehren-Herausgeber: Daniel Keel und Rudolf C. Bettschart / Geschäftsleitung: Stefan Fritsch, Ruth Geiger, Daniel Kampa, Winfried Stephan Chefredaktion: Daniel Kampa (kam@diogenes.ch) Mitarbeiter dieser Ausgabe: Margaux de Weck (mdw), Cornelia Künne, Nicole Griessman, Martha Schoknecht, Ruth Geiger, Nicole Ritter, Anna von Planta Grafik-Design: Catherine Bourquin Fotograf: Bastian Schweitzer Scans und Bildbearbeitung: Catherine Bourquin, Tina Nart Webausgabe: Susanne Bühler (sb@diogenes.ch) Korrektorat: Franca Meier, Dominik Süess Bildredaktion: Regina Treier Freie Mitarbeiter: Jan Sidney (sid), Marie Brach (mb) Buchhandels-Vertrieb: Renata Teicke (tei@diogenes.ch) Anzeigenleitung: Simone Wolf (wo@diogenes.ch) Zurzeit gilt Anzeigenliste Nr. 1 von 2008 Abo-Service: Christine Kownatzki (diogenesmagazin@diogenes.ch) Für ein Abonnement benutzen Sie bitte die beigeheftete Abokarte. Abonnementspreise: € 10.– für drei Ausgaben in Deutschland und Österreich, sFr 18.– in der Schweiz, andere Länder auf Anfrage. Herzlichen Dank an Anna von Planta, Monica Antunes, David B. Hauptmann, Kerstin Beaujean, Rufus Beck, Benedict Wells, Lukas Hartmann. Beim Gewinnspiel sind Mitarbeiter/-innen des Diogenes Verlags von der Teilnahme ausgeschlossen. Die Gewinner werden schriftlich benachrichtigt. Die Preise sind nicht in bar auszahlbar. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Über unverlangt eingesandte Manuskripte kann leider keine Korrespondenz geführt werden. Programmänderungen vorbehalten. Alle Angaben ohne Gewähr. Redaktionsschluss: 10.8.2009 ISSN 1663-1641

Reaktionen auf das erste Diogenes Magazin »Das Diogenes Magazin macht Spaß. Hochkarätiger geht es nicht. Wie eine gute Literaturzeitschrift« (Buchmarkt). / »Die Welt strebt vom Papier ins Internet. Andere sind dabei, auf Teufel komm raus zu sparen. Und Diogenes bringt ein neues KundenMagazin heraus: hochwertig und auf Papier« (www.maigret.de). / »Ein Hochgenuss! Ich werde das Magazin gleich abonnieren, damit ich die nächsten Ausgaben nicht etwa verpasse« (Margit Warning). / »Ihr Magazin hebt sich wohltuend von der Konkurrenz ab und hat für mich auf Anhieb die Spitzenposition erreicht. Weiter so!« (Volker Klimpel). / »An einer Trümmererkältung schwer leidend, hat mich das neue Magazin

vorzeitig diogenesen lassen. Wie alles von Diogenes – nichts für die Tonne!« (Jens-Uwe Schumann). / »Glückwunsch zur Premiere – fast bei jedem Beitrag festgelesen« (Matthias Matussek). / »Mit seinem neuen Magazin will der Diogenes Verlag selbstverständlich seine Bücher und Autoren promoten, vor allem aber ist es ein schön und gut gemachtes Literatur-Magazin« (www.eselsohren.at) . / »Das Diogenes Magazin ist wie eine Schatzkiste, in der ich immer wieder etwas Neues finde – wie ein Horsd’œuvre, das befriedigt für den Moment und Lust macht auf mehr!« (Wilfried Barzantny). / »Ich kann nur gratulieren. Besser als manche Literaturzeitschrift« (Helmuth P. Schäfer).


Schreibtisch

Gewinnspiel

Fotos: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag, Illustration: © Peter Stanick / www.stanick.com

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in Schreibtisch in Zürich, an dem ein in Basel geborener Autor schreibt, der aber, wie schon Kleist, von sich sagt, er »gehöre zur deutschen Literatur«. Und in Deutschland, vielmehr in Frankfurt, lebte er auch 17 Jahre (teilweise als Lektor im Suhrkamp Verlag) und ist dort tatsächlich spätestens seit seinem Roman über die Lebenstragödie seiner eigenen Mutter genauso bekannt wie in seiner Heimat. Diesen wie viele andere Romane, Erzählungen und Theaterstücke schrieb unser Autor mit seiner alten Triumph-Adler-Schreibmaschine. Das Computerzeitalter ignoriert er erfolgreich, statt digitalem Schreibtisch also ein echter aus Holz und handgeschriebene Korrekturen im Manuskript. Die weitere Einrichtung der Schreibstube sachlich und praktisch: »Ich bin keiner, der alle zwei Jahre eine neue Polstergruppe kauft«, so der mittlerweile 71-Jährige, dessen Erstling übrigens 1968 im Diogenes Verlag erschien.

Wer schreibt hier?

Schicken Sie die Antwort bis zum 31.12.2009 per Post oder per E-Mail (gewinnspielmagazin@diogenes.ch) an: Diogenes Verlag, Gewinnspiel, Sprecherstr. 8, 8032 Zürich, Schweiz Als Preise winken fünf Mal ein signierter Kunstdruck 3 Feet des Künstlers Peter Stanick (das Bild ist auch auf dem Cover von Benedict Wells’ Roman Spinner). Außerdem werden fünf Büchergutscheine à € 100.– verlost.

Mehr über die Kunst von Peter Stanick auf www.stanick.com

Hauptpreis Diogenes Magazin

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Mag ich – Mag ich nicht

Vorschau Im nächsten Diogenes Magazin, das im Dezember 2009 erscheint, schwärmt Anna Gavalda von Tomi Ungerer, entführen wir Sie in ein legendäres literarisches Hotel im Engadin und öffnen Ihnen die Tür zu Martin Suters literarischer und echter Küche. Außerdem: ein Special über F. Scott Fitzgerald. Und: 25 Jahre Das Parfum, die Geschichte eines Weltbestsellers. Um sich die Wartezeit zu verkürzen, besuchen Sie unsere Website mit aktuellen News und Magazinen:

www.diogenes.ch

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Winter 2009

Diogenes

Magazin

Martin Suter Zu Gast in seiner literarischen (und echten) Küche 25 Jahre Das Parfum Geschichte eines Weltbestsellers Anna Gavalda Eine Liebeserkärung an Tomi Ungerer

www.diogenes.ch Euro 2.– /sFr 3.50

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783257 850031

Mag ich:

Mag ich nicht:

Bach (Johann Sebastian) und Bergbäche. Schuberts Streichquintett. Alte Rosensorten. Sonnengereifte Erdbeeren. Das Lachen von Kindern. Rotweine aus Apulien. Selbstgemachtes Steinpilzrisotto. Die Stimmen von Maria Callas und Elı¯na Garan∞a. Aquamarin und alle Farben des Meers. Durch raschelndes Laub gehen. Schwimmen im Fluss. Herzlich begrüßt werden. Die Fragen meines Enkels. Wenn meine Frau abends Chopin spielt. Das Zusammensein mit Freunden. Vorübergleitende Landschaften im Zug. Die Seerosenbilder von Monet. Giacomettis Skulpturen. Im Bett noch lange lesen. Die Romane von Tolstoi, Stendhal, Dickens und Thomas Hardy. Die Novellen von Gottfried Keller. Die Short Stories von Raymond Carver. Frühromanische Kirchen. Junge Elefanten. Erde an den Händen. Den Geruch von Quitten. Landhäuser aus dem achtzehnten Jahrhundert. Den Central Park in New York. Die Landschaften in Kubricks Barry Lyndon. Die Backwaters von Kerala. Südindisches Essen. Spektakuläre Fußballspiele. Abendlicht auf alten Mauern. Stille.

Begleitmusik, wo auch immer. Hohngelächter. Tieffliegende Flugzeuge. Randen, gekocht. Frühblüher-Pollen. Small Talk. Schneematsch in der Stadt. Hingeschluderte E-Mails. »Geil« als Füllwort. Aufdringliche Parfums. Arroganz. Seelenlose Hotelzimmer. Manierierte Prosa. Fast alles von Wagner. Ideologische Grabenkämpfe in der Politik. Hetzkampagnen der Boulevardpresse. Überfüllte Freibäder. Volle Aschenbecher. Stockfisch. Klebrige Liköre. Glücksspiele (ich gewinne nie). Unbequeme Kleider. Schulhäuser, die Kasernen gleichen. Gepiercte Lippen. Hochglanzmagazine mit seitenlanger Werbung für Luxusgüter. Das Grölen verfeindeter Fans. Die Haut auf der Milch. Gespielte Coolness. Nieselregen. Warteschlangen. Andy Warhol. Den Musikantenstadl. Sinnloses Hundegebell. Thujahecken. Betrunkene. Uniformen aller Art.

Von Lukas Hartmann ist zuletzt der Roman Bis ans Ende der Meere erschienen, außerdem als Diogenes Taschenbuch Die Seuche.

Im nächsten Magazin: Federico Fellini 80

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Foto: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag

Lukas Hartmann


Illustration: © Paul Flora

Hommage

Trauernder Künstler vor den Grabmälern seiner Ideen II, 2005. Eine Zeichnung aus Fauna, Fabeln und Figuren, dem letzten Band mit Zeichnungen von Paul Flora. Der Diogenes Verlag trauert um seinen »dienstältesten Autor«, der am 15. Mai in Innsbruck im Alter von 86 Jahren gestorben ist. 1953 erschien als zweites Diogenes Buch überhaupt, und als erstes Buch eines deutschsprachigen Autors, Floras Fauna. Eine abendländische Biologie in 77 neuzeitlichen Bildern dargestellt von Paul Flora, mit überflüssigen Kommentaren versehen von Wolfgang Hildesheimer. Von Paul Flora sind im Diogenes Verlag zwischen 1953 bis 2008 30 Bücher erschienen, dazu hat Paul Flora 27 Diogenes Bücher illustriert.

»Ich zeichne, um mich selbst zu unterhalten. Ich will nicht das Abendland retten, ich habe keine Botschaft und keine Lehre zu verkünden. Wer Botschaften hat, soll ein Telegramm verschicken, wie Billy Wilder gesagt hat, und Lehren werden von Propagandisten verkündet. Ich bin also ein gewöhnlicher Egoist. Matisse hat gesagt, er male Bilder, die wirken wie ein bequemer Sessel. Schwitters hinwiederum hat angemerkt, er sei Künstler, und wenn er ausspucke, so sei dies Kunst. Ich bin für Matisse.«

Paul Flora


Voltaire

Friedrich Dürrenmatt

Bernhard Schlink Honoré de Balzac

Georges Simenon

Patricia Highsmith

Tomi Ungerer

Martin Suter

Bleistift von Dürrenmatt / Feder von Ungerer / Laptop von Suter: Archiv Diogenes Verlag; Füllfeder von Simenon: Archiv John Simenon; Feder von Balzac: © Pascal Le Segretain / Corbis Sygma / Specter; Montblanc »Ernest Hemingway« von Schlink: © Michael Schneider; Schreibmaschine von Highsmith: © Schweizerische Nationalbibliothek / NB, Bern

»Jede Art zu schreiben ist erlaubt – nur die langweilige nicht.«


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